175 REVIEW ARTICLE Ein Votum für den Dialog zwischen Psychiatrie und Philosophie Autonomie, ein zentraler, aber sperriger Begriff der Psychiatrie Paul Hoff Psychiatrische Universitätsklinik Zürich, Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Zürich, Schweiz des Selbstverständnisses unseres Faches zu machen, Summary lässt sich an vielen Beispielen darlegen. Eines davon, Autonomy, a key term in psychiatry although somewhat cumbersome “Autonomy” has become a central point of reference in the realm of medical ethics. This also applies without exception to psychiatry in patient care and research. The term of autonomy, however, is by no means self-explanatory here either. To the contrary, in order to grant it practice-related ­relevance in psychiatry, long and serious debate is called for. This process is carried out with regard to the conceptual history of psychiatry and current ­developments in medical ethics, and examined in the context of a personalised approach (explicitly in a broader sense) which takes into account a multi-generational perspective ähnlich grundsätzliche Momente berührend wie das Konzept der Autonomie, ist das aktuell viel diskutierte biopsychosoziale Modell. Ursprünglich gedacht als konzeptueller Neubeginn einer von flachem Schu­ lenstreit in ihrer Weiterentwicklung behinderten ­Psychiatrie [1, 2], sieht es sich heute viel­fältiger Kritik ausgesetzt: Es komme über die bloss a ­ dditive Verbin­ dung verschiedener Perspektiven nicht hinaus, habe zu wenig argumentative Substanz und stelle somit ge­ rade kein neues und übergreifendes M ­ odell dar, an dem sich eine multiperspektivisch a ­ rbeitende Psychia­ Autonomy; philosophy of psychiatry; personalized psychiatry; medical ethics; enlightenment trie in Praxis und Forschung orientieren könne [3]. Die Debatte um die Autonomie trägt vielfach ähnliche Züge: Allein als gleichsam apriorische, nicht zu hinter­ v ie we d Peer re a r tic le fragende Referenz nützt der allgegenwärtige Verweis Autonomie ist in jüngerer Zeit zu einem zentralen auf die Autonomie sowohl der therapeutischen Praxis ­Bezugspunkt der Medizinethik geworden. Das Thema als auch der konzeptuellen Weiterentwicklung der Psy­ hat zwar für die gesamte Medizin eine hohe Bedeu­ chiatrie wenig. Er kann vielmehr, wie gezeigt werden tung, doch soll, sogar zu Entwicklungen führen, die den Betroffe­ ist die Psychiatrie insoweit besonders ­intensiv betroffen, als zahlreiche von ihr behandelte nen mehr ­schaden als nützen. Erkrankungen mindestens temporär die Fähigkeit Vor diesem Hintergrund wird Autonomie hier als ­beeinträchtigen können, die persönliche Autonomie ­zentrales Element psychiatrischen Handelns verstan­ in der Lebenspraxis konkret wahrzunehmen. Ein den und in einen kritischen begriffsgeschichtlichen weiterer, deutlich weniger gerne (und weniger oft) ­ Kontext gestellt. Damit soll einer nachhaltigen Be­ diskutierter Aspekt, der das Fach Psychiatrie mit ­ schäftigung mit dem Thema jenseits der sich stets der Autonomiedebatte verknüpft, ist der Umgang mit ­aufdrängenden dogmatischen Engführungen der Weg medizinischen Zwangsmassnahmen. Schon diese prä­ geebnet werden. liminaren Überlegungen deuten an, dass wir es bei der Autonomie mit einem Topos zu tun haben, der nicht nur zum Kern psychiatrischen Handelns vorstösst, sondern auch ohne Einbettung in einen philosophi­ Das Manuskript basiert auf der Keynote Lecture von Paul Hoff am SGPP-Jahres­ kongress 2016 in Basel. Die fragile Identität der Psychiatrie erfordert klare Kernbegriffe schen Argumentationshorizont weder wirklich ver­ Es gehört zu den Charakteristika der Psychiatrie, standen noch praxisrelevant umgesetzt werden kann. dass ihre Konzepte eine ausgeprägte Verschränkung Natürlich geht es dabei in erster Linie um die Auto­ mit dem jeweiligen sozialen und politischen Umfeld nomie der Patientinnen und Patienten, jedoch im aufweisen. Es ist eben – im Unterschied etwa zur ­Wissen um die notwendige Wechselwirkung mit der Neurochirurgie – nicht so, dass die Gesellschaft ­ Autonomie der anderen beteiligten Personen, seien es ­psychiatrische Fachfragen in neutral-sachlicher Weise psychiatrische Fachleute, Angehörige oder Behörden­ vollständig an entsprechende Spezialisten übergibt, mitglieder. um dann deren wissenschaftlich begründete Antwor­ Die Notwendigkeit, den interdisziplinären Dialog ten entgegenzunehmen. Vielmehr fliessen implizite ­zwischen Psychiatrie und Philosophie substanziell zu und explizite Vorstellungen der Gesellschaft, was fördern und (wieder) zu einem genuinen Bestandteil ­normal, gesund, gestört oder krank sei und was nicht, SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 176 REVIEW ARTICLE oft nachhaltig, wenn auch nicht auf den ersten Blick werden muss und im Falle psychischer Störungen die ­erkennbar, in die psychiatrische Theorieentwicklung Intervention der Psychiatrie gefordert ist. ein, mehr jedenfalls als in medizinischen Fächern, Schon ein kursorischer Blick auf die Geschichte der die sich stärker auf unbestrittene quantifizierende Psychiatrie in den letzten dreihundert Jahren zeigt ­Methoden abstützen können. deutlich, wie heterogen die Ansätze gewesen sind, Doch gibt es nicht nur einen markanten Einfluss «von um psychische Erkrankungen zu beschreiben, zu aussen» auf die Psychiatrie, auch innerhalb des Faches ­diagnostizieren und zu behandeln. Um in einer der­ finden sich seit seiner Entstehung als wissenschaft­ artig heterogenen «Theorienlandschaft» handlungs­ liche Disziplin im Zeitalter der Aufklärung erheblich fähig bleiben und das Interesse des psychisch erkrank­ divergierende und konkurrierende Schulen, speziell ten Individuums im Vordergrund halten zu können, hinsichtlich der konzeptuellen Grundlagen des psych­ bedarf es der kontinuierlichen Arbeit an den Grund­ iatrischen Krankheitsbegriffs [4–7]. Die verschie­ begriffen, nicht zuletzt mit Blick auf die Identität des densten Ansätze nehmen für sich in Anspruch, der Faches. Zu diesen Grundbegriffen gehören Krankheit, psychischen Störung, der «Geisteskrankheit», wie es Gesundheit, Behandlung, aber eben auch Person und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein hiess, in beson­ Autonomie. derer Weise gerecht zu werden. Auch die massive, zu Nicht selten wird die geschilderte spannungsreiche ­einem nicht unbeträchtlichen Teil aus der Psychiatrie Theorienvielfalt als eine Schwäche der Psychiatrie ­angesehen, dies zum einen bezogen auf ihre wissen­ Wer legt mit welcher Berechtigung die Grenze fest zwischen dem Anderssein und dem ­Kranksein? schaftliche Identität, zum anderen auf ihre Attrak­ tivität für den akademischen Nachwuchs. Allzu selbst­ bewusst agiert das Fach hier in der Tat nicht, und dies obwohl es in seiner Geschichte immer wieder massgebliche Autoren gab, die den Methoden- und selbst kommende antipsychiatrische Kritik der Sech­ Theorienpluralismus für eine dem «Forschungsgegen­ ziger- und Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts, die stand» in besonderer Weise angemessene Stärke die grundsätzliche Ausrichtung des Faches, vor allem ­hielten, etwa Karl Jaspers (1883–1969), Arthur Kronfeld seine Einbettung in einen medizinisch-naturwissen­ (1886–1941), Ernst Kretschmer (1888–1964) und Werner schaftlichen Kontext, für grundsätzlich verfehlt und Janzarik (geb. 1920). Freilich gelte dies nur dann, wenn an den Interessen der betroffenen Personen vorbei­ es dem Fach gelänge, seine Identität auf eine perspek­ gehend hielt, hat in dieser Radikalität nicht viele Paral­ tivenübergreifende Klammer abzustützen, eine Klam­ lelen in der Medizin. mer, die vor allem sicherstellt, dass der eigentliche Schliesslich sind in der Psychiatrie wissenschafts­ ­Bezugspunkt, die psychisch erkrankte Person, im Ge­ theoretische und ethische Fragen von entscheidender flecht konkurrierender Methoden und Konzepte nicht Bedeutung, und zwar nicht nur im theoretischen aus dem Blick gerät [8]. ­Kontext, sondern auch mit Blick auf die konkrete Un­ tersuchungs- und Behandlungspraxis. Beispiele sind die das Fach schon immer begleitenden und kontro­ vers diskutierten Fragen des Verhältnisses zwischen Autonomie als psychiatrischer Kern­ begriff: eine aufklärerische Wurzel psychischen (mentalen) und somatischen (neuro­ Aus ideengeschichtlicher Perspektive darf sich die nalen) Vorgängen, das klassische Leib-Seele-Problem Psychiatrie dezidiert auf Wurzeln im Zeitalter der ­ also, das wissenschaftstheoretische Spannungsfeld ­Aufklärung berufen, deren zentrales Thema die Defi­ zwischen objektiven Sachverhalten einerseits und nition – und vor allem Aufwertung – der Position des ­subjektivem Erleben und Bewerten andererseits, die ­entscheidungsfähigen und verantwortlichen Subjek­ das Menschenbild jeder einzelnen psychiatrischen tes war. Allerdings sind bei dieser optimistisch an­ Fachperson berührende Frage, inwiefern naturwis­ mutenden Selbsteinschätzung der Psychiatrie zwei senschaftlich beschreibbare Kausalzusammenhänge ­gewichtige kritische Einwände zu berücksichtigen. Raum lassen für Konzepte wie Entscheidungsfreiheit, – Ist es nicht Ausdruck von Naivität, Geschichts­ personale Verantwortung und damit auch für Auto­ vergessenheit oder, bedenklicher, von Hybris, wenn nomie. Es stellen sich normative Fragen: Wer legt mit ein Fach auf aufklärerische Ideale pocht, in dessen welcher Berechtigung die Grenze fest zwischen dem Geschichte es immer wieder zu gravierenden Ver­ Anderssein, das die Vielfalt menschlicher Existenz­ letzungen von Menschenrechten gekommen ist möglichkeiten widerspiegelt, und dem Kranksein, bei bis hin zur menschenverachtenden, von einer dem von behandlungsbedürftigem Leiden gesprochen ebenso banalen wie demagogischen Pseudowis­ SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 177 REVIEW ARTICLE senschaft getragenen Psychiatrie im Nationalsozia­ Am Ende des Zitates kommt die Autonomie ins Spiel: lismus? Dieser Einwand ist, sofern er eine ernst­ Immer dann, wenn ich es mit einer anderen Person hafte und nachhaltige Auseinandersetzung mit der zu tun habe – und dies gilt selbstverständlich auch psychia­trischen Ideen- und Institutionsgeschichte für die Beziehung zwischen Arzt und Patient – habe ein­ fordert, völlig berechtigt. Doch darf er die ich zu respektieren, dass deren Befinden, Denken und ­tat­sächlich einer personzentriert-aufklärerischen Handeln niemals ausschliesslich dazu dienen darf, Perspektive verpflichteten Kernelemente des Fa­ ­einen beliebigen äusseren Zweck zu erreichen. Viel­ ches nicht entwerten oder unkenntlich machen. mehr ist diese Person selbst zu einem wesentlichen – Der Begriff der Aufklärung selbst ist nicht frei von Teil Zweck meiner Aktivität. Konkreter ausgedrückt: Ambiguitäten: Aufklärung im Kantischen Verständ­ Es geht in Interpersonalbeziehungen immer auch nis als «Ausgang des Menschen aus seiner selbst­ um die beteiligten Personen selbst und nicht nur verschuldeten Unmündigkeit» führt eben nicht um von ihnen definierte externe Ziele. zwingend zu Wissenserweiterung und Fortschritt. In der Medizinethik trifft man im Gedanken des Vielmehr kann dieser Prozess bei mangelhafter ­Patientenwohles und des Respektes vor der Person ­kritischer Begleitung durchaus in sein Gegenteil um­ ähnliche Positionen an, und zwar von der hippokra­ schlagen: «Dialektik der Aufklärung» nannte dies die tischen Lehre bis heute. Natürlich haben die ein­ Frankfurter Schule [9, 10]. Wiewohl aus­drücklich po­ schlägigen Prinzipien immer wieder eine zeitgemässe litisch gemeint, erweist sich dieses ­Caveat auch für Anpassung erfahren. Der heute international am brei­ Überlegungen zum psychiatrischen Selbstverständ­ testen akzeptierte Ansatz, eine Form der Prinzipien­ nis als fruchtbar: Eine in der Auf­k lärung verankerte ethik, gibt vier zentrale Elemente vor: den Respekt vor konzeptuelle Basis garantiert nicht einen angemes­ der Autonomie des Patienten, das Gebot, nicht zu scha­ senen, sprich humanen Umgang mit der erkrankten den, das Gebot, zum Wohl des Patienten zu handeln Person – leider gibt es dafür eine Reihe von Beispie­ und das Gebot der fairen Verteilung von Nutzen, Risi­ len. Bedeutsam ist ferner, dass Aufklärung im hier ken und Kosten im Gesundheitswesen [12, 13]. Wie aber gemeinten Sinne gerade nicht identisch ist mit ei­ können sich diese Prinzipien in der Praxis bewähren? nem kühl-distanzierten Rationalismus, sondern die Person eingebettet sieht in ihren jeweiligen lebens­ weltlichen Kontext, der eben auch die nicht-kogniti­ ven Domänen umfasst. Mit Blick auf die «Personali­ sierung» des Autonomiebegriffes wird auf die Von der Theorie zur Praxis – und zurück: Autonomie muss «personalisiert» ­werden1 Notwendigkeit einer kritisch­en, i.e. mehrdimensio­ Beim Übergang von der ideengeschichtlich-ethischen nalen Aus­legung der aufklärerischen Wurzeln der zur praktischen Sphäre betritt man schwieriges Ter­ Psychiatrie zu­rückzukommen sein. rain und merkt rasch, dass sich auch scheinbar selbst­ Auch nach sorgfältiger Abwägung skeptischer Ein­ verständliche Begriffe bei näherer Untersuchung ge­ wände verbleibt doch ein zentraler gemeinsamer gen ihre vereinfachende Verwendung, gegen wohlfeile ­Aspekt des Kantischen Projekts – Stichwort: sapere Lösungen «wehren». Wie kann es dann aber gelingen, aude – einerseits und des angezielten Selbstverständ­ komplexe philosophische Inhalte wie die personale nisses einer modernen Psychiatrie andererseits: In Autonomie dergestalt in einen medizinischen Kontext beiden Fällen geht es um die respektvolle Wahr­ ­ einzubringen, dass sie in Entscheidsituationen praxis­ nehmung des Anderen, sei er gesund oder krank, um relevant werden? Ist, so ein alltägliches Beispiel aus in den letzten Jahren oft die Beachtung seiner Entscheidungen und Werte, in der Akutpsychiatrie, bei einer schwer psychotischen, bis zur Unkenntlichkeit der Medizin verbunden mit dem Hauptziel, wissen­ kommunikativ kaum noch erreichbaren Person, die Kontext wird Personali­ schaftlich begründete und überprüfbare Konzepte in sich selbst gefährdet, die Anwendung von Zwang sierung verstanden als individuell justierte Behandlungspläne zu übersetzen. erlaubt, geboten oder unzulässig? Wer entscheidet ­ Immanuel Kants kategorischer Imperativ macht die ­darüber? Hier stellen sich stets auch grundsätzliche spezifischen lebensge­ grundlegende Ausrichtung der Aufklärungsphiloso­ Fragen, etwa diejenige nach der Berechtigung und schichtlichen Situiertheit phie mit Blick auf das Autonomiekonzept in prägnan­ ­allenfalls dem Grad der Generalisierbarkeit eines sich Wertgefüge in medizini­ ter Weise deutlich. In der Grundlegung der Metaphysik auf die Aufklärung berufenden, «eurozentrischen» sche Entscheidungen aller der Sitten fordert Kant: Menschenbildes und der aus diesem abgeleiteten Men­ ständlich die somatische «Handle so, dass du die Menschheit, sowol in deiner Per­ schenrechte [14]. Dieser Argumentationsstrang kann und speziell die genetisch- son, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zu­ hier nicht vertieft werden. gleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst.» [11, S. Auch mit Blick auf den (akut-)psychiatrischen Alltag 429]. verspürt einige Skepsis, wer die jüngere Literatur zur 1 Die Begriffsfelder «Perso­ nalisierung» bzw. «perso­ nalisierte Medizin» haben sich bedauerlicherweise ausgeweitet. Im jetzigen aktiver Einbezug der ­erkrankten Person in ihrer und ihrem individuellen Art. Dies bezieht selbstver­ molekulare Ebene mit ein, beschränkt sich aber nicht auf diese. SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 178 REVIEW ARTICLE Rolle ethischer Prinzipien in therapeutischen Ent­ überhöhten Betreuungsgedanken («Care») geopfert scheidungsprozessen konsultiert. Ein Beispiel ist das werden. Auch wird gefragt, ob es sich hier tatsächlich pessimistische Votum von Bloch und Green [15]: um ein neues ethisches Konzept handele oder nicht «Psychiatry has not reached a consensus hitherto concer­ vielmehr um eine spezifische Haltung oder – ein präg­ ning an optimal theoretical framework for ethical deci­ nanter, aber fast schon obsoleter Begriff – um eine sion-making and corresponding action. Various theories ­Tugend [16–18]. have been considered, but found wanting. Moreover, Dem ist entgegenzuhalten, dass das Konzept einer Care- classic theories may contradict one another, contribute Ethik keineswegs in einen grundsätzlichen Wider­ to confusion and immobilise the clinician.»2 (S. 7) spruch zur Patientenautonomie geraten muss. Ein sol­ Nun darf gerade eine skeptisch-kritische Grund­ cher ist nämlich genau dann zu vermeiden, wenn auch haltung nicht zum Stillstand der Debatte führen. der Autonomiegedanke – unbeschadet seiner heraus­ Hilfreich ist die Erkenntnis, dass «monolithische» ­ ragenden Bedeutung – nicht als absoluter Wert verstan­ Auto­ nomiekonzepte, die diesen Begriff gleichsam den wird, sondern als Element einer auf wechselseitiger ­unangreifbar an die Spitze der medizinethischen Pyra­ Anerkennung beruhenden Interpersonal­ beziehung. mide stellen, in praxi nicht anwendbar sind, ja sich Untauglich, ja irreführend ist daher die P ­ osition, eine er­ schädlich auswirken können. Vor diesem Hintergrund krankte Person sei entweder autonom oder eingebun­ kristallisieren sich konsensfähige Positionen heraus, den in für ihre Lebensführung wichtige Beziehungen. von denen drei genannt seien: Vielmehr bleibt sie – wie jeder gesunde Mensch auch – eine im Grundsatz autonome Person, deren Lebensvoll­ 1. Die Autonomie gibt es nicht züge notwendig vor dem H ­ intergrund konstitutiver In­ Autonomie ist im heutigen medizinischen Alltag, terpersonalbeziehungen geschehen. ­gerade auch in der Psychiatrie, ein oft allzu wohlfeiler Begriff: Man benutzt ihn fast schon als Routine, glaubt 2 Die Psychiatrie hat bislang keine Übereinstimmung hinsichtlich eines optima­ len theoretischen Rah­ Narrative Ethik sich dadurch auf der «richtigen» ethischen Seite und Dieser Ansatz hebt, wie die Care-Ethik, hervor, dass übersieht, dass dieser Begriff durchaus Unterschied­ ethische Prinzipien keine Absoluta sind, sondern inter­ liches meinen kann, je nachdem, auf welchen theoreti­ personal verhandelbare und zu verhandelnde Gegen­ schen Hintergrund er sich beruft. So liegen die Akzente stände. Mit dem Prinzip der individuellen Verhan­ im Falle einer an Kant orientierten deontologischen delbarkeit geht eine narrative Ethik insofern über die (Pflicht-)Ethik anders als bei einer Prinzipienethik diesbezüglich weniger dezidierte Care-Ethik hinaus, ­hippokratischer Prägung, auch in der erwähnten zeit­ als konkrete, also auf den Werthorizont der erkrank­ gemässen Fassung nach Beauchamp und Childress [12]. ten Person bezogene Themen und Konflikte ins Nochmals anders gelagerte Schwerpunkte setzen die ­Blickfeld geraten. Eine straffe, gleichsam apriorische jüngst viel diskutierten Konzepte «ethics of care», Prinzi­pienethik müsse hier zu kurz greifen, erreiche scheidungsfindung und «narrative Ethik» und «relationale Autonomie». Da das ­ Individuum gerade nicht. Es bedürfe vielmehr das daraus abzuleitende diese Ansätze Eingang in psychiatrische Diskurse fin­ ­einer «narrativ» erarbeiteten ethischen Position, die den, seien ihre Grundgedanken skizziert. die ­Lebensgeschichte und Wertorientierung des be­ mens für die ethische Ent­ Handeln gefunden. Ver­ schiedene Theorien sind treuten Menschen respektvoll und interaktiv in den erörtert, jedoch als man­ gelhaft bewertet worden. Überdies können die klas­ Ethics of care (Care-Ethik) sischen [medizinethi­ Ethische Wertmassstäbe sind in dieser Perspektive schen] Theorien sich ge­ Mittelpunkt stelle [19, 20]. keine nur theoretisch begründeten, unabhängig von Relationale Autonomie zur Begriffsverwirrung der konkreten Umsetzung gegebenen Konstanten, Durchaus überlappend, aber nicht identisch mit den beitragen und die Hand­ sondern entstehen wesentlich im jeweiligen Kontext beiden letztgenannten Ansätzen betont das Konzept kers nachhaltig beein­ eines Betreuungsprozesses, vor allem in der interper­ der relationalen Autonomie den Umstand, dass sich trächtigen. sonal konstellierten Beziehung zwischen Patient und Autonomie zwar jeweils an einer einzelnen Person Betreuer. Die ethische Debatte wird dadurch in prag­ zeigt und insoweit auch als individuelle Fähigkeit ver­ die der Interpersonalität matischer Weise kontextualisiert und bezieht aus­ standen werden kann, dass sie aber, um konkrete Wirk­ (notabene als philoso­ drücklich das Wohlbefinden aller Beteiligten ein, also samkeit zu entfalten, in einen Beziehungskontext ein­ ­Element) in den transzen­ nicht «nur» dasjenige der betreuten Person. gebettet sein muss, letztlich also relationaler Natur ist dentalphilosophischen Kritiker wenden ein, dieses Konzept sei wenig präzise [21]. Prägnanter ausgedruckt: Individuelle Autonomie und laufe Gefahr, unbeabsichtigt doch wieder pater­ setzt die Beziehung zum autonomen Anderen voraus.3 nalistische Tendenzen zu fördern. So aber könnten be­ Hier besteht eine inhaltliche Nähe zu der von Axel rechtigte Autonomieansprüche sowohl des Patienten Honneth vertretenen, sozial­ philosophisch einfluss­ als auch der betreuenden Person einem unkritisch reichen Anerkennungsethik [22, 23]. genseitig widersprechen, lungsfähigkeit des Klini­ 3 Dies erinnert an die ­zentrale Bedeutung, phisch grundlegendes Ansätzen Immanuel Kants und Johann Gottlieb ­Fichtes zugemessen wurde; später wird dieser Aspekt noch zur Sprache kommen. SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 179 REVIEW ARTICLE Während diese theoretische Perspektive gerade mit der Fundierung von Wissenschaft – geradezu wech­ Blick auf den Charakter der Arzt-Patienten-Beziehung selseitig bedingen. In der Kritik der reinen Vernunft zu überzeugen vermag, so tun sich doch – ähnlich drückt er dies deutlich aus: wie im Falle der Care-Ethik – bei der Reflektion auf «Anschauung und Begriffe machen also die Elemente al­ die Umsetzung eines solchen Ansatzes im medizini­ ler unserer Erkenntnis aus, so dass weder Begriffe, ohne schen Alltag Fragen auf [24]. Dies gilt speziell für die als ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, Autonomie des Selbst bezeichnete Variante einer rela­ noch Anschauung ohne ­Begriffe, ein Erkenntnis abgeben tional verfassten Ethik. Sie wendet sich dezidiert gegen können. … Gedanken ohne ­Inhalt sind leer, Anschauun­ die Überbewertung von zeitlich und situativ isoliert gen ohne Begriffe sind blind.» [27, S. 74/75] betrachteten Patientenentscheidungen und fordert Angewandt auf den jetzigen Kontext, ergibt sich fol­ den umfassenden E ­ in­bezug des (auch langfristigen) Le­ gende Polarität: Ein Autonomiebegriff, der in der benskontextes der ­ betroffenen Person, vor allem Sphäre abstrakter Reflektion verbleibt und nicht ­hinsichtlich ihrer Iden­tität und überdauernden Wert­ durch den empirischen Handlungsdruck medizini­ haltungen («Selbst»). Wie aber, so der skeptische Ein­ scher Entscheidungssituationen angereichert wird, ist wand, ist sicher­ zustellen, dass sich nicht doch ein ­unverbindlich, gleichsam «leer», ja er kann durchaus ­starker Pater­nalismus etabliert, etwa wenn ein Arzt zum Risiko für die betroffene Person werden. Um­ nur unter ­Be­r ufung auf zwar biographisch verankerte, gekehrt wird klinisches Handeln, sofern es ohne in der a ­ktuellen medi­ zinischen Entscheidsituation ­Reflektion über seinen ethischen Kontext geschieht, vom (­allenfalls fraglich) urteilsunfähigen Patienten Einzelsituationen und Einzelmeinungen systematisch aber ausdrücklich abgewiesene Grundhaltungen eine überschätzen. Es wird dann im Empirischen verhaftet indizierte Behandlung trotz Ablehnung oder gegen bleiben, im Kantischen Sinne «blind» sein und damit ­Widerstand durchführt? ebenfalls ein Risiko darstellen. Um zu verdeutlichen, wie eine patientenzentrierte 2. Die Balance ethischer Prinzipien als Ziel Konkretisierung des Autonomieprinzips umgesetzt Wird auf das heute am breitesten akzeptierte Modell ei­ werden kann, seien exemplarisch die therapeutische ner Prinzipienethik Bezug genommen, so kommt es im Beziehung erwähnt sowie intensiv diskutierte jüngere Einzelfall entscheidend darauf an, zwischen den zu be­ Entwicklungen, nämlich die Patientenverfügung, das achtenden Prinzipien eine begründete Balance zu fin­ Konzept «advance care planning» und die nach voll­ den. Anders ausgedrückt: Die gleichsam auto­matische, ständiger Überarbeitung Ende 2015 erschienenen i.e. nicht je hinterfragte Privilegierung eines Prinzips ­medizin-ethischen Richtlinien «Zwangsmassnahmen ist inakzeptabel, auch im Falle der Patientenautonomie. in der Medizin» der Schweizerischen Akademie der Es wirkt daher wie der Versuch einer m ­ ässigenden Kor­ Medizinischen Wissenschaften (SAMW). rektur, wenn in der Literatur vermehrt darauf hinge­ wiesen wird, dass bei allem Respekt für die zentrale Be­ Therapeutische Beziehung deutung der Autonomie doch die Gefahr besteht, dieses Der «Ort», an dem psychiatrische Diagnostik und Prinzip mit negativen Folgen für die erkrankte Person ­Therapie geschieht und an dem sich Autonomie reali­ zu überdehnen [25, 26]. Selbstverständlich stellt sich die siert (oder eben nicht), ist die Beziehung zwischen anspruchsvolle Aufgabe der patientenzen­trierten Ba­ ­Patient und Behandler. Besonders konsequent, ja in lancierung nicht nur im Falle der Prinzi­pienethik, son­ ­einem bestimmten Sinne radikal hat Karl Jaspers dies dern bei jedem ethischen Ansatz. durchdacht, wenn er sich zum Autoritätsgefälle in der therapeutischen Beziehung und zu dessen Folgen für 4 Siehe Fussnote 1. 3. Autonomie muss sich konkret b ­ ewähren die interpersonale Kommunikation äussert: Letztlich geht es in der Medizinethik um Reflektionen «Im Umgang des Arztes mit dem Patienten ist […] die Situ­ und Empfehlungen, die sich in der spannungsreichen ation der Autorität gegeben, die wohltätig wirksam sein Realität des Einzelfalls zu bewähren haben. Auf dieses kann. Wenn in seltenen Fällen die echte Kommunikation Ziel hin, das man in einem bestimmten Sinne Persona­ erreicht wurde, so ist diese sogleich wieder verloren, so­ lisierung nennen darf 4, sollten alle ethischen Begriffe fern nicht auf Autorität rest­los verzichtet wird. […] Die und Prozeduren ausgerichtet werden, auch im Kontext Haltung der Autorität ist wie die des Naturforschers ein der Autonomie. Zur Erläuterung bietet sich ein weite­ Glied, aber nie das Ganze in der Stellung des Arztes zum rer Rückgriff auf Kant an: Eine der Kernaussagen seiner Kranken.» [28, S. 673] Erkenntnistheorie ist, dass theoretische Begriffe und Es ist offenkundig, dass Jaspers hier ein Idealbild empirische Anschauung keine unversöhnlichen Ge­ ­zeichnet, nämlich das einer vollständig «auf Augen­ gensätze sind, sondern sich – vor allem hinsichtlich höhe» ablaufenden Kommunikation zwischen Patient SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 180 REVIEW ARTICLE und Behandler, «autoritätsfrei» in seinem Sinn5. Aber lege of Physicians hervor, wie entscheidend es sei, bei auch wenn ein solches Ideal in der praktischen psychi­ der gemeinsam mit dem Patienten vorgenommenen atrischen Tätigkeit schwer erreichbar sein dürfte, so Planung von medizinischen und pflegerischen Inter­ kann es doch die Funktion eines Orientierungspunk­ ventionen sowohl komplizierte rechtliche Formulie­ tes, einer Richtschnur übernehmen. Die Personali­ rungen als auch unangemessen vereinfachende Fra­ sierung des Autonomieprinzips bestünde hier in der gen im multiple-choice-Stil zu vermeiden. Auch sei tatsächlich vollzogenen wechselseitigen Respektie­ der Fokus nicht nur auf technische Details der Inter­ rung innerhalb der therapeutischen Beziehung.6 vention oder des zu erzielenden Behandlungsergeb­ nisses zu legen, sondern mindestens ebenso promi­ 5 In anderem Kontext, Patientenverfügung nent auf die Art und Qualität der kontinuierlichen Auch die Patientenverfügung, «advance directive» im Kom­munikation mit der betroffenen Person. Advance englischsprachigen Raum, stellt ein im Grundsatz care planning könne nicht, so heisst es zugespitzt, ­probates Mittel dar, Personen mit oder ohne eigene ­alleine auf ausgefüllten Fragebögen beruhen [31, 32]. ­Erfahrung mit psychischen Störungen die Möglich­ Die Ü ­ ber­tra­gung des advance care planning-Modells keit zu eröffnen, im Vorhinein für den Fall einer die auf psychia­trische Kontexte erscheint mit Blick auf die ­Urteilsfähigkeit beeinträchtigenden Erkrankung ihre erforder­liche Individualisierung des Autonomiekon­ Werthaltungen und bevorzugten Behandlungsoptio­ zeptes viel­versprechend. nen verbindlich festzuhalten. In praxi generiert dieses Zielrichtung wird Jürgen atrischen Bereich eine Reihe von Fragen: Wie kann Habermas später von SAMW-Richtlinien «Zwangsmassnahmen in der M ­ edizin» der Behandler im Falle akuter Erkrankungen von der Diese von einer interprofessionellen Arbeitsgruppe Diskurs» sprechen [­ 29]. Existenz einer Patientenverfügung erfahren? Nach verfassten Richtlinien [33] dienen zum einen dazu, den 6 Eine stärkere Berücksich­ aber mit vergleichbarer ­einem «herrschaftsfreien noch junge Rechtsinstitut allerdings gerade im psychi­ welchen Massstäben wird beurteilt (vor allem in hekti­ begrifflichen Rahmen von Zwangsmass­nahmen abzu­ im Curriculum der Medi­ schen Akutsituationen), ob eine vor Jahren verfasste stecken, indem sie dem aktuellen Wissensstand ent­ zinstudierenden (bis hin Patientenverfügung noch dem aktuellen Willen der sprechende medizinische, ethische und rechtliche betroffenen Person entspricht? Wie ist der Umgang ­Aspekte erörtern und gewichten. Zum anderen soll ein Messlatte) könnte nach­ mit dem prozedural sowohl recht formalen als auch nachhaltiger kritischer Diskurs zum weiten Feld medi­ haltige Effekte generieren. tigung dieser Thematik zu der von Jaspers ausser­ ordentlich hoch gelegten komplexen Instrument der Patientenverfügung so zu zinischer Zwangsmassnahmen gefördert werden, und Zivilgesetzbuch (Auszug): gestalten, dass es für möglichst viele Personen nutzbar zwar nicht nur wissenschaftlich-theo­retisch, sondern «Wird eine Person zur wird? Patientenverfügung und Patientenautonomie am Ort des Geschehens selbst, also etwa in den psychi­ zielen in dieselbe Richtung und verweisen aufein­ atrischen Institutionen und, nicht zuletzt, in der Aus-, ander, können sehr wohl aber auch zu Widersprüchen Weiter- und Fortbildung von An­gehörigen der Gesund­ 7 Art. 433 Schweizerisches Behandlung einer psychi­ schen Störung in einer Einrichtung unter­ gebracht, so erstellt die und ethischen Dilemmata führen [30]. heitsberufe. der behandelnde Arzt Derartige offene Fragen mögen Gründe dafür sein, Zwang darf, so eine der Kernaussagen der Richtlinien, unter Beizug der betroffe­ dass die Patientenverfügung nur zögerlich Eingang niemals als routinemässiger Bestandteil medizini­ nenfalls ihrer Vertrauens­ in den akutpsychiatrischen Bereich findet. Kritisch schen (ergo auch nicht psychiatrischen) Handelns person einen schriftlichen kommentiert wird häufig der Umstand, dass die recht­ ­verstanden werden, sondern stets als an enge, klar liche Verbindlichkeit einer Patientenverfügung bei ­definierte und überprüfbare Kriterien geknüpfte, be­ fürsorgerisch untergebrachten Patienten – und nur gründungspflichtige Ausnahme. Auch darf der Um­ bei diesen – vom Bundesgesetzgeber eingeschränkt stand, dass es allgemein akzeptierte Richtlinien gibt, urteilsunfähigen Person ist wurde, insoweit sie hier lediglich «zu berücksichtigen» keinesfalls dazu führen, dass die einzelne medizini­ eine allfällige Patienten­ und nicht zwingend umzusetzen ist7. Ob dies im sche Fachperson das Thema als weniger problema­ tigen.» (Hervorhebung ­wohlverstandenen Interesse schwer psychisch kran­ tisch, da ja formal geregelt, versteht und gleichsam durch PH) ker Menschen liegt oder, genau gegenteilig, sie von die Verantwortung für Entscheide an die Richtlinien ­Gesetzes wegen diskriminiert, ist Gegenstand kontro­ delegiert8. behandelnde Ärztin oder nen Person und gegebe­ Behandlungsplan. … Der Behandlungsplan wird der betroffenen Person zur Zustimmung unterbreitet. Bei einer verfügung zu berücksich­ 8 Der Dachverband Swiss Mental Healthcare (SMHC) hat 2016 eine Arbeits­ verser Debatten. gruppe ein­gesetzt, die sich als kritisches Resonanz­ Autonomie und Generationenperspektive gefäss bezüglich der prak­ Advance care planning tischen Umsetzung der Das aus der somatischen Medizin stammende und bis­ Es liegt auf der Hand, dass Fragen im Kontext von als Forum für die interpro­ lang vor allem im englischsprachigen Raum beachtete ­Autonomie deutlich an Komplexität gewinnen, wenn fessionelle Auseinander­ Konzept «advance care planning» setzt an den bekann­ nicht «nur» Behandlungsentscheide für eine einzige ten oder absehbaren Schwachstellen der Patienten­ Person zu treffen sind, sondern wenn es darum geht, verfügung an. In Grossbritannien hob das Royal Col­ das familiäre oder sonstige soziale Umfeld einzu­ SAMW-Richtlinien ­sowie setzung mit dem Thema Zwangs­massnahmen versteht. SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 181 REVIEW ARTICLE beziehen. Letzteres ist ja geradezu ein Qualitäts­ ob die Behandler mit Verweis auf die trotz der kogniti­ merkmal einer zeitgemäss vernetzten psychiatri­ ven Beeinträchtigung zu respektierende Autonomie schen Versorgung und sollte daher eher die Regel als des Patienten ihn dem Konflikt und dem damit ver­ die ­Ausnahme sein. Speziell herausfordernde Fragen bundenen Entscheidungsdruck in vollem Umfang aus­ ergeben sich, wenn es um den Einbezug der Meinun­ setzen oder ob sie, allenfalls sogar gegen den Patien­ gen und Werthaltungen verschiedener Generationen tenwillen, eine Beistandschaft empfehlen, um ihn geht. Zwei klinische Beispiele aus dem jugend- und vor einer risikoreichen Überforderung zu schützen. Es alterspsychiatrischen Bereich sollen dies illustrie­ kann auch in diesem Fall keine pauschale Handlungs­ ren. anweisung geben. Zu bedenken ist in solchen klinisch häufigen Situationen jedoch das Risiko, dass ein pla­ Kinder- und Jugendpsychiatrie kativer Autonomiebegriff seinerseits zum ethisch Man nehme den Fall, ein urteilsfähiger 16-jähriger ­fragwürdigen Schutzschild wird, um medizinischen ­Jugendlicher wünsche wegen einer zugespitzten Kri­ Fachpersonen konfliktträchtige Stellungnahmen und sensituation mit sich aufdrängenden suizidalen Ge­ Entscheidungen zu ersparen. danken den sofortigen Eintritt in eine psychiatrische Klinik, seine Eltern hingegen seien strikt dagegen. Hier Beide Beispiele zeigen, wie sehr ethische Fragestel­ ergibt sich mit Blick auf die Generationenperspektive lungen, wenn sie ernst genommen werden, in das der folgende Wertkonflikt: Auf der einen Seite steht beruf­liche Selbstverständnis psychiatrischer Fach­ die Autonomie des urteilsfähigen Jugendlichen, auf personen eingreifen – mit entsprechenden Folgen der anderen Seite das bei nicht volljährigen Personen für die konkrete klinische Arbeit und völlig unab­ gesetzlich verankerte Aufenthaltsbestimmungsrecht hängig von der Lebensphase, in der sich die betreute als Bestandteil der elterlichen Sorge (Art. 301 ZGB). Person befindet. In beiden Fällen handelt es sich um ethisch wie recht­ lich wohl begründete Ansprüche, die sich im Einzelfall allerdings diametral widersprechen können. Um eine weitere Dimension komplizierter wird die Wozu ein interdisziplinärer Dialog ­zwischen Psychiatrie und Philosophie? Lage, wenn lediglich die involvierte psychiatrische Die komplexe Schnittstelle zwischen Psychiatrie und Fachperson den Klinikeintritt dringend empfiehlt, Ethik kann, wenn sie nicht von beiden Seiten aktiv aber sowohl der Jugendliche als auch seine Eltern gepflegt wird, durchaus zu Verunsicherung führen ­ dies kategorisch ablehnen. In dieser Situation kann und Spannungen generieren. Dies ist etwa dann zu von Behandlerseite eine fürsorgerische Unterbrin­ ­beobachten, wenn ethische Argumente von Klinikern gung erwogen werden, wenn sich aus dem psychi­ nur als Kritik oder Einmischung von aussen erlebt schen Zustand unmittelbare Gefährdungsmomente ­werden: Hier kommt es zu einer Unterschätzung, im für die Person selbst oder für Dritte ergeben. Käme schlimmsten Fall sogar zu einer systematischen es zu einer fürsorgerischen Unterbringung, so kolli­ ­Abwertung des ethischen Feldes. Dessen unbedachte auf Artikel 30ff. des dierte diese unmittelbar mit elterlichen Rechten, eine Überschätzung, quasi den umgekehrten Fall, gibt es ­Bundesgesetzes über die Situation, die bis hin zum vorübergehenden Entzug freilich ebenso, wenn sich nämlich Kliniker dadurch des Sorgerechtes durch die zuständige Behörde entlasten zu können glauben, dass sie heikle Therapie­ ­eskalieren kann. Bemerkenswert ist, dass nach dem entscheide, bei denen das Abwägen von Werten – freiwilligen oder per fürsorgerische Unterbringung im ­Vordergrund steht, möglichst weitgehend an eine fähigen Personen ange­ angeordneten – Klinikeintritt des Jugendlichen bei Fachperson, an «den Ethiker» delegieren. ordnet werden. Entscheidungen zur psychiatrischen Behandlung des­ Selbstverständlich sind Medizin und Ethik unter­ Diskussionen gibt der sen Wille eindeutig vorgeht, sofern er urteilsfähig ist. schiedliche Wissens- und Handlungsgebiete. Aber sie Umstand, dass die Anders formuliert: Eine Behandlung gegen den Willen verweisen notwendig aufeinander, und im besten ­Fall einer urteilsfähigen Person (auch wenn sie minder­ befruchten sie sich gegenseitig. Daher sei ab­schlies­­ jährig ist) ist unzulässig.9, 10 send die Bedeutung eines substantiellen und nach­ 9Es gibt nur wenige Aus­ nahmen von dieser Regel. So etwa können, gestützt Bekämpfung übertrag­ barer Krankheiten, unter bestimmten Bedingun­ gen Zwangsmassnahmen auch gegenüber urteils­ 10 Anlass zu kontroversen ­Urteilsunfähigkeit unter den Kriterien für eine fürsorgerische Unter­ bringung gemäss Art. 426 ZGB nicht genannt ist [34]. haltigen interprofessionellen Dialoges zwischen Me­­ Rechtlich kann somit die Alterspsychiatrie di­zin und Philosophie, deren Teilgebiet die Ethik ist, Unterbringung einer Ein anders gelagerter, aber nicht minder schwieriger anhand eines prägnanten Beispiels hervorge­hoben. urteilsfähigen Person Wertkonflikt ergibt sich im Bereich der Alterspsychia­ Dieses Beispiel ist die bereits mehrfach an­gesprochene zulässig sein, deren trie, wenn ein mittelgradig dementer Patient durch Interpersonalität, ohne Frage ein Kernstück psychiat­ heftige Auseinandersetzungen in seinem familiären rischen Arbeitens, aber eben auch ein zentrales Thema Umfeld stark belastet wird. Hier stellt sich die Frage, der Philosophie. psychisch kranken, aber anschliessende Behand­ lung gegen ihren Willen hingegen nicht. SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 182 REVIEW ARTICLE Während es der frühen Aufklärung um die Stärkung «Der Psychopathologe braucht sich um Philosophie nicht des Individuums gegenüber überbordenden Macht­ des­wegen zu kümmern, weil sie für ihn für seine Wissen­ ansprüchen staatlicher oder kirchlicher Institutionen schaft ­irgend etwas Positives lehrte, sondern weil sie ihm ging, um die Verbreitung von Wissen und Kritikfähig­ den inneren Raum freimacht für seine Wissensmöglich­ keit als systematische Kontrapunkte gegen Bevormun­ keiten.» [28, S. 40] dung und Manipulation, geriet in den philosophischen Ansätzen Immanuel Kants (1724–1804) und, zugespitzt, ja in bestimmter Hinsicht radikal weiter gedacht, Résumé ­Johann Gottlieb Fichtes (1762–1814) die Bedeutung der Der zentrale Inhalt dieser Arbeit lässt sich in vier Thesen zusammenfassen: 1.Autonomie ist (und bleibt) ein psychiatrischer Kernbegriff. Dies gilt in psychiatriehistorischer Perspektive (Stichwort: ­Aufklärung) ebenso wie mit Blick auf das heutige Selbst­ verständnis unseres Faches und aller beteiligten Personen (Stichwort: R ­ espektvoller Umgang). 2.Autonomie ist kein bequemer, sondern ein notwendig sper­ riger Begriff, der ohne vertiefte und kontinuierliche interpro­ fessionelle Debatte keine wirkliche Akzeptanz und damit Relevanz in der psychiatrischen Praxis erreichen wird. Kantisch formuliert: Als wohlklingende Worthülse wird Autonomie zu ­einem «leeren» Begriff, als Ausdruck unreflektierter Verlagerung von Verantwortung auf Patienten zu einem «blinden». Beide ­Varianten sind unethisch, denn sie schaden der erkrankten ­Person. 3.Wege zur «Personalisierung» von Autonomie müssen im ­gesamten Feld der Psychiatrie vermehrt diskutiert und situa­ tionsspezifisch adaptiert werden. Dies ist ein hoher Anspruch, besonders wenn zusätzlich die Mehrgenerationenperspektive ins Spiel kommt. Doch liegt hier auch eine bemerkenswerte Chance für das Fach. Die systematische Implementierung dieser F ­ ragen in das universitäre medizinische Curriculum sowie in die ärztliche Weiter- und Fortbildung hat ­tragende Bedeutung, nicht zuletzt mit Blick auf die ärztliche Identität der Psychiatrie. 4.Eine substantielle Auseinandersetzung unseres Faches mit philosophischen Fragen ist keineswegs l’art pour l’art. Sie adressiert vielmehr den Kern psychiatrischer Arbeit und ist damit ­unabdingbar. anderen, ebenfalls freien Person für die Realisierung von Autonomie immer mehr in das Blickfeld [35, 36]. Prägende Autoren wie Karl ­Jaspers (1883–1969), Arthur Kronfeld (1886–1941) oder Martin Buber (1878–1965) setzten diese Tradition im 20. Jahrhundert fort. Sie wandten sich, wenn auch aus je unterschiedlicher Per­ spektive, a limine gegen die Reduzierung des Psychi­ schen auf nur eine Erkenntnisebene und hoben den notwendig interpersonalen Charakter menschlichen Verhaltens, auch im Kontext psychiatrischer Behand­ lungen, hervor [28, 37–39]. Die heutige psychiatrische Forschungs- und Theorien­ landschaft bedarf einer methodenkritischen, philo­ sophisch informierten Grundhaltung mehr denn je. Die aktuell dominierende Dritte-Person-Perspektive ist zwar speziell für die neurowissenschaftliche Grund­ lagenforschung unentbehrlich, doch bleibt sie ange­ wiesen auf die Einbettung in die Erste- und Zweite-­ Person-Perspektive. Nur diese können die subjektive und interpersonale Dimension psychopathologischer Phänomene erfassen, etwa mit Blick auf paranoides ­Erleben, depressive Gehemmtheit, lähmende Zwangs­ gedanken oder ein das Handlungsfeld trichterförmig einengendes süchtiges Verlangen. Der geforderte kritische Dialog zwischen Psychiatrie und Philosophie hat gerade nicht auf wohlfeile, schein­ bar abschliessende Antworten abzuzielen. Einer ex ­cathedra-Haltung sollte er so fern wie möglich stehen, Korrespondenz: Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff Psychiatrische um sich verantwortlich seiner zentralen Aufgabe zu widmen, nämlich voreiligen Festlegungen und dog­ matischen Verkürzungen entgegenzutreten oder, aus ­Universitätsklinik Zürich erkenntnistheoretischer Perspektive, die Grenzen der Klinik für Psychiatrie, explikativen Kraft einzelner wissenschaftlicher An­ ­Psychotherapie und ­Psychosomatik sätze zu benennen. Genau hier liegt für unser Fach Lenggstrasse 31, die oft angezweifelte Praxisrelevanz philosophischer Postfach 1931 CH-8032 Zürich paul.hoff[at]puk.zh.ch Reflektion. Karl Jaspers hat diesen Gedanken meister­ haft verdichtet: SWISS ARCHIVES OF NEUROLOGY, PSYCHIATRY AND PSYCHOTHERAPY 2017;168(6):175–182 Dank Für wertvolle Anregungen danke ich Frau Dr. med. Hadmut Prün, Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und ­-psychotherapie sowie Herrn Dr. med. Florian Riese, Oberarzt an der Klinik für Alterspsychiatrie, beide Psychiatrische Universitätsklinik Zürich. Funding / potential competing interests: No financial support and no other potential conflict of interest ­relevant to this article was reported. Literatur Die komplette Literaturliste ist in der Online-Version des Artikels ­unter www.sanp.ch zu finden.