Vorstand Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen Neue Befunde Impressum: Herausgeber IG Metall Vorstand FB Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik Ressort Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz Wilhelm-Leuschner-Str. 79 60329 Frankfurt am Main Redaktion Andrea Fergen, Moriz Boje Tiedemann Grafik, Satz warenform Titelfoto pict rider/fotolia Druck Henrich Druck + Medien GmbH, Frankfurt am Main Auflage 1. Auflage 2017 Copyright by IG Metall Vorstand Produktnummer 37050-67065 Inhalt Vorwort..................................................................................... 4 Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch psychische Arbeitsbelastungen wissenschaftlich bestätigt!........................ 6 1. Merkmalsbereich Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe....................... 11 Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe.......................................... 11 Handlungsspielraum ..............................................................13 Aufgabenvariabilität ...............................................................15 Emotionale Inanspruchnahme ................................................ 16 2. Merkmalsbereich Arbeitsorganisation..................................... 18 2.1 Arbeitszeit.............................................................................. 18 Dauer.....................................................................................19 Lage ......................................................................................21 Flexibilisierung der Arbeitszeit................................................ 24 Pausenregime........................................................................ 25 Mobiles Arbeiten und erweiterte berufsbezogene Erreichbarkeit........................................................................ 27 Abschalten von der Arbeit (Detachment).................................. 30 Work-Life-Balance.................................................................. 32 2.2Arbeitsablauf.......................................................................... 34 Hohe Arbeitsintensität und Zeitdruck...................................... 34 Störungen und Unterbrechungen der Aufgabendurchführung.......................................................... 36 3. Merkmalsbereich Soziale Beziehungen................................... 38 Soziale Unterstützung ........................................................... 38 Soziale Konflikte ................................................................... 39 Mobbing................................................................................ 40 Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte .....................................41 Organisationale Ungerechtigkeit und sog. „Effort-Reward-Imbalance“..................................................... 43 Arbeitsplatzunsicherheit........................................................ 45 Atypische Beschäftigungsformen............................................ 46 4. Merkmalsbereich Arbeitsumgebung ....................................... 49 Raumklima............................................................................ 49 Beleuchtung.......................................................................... 50 Lärm...................................................................................... 53 5. Fazit: Verbindliche Prävention ist das Gebot der Stunde.......... 56 Literatur.................................................................................. 60 Vorwort Das Themenfeld der gesundheitlichen Prävention erfreut sich einer wachsenden Aufmerksamkeit: Krankenkassen, Rentenversicherung und die gesetzliche Unfallversicherung stärken ihre präventive Ausrichtung und mit der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie von Bund, Ländern, Unfallversicherungsträgern und Sozialpartnern (GDA) existiert ein institutionelles Netzwerk, das die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten in den Fokus nimmt. Problem erkannt – Gefahr gebannt? Mitnichten! Trotz einer gestiegenen gesellschaftlichen Sensibilität, verstärkter Anstrengungen aller Arbeitsschutz-Akteure und partieller Erfolge bleibt die Lage angespannt: Die Zahl der krankheitsbedingten Fehltage und Frühverrentungen verharrt auf hohem Niveau und chronische Erkrankungen sind weiter auf dem Vormarsch. Das gilt insbesondere für psychische Erkrankungen. Die hierdurch verursachten Fehlzeiten steigen sogar immer noch an. Es besteht kein Zweifel: Die Ursache für diese „Krankheitswelle“ ist in erster Linie in der modernen Arbeitswelt mit ihren stetig anwachsenden Anforderungen zu suchen. Termin- und Leistungsdruck, lange Arbeitszeiten oder Schichtarbeit heißen die Risikofaktoren, die die psychische und physische Unversehrtheit der Beschäftigten bedrohen. Höchste Zeit für eine Präventions-Offensive: Die Fehlbelastungen bei der Arbeit müssen runter! Dazu ist in vielen Bereichen die Arbeit nach ergonomischen Standards neu auszurichten, überlange Arbeitszeiten müssen auf ein gesundheitsverträgliches Maß reduziert und Schichtsysteme 4 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde besser an den menschlichen Biorhythmus angepasst werden. Das und vieles mehr kann helfen, die Belastungssituation deutlich zu verbessern. Mit der vorliegenden Broschüre legt die IG Metall eine Zusammenstellung aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse vor, die die Auswirkungen weit verbreiteter Gefährdungsfaktoren beschreiben und wichtige Hinweise für eine gesundheitsförderliche Gestaltung der Arbeits- und Leistungsbedingungen liefern. Hiermit wenden wir uns an betriebliche Experten, aber auch an die überbetrieblichen Arbeitsschutzakteure, etwa in Berufsgenossenschaften oder den Aufsichtsbehörden der Länder. Wir verbinden mit der vorliegenden Sammlung neuerer Forschungsergebnisse schließlich den dringenden Appell an die Entscheidungsträger in den Unternehmen, endlich ihrer Verantwortung für die Beschäftigten nachzukommen und den Präventions­ auftrag des Arbeitsschutzgesetzes ernst zu nehmen. Und die Politik? Sie muss nun Nägel mit Köpfen machen. Die Zeit des Abwägens ist vorbei, die Zeit zu handeln ist gekommen! Alle Erkenntnisse weisen in die eine Richtung: Das Arbeitsschutzgesetz muss auch im Bereich der psychischen Belastungen mit einer entsprechenden Verordnung so konkretisiert werden, dass für die betrieblichen Akteure verbindliche Vorgaben und mehr Handlungssicherheit bei der Umsetzung ihres gesetzlichen Präventionsauftrags bestehen. Hans-Jürgen Urban Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 5 Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch psychische Arbeitsbelastungen wissenschaftlich bestätigt! Die Zunahme der psychischen Belastungen steht in einem engen Zusammenhang mit den Veränderungen der Arbeitsbedingungen. Dies ist völlig unstrittig. Kontrovers diskutiert wurde bislang allerdings die Frage, ob und wieweit psychisch belastende Arbeitsbedingungen die Gesundheit der Beschäftigten beeinträchtigen können. Regelmäßig ist dabei insbesondere auf das vermeintliche Fehlen solider wissenschaftlicher Erkenntnisse verwiesen worden. Verschiedene Studien, die in jüngster Zeit zur Ermittlung der gesundheitlichen Folgen gegenwärtiger Arbeitsbedingungen durchgeführt worden sind, weisen hingegen deutliche Zusammenhänge zwischen psychischen Arbeitsbelastungen und Gesundheitsbeeinträchtigungen nach. Hierzu gehören neben aktuellen Veröffentlichungen der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften insbesondere die einschlägigen Analysen der Initiative Gesundheit und Arbeit (exemplarisch hier Rau 2015 - iga.Report Nr. 31, Paridon 2016 - iga.Report Nr. 31 sowie Hassler u. a. 2016 - iga.Report Nr. 23 -Teil 2). Einen entscheidenden Beitrag zur arbeitswissenschaftlichen Klarstellung des gesundheitlichen Gefährdungspotentials psychischer Arbeitsbelastungen leisteten zuletzt außerdem zahlreiche Literaturübersichten, sog. „Scoping Reviews“, die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) in Auftrag gegeben wurden, um den vorliegenden 6 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: pict rider/fotolia wissenschaftlichen Kenntnisstand über die Auswirkungen von psychisch belastenden Arbeitsbedingungen auszuwerten (siehe Projekt „Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt – Wissenschaftliche Standortbestimmung“, online unter http://www.baua.de/de/Themen-von-A-Z/ Projekt-Psych-Gesundheit/Projekt.html). Diese Studien bestätigen nicht nur lange Zeit bekannte Gesundheitsgefährdungen durch einzelne Arbeitsbedingungsfaktoren, sondern weisen in einigen Fällen auch auf bislang unterschätzte Beeinträchtigungspotentiale hin. Selbst wenn noch nicht alle wichtigen Fragen abschließend geklärt sind: Die vorliegenden Forschungsergebnisse verdeutlichen allesamt einen unmittelbaren Handlungsbedarf und unterstreichen damit einmal mehr die Notwendigkeit, psychische Belastungsfaktoren im Rahmen des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes angemessen zu berücksichtigen. Für die betrieblichen Akteure ist die verbesserte arbeitswissenschaftliche Befundlage mit der Herausforderung verbunden, die neuen Erkenntnisse über die gesundheit- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 7 lichen Auswirkungen arbeitsbedingter psychischer Belastungen möglichst zeitnah für die praktische Ausgestaltung gesunder und sicherer Arbeitsbedingungen nutzbar zu machen. Sie stehen unter anderem vor der Aufgabe, zu prüfen, ob psychisch belastende Arbeitsbedingungen im gebotenen Umfang zum Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung gemacht worden sind. Die vorliegende Broschüre soll die Interessenvertretungen dabei unterstützen und über neu erkannte gesundheitliche Gefährdungspotentiale ausgewählter psychischer Arbeitsbelastungen informieren. Das bereitgestellte Orientierungswissen kann dazu genutzt werden, für die Bedeutung des Themas zu sensibilisieren. Die hier dokumentierten arbeitswissenschaftlichen Befunde können außerdem dabei behilflich sein, tragfähige Vereinbarungen zur Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen psychischer Belastungen nach Maßgabe des Arbeitsschutzgesetzes zu schaffen. Aufbau der Broschüre Um die Anwendung der Broschüre als Hilfsmittel zur Durchführung einer ganzheitlichen Gefährdungsbeurteilung zu vereinfachen, sind die folgenden Darstellungen relevanter Belastungsdimensionen an den Aufbau der GDA - Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung angelehnt. Den dort veranschlagten Merkmalsbereichen entsprechend, bilanziert das Kapitel 1 - „Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe“ zunächst die gesundheitliche Relevanz der Faktoren „Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe“, „Handlungsspielraum“, „Aufgabenvariabilität“ und „Emotionale Inanspruchnahme“. 8 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: tiero/istock Das zweite Kapitel zum Merkmalsbereich „Arbeitsorganisation“ umfasst Erläuterungen zu verschiedenen Aspekten der Arbeitszeitgestaltung. Dazu gehören neben der Dauer, Lage, Verteilung und Flexibilisierung der Arbeitszeit auch Fragen der Pausengestaltung. Darüber hinaus werden auch neuere Belastungsfaktoren und -konstellationen dargestellt, die sich insbesondere im Zuge der zunehmenden Verbreitung mobiler Arbeit und berufsbezogener erweiterter Erreichbarkeit ergeben. Hierzu gehören etwa Fragen der Work-Life-Balance oder Probleme des Abschaltens von der Arbeit. Im Rahmen weiterer Ausführungen zu den Gestaltungsfeldern „Zeitdruck/hohe Arbeitsintensität“ sowie „Störungen und Unterbrechungen“ thematisiert das Kapitel zudem wichtige Aspekte der Organisation des Arbeitsablaufes. Die Ausführungen zum Merkmalsbereich „Soziale Beziehungen“ (Kapitel 3) behandeln zunächst die gesundheitliche Relevanz von „sozialer Unterstützung“, „sozialen Konflikten mit Vorgesetzten und Kollegen“, „Mobbing“ und verschiedene Aspekte der „Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte“. Anders als im Gliederungskonzept der GDA-Empfehlungen der Fall, beinhaltet dieses Kapitel zusätzliche Erläuterungen von psychisch belastenden Ar- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 9 beitsbedingungen, die sich durch die Eigenschaften der Arbeitsbeziehungen selbst ergeben. Berichtet wird dabei nicht nur über den aktuellen arbeitswissenschaftlichen Kenntnisstand zu den Folgen „organisationaler Ungerechtigkeit“, sondern auch über die gesundheitlichen Auswirkungen von „Arbeitsplatzunsicherheit“ und „atypischen Beschäftigungsformen“. Das Kapitel 4 zum Thema „Arbeitsumgebung“ gibt schließlich einen Überblick über das Gefährdungspotenzial ungünstig gestalteter klimatischer Bedingungen, unzureichender Beleuchtung und von Lärm am Arbeitsplatz. Das Fazit (Kapitel 5) gibt einen Ausblick auf die Konsequenzen, die aus den vorgestellten wissenschaftlichen Erkenntnissen für die Weiterentwicklung der rechtlichen Grundlagen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes im Bereich psychischer Belastungen zu ziehen sind. 10 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 1. Merkmalsbereich Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe Die bei der Arbeit zu verrichtende Tätigkeit, also Inhalt und Aufgabe der Arbeit, hat eine hohe Bedeutung für die Gesundheit der Beschäftigten. Ob die Erledigung von Arbeitsaufgaben mit psychischen Belastungen verbunden ist, die mittelfristig zu bedeutsamen Be- Menschengerechte einträchtigungen der Gesundheit führen, hängt Arbeitsgestaltung zielt auf schädigungsfreie dabei sowohl von der konkreten Aufgabenstellung und lernförderliche als auch von zugrunde liegenden ArbeitsanfordeArbeitsaufgaben rungen ab. Zentraler Ansatzpunkt einer menschengerechten Arbeitsplatzgestaltung ist daher die Gewährleistung von lern- und gesundheitsförderlichen Arbeitsinhalten bzw. -aufgaben. Hierzu liegen mittlerweile neue, teilweise gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse vor, die die besondere Bedeutung gut gestalteter Arbeitsaufgaben für den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz unterstreichen. Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe Hinreichende Möglichkeiten der individuellen Einflussnahme auf Arbeitsaufgaben bzw. deren Kontrolle gehören zu den entscheidenden Bedingungen gesundheits- und lernförderlicher Arbeitstätigkeiten. Ob sich die verschiedenen positiven Effekte vorhandener Spielräume bei der Arbeitsverrichtung aber tatsächlich ergeben, ist nicht zuletzt abhängig von der – auch als Aufgabengeschlossenheit (task identity) beschriebenen – Vollständigkeit bzw. Ganzheitlichkeit der (Arbeits-) Tätigkeit. Arbeitstätigkeiten sind daher so zu gestalten, „dass die durchgeführten Arbeitsaufgaben als ganze Arbeitsein- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 11 heiten und nicht nur als Teilstücke erkennbar sind“ (DIN EN ISO 6385: 2004, Abs. 4.1). Darüber hinaus soll „die Arbeitstätigkeit Anteile vorbereitender und kontrollierender ebenso wie produzierender Tätigkeiten enthalten, um dem Operator eine vollständigere Arbeitstätigkeit zu bieten“ (DIN EN 614-2: 2000, Abs. A2.2). Neuere Studien belegen nun, dass die Vollständigkeit der Arbeitsaufgabe einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit, das Befinden, die Motivation, Arbeitszufriedenheit und die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten Unvollständige haben kann. Ihnen zufolge ist eine stärkere AusArbeitsaufgaben sind prägung der Aufgabenvollständigkeit im Durchmit Gesundheitsrisiken schnitt nicht nur mit geringerer Abwesenheit und verbunden einer besseren Arbeitszufriedenheit bzw. -motivation der Beschäftigten verbunden, sondern geht auch mit einem besseren Zustand ihrer physischen und psychischen Gesundheit einher. Fehlende Aufgabengeschlossenheit, z. B. im Falle der ständigen Wiederholung desselben Arbeitsganges bei einförmiger Montagearbeit oder bei der Dateneingabe, wirkt sich hingegen nicht nur negativ auf die Arbeitszufriedenheit und -motivation der Beschäftigten aus, sondern ist nachweislich auch mit Beeinträchtigungen der mentalen und physischen Gesundheit assoziiert. Berichtet werden insb. Erschöpfung, Depressivität, Stress und Burnout sowie psychosomatische Beschwerden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (vgl. Bradtke/Melzer 2016: 23ff; 60f.). Überdies legt die arbeitswissenschaftliche Befundlage nahe, dass die Möglichkeit zur ergonomischen Durchführung „vollständiger Tätigkeiten“ eng an das Vorhandensein hinreichender Handlungs- und Entscheidungsspielräume zur individuellen Ausgestaltung der Tätigkeit geknüpft ist. 12 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Werner Bachmeier Handlungsspielraum Als ein zentrales Merkmal menschengerechter Arbeitsplatzgestaltung gilt ein Aufgabenzuschnitt, der hinreichende Handlungs- bzw. Entscheidungsspielräume zur Bewältigung der Arbeitsanforderungen einräumt. Sowohl im Bereich der Normung als auch im Feld der arbeitswissenschaftlichen Theorie wird dabei von einem positiven Effekt zugestandener Handlungsspielräume auf die Gesundheit ausgegangen (siehe etwa DIN EN ISO 9241-2 sowie DIN EN ISO 6385). Haben Beschäftigte die Möglichkeit und die Befugnis, planenden und gestaltenden Einfluss auf den Verlauf der Arbeitstätigkeit zu nehmen, z. B. durch die gezielte Wahl der Arbeitsinhalte oder der Reihenfolge der zu verrichtenden Tätigkeiten, ist demnach eine positive Wirkung sowohl auf das Arbeitsergebnis als auch auf die Gesundheit bzw. Zufriedenheit zu erwarten. Als in hohem Maße beanspruchend werden hingegen solche Arbeitssituationen beurteilt, in denen komplexe Aufgaben ohne ausreichenden Entscheidungsund Handlungsspielraum bewältigt werden sollen. Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 13 Dieser Zusammenhang wird mittlerweile auch durch die Ergebnisse neuer Analysen der aktuellen Forschungslage dokumentiert: Weitreichende, zur Erfüllung von Arbeitsaufgaben gewährte (bzw. subjektiv empfundene) Handlungsspielräume bewirken nachweislich positive Unzureichende Effekte auf die physische und psychische GesundHandlungsspielräume heit, die Motivation und die Arbeitszufriedenheit gefährden die Gesundheit von Beschäftigten. Geringe Ausprägungen des Handlungsspielraumes, z. B. bei inhaltlich und zeitlich strikt reglementierten Tätigkeiten in stark arbeitsteiligen Fertigungsprozessen oder bei monotonen Überwachungsaufgaben, die dauerhafte Aufmerksamkeit erfordern, sind hingegen mit bedeutsamen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit – insb. Depression, Burnout und deren Facetten – assoziiert (vgl. Bradtke u. a. 2016: 19ff. sowie Rau 2015: 20ff.). Eine Ausweitung der Handlungsspielräume ist allerdings nicht „per se“ mit positiven Beanspruchungsfolgen verbunden. Vielmehr legen die Studienergebnisse nahe, dass andere Arbeitsbedingungsfaktoren, etwa eine erhöhte Arbeitsintensität oder unzureichende aufgabenbezogene Qualifikation, die Entfaltung der gesundheitsförderlichen Effekte eines hohen Tätigkeitsspielraums hemmen, überlagern oder sogar ins Gegenteil verkehren können. Diese Befunde verdeutlichen, dass vorhandene Handlungs- und Entscheidungsspielräume zwar ein notwendiger Bestandteil gesundheits- und lernförderlicher Arbeitsbedingungen sind, sie allein aber keineswegs ausreichen, um die Ergonomie eines Arbeitsplatzes zu gewährleisten. Als ausschlaggebend erweist sich vielmehr das angemessene Zusammenspiel der verschiedenen, am jeweiligen Arbeitsplatz vorherrschenden Arbeitsbedingungsfaktoren. Zu den Arbeitsbedingungsfaktoren, die in diesem Zusam- 14 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde menhang eine zentrale Rolle spielen, gehört u. a. die sog. Variabilität der Aufgabe (ihr Abwechslungsreichtum). Aufgabenvariabilität Innerhalb der Arbeitswissenschaften werden die Auswirkungen der sog. Aufgabenvariabilität (task variety) bereits seit geraumer Zeit näher untersucht. Von besonderem Interesse ist dabei die Frage, ob bzw. „inwieweit im Rahmen einer Tätigkeit verschiedene Aktivitäten bei der Verrichtung der Arbeit eingesetzt werden, welche die Nutzung verschiedener Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person erfordern“ (Rosen 2016: 13). Tatsächlich werden Arbeitstätigkeiten mit geringer Aufgabenvariabilität, also monotone, ständig wiederkehrende Tätigkeiten – z. B. bei Fließbandarbeit mit sehr kurzer Taktung oder bei der Entgegennahme immer gleicher Service-Anfragen im Call-Center – von den Beschäftigten regelmäßig als belastend beurteilt (siehe BAuA 2014: 66). Neue Studienbefunde zur Wirkweise der AufgaMonotone benvariabilität bestätigen nun, dass Tätigkeiten, in Arbeitsaufgaben deren Rahmen Beschäftigte über längere Zeiträu- können die Gesundheit me keine oder nur wenige verschiedene Aufgaben beinträchtigen desselben ‚Anforderungsniveaus‘ durchführen, mit Muskel-Skelett-Beschwerden und anderen Beeinträchtigungen der physischen Gesundheit einhergehen. Monotone Arbeitsaufgaben dieser Art sind darüber hinaus mit verschiedenen Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, z. B. Depression und Burnout-Symptomen, verknüpft (vgl. Rosen 2016: 73ff. sowie 32ff). Zu ähnlichen psychischen Beeinträchtigungen führen auch solche Tätigkeiten, in deren Rahmen immer wieder strukturell ähnliche Aufgaben mit gleichen Anforderungsniveaus zu bewältigen sind und der variable Einsatz ver- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 15 schiedener Fähigkeiten und Fertigkeiten kaum oder gar nicht erforderlich ist (vgl. ebd.: 74). Weniger gut untersucht sind die Auswirkungen einzelner Gestaltungsmerkmale des Arbeitsablaufes, also spezieller Eigenheiten des Produktionsprozesses, die in einer direkten Beziehung zu den Faktoren HandlungsDie Verkürzung der und Entscheidungsspielraum sowie AufgabenvaTaktzeiten ist regelmäßig riabilität stehen. Bislang liegen lediglich für den mit gesundheitlichen Faktor „Taktzeit“ belastbare arbeitswissenschaftBeschwerden verbunden liche Befunde vor. Diese zeigen deutlich, dass eine Erhöhung des Arbeitstempos durch kürzere Taktzeiten und/oder eine serielle Produktionsgestaltung mit einer verringerten Arbeitsmotivation, Stresssymptomen und Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems assoziiert sind (vgl. Rosen 2016: 65ff.). Emotionale Inanspruchnahme Gerade im Dienstleistungssektor – aber nicht nur dort! – können Beschäftigte mit Situationen konfrontiert werden, die sie emotional in Anspruch nehmen. Hierzu gehören akute Bedrohungen, etwa durch verbale oder körperliche Gewalt, die z. B. von Kunden oder Patienten ausgeht. Relevante Gefährdungen der Gesundheit durch negative Emotionen können allerdings auch durch nicht funktionierende technische Arbeitsmittel oder Störungen aus der Arbeitsumgebung hervorgerufen werden. Als weiterer bedeutsamer Stressor wirkt die sogenannte Emotionsarbeit (surface acting). Innerhalb der Arbeitswissenschaften wird hierunter das erforderliche Zeigen eines gewünschten Emotionsausdrucks bzw. das Unterdrücken eigener, eventuell widersprüchlicher Emotionen verstanden, z. B. im Rahmen der Zusammenarbeit mit Kunden oder Vorgesetzten. 16 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: adrian_ilie825/fotolia Neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse belegen nun, dass Emotionsarbeit bzw. der hierdurch ausgelöste Zustand der „emotionalen Dissonanz“ – in AbhänHäufige Emotionsarbeit gigkeit von Häufigkeit und Dauer der Belastung – ist ein Risiko für die mit einer erhöhten emotionalen Erschöpfung, GeGesundheit fühlen der „Entfremdung“ und Depressivität der Beschäftigten einher gehen kann (vgl. Schöllgen/ Schulz 2016: 24f.). Merkmalsbereich Arbeitsinhalt/Arbeitsaufgabe – Befunde im Überblick Folgende Merkmale der Arbeitsinhalte/Arbeitsaufgabe können die Gesundheit beeinträchtigen: unvollständige Arbeitsaufgaben monotone Arbeitsinhalte zu geringer Handlungsspielraum bei der Aufgabendurchführung emotionale Inanspruchnahme durch Kunden oder Vorgesetzte Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 17 2. Merkmalsbereich Arbeitsorganisation Wie Beschäftigte mittelbar oder unmittelbar miteinander zusammenarbeiten und auf welche Weise sie mit Betriebsmitteln umgehen, ist nicht zuletzt eine Frage der Arbeitsorganisation. Als besonders bedeutsam für die Gesundheit erweist sich dabei die Gestaltung der Arbeitsabläufe und Arbeitszeiten. Beiden Organisationsbereichen lassen sich eine Reihe von Faktoren zurechnen, die als potentielle Stressoren beurteilt werden können. Hierzu gehören neben Zeitdruck bzw. hoher Arbeitsintensität sowie häufigen Störungen und Unterbrechungen auch bestimmte Formen der Arbeitszeitgestaltung. 2.1 Arbeitszeit Die Leistungs- und Belastungsfähigkeit des Menschen ist nicht nur von der Lage der Arbeitszeit abhängig (Früh-, Spät-, Nachtschicht), sondern wird auch von deErgonomische ren Verteilung auf die Wochentage sowie deren Arbeitszeiten Dauer und (individueller) Planbarkeit beeinflusst. sind elementarer Ergonomische Arbeitszeiten sind daher ein weBestandteil guter sentliches Merkmal guter Arbeitsbedingungen. Arbeitsbedingungen Der Anteil der Beschäftigten, der zu einer festen Zeit von montags bis freitags durchschnittlich acht Stunden pro Tag zur Arbeit geht, verringert sich jedoch stetig. Stattdessen werden „flexible“, oft überlange Arbeitszeiten und andere – aus Sicht des Arbeitsschutzes bedenkliche – Arbeitszeitregime wie Schicht- und Wochenendarbeit für immer mehr Menschen zum Alltag. Für den betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutz ist dies von zentraler Bedeutung, denn die Befunde neuerer arbeitswissenschaftlicher Übersichtsarbeiten bestätigen, 18 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Entwicklung besonderer Arbeitszeitformen 9 +47 % +75 % 8 8,787 7 8,872 6 +71 % 5 4 5,013 +35 % 3 3,265 2 2,481 1 0 Abendarbeit* Nachtarbeit +48 % 6,039 5,642 4,965 3,812 2,907 Sonn- &/oder Feiertagsarbeit Abhängig Beschäftigte in besonderen Arbeitszeitformen in Mio. Wochenendarbeit 1995 (*1996) Schichtarbeit 2015 Quelle: Bundestags-Drucksache 18/9499 dass solche Formen der Arbeitszeitorganisation nicht nur erhebliche Eingriffe in das soziale Leben der Beschäftigten darstellen, sondern auch mit bedeutsamen Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Gesundheit verbunden sein können. Dauer Die Einsicht, dass die regelmäßige tägliche Arbeitszeit zum Wohle der Gesundheit nicht mehr als acht Stunden betragen sollte, gilt seit mehr als 30 Jahren als gesicherte arbeitswissenschaftliche Erkenntnis. Die meisten Grenzwerte, z. B. für Lärm oder Gefahrstoffe, sind faktisch auf den 8-Stunden-Tag ausgerichtet. Eine Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit über diese 8-Stunden-Grenze hinaus ist entsprechend folgenreich, denn mit ihr verlängert sich nicht nur die Zeit, in denen Beschäftigte psychischen Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 19 und physischen Belastungen ausgesetzt sind (Expositionszeit), sondern auch der Erholungsbedarf. Gleichzeitig verkürzt sich infolge überlanger Arbeitszeiten auch der Zeitraum, der zur physischen und psychischen Regeneration bis zum nächsten Arbeitsbeginn verbleibt und für andere außerberufliche Aktivitäten zur Verfügung steht. Wenig überraschend ist daher auch der nachweisliche Einfluss der täglichen Arbeitszeitdauer auf das Unfallrisiko. Dieses Risiko steigt jenseits der 8. Stunde exponentiell an. Neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse belegen zudem, dass eine dauerhafte Beanspruchung der Überlange Leistungsreserven der Beschäftigten durch zu Arbeitszeiten befördern lange Arbeitszeiten auch mit erheblichen Beeingesundheitliche trächtigungen der psychischen und physischen Beeinträchtigungen Gesundheit einhergehen können: So sind überlange Arbeitszeiten mit einem erhöhten Risiko für das Auftreten von Erschöpfungszuständen, Kopfschmerzen, Schwindelgefühlen, Magen-Darm-Beschwerden und Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert. Darüber hinaus stehen sie nachweislich mit einem verstärkten Stresserleben, depressiven Stimmungslagen, der Entwicklung von Burnout-Symptomen sowie einer verminderten Leistungsfähigkeit in Verbindung (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 50f; siehe außerdem Rau 2015: 22ff.). Detailanalysen weisen dabei auf erhebliche Unterschiede in der arbeitszeitbedingten Verbreitung gesundheitlicher Beschwerden hin: So klagen Beschäftigte, die über 40 Stunden pro Woche arbeiten, deutlich häufiger über gesundheitliche Beschwerden wie Nervosität und psychische Erschöpfung als Beschäftigte, die zwischen 35 und 40 Stunden arbeiten (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 31ff.). Um arbeitszeitbedingte Erkrankungsrisiken zu reduzieren, sollte die regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit 20 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Viele Überstunden machen krank Häufigkeit der Gesundheitsbeschwerden in % nach Menge der Überstunden pro Woche Angaben in % Niedergeschlagenheit Schlafstörungen körperliche Erschöpfung Rücken- & Kreuzschmerzen Erschöpfung, Müdigkeit 0 10 0-2 20 2-5 30 5-10 40 50 60 mehr als 10 Quelle: BAuA Arbeitszeitreport 2016 daher 40 Stunden nicht überschreiten (vgl. hierzu auch DGUV 2015: 4). Lage Während sich die Dauer der Arbeitszeit vorrangig darauf auswirkt, in welchem Ausmaß Beschäftigte den unterschiedlichen Arbeitsbelastungen ausgesetzt sind und wie lange die Erholungszeiten ausfallen, beeinflusst die Arbeitszeitlage und -dynamik vor allen Dingen die „Synchronität“ zwischen tatsächlicher Arbeitszeit und verschiedenen biologischen sowie sozialen Rhythmen der Erwerbstätigen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die zeitliche Verteilung von Arbeits- und Ruhezeiten und ihr Zusammenwirken mit der sog. „circadianen Rhythmik“. Dieser ca. 24-stündige Lebensrhythmus ist dem Menschen Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 21 Foto: WestLight/iStock biologisch vorgegeben und nur bis zu gewissen Grenzen veränderbar. Dabei ist der Organismus mit seiner Vielzahl von körperlichen Funktionen am Tage grundsätzlich optimal auf Leistungsabgabe und in der Nacht auf Erholung und Ruhe eingestellt. Eine „Desynchronisation“ der circadianen Rhythmik, also das Arbeiten und Schlafen gegen die „innere Uhr“, führt z. B. zu einer schlechteren Schlafqualität und/oder zu Beeinträchtigungen familiärer Beziehungen und sozialer Aktivitäten. Dies erweist sich gerade für einen erheblichen Teil der in Schichtarbeit tätigen Beschäftigten als problematisch. Schichtarbeit: Die aktuelle Befundlage dokumentiert, dass Schichtarbeit – „in Abhängigkeit von Bewältigungsmöglichkeiten“ – mit einem erhöhten Risiko der Entwicklung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen assoziiert ist (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 31ff.). Darüber hinaus stehen insbesondere lange Nachtschichtphasen in einem enSchichtarbeit gefährdet gen Zusammenhang mit einem erhöhten Risiko der die Gesundheit Entwicklung von akuter und chronischer Erschöpfung, depressiven Stimmungslagen, Angstzuständen, Burnout-Symptomen und einer Abnahme der kognitiven Leistungsfähigkeit. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit von Fehlhandlungen und Unfällen (vgl. ebd.: 49). 22 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Wenn sich Schichtarbeit schon nicht verhindern lässt, muss die Frage im Vordergrund stehen, wie der Schichtplan möglichst ergonomisch gestaltet werden kann. Als wichtige Einflussgrößen auf die durch Schichtarbeit erzeugten Belastungen haben sich dabei die Rotationsrichtung und -geschwindigkeit des Schichtwechsels erwiesen: Kurzzyklische, vorwärts rollierende Schichtpläne mit wenigen aufeinander folgenden Nachtschichten sind insgesamt mit geringeren Beanspruchungen verbunden als rückwärts rollierende Schichtpläne und/oder längere Nachtschichtblöcke (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 48). Als Merkmal besserer Schichtpläne Wenn Schichtarbeit, dann kurz-zyklisch und vorwärts gilt außerdem das Vorhandensein von Mitgestalrollierend tungsmöglichkeiten bei der Schichtplanung (vgl. ebd.: 59). Auch die neuesten wissenschaftlichen Befunde bestätigen also im Wesentlichen die bereits vorliegenden arbeitswissenschaftlichen Orientierungshinweise zur ergonomischen Gestaltung von Schichtplänen (siehe etwa Fergen/Schweflinghaus/Tiedemann 2009: 16-20). Neben der Schichtarbeit muss auch die Arbeit am Wochenende als Beispiel einer gesundheitlich bedenklichen Form der Arbeitszeitlage begriffen werden. Wochenendarbeit: Nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Ausweitung der Schichtarbeit hat die Zahl der Beschäftigten, die auch am Wochenende arbeiten müssen, deutlich zugenommen (siehe BAuA 2016: 41ff.). Da Wochenendarbeit häufig mit anderen Formen atypischer Arbeitszeiten verbunden ist, z. B. Arbeiten in kontinuierlichen Schichtsystemen und/oder langen Arbeitszeiten (Schichten die 10–12 Stunden umfassen sind in der Praxis keine Seltenheit), erweist sich eine präzise Identifikation möglicher Effekte der Wochenendarbeit auf die Gesundheit bislang als schwierig. Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 23 Die vorliegende Befundlage weist allerdings deutlich auf „einen Zusammenhang zwischen Wochenendarbeit, verstärktem Stress-Erleben sowie möglicherweise einem erhöhten Risiko für Burnout“ hin (Amlinger-Chatterjee 2016: 45f.; außerdem 53). Besonders die Arbeit Wochenendarbeit ist ein am Sonntag geht dabei häufig mit Beeinträchtibedeutsamer Stressfaktor gungen der psychischen Gesundheit einher und ist entsprechend als „Risikofaktor“ zu beurteilen (vgl. ebd.: 47). Flexibilisierung der Arbeitszeit Innerhalb der aktuellen Debatten um die menschengerechte Gestaltung der Arbeit nimmt die Diskussion um sog. „flexible Arbeitszeiten“ eine herausragende Stellung ein. Im Fokus der Auseinandersetzung stehen einerseits die Anforderungen der Unternehmen an die variable zeitliche Verfügbarkeit der Erwerbstätigen und ihren flexiblen Einsatz in Abhängigkeit von den jeweiligen betrieblichen Erfordernissen (betriebliche Flexibilitätsanforderungen). Auf der anderen Seite stehen die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Beschäftigten, Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer persönlichen Arbeitszeit zu nehmen (der Anspruch auf die eigene Zeitsouveränität). Die arbeitswissenschaftliche Forschung belegt, dass größere Zeitsouveränität mit einer besseren mentalen Gesundheit bzw. geringeren Ausprägungen der Folgen psychischer Fehlbeanspruchungen einhergeht (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 39). Eine besondere Rolle spielt dabei die hinreichende „Vorhersagbarkeit und Planbarkeit der Arbeitszeit“. Sie ist nachweislich nicht nur mit Verbesserungen der Vereinbarkeit zwischen Beruf und Privatleben verbunden, sondern empirisch auch mit einem geringerem Stress-Erleben, der Verringerung von Fehlzeiten und einem 24 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Werner Bachmaier niedrigeren Risiko für die Entwicklung von Burnout-Symptomen assoziiert (vgl. ebd.: 52). Hohe betriebliche Flexibilitätsanforderungen (insbesondere Formen des „Bereitschaftsdienstes“) scheinen hingegen das Auftreten bedeutsamer Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit zu begünstigen. Berichtet wird u. a. ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung von affektiven Stress-Symptomen und Burnout-Erkrankungen (vgl. Amlinger-Chatterjee 2016: 62). Pausenregime Um die Beschäftigten vor einem gesundheitsschädlichen Ausmaß der Inanspruchnahme ihrer Arbeitskraft zu schützen, sieht der Gesetzgeber planmäßige Pausen vor (siehe § 4 ArbZG - Ruhepausen). Ruhepausen sollen dazu beitragen, dass sich die Beschäftigten erholen. Sie übernehmen also in gewisser Hinsicht die Funktion eines „organisationalen Puffers“, der die vielfach belegten gesundheitlichen Beeinträchtigungen infolge ungünstiger Anforderungs- und Belastungskonstellationen kompensieren soll (vgl. Wendsche/Lohmann-Haislah 2016b: 15). Dass eine unzureichende Gewährleistung und Umsetzung Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 25 der gesetzlich geforderten Mindestpausenzeiten problematische Folgen nach sich ziehen kann, wird von der vorliegenden arbeitswissenschaftlichen Befundlage bestätigt. So gibt die aktuelle Studienlage deutliche Die Einhaltung der Hinweise auf die besondere Bedeutung der WahrPausen ist für den nehmung planmäßiger Arbeitsunterbrechungen Schutz der Gesundheit für den Erhalt der physischen und psychischen erforderlich Gesundheit der Beschäftigten: Demnach tragen regelmäßige Pausen nachweislich zu einer Reduktion des Unfallrisikos und der Wahrscheinlichkeit von Arbeitsfehlern bei (vgl. ebd.: 66). Die Mehrheit der analysierten Einzelstudien liefert außerdem belastbare Indizien dafür, dass hinreichende Arbeitspausen das Risiko des Auftretens von Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems reduzieren bzw. ihrer Entwicklung vorbeugen (vgl. ebd.: 40). Dabei ist eine längere Gesamterholdauer mit geringeren körperlichen Beschwerden assoziiert (vgl. ebd.: 95). Ferner deutet die Datenlage darauf hin, dass regelmäßige und hinreichend lange Arbeitspausen der Entwicklung von Müdigkeit, Erschöpfungsempfinden und negativen Stimmungslagen präventiv entgegenwirken (vgl. Wendsche/Lohmann-Haislah 2016b: 65). Viele der ausgewerteten Untersuchungen geben schließlich Hinweise darauf, dass verschiedene Arbeitsbedingungsfaktoren, etwa zu hohe Arbeitsintensität oder das Fehlen von Handlungsspielräumen, aber auch bestimmte Formen der Arbeitsorganisation, z. B. „mobile Arbeit“, die Erholungswirkung des betrieblichen Pausenregimes negativ beeinflussen können (vgl. ebd.: 149). 26 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Martin Novak/shutterstock Mobiles Arbeiten und erweiterte berufsbezogene Erreichbarkeit Ein zunehmender Anteil von Beschäftigten arbeitet ganz oder teilweise mobil, also außerhalb eines festen Arbeitsplatzes in einer Arbeitsstätte, z. B. beim Kunden, auf Dienstreisen oder Zuhause. Dabei kann der zeitliche Umfang mobiler Arbeit einen gesamten Arbeitstag oder auch nur einen Teil der tatsächlichen Arbeitszeit umfassen, etwa wenn nach Beendigung der regulären Arbeitszeit im Büro, in der Bahn oder von Zuhause per Smartphone oder Laptop weiter- oder vorgearbeitet wird. Dies kann für Beschäftigte relevante Vorteile mit sich bringen, z. B. zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben beitragen oder der Einsparung von Fahrtzeit und Fahrkosten dienen. Gerade wegen ihrer engen Verbindung zu Prozessen der zeitlichen und räumlichen Entgrenzung von Arbeit ist mobiles Arbeiten aber auch mit bedeutsamen Gefährdungen verbunden, die den moder- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 27 nen Arbeitsschutz in verschiedenen Gestaltungsfeldern vor beträchtliche Herausforderungen stellen. So erzeugen die Möglichkeiten mobiler Arbeit und die mit ihnen häufig verbundene „arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit“ gerade hinsichtlich ihrer Auswirkung auf die Arbeitszeitgestaltung neue Problemkonstellationen (hierzu BAuA 2016: 79; eine umfangreiche Bestimmung des Begriffs der „arbeitsbezogenen erweiterten Erreichbarkeit“ liefern Pangert/Pauls/Schüpbach 2016 Ständige Erreichbarkeit 9f.). Im Lichte aktueller arbeitswissenschaftlicher ist ein bedeutsamer Belastungsfaktor Erkenntnisse erweisen sich in diesem Zusammenhang vor allen Dingen Fragen der Dauer der Arbeitszeit, der Ruhezeit und der „arbeitsbezogenen Kontaktierung im Privatleben“ von besonderer Bedeutung. Hier zeigt die Befundlage, dass arbeitsbezogene erweiterte Erreichbarkeit – selbst wenn sie arbeitgeberseitig nicht eindeutig eingefordert wird – nicht nur mit einer erweiterten Verfügbarkeit für Arbeitsanforderungen auch außerhalb der vertraglich geregelten Arbeitszeit verbunden ist, sondern faktisch auch mit (unbezahlter) Mehrarbeit in der Erreichbarkeitsphase einhergeht (Hassler u. a. 2016: 13; 47). Auslöser für die Arbeit während der eigentlichen „Freizeit“ sind dabei allerdings nicht – wie häufig propagiert – die individuellen Bedürfnisse der Beschäftigten. Ausschlaggebend ist vielmehr eine zu hohe Arbeitsintensität, die die Beschäftigten zur Ausweitung der Arbeitszeit über die reguläre Arbeitszeit hinaus nötigt (vgl. ebd.: 48). Dass diese, gerade für mobile Arbeit charakteristischen Belastungskombinationen aus hoher Arbeitsintensität, langen Arbeitszeiten sowie ergonomisch unzureichenden Arbeitsmitteln und Arbeitsumgebungsbedingungen nachweislich mit negativen Auswirkungen auf die physische und psychi- 28 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Fotolia sche Gesundheit der Beschäftigten verbunden sind, zeigen inzwischen auch die Ergebnisse umfangreicher Studienanalysen. Berichtet werden dabei insbesondere Zusammenhänge zwischen mobilitätsbedingten Belastungen und Beeinträchtigungen der Schlafqualität, Beschwerden des Mobile Arbeit birgt Muskel-Skelett-Systems, erhöhte Infektanfälligkeit, Risiken für die aber auch Assoziationen mit psychischen BeanspruGesundheit chungsfolgen, z. B. allgemeinem Stresserleben, empfundener mentaler Erschöpfung und depressiven Symptomen (vgl. Ducki/Nguyen 2016: 71; siehe außerdem Pangert/Pauls/Schüpbach 2016: 38f.). Darüber hinaus zeigt sich gerade am Beispiel der gesundheitlichen Folgen unzureichend gestalteter mobiler Arbeit, dass ungünstige Arbeitsbedingungen ihre negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten auch außerhalb des Arbeitszusammenhanges entfalten können. Deutlich wird dies sowohl an nachweisbaren Beeinträchtigungen der sog. Work-LifeBalance, als auch daran, dass mobil arbeitende, „erweitert erreichbare“ Beschäftigte vergleichsweise häufig von sog. Erholungsunfähigkeit (misslingendem „Detachment“) betroffen sind. Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 29 Abschalten von der Arbeit (Detachment) Die Einsicht, dass der „Abstand von der Arbeit“ in der Freizeit („Detachment“) als zentrale Voraussetzung für die Erholung von arbeitsbedingten Belastungen betrachtet werden muss, ist keineswegs neu. Von der Etablierung einer „Kultur des Abschaltens“, wie sie innerhalb der arbeitswissenschaftlichen Fachdebatte seit geraumer Zeit gefordert wird, kann allerdings in der Praxis keine Rede sein. Im Gegenteil: Die räumliche und zeitliche Entgrenzung der Arbeit trägt maßgeblich dazu bei, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit zusehends verwischt werden. Immer häufiger sind Beschäftigte über die reguläre Arbeitszeit hinaus erreichbar oder arbeiten Zuhause weiter (telefonieren, lesen oder schreiben dienstliche E-Mails usw.). Neuere Studien zeigen nun, dass es vielen Beschäftigten unter diesen Arbeitsbedingungen häufig nicht mehr gelingt, sich von der Arbeit zu distanzieren. Innerhalb der Arbeitswissenschaften wird dieses Phänomen des „nicht von der Arbeit abschalten könnens“ seit einiger Zeit auch als misslingendes „Detachment“ (Distanzieren) diskutiert und untersucht. Die aktuelle Befundlage bestätigt dabei die unmittelbare Relevanz dieses Themas für den betrieblichen Arbeitsschutz (hierzu bereits Paridon 2015: 37): Ein gelungenes Abschalten von der Arbeit erweist sich als eine zentrale Voraussetzung, um belastungsbedingten Beeinträchtigungen der Arbeitsleistung sowie der Entwicklung arbeitsbedingter psychosomatischer Beschwerden und psychischer Erkrankungen wie Burnout oder Depression entgegenzuwirken (vgl. Wendsche/Lohmann-Haislah 2016a: 41). Im Umkehrschluss kann es zur Entwicklung bedeutsamer Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit beitragen, wenn es Beschäftigten 30 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: SolStock/iStock nicht gelingt, die emotionale und gedankliche „Bindung“ an die Erwerbsarbeit aufzulösen (Detachment also misslingt). Dabei können gestörte Erholungsprozesse Wenn das Abschalten von nach der Arbeit durchaus „als Indiz für eine der Arbeit misslingt, ist ungünstige Arbeits- und Organisationsgestal- die Gesundheit gefährdet tung betrachtet werden“ (ebd.: 28). Tatsächlich können verschiedene Arbeitsbedingungen den effektiven Erholungswert von Ruhezeiten maßgeblich beeinflussen: Soziale Unterstützung durch Kollegen und Führungskräfte begünstigt nachweislich das effektive „Abschalten von der Arbeit“ (ebd.: 45). Bedenklich eingeschränkt werden kann die Erholungsfähigkeit hingegen insbesondere durch hohe emotionale Arbeitsanforderungen (etwa bei Dienstleistungs-, Wissens- und Teamarbeit) und eine zu hohe Arbeitsintensität (vgl. Wendsche/Lohmann-Haislah 2016a: 54, 57.). Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 31 Work-Life-Balance Gute Arbeit kann das Privatleben bereichern. Schlecht gestaltete Arbeitsbedingungen und die zeitliche und räumliche „Entgrenzung der Arbeit“ können hingegen nicht nur unmittelbar als psychische Belastungsfaktoren wirksam werden, sondern auch mit der schrittweisen Auflösung vormals bestehender Grenzen Konflikte zwischen zwischen Erwerbsarbeit und anderen LebensArbeit und Privatleben bereichen einhergehen. Dies führt nicht selten können die Gesundheit zu Störungen der sog. Work-Life-Balance, also beeinträchtigen Vereinbarkeitskonflikten zwischen den Anforderungen der Erwerbsarbeit und denen des Privatlebens (vgl. Pangert/Pauls/Schüpbach 2016: 38). Dass diese Ungleichgewichte einen erheblichen negativen Effekt auf die psychische Gesundheit der Beschäftigten haben können, wird durch neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse bestätigt. Ihnen zufolge üben stärkere Konflikte zwischen Arbeit und Privatleben nicht nur einen negativen Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit aus, sondern gehen nachweislich auch mit einer stärkeren psychischen Beanspruchung und einer insgesamt schlechteren psychischen Gesundheit der Beschäftigten einher. Die deutlichsten Zusammenhänge finden sich dabei für psychische Beschwerden wie Burnout sowie Symptome von Depression und Angst (vgl. Wöhrmann 2016: 28ff). Die aktuelle Befundlage dokumentiert außerdem, dass das Niveau der empfundenen Work-Life-Balance durch die Ausgestaltung verschiedener Aspekte der Arbeitsbedingungen maßgeblich mitbestimmt wird (vgl. ebd.: 35ff., 73). Insbesondere die folgenden Arbeitsbedingungen können den Einklang von Arbeits- und Privatle- 32 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde ben der Beschäftigten in einem Ausmaß stören, das die Gesundheit der Betroffenen gefährdet: • ein zu hohes Arbeitspensum, • eine unzureichende soziale Unterstützung durch Vorgesetzte und Organisation, • die Entgrenzung von Arbeitsort und Arbeitszeit, • fehlende Zeitsouveränität, • arbeitsbedingte Rollenkonflikte (z. B. infolge unklarer oder widersprüchlicher Verpflichtungen und Aufgaben) sowie • die Beeinträchtigung der Erholungskapazitäten durch das Nichtgelingen eines effektiven „Abschaltens von der Arbeit“ (Detachment). Merkmalsbereich Arbeitsorganisation – Befunde im Überblick Folgende Ausprägungen von Arbeitszeitregimen gefährden die Gesundheit: zu hohe Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit Schicht- und Nachtarbeit regelmäßige Wochenendarbeit schlechte Pausenregime mangelnde Vorhersehbarkeit und Planbarkeit der Arbeitszeit ständige Erreichbarkeit misslingendes „Abschalten von der Arbeit“ während der Freizeit Beeinträchtigungen der Work-Life-Balance Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 33 2.2 Arbeitsablauf Zentraler Bestandteil der betrieblichen Arbeitsorganisation ist der sog. „Arbeitsablauf“ (workflow). Diese spezifische Abfolge von Vorgängen und Tätigkeiten innerhalb eines Arbeitssystems kann besser oder schlechter organisiert sein. Indizien für ungenügend gestaltete Arbeitsabläufe sind unter anderem das häufige Auftreten von Arbeiten unter hohem Zeitdruck sowie störungsbedingte Arbeitsunterbrechungen. Hohe Arbeitsintensität und Zeitdruck Die Ergebnisse aktueller Erhebungen zur Arbeitsbelastung der Beschäftigten verdeutlichen, dass gerade die Intensität der Arbeit und hiermit verbundener Termin- und Leistungsdruck besonders häufig als Stressor empfunden wird (vgl. TK 2016: 24f. sowie BAuA 2014: 66). Aus Perspektive des betrieblichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes ist diese Entwicklung durchaus problematisch, denn inzwischen ist durch arbeitswissenschaftliche Befunde gut belegt, dass gerade übersteigerte Übersteigerte quantitative Arbeitsanforderungen – also ein unArbeitsanforderungen günstiges Verhältnis zwischen der geforderten gefährden die Gesundheit Arbeitsmenge und der zur Aufgabenbewältigung gewährten Zeit (sog. „work overload“) – mit ernstzunehmenden Beeinträchtigungen des Wohlbefindens und der Gesundheit verbunden sein können: Ist die Arbeitsintensität zu hoch und das Erreichen geforderter Arbeitsergebnisse z. B. infolge zu knapper Projektzeiten und/oder mangelnder Personalausstattung lediglich unter hohem Zeit- bzw. Termindruck möglich, geht dies mit einer messbaren Steigerung der „Anstrengung“, Anspannung und Ermüdung der Beschäftigten einher. Gut belegt ist darüber hinaus nicht nur eine Verringerung des Wohlbefin- 34 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Photographee.eu/shutterstock dens und der persönlichen Arbeitszufriedenheit, sondern auch eine Zunahme der Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Zuständen der Angst, depressiven Symptomen und Burnout (vgl. Stab/Jahn/Schulz-Dadaczynski 2016: 23-28f. sowie 57; siehe außerdem Rau 2015: 24ff.). Schließlich geben verschiedene Befunde Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen hoher Arbeitsintensität und einem gesteigerten Erholungsbedürfnis (need for recovery) sowie einer Erhöhung der Auftretenswahrscheinlichkeit von psychosomatischen und somatischen Beschwerden (berichtet werden allgemeine Beschwerden des Muskel-Skelett-Systems sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen) (vgl. ebd.: 38). Darüber hinaus lässt die Befundlage zu den Auswirkungen der Arbeitsintensität vermuten, dass verstärkende (additive und multiplikative) Wechselwirkungen mit anderen Arbeitsbedingungsfaktoren vorliegen (einen Überblick kritischer Merkmalkombinationen gibt Rau 2015: 30ff). Anders als dies von verschiedenen einschlägigen Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 35 Theorien und Modellen bislang nahegelegt wird, scheinen die dokumentierten negativen Effekte von übersteigerter Arbeitsintensität dabei weder durch hinreichende Handlungsspielräume noch durch den Zugriff auf soziale Unterstützung kompensiert werden zu können (vgl. Stab/ Jahn/Schulz-Dadaczynski 2016: 64). Das Vorliegen zu hoher quantitativer Anforderungen ist also grundsätzlich – und nicht erst unter der Bedingung fehlender Handlungsspielräume und/oder mangelnder sozialer Unterstützung – als ernstzunehmender Risikofaktor für die Beeinträchtigung der Gesundheit zu begreifen (vgl. ebd.: 5). Störungen und Unterbrechungen der Aufgabendurchführung Zu den häufig vorkommenden – und hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Gesundheit der Beschäftigten bedenklichen – Arbeitsbelastungen gehören auch Störungen und Unterbrechungen bei der Aufgabendurchführung (siehe BAuA 2014: 66). Gemeint sind hiermit vor allen Dingen „äußere Störungen“, z. B. eingehende E-Mails oder Anrufe, die eine „kurzfristige Aussetzung einer Tätigkeit“ nach sich ziehen, „ohne dass der Zweck der Arbeitsaufgabe erreicht wurde“ (Rigotti 2016: 9). Arbeitsunterbrechungen dieser Art sind aus arbeitswissenschaftlicher Perspektive in verschiedenerlei Hinsicht problematisch: Zum einen geht ihre Bearbeitung mit einer Aufmerksamkeitsablenkung, zusätzlichem Arbeitsaufwand und einem Verlust zeitlicher Kapazitäten für die Erledigung der eigentlichen Arbeitsaufgabe einher. Gleichzeitig wird es infolge einer Unterbrechung im Regelfall auch erforderlich, zusätzliche mentale Ressourcen für die Rückbesinnung auf die nicht vollendete Ausgangstätigkeit in Anspruch zu nehmen. 36 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse belegen nun, dass störungsbedingte Arbeitsunterbrechungen außerdem die wahrgenommene Komplexität der zu bewältigenden Arbeitsaufgaben erhöhen, die Häufigkeit von Arbeitsfehlern steigern und insgesamt zu einer Verlängerung der Bearbeitungszeiten beitragen können (vgl. Rigotti 2016: 17, 40). Treten (länger andauernde) Störungen und Unterbrechungen häufiger auf, wirkt sich dies zudem negativ auf die Arbeitszufriedenheit, das Befinden und die Gesundheit der Beschäftigten aus: Solide Befundlagen weisen dabei auf ein erhöhtes Risiko für das Auftreten von emotionaler Erschöpfung, Depressivität, Burnout und psychosomatischen Beschwerden hin (vgl. ebd.: 26). Merkmalsbereich Arbeitsorganisation – Befunde im Überblick Folgende Probleme des Arbeitsablaufes gefährden die Gesundheit: hohe Arbeitsintensität und Zeitdruck häufige Störungen und Unterbrechungen der Aufgabendurchführung Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 37 3. Merkmalsbereich Soziale Beziehungen Dass schlechte, ggf. konfliktreiche soziale Beziehungen mit Kollegen oder Vorgesetzten von den Beschäftigten regelmäßig als Belastung empfunden werden, ist bereits seit geraumer Zeit gut dokumentiert (einen aktuellen Befund hierzu lieferte zuletzt u. a. die Technikerkrankenkasse 2016: 24). Spätestens die neueren Analysen der arbeitswissenschaftlichen Befundlage erbringen nun den Nachweis, dass auch andere Aspekte der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz einen bedeutsamen Einfluss auf die psychische Gesundheit, die Motivation, die Arbeitszufriedenheit und die Leistung der Beschäftigten haben können. Hierzu gehören neben der Mitarbeiterführung, der sozialen Unterstützung und Rückmeldung (durch Kollegen und Vorgesetzte) und sozialen Konflikten innerhalb des Arbeitszusammenhangs auch weitere soziale Drucksituationen, insbesondere Mobbing und sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Soziale Unterstützung Als beziehungsbezogenes Merkmal der Arbeitsbedingungen ist „soziale Unterstützung“, d. h. das Ausmaß, in dem „eine Person bei ihrer Arbeit Interesse, FreundUnzureichende soziale lichkeit oder Hilfe [materiell oder immateriell] Unterstützung kann zur von Kollegen oder Vorgesetzten erhält“ bzw. erBeeinträchtigung der warten kann, bereits seit längerem Gegenstand Gesundheit beitragen der arbeitswissenschaftlichen Forschung (vgl. Stadler/Spieß 2003: 106). Entsprechend fundiert sind auch die gegenwärtigen Erkenntnisse ihrer Auswirkungen auf das Befinden und die Gesundheit der Beschäf- 38 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: Werner Bachmeier tigten: In ihrem Lichte erweist sich hinreichende soziale Unterstützung als schützende Ressource, die einige der negativen gesundheitlichen Folgewirkungen schlecht gestalteter Arbeitsbedingungen abmildern kann. Fehlende bzw. niedrige soziale Unterstützung, etwa infolge zu knapper Personalbemessung, unklarer Aufgabenverteilung oder schlechter Führung, kann sich hingegen negativ auf die Arbeitszufriedenheit auswirken, zu einem Anstieg der Fehlzeiten (Absentismus) beitragen und die Entwicklung bedeutsamer Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit wie Depression oder Burnout begünstigen (vgl. Drössler u. a. 2016: 52f. und 88; siehe außerdem Rau 2015: 27). Soziale Konflikte Auch soziale Konflikte mit Kollegen oder Führungskräften, z. B. infolge unklarer Rollen und Verantwortlichkeiten oder unzureichender Qualifikation und/oder Führungskompetenzen der Vorgesetzten, werden in zahlreichen Studien als Stressoren beurteilt. So dokumentieren mittlerweile verschiedene empirische Untersuchungen u. a. negative Auswirkungen auf die Arbeitszufriedenheit, -motivation und -leistung sowie auf das Befinden und die psychische Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 39 Foto: Gruppo_Teatrale_Universitario / iStock Gesundheit der Beschäftigten (vgl. Drössler u. a. 2016: 18; siehe außerdem Rau 2015: 27f.). Die vorliegende Datenlage zu unmittelbar gesundheitsbeeinträchtigenden Effekten sozialer Konflikte ist jedoch nach wie vor lückenhaft und nicht durchgängig widerspruchsfrei. Verallgemeinernde Aussagen über den genauen Zusammenhang zwischen sozialen Konflikten und dem Risiko des Auftretens von Gesundheitsbeeinträchtigungen können daher bislang noch nicht vorgenommen werden (vgl. ebd.: 86f.). Mobbing Obwohl bislang noch kein einheitliches Konzept zur empirischen Erfassung vorliegt, gehört das sog. „Mobbing“ bereits zu den verhältnismäßig gut erforschten interpersonellen Arbeitsbelastungsfaktoren. Etabliert hat sich Mobbing am Arbeitsplatz gefährdet die Gesundheit dabei ein Begriffsverständnis, wonach von „Mobbing“ immer dann die Rede ist, „wenn eine Person wiederholt oder über einen längeren Zeitraum hinweg (…) negativem Verhalten ausgesetzt ist, das von einer Person 40 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde oder mehreren Personen am Arbeitsplatz ausgeht, und wenn diese Person nicht in der Lage ist, sich dagegen zur Wehr zu setzen“ (vgl. Drössler u. a. 2016: 4). Die aktuelle Forschungslage bestätigt, dass das Erleiden von Mobbing nicht nur mit einer Reduktion von Leistung, Engagement und Arbeitszufriedenheit, sondern auch mit einem erhöhtem Risiko für Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit verbunden ist (vgl. ebd.: 30ff.; siehe hierzu auch Rau 2015: 27f.). Dieser Zusammenhang gilt für Männer und Frauen sowie für unterschiedliche Berufsgruppen gleichermaßen. Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte Um betriebswirtschaftliche Unternehmensziele – z. B. die Steigerung der Arbeitsproduktivität – zu erreichen, üben Unternehmensleitung und Führungskräfte einen steuernden Einfluss auf die Arbeitsabläufe und -organisation sowie auf die Einstellungen zur Arbeit und hiermit verbundene Verhaltensweisen der Beschäftigten aus. Gleichzeitig liegt es in der Verantwortung von Vorgesetzten, zentrale gesundheitsrelevante Arbeitsmerkmale, wie den Aufgabenzuschnitt, die Arbeitsintensität oder die zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume zu organisieren. Gerade den Vorgesetzten (operativen Führungskräften) kommt daher eine entscheidende Rolle bei der menschengerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen zu. Verschiedene Befunde weisen darauf hin, dass Führungsinstrumente wie die Mitarbeiterbeurteilung oder leistungsorientierte Anreizsysteme (z. B. durch leistungsabhängige Vergütung, Zulagen oder Zielvereinbarungen) mit erhöhter psychosozialer Arbeitsbelastung und entsprechenden Beeinträchtigungen der Beschäftigtengesundheit verbunden sind (vgl. Montano/Reeske-Beh- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 41 rens/Franke 2016: 21). Hinreichend belegt sind auch die gesundheitlichen Auswirkungen unterschiedlicher „Führungsstile“: Gute bzw. „gesunde“ Führungsstile gehen im Allgemeinen mit einer höheren Motivation und Leistung, einem verbesserten Wohlbefinden und geringen depressiven Störungen der Beschäftigten einher. Belegt ist dies für • transformationelle (ermunternde, Kreativität fördernde), • partizipative (mitarbeiterorientierte, auf Dialog und Handlungsspielraum basierende) und • aufgabenorientierte Führung (vgl. ebd.: 12). Mangelhafte Führung wirkt sich hingegen nachweislich negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten aus. Berichtet wird dabei insbesondere das Auftreten von Schlechte Führung kann Befinden und Gesundheit negativem Stresserleben, affektiven Symptomen erheblich beeinträchtigen (z. B. Niedergeschlagenheit) und Burnout (vgl. Montano/Reeske-Behrens/Franke 2016: 39). Zu den Facetten der Mitarbeiterführung, die mit einem bedeutsamen Gefährdungspotential verbunden sind, gehören vor allen Dingen: • unzureichende „Führungskompetenzen“ (fehlende Qualifikation, unzureichende Konfliktlösungsfähigkeit), • eine schlechte Qualität der „Führungskraft-Mitarbeiter-Interaktionen“ (z. B. wegen fehlender oder inadäquater Rückmeldungen) und/oder • Elemente sogenannter „destruktiver Führung“ (unangemessene Kritik, autoritärer Führungsstil, abwertende und bestrafende Verhaltensweisen des oder der Vorgesetzten). 42 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Organisationale Ungerechtigkeit und sog. „EffortReward-Imbalance“ Zu den sozialen Rahmenbedingungen der Arbeitssituation, die nachweislich einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheit der Beschäftigten haben, gehört auch die „Qualität der sozialen Austauschbeziehungen“ zwischen Beschäftigten und dem Unternehmen. Arbeitswissenschaftlich unstrittig ist, dass sich eine hohe Qualität dieser Austauschbeziehungen für die Beschäftigten insbesondere in einer als angemessenen bzw. gerecht empfundenen Wertschätzung der erbrachten Arbeitsleistung zeigt, z. B. in Form einer adäquaten Bezahlung, der Sicherheit, den eigenen Arbeitsplatz zu behalten oder der Gewährleistung von Aufstiegs- und Qualifizierungschancen. Neue Forschungsergebnisse belegen nun außerdem, dass sich eine schlechte Qualität dieser organisationalen Austauschbeziehungen negativ auf die Gesundheit der Beschäftigten auswirken kann. Verschiedene Anlässe – etwa die Aufgabenzuteilungen, Leistungsbeurteilungen oder die Lösung innerbetrieblicher Konflikte mit Kollegen oder Vorgesetzten – konfrontieren die Beschäftigten mit der Frage, ob sie gerecht bzw. fair behandelt werden. Zur Bezeichnung dieses Arbeitsbedingungsfaktors hat sich innerhalb der Arbeitswissenschaften der Begriff der „organisationalen Gerechtigkeit“ (organizational justice) etabliert. Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 43 Dabei lassen sich mindestens drei Dimensionen der Wahrnehmung organisationaler Gerechtigkeit unterscheiden, die jeweils eigene Einflüsse auf das Erleben und Verhalten der Beschäftigten ausüben können. Dies sind: • distributive Gerechtigkeit (Leistungsgerechte, gleiche Entlohnung der Beschäftigten), • prozedurale Gerechtigkeit (gleiche, nachvollziehbar begründete Behandlung der Beschäftigten im Rahmen fairer, „beteiligungsoffener“ Verfahren) und • interaktionale Gerechtigkeit (unparteiliche und wertschätzende Behandlung durch Vorgesetzte, auch hinsichtlich der wahrheitsgemäßen und zeitnahen Weitergabe bedeutsamer Informationen) (vgl. Haupt/Backé/Latza 2016: 12–17). Die aktuelle Forschungslage liefert insgesamt konsistente Indizien dafür, dass niedrige Ausprägungen dieser Aspekte organisationaler Gerechtigkeit mit der Entwicklung von Beeinträchtigungen der mentalen Gesundheit durch Stress, Burnout-Erkrankungen und Depression in Zusammenhang stehen (vgl. ebd.: 44ff. und 135). Untermauert werden diese Befunde durch die ErgebnisUngerechtigkeit im se von Analysen der gesundheitlichen Auswirkungen Betrieb gefährdet die sog. Gratifikationskrisen (Effort-Reward-Imbalance). Gesundheit Eine Gratifikationskrise liegt dann vor, wenn zwischen den gestellten Arbeitsanforderungen bzw. den eigenen Arbeitsleistungen und der wahrgenommenen Belohnung, z. B. in Form von Entgelt, Lohn/ Gehalt, Arbeitsplatzsicherheit, Aufstiegschancen oder anderen Formen der empfangenen Wertschätzung, ein Ungleichgewicht empfunden wird (vgl. Haupt/Backé/ Latza 2016: 17, 49). 44 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Zahlreiche Untersuchungen machen deutlich, dass chronisches Stresserleben infolge einer Gratifikationskrise nicht nur das Risiko der Entwicklung relevanter Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit durch depressive Störungen und Burnout steigert, sondern grundsätzlich auch mit Gefährdungen durch Herz-Kreislauf- sowie Muskel-Skelett-Erkrankungen verbunden ist (vgl. ebd.: 57ff.; hierzu außerdem Rau 2015: 31). Ob ein Arbeitsverhältnis als gerecht empfunden wird, ist dabei nicht nur unmittelbar von der Wertschätzung durch Führungskräfte abhängig, sondern steht auch mit weiteren organisationsspezifischen Arbeitsbedingungsfaktoren in enger Verbindung, die sich aus der Struktur der jeweiligen Arbeitsbeziehung selbst ergeben. Zu ihnen zählt neben empfundener „Arbeitsplatzunsicherheit“ auch das Bestehen atypischer (prekärer) Beschäftigungsverhältnisse. Arbeitsplatzunsicherheit Die politisch forcierte Deregulierung von Arbeitsmärkten und Arbeitsvertrags-Beziehungen, aber auch der fortschreitende Abbau von Arbeitsplätzen in Folge von organisationalen Restrukturierungsprozessen, schaffen auf Seiten der Beschäftigten beträchtliche Arbeitsplatzunsicherheiten, die in der Regel als Belastung empfunden werden. Neue Forschungsergebnisse geben eindeutige Hinweise darauf, dass gerade das subjektiv wahrgenommeArbeitsplatzunsicherheit ne Risiko, den eigenen Arbeitsplatz zu verlieren ist ein bedeutsamer (sog. job insecurity) zu Beanspruchungen beiStressor trägt, die längerfristig mit erheblichen physischen und psychischen Beeinträchtigungen verbunden sein können (vgl. Köper/Gerstenberg 2016:12). Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 45 Gut belegt sind neben Minderungen des affektiven Wohlergehens vor allen Dingen psychische Störungen, z. B. Symptome der Depression und Burnout (vgl. ebd.: 39ff.). Weniger eindeutig belegt sind bislang Beeinträchtigungen der physischen Gesundheit, z. B. Störungen des Muskel-Skelett-Systems, des Herz-Kreislauf-Systems sowie des Stoffwechsels und des Verdauungssystems. Dies ist vermutlich dadurch zu erklären, dass Stressoren wie Arbeitsplatzunsicherheit zunächst psychische Beanspruchungen und Beeinträchtigungen zur Folge haben, die erst mittel- bis langfristig in wahrnehmbaren Beeinträchtigungen der physischen Gesundheit Ausdruck finden (vgl. Köper/Gerstenberg 2016: 51). Schließlich ist mittlerweile festgestellt worden, dass verschiedene objektive und subjektive Faktoren einen entscheidenden Einfluss darauf haben, wie Arbeitsplatzunsicherheit beurteilt bzw. empfunden wird und zu welchen Folgen sie führt. Als bedeutsam erweisen sich dabei nicht zuletzt die individuelle Einschätzung der eigenen Beschäftigungsfähigkeit und das Vorliegen von sozialen und/oder finanziellen Verbindlichkeiten (vgl. Köper/Gerstenberg 2016: 22). Ebenso deutlich zeigt sich außerdem, dass auch die formale Gestaltung eines Arbeitsverhältnisses, z. B. seine zeitliche Befristung, einen maßgeblichen Anteil an der Entstehung gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch Arbeitsplatzunsicherheit haben kann. Atypische Beschäftigungsformen Durch gezielte politische Deregulierung von Beschäftigungsverhältnissen (z. B. in Folge des Beschäftigungsförderungsgesetzes oder den sog. „Hartz-Gesetzen“) haben Zeit- und Leiharbeit, befristete Beschäftigung, Solo-Selbst- 46 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: animaflora/fotolia ständigkeit und andere Formen der atypischen Beschäftigungen stark zugenommen (vgl. Hünefeld 2016: 10). Neue Übersichtsarbeiten zeigen nun, dass die hiermit erschlossenen betriebswirtschaftlichen Rationalisierungspotentiale in erster Linie auf Kosten der atypisch Beschäftigten und ihrer Gesundheit ausgeschöpft werden. Zwar macht eine differenzierte Betrachtung deutlich, Prekäre dass etwa Teilzeitbeschäftigung durchaus eine Beschäftigung kann positive Wirkung auf Gesundheit und Wohlbefin- die Gesundheit den haben kann. Dies setzt allerdings voraus, beeinträchtigen dass sie den Präferenzen und Bedürfnissen der Beschäftigten entspricht (vgl. Hünefeld 2016: 17). Andere – meist unfreiwillig prekäre – Formen der atypischen Beschäftigung wie befristete Beschäftigung oder Leiharbeit sind aber in der Regel mit einer geringeren Zufriedenheit, Motivation und Leistung sowie mit einem erhöhten Risiko für bedeutsame Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Gesundheit verbunden (vgl. ebd. 69ff.). Dabei erscheint „Zeit- oder Leiharbeit“ in Hinblick auf ihre gesundheitlichen Folgen besonders bedenklich. Berichtet werden hier vergleichsweise konsistente negative Effekte Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 47 auf verschiedene Aspekte der Gesundheit. Deutliche Assoziationen finden sich insbesondere zu Burnout und Depression, aber auch zu Muskel-Skelett-Erkrankungen, Arbeitszufriedenheit und Motivation vor (vgl. Hünefeld 2016: 48 und 69ff.). Dass die nachweislich bestehende Beziehung zwischen atypischen Arbeitsbedingungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowohl durch die üblicherweise schlechteren Arbeits- und Entlohnungsbedingungen als auch durch die mit atypischer Beschäftigung meist einhergehende Arbeitsplatzunsicherheit mitverursacht wird, kann als gesichert gelten (vgl. ebd.: 21; siehe außerdem Köper/Gerstenberg 2016: 64). Merkmalsbereich Soziale Beziehungen – Befunde im Überblick Die folgenden Ausprägungen der sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz können die Gesundheit beeinträchtigen: fehlende soziale Unterstützung Mobbing und häufige Konflikte im Betrieb schlechte Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte fehlende Wertschätzung und „Ungerechtigkeit im Unternehmen“ Arbeitsplatzunsicherheit atypische Beschäftigungsformen 48 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 4. Merkmalsbereich Arbeitsumgebung Auch mangelhaft gestaltete Arbeitsumgebungsbedingungen können die psychische Befindlichkeit erheblich beeinträchtigen. So können Lärm oder schlechte Beleuchtung Störungen der Konzentrations- und Kommunikationsfähigkeit auslösen und den Einsatz zusätzlicher psychischer Ressourcen erforderlich machen, um Informationen angemessen zu verarbeiten. In Abhängigkeit von Dauer und Intensität der erbrachten Anstrengung trägt dies zur früheren Ermüdung bei und kann die psychische und physische Leistungsfähigkeit nachweislich verringern. Mittlerweile sind verschiedene Arbeitsumgebungsfaktoren bekannt, die als Ausgangspunkte arbeitsbedingter psychischer Belastungen angesehen werden können. Hierzu gehören z. B. Umgebungseinflüsse wie unzureichende Beleuchtung, ungünstige Klimabedingungen oder Lärm. Raumklima Das „thermische Raumklima“, d. h. das Zusammenwirken der Klimafaktoren „Temperatur“, „Feuchtigkeit“, Raumklima ist wichtig „Luftgeschwindigkeit“ und externe „Wärmestrahfür Motivation und lung der Umgebung“, gehört zu den ArbeitsbeWohlbefinden dingungsfaktoren, die sich nachweislich auf die Motivation, das Wohlbefinden und die Gesundheit der Beschäftigten auswirken. Obwohl das thermische Empfinden der Menschen von Person zu Person sehr unterschiedlich ist, wird innerhalb der Arbeitswissenschaften grundsätzlich von einem „Behaglichkeitsbereich“ ausgegangen. „Thermische Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 49 Behaglichkeit“ stellt dabei die Folge einer „optimalen“ Anpassung des Raumklimas an die jeweiligen Bedürfnisse des Menschen dar. Abweichungen von diesem Behaglichkeitsbereich, z. B. in überwärmten Büroräumen bei Sommerhitze, bei störender Zugluft oder wegen zu trockener Luft, sind zwar nicht unmittelbar mit akuten Gefährdungen der psychischen Gesundheit verbunden. Sie können aber die Konzentration stören. Dies erhöht den zur Bewältigung der geforderten Aufgaben erforderlichen kognitiven Aufwand und trägt zur Entwicklung psychischer Ermüdung bei. Ungünstige klimatische Arbeitsumgebungen können auf diesem Wege als Stressoren wirksam werden und mittel- bis langfristig zur Entwicklung arbeitsbedingter Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit beitragen (siehe hierzu Bux/Polte 2016: 10f., 15). Dies gilt insbesondere dann, wenn etwa wegen ungenügendem Sonnenschutz oder fehlenden Steuerungsmöglichkeiten der Klimaanlage keine oder nur eingeschränkte Möglichkeiten gegeben sind, das Raumklima den eigenen Bedürfnissen entsprechend zu beeinflussen (vgl. ebd.: 23). Beleuchtung Eine angemessene Beleuchtung am Arbeitsplatz gehört zu den entscheidenden Bedingungen für die gesundheitlich unbedenkliche Erledigung aller Arbeitsaufgaben, Unzureichende die „gutes Sehen“ erforderlich machen. Bekannt Beleuchtung trägt zu ist, dass gute Beleuchtung die Gefahr von ArbeitsFehlbeanspruchungen bei unfällen reduzieren und der Entwicklung von visueller Ermüdung bzw. hiermit verbundenen Beschwerden wie Augenreizungen, Sehbeschwerden oder Kopfschmerzen entgegenwirken kann. Neue arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse bestätigen außerdem, dass eine Erschwer- 50 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Foto: PointImages/iStock nis der Aufnahme, Verarbeitung und Umsetzung visueller Informationen infolge unzureichender Beleuchtungsbedingungen (z. B. zu hellem Licht, Lichtmangel, Spiegelungen oder Flackern) auch mit psychischen Beanspruchungen verbunden sein kann (vgl. Krüger 2016: 16f.). Darüber hinaus zeigen die vorliegenden Forschungsergebnisse, dass neben den visuellen Lichtwirkungen auch nicht visuell wahrnehmbare Eigenschaften der Beleuchtung, etwa die Intensität, Verteilung und spektrale Zusammensetzung des Lichtes, einen Einfluss auf die physische und psychische Verfasstheit der Beschäftigten ausüben. Bedingt durch lichtabhängige Reaktionen des vegetativen Nervensystems und ihren Einfluss auf zentrale Stoffwechselprozesse, übt Lichtexposition gerade bei heller Beleuchtung mit höheren Blauanteilen nachweislich einen aktivierenden Einfluss auf das Herz-Kreislauf-System aus (vgl. Krüger 2016: 14). Belegt sind außerdem positive Zu- Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 51 sammenhänge zwischen höheren Beleuchtungsstärken und einer gesteigerten Konzentration, Aufmerksamkeit und Gedächtnisleistung (vgl. ebd.: 24ff.). Licht bzw. der tägliche Hell-Dunkel-Wechsel steuert unter anderem die Freisetzung des „Schlafhormons“ Melatonin und des aktivierenden „Stresshormons“ Cortisol. Es ist deswegen der wichtigste „Zeitgeber“ des individuellen „Schlaf-Wach-Rhythmus“. Aus diesem Grund können sowohl Lichtmangel zur Tageszeit als auch künstliche Beleuchtung und Lichtexposition am Abend und in der Nacht, z. B. durch die Arbeitsplatzbeleuchtung, aber auch durch Displays von Tablets oder Smartphones, zu deutlichen Störungen der „inneren Uhr“ führen. Eine solche „Desynchronisation“ kann ihrerseits nicht nur zur Entwicklung von Schlafstörungen und Zuständen der Erschöpfung, sondern nachweislich auch zu Beeinträchtigungen der psychischen Gesundheit, z. B. depressiven Symptomen, beitragen (vgl. Krüger 2016: 19ff.). Die genauen Wirkmechanismen dieser Zusammenhänge sind allerdings noch nicht vollständig geklärt. Daher sind weitere Forschungsanstrengungen auf diesem Gebiet dringend nötig, bevor konkretere Gestaltungsempfehlungen für Arbeitsplätze, z. B. für die Beleuchtung bei Nachtarbeit, gegeben werden können. Sicher belegen die vorliegenden arbeitswissenschaftlichen Befunde bislang lediglich, dass sich Handlungsund Entscheidungsspielräume bei der individuellen Gestaltung der Beleuchtungsbedingungen des Arbeitsplatzes positiv auf das psychische Wohlbefinden und die Gesundheit der Beschäftigten auswirken (vgl. ebd.: 27f.). Fehlende Möglichkeiten der Einflussnahme sind hingegen mit psychischen Fehlbelastungen assoziiert (vgl. ebd.: 29). Ferner gilt innerhalb der Arbeitswissenschaft 52 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde als bestätigt, dass vor allen Dingen natürliches Tageslicht für eine ergonomische Beleuchtung von Arbeitsräumen von großer Bedeutung ist. Gerade Sichtverbindungen nach außen sind deswegen als Anforderungen an die Arbeitsplatzgestaltung in die Ende 2016 novellierte Arbeitsstättenverordnung aufgenommen worden. Sie gewährleisten nicht nur die tageszeitadäquate und dynamische Lichtexposition durch Sonnenlicht, sondern räumen den Beschäftigten auch die Möglichkeit einer – die Augen entlastenden – Weitfokussierung ein. Dies erhöht nicht nur den visuellen Komfort, sondern trägt auch Tageslicht und eine zum Erhalt der Motivation, Arbeitszufriedenheit Sichtverbindung nach und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten bei (vgl. außen sind wichtig für Krüger 2016: 18; 36f.). Darüber hinaus schaffen die Gesundheit Sichtverbindungen nach außen Gelegenheiten, die unmittelbare Umgebung des eigenen Arbeitsplatzes wahrzunehmen und entsprechende Informationen über Tages- und Jahreszeit, Wetter und das Umgebungsgeschehen einzuholen. Diese Form der „Kontaktaufnahme“ verhindert Gesundheitsgefährdungen, die dadurch entstehen, dass sich Beschäftigte eingeschlossen und von der Außenwelt isoliert fühlen (den sog. „Bunkereffekt“). Lärm Lärm spielt im Arbeits- und Gesundheitsschutz bislang vor allen Dingen deshalb eine Rolle, weil er die Hörfähigkeit des Menschen negativ beeinflussen kann und zu einem gesteigerten Unfallrisiko beiträgt. Darüber hinaus weiß man seit geraumer Zeit, dass Lärm am Arbeitsplatz auch mit Beeinträchtigungen des psychischen Befindens einhergehen kann. Insbesondere höhere Schalldruckpegel (> 55 dB(A)) sind mit einem Anstieg der Stresshormonkonzentration (insb. Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 53 Foto: iStock des Cortisol-Spiegels) und anderen Veränderungen des Hormonhaushaltes verbunden, die auf psychische Fehlbeanspruchungen hindeuten. Hiermit in Einklang stehen Forschungsergebnisse, die den Zusammenhang zwischen Lärm am Arbeitsplatz und der Zunahme von Unbehagen, Missstimmung, Reizbarkeit und weiteren Stressparametern wie der Steigerung der subjektiv wahrgenommenen Arbeitsbelastung, Müdigkeit und Erschöpfung aufzeigen (vgl. Liebl/Kittel 2016: 49ff.). Dabei ist bekannt, Auch Lärm „geringer“ dass auch Lärmeinwirkungen geringer Intensität Intensität kann (ab 40 dB(A)) die Durchführung von Arbeitsaufgadie Gesundheit beeinträchtigen ben stören und auf diesem Wege Stressreaktionen begünstigen können. Für die Beurteilung eines Geräusches als „Lärm“ sind jedoch nicht nur der Schalldruckpegel, die Impulshaltigkeit oder die Hörbarkeit von Einzeltönen entscheidend. Auch die sog. „Informations- bzw. Sprachhaltigkeit“ eines Geräusches kann eine wichtige Rolle spielen. Dies verdeutlichen auch die Ergebnisse verschiedener Unter- 54 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde suchungen an Büroarbeitsplätzen: Gerade bei Anforderungen, für deren Bewältigung besondere Konzentration und/oder Gedächtnisleistung erforderlich sind, kann sich Hintergrundlärm mit hohem Sprachanteil negativ auf das psychische Befinden und die Arbeitsleistung der Beschäftigten auswirken (vgl. Liebl/Kittel 2016: 37ff). Merkmalsbereich Arbeitsumgebung – Befunde im Überblick Folgende Arbeitsumgebungsbedingungen wirken sich negativ auf die Leistungsfähigkeit aus und können zu Gesundheitsbeeinträchtigungen führen: Lärm unzureichende Beleuchtung unbehagliches Raumklima Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 55 5. Fazit: Verbindliche Prävention ist das Gebot der Stunde Betrieblichen Praktikern und Arbeitsschutz-Experten mit genauer Kenntnis über die konkreten Arbeits- und Leistungsbedingungen der Beschäftigten war es schon lange klar: Psychische Fehlbelastungen können krank machen – und zwar an Körper und Seele! Ebenso lange haben sich Unternehmensvertreter und Funktionäre von Arbeitgeberverbänden gegen diese Erkenntnis hartnäckig gesträubt. Statt einzugestehen, dass in der modernen Arbeitswelt Monotonie, hohe Arbeitsintensität, lange Arbeitszeiten oder schlechtes soziales Klima die physische und psychische Gesundheit der Beschäftigten gefährden, haben sie auf das Privatleben der Beschäftigten verwiesen: Vor allem der „Freizeit-Stress“ sei die Quelle für psychische Erkrankungen oder Burnout-Symptome. Dass bei einer solchen Haltung die betriebliche Gesundheitsprävention und vor allem die Verhältnisprävention nur halbherzig betrieben werden, bedarf sicher keiner weiteren Erläuterungen. Mit dieser Einstellung muss nun Schluss sein! Eine erfolgreiche betriebliche Präventionspolitik muss auch jene Denk- und Handlungsblockaden in den Unternehmen überwinden, die den Belastungen der Arbeitswelt nur einen nachrangigen Stellenwert zuweisen wollen. Statt die Arbeitsbedingungen Bedeutung der Arbeit für eine präventive Arbeitsgehören ins Zentrum der Prävention schutzpolitik beständig zu relativieren, sollten alle verantwortlichen Akteure nun die hohe Relevanz der Erwerbsarbeit anerkennen. Mit anderen Worten: Die Arbeitsbedingungen gehören in den Fokus einer zeitgemäßen Präventionspolitik! Das belegen die in dieser Broschüre skizzierten Forschungsergebnisse mehr als deutlich. 56 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Für den Umgang mit psychischen Belastungen bedeutet das: Die von der Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) hervorgehobenen Merkmalsbereiche sind spätestens durch die aktuellen Befunde wissenschaftlich bestätigt und dürfen in keiner Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen fehlen. Hierzu gehören insbesondere die Auseinandersetzung mit Arbeitsinhalt und Arbeitsaufgabe, Arbeitsorganisation und Arbeitszeit, sozialen Beziehungen sowie den psychisch relevanten Arbeitsumgebungsfaktoren. Bei der Bilanzierung der aktuellen Präventionserfordernisse im Bereich der psychischen Belastungen sollten auch die vor uns liegenden Aufgaben nicht vergessen werden: Digitalisierung erhöht Die Digitalisierung der Arbeit wird die psychischen die psychischen Arbeitsanforderungen kaum verringern. Vermutlich Arbeitsbelastungen ist eher das Gegenteil der Fall: Erste Befunde deuten darauf hin, dass die Belastungen in der digitalen Arbeitswelt weiter anwachsen werden (vgl. DGB-Index 2016). Immer größer werdende Informationsmengen, die von den Beschäftigten verarbeitet werden müssen, oder die Verbreitung gesundheitlich riskanter Arbeitszeiten, sind nur beispielhafte Belastungsfaktoren, die diese Entwicklung markieren. Doch zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft noch immer eine riesige Lücke: Die Daten aus der GDA-Dachevaluation belegen erneut, dass die Umsetzungsdefizite insbesondere bei der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen eklatant sind. Die betriebliche Prävention hinkt den arbeitsschutzrechtlichen Anforderungen weit hinterher – und das, obwohl die Themen der psychischen Arbeitsbelastungen in den Betrieben und Verwaltungen sehr wohl mit den Arbeitgebern verhandelt werden. So geben 78 Prozent der im Rahmen einer Studie befragten Betriebsräte an, dass Arbeitsstress häufiger Gegenstand von Verhandlungen mit Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 57 Viel Luft nach oben … Gefährdungsbeurteilungen nach Betriebsgröße 2015 250+ Beschäftigte 2 28 9 50-249 Beschäftigte 47 38 40 30 10-49 Beschäftigte 0 23 10 20 38 30 40 12 26 50 Gefährdungsbeurteilung gesamt: 52,4 % aller Betriebe 60 70 80 7 90 100 GDA 2015, n = 6.500 Betriebe keine GB GB mit Berücksichtigung psych. Belastung, aber (noch) unvollständig GB ohne Berücksichtigung psych. Belastung GB unter Berücksichtigung psych. Belastung, vollständig durchgeführt Quelle: Beck/Lenhardt, Publikation in Veröffentlichung dem Arbeitgeber war. Bei 72 Prozent der Befragten spielen diese Probleme eine so bedeutende Rolle, dass sie sogar auf Betriebsversammlungen diskutiert werden. Dabei ist die hohe Relevanz psychischer Belastungen insbesondere dem Umstand geschuldet, dass in den meisten Betrieben (77 Prozent) die gesundheitlichen Probleme in den Belegschaften deutlich zugenommen haben (WSI-Report Nr. 33, 12/2016). Kurzum: Das Problem der psychischen Arbeitsbelastungen ist absolut präsent, doch der Lösungsweg ist unklar oder zu hürdenreich. Nun ist die Politik gefordert: Eine nachweislich unzulängliche Prävention in Betrieben und Verwaltungen, der permanente Anstieg der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen sowie neue wissenschaftliche Befunde über die gesundheitlichen Auswirkungen psychischer Fehlbelastungen bei der Arbeit lassen keinen Zweifel an der Dringlichkeit verbindlicher Vorgaben mehr zu. Eine 58 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde konkretisierende Arbeitsschutzverordnung im Bereich der psychischen Belastungen ist das Gebot der Stunde! Deutlichere Anlässe für eine politische Intervention kann es nicht geben. Es ist an der Zeit, eine entsprechende Rechtsverordnung auf den Weg zu bringen, so wie es der Koalitionsvertrag 2013 im „Lichte weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse“ in Aussicht gestellt hat. Vor dem Hintergrund einer hinreichend erforschten „Belastungs-Topografie“ sollten die nächsten Schritte zügig gegangen werden und auf die rasche Erarbeitung eines entsprechenden Verordnungsentwurfs ausgerichtet sein. Dabei kann auf bereits erarbeitete „Bausteine“ zurückgriffen werden: Zum einen sind dies die Ergebnisse Das Fundament für eine aus dem BAuA-Psyche-Projekt sowie Untersuchun„Anti-Stress-Verordnung“ gen von Prof. Renate Rau, die die relevanten psy- steht bereits chischen Belastungsfaktoren unterstreichen. Hinzu kommen praxisorientierte Verordnungs-Entwürfe wie der Entwurf einer Anti-Stress-Verordnung der IG Metall oder der vom Bundesrat beschlossene „Länder-Entwurf“ (Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung bei der Arbeit, Bundesrat-Drucksache 315/13). Nicht zuletzt sind die von der GDA verabschiedeten Empfehlungen zur Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung zu nennen. Verbindliche Präventions-Regeln in Form einer eigenständigen, alle psychischen Belastungsfaktoren integrierenden Rechtsverordnung könnten also auf einem bereits konsentierten und wissenschaftlich begründeten Handlungsrahmen aufbauen. Es ist höchst Zeit, zu handeln! Die politisch Verantwortlichen sind am Zug. Die IG Metall wird in den Betrieben und in der politischen Arena nicht lockerlassen. Auf unverbindliche Empfehlungen und neue wissenschaftliche Befunde müssen nun Taten folgen! Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde 59 Literatur Ahlers, Elke (2016): Arbeit und Gesundheit im betrieblichen Kontext. Befunde aus der Betriebsrätebefragung des WSI 2015. WSI Report, Nr. 33. Online verfügbar unter: http://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_33_2016.pdf Amlinger-Chatterjee, M. (2016): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Atypische Arbeitszeiten. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. DOI:10.21934/baua:bericht20160713/3a Bradtke, E., Melzer, M.(2016): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Vollständigkeit. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. DOI:10.21934/baua:bericht20160713/1c Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2016): Arbeitszeitreport Deutschland 2016. Dortmund. DOI 10.21934/baua:bericht20160729 Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (2014): Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2013 - Unfallverhütungsbericht Arbeit. 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Online unter: https://www.tk.de/tk/broschueren-und-mehr/studien-und-auswertungen/tk-stressstudie_2016/919764 (Letzter Zugriff: 15.11.2016) Wendsche, J., Lohmann-Haislah, A. (2016a): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Detachment. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. DOI:10.21934/baua:bericht20160713/3c Wendsche, J., Lohmann-Haislah, A. (2016b): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Pausen. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. DOI: 10.21934/baua:bericht20160713/3b Wöhrmann, A. M. (2016): Psychische Gesundheit in der Arbeitswelt - Work-Life-Balance. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, Dortmund. DOI:10.21934/ baua:bericht20160713/3f 62 Gesundheitliche Auswirkungen psychischer Arbeitsbelastungen – Neue Befunde Weitere Informationen Vorstand Anti-Stress-Verordnung Hans-Jürgen Urban Becker, Andrea Fergen, Thomas Veit, Petra Müller-Knöß sh Patil, Fotolia.com Es ist höchste Zeit zu handeln. Aber das Arbeitsschutzrecht hinkt hinterher. Auf dem Feld der psychischen Belastungen besteht eine Regelungslücke, die es zu schließen gilt. Die IG Metall zeigt mit ihrem Verordnungsentwurf, dass auch hier praktikable Regeln möglich sind. Anti-Stress-Verordnung Eine Initiative der IG Metall Zu bestellen unter www.igmetall.de/shop Vorstand Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz Anti-Stress-Verordnung Zwischenbilanz einer Initiative der IG Metall Anti-Stress-Verordnung: Zwischenbilanz und Standortbestimmung Ressort Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz 1 Zwischenbilanz In den letzten Jahren hat die Anti-Stress-Initiative der IG Metall viel Aufmerksamkeit erregt. Mit der Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes und der Aufnahme psychischer Belastungen in den Gefährdungskatalog ist ein wichtiger Etappensieg gelungen. Die Broschüre dokumentiert die politischen Stationen, zeigt die Reaktionen der Politik und zieht eine Zwischenbilanz der Anti-Stress-Initiative. Zu bestellen unter www.igmetall.de/shop Vorstand Anti-Stress-Paket ationen: .de/gutearbeit G Metall: Praxis – Rat + Tat – Gute Arbeit [email protected] nd gestaltung und Gesundheitsschutz ner-Str. 79, 60329 Frankfurt/Main e Arbeitsgestaltung und Gesundheitsschutz Anti-Stress-Paket Psychische Belastungen erfolgreich reduzieren Das »Anti-Stress-Paket« der IG Metall beinhaltet einen USB-Stick mit Texten, Materialien und Handlungshilfen zu psychischen Belastungen und Arbeitszeit, etwa das StressBarometer und den Arbeitszeit-TÜV. Zu bestellen unter www.igmetall.de/shop und Arbeitsgestaltung Gesundheitsschutz Vorstand 2017 d Materialien Arbeitshilfen un und Gesundheitsschutz taltung für Arbeitsges Bestellen: [email protected] www.igmetall.de