Medizinische Universität Graz

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Bachelorstudium Gesundheits- und Pflegewissenschaft
Medizinische Universität Graz
Hirscher Michael
Matrikelnummer: 9921069
Gewalt in psychiatrischen
Abteilungen
Bachelorarbeit
Unter der Betreuung von:
a.o. Univ. Prof. Dr. med. Eva Rasky, MME
Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie
Universitätsstraße 6/1
8010 Graz
Im Rahmen der LV Gesundheit und Gesellschaft
Abgabetermin: 29.04.2011
EHRENWÖRTLICHE ERKLÄRUNG
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Bachelorarbeit selbstständig
und ohne fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht
verwendet habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich
entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Weiters erkläre ich,
dass ich diese Arbeit in gleicher oder ähnlicher Form noch keiner anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt habe.
Graz, am 29.04.2011
Michael Hirscher
2
INHALTSVERZEICHNIS
1
Einleitung ........................................................................................................................... 6
2
Material und Methoden ...................................................................................................... 7
3
Definitionen ........................................................................................................................ 8
3.1
Gewalt und Aggression .............................................................................................. 8
3.2
Psychiatrische Abteilung ............................................................................................ 9
3.3
Zwangsmaßnahmen .................................................................................................... 9
4
Theorien zur Aggressionsentstehung ............................................................................... 10
5
Gesetzliche Grundlagen ................................................................................................... 11
6
5.1
Voraussetzungen für eine Unterbringung ................................................................ 11
5.2
Zuweisungs- und Aufnahmearten ............................................................................ 11
5.3
Aufhebung der Unterbringung ................................................................................. 13
5.4
Weitergehende Beschränkungen .............................................................................. 13
5.4.1
Beschränkungen der Bewegungsfreiheit .......................................................... 14
5.4.2
Ärztliche Behandlung ....................................................................................... 14
5.4.3
Beschränkungen anderer Rechte ...................................................................... 14
Gewaltfördernde Faktoren................................................................................................ 15
6.1
Bedingungen einer psychiatrischen Abteilung ......................................................... 15
6.2
Psychiatrische Patienten ........................................................................................... 16
6.2.1
Psychopathologie ............................................................................................. 16
6.2.2
Weitere patientenbezogene Faktoren ............................................................... 17
6.3
7
Mitarbeiterbezogene Faktoren.................................................................................. 19
Gewaltreduzierende Faktoren und Maßnahmen .............................................................. 20
7.1
Institutionelle Maßnahmen zur Gewaltprävention ................................................... 20
7.1.1
Sicherheitskultur............................................................................................... 21
7.2
Aus-, Fort- und Weiterbildung ................................................................................. 22
7.3
Deeskalationsmaßnahmen in aggressiven Krisensituationen ................................... 22
3
7.3.1
Deeskalierende Kommunikation ...................................................................... 23
7.3.2
Gezielte Deeskalation in Krisensituationen ..................................................... 24
7.3.3
Nachbesprechung von aggressivem Verhalten und Zwangsmaßnahmen ........ 26
7.3.4
Präventive Maßnahmen bei Zwangsmaßnahmen ............................................. 28
7.4
Individuelle Maßnahmen der Mitarbeiter ................................................................ 29
7.4.1
Adäquate Situations- und Risikoeinschätzung ................................................. 29
7.4.2
Exkurs: Die Brøset-Gewalt-Checkliste ............................................................ 30
7.4.3
Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung .......................................................... 30
8
Schlussfolgerungen .......................................................................................................... 32
9
Diskussion und Ausblick .................................................................................................. 34
10
Literaturverzeichnis:..................................................................................................... 35
11
Abbildungsverzeichnis ................................................................................................. 38
4
Zusammenfassung
Deutsch:
Psychiatrische Abteilungen unterscheiden sich wesentlich von Abteilungen anderer
medizinischer Bereiche, da die Psychiatrie neben dem medizinischen Behandlungsauftrag
auch noch einen ordnungspolitischen Auftrag zu erfüllen hat. Zu diesem Auftrag gehören
unter bestimmten Umständen auch Freiheitseinschränkungen und Zwangsmaßnahmen. Schon
alleine durch diese Maßnahmen und Beschränkungen sind Gewalt und Aggressionen in
psychiatrischen Abteilungen nicht völlig zu vermeiden. Im Rahmen dieser Arbeit werden die
gewaltfördernden und gewaltreduzierenden Faktoren in psychiatrischen Abteilungen
dargestellt. Die psychische Erkrankung der Patienten und deren Persönlichkeitsmerkmale, die
speziellen Bedingungen einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung sowie individuelle
Merkmale der Mitarbeiter konnten als gewaltfördernde Faktoren identifiziert werden. Eine
Reduzierung der Gewalt kann durch eine verbesserte Ausbildung der Mitarbeiter im Umgang
mit Aggression und Gewalt, durch die Schaffung von entsprechenden institutionellen
Voraussetzungen zur Gewaltprävention und durch gezielte Deeskalationsmaßnahmen im Falle
von aggressiven Krisensituationen erreicht werden.
English:
Psychiatric units differ significantly from units of other medical areas as psychiatry has in
addition to treatment also a regulatory function. This includes, under certain circumstances,
restraints on liberty and coercion. These measures and restrictions implicate that violence and
aggression cannot be avoided completely in psychiatric units. In this study violence reducing
and promoting factors in psychiatric units are shown. The mental illness of the patients and
their personal characteristics, the specific conditions of closed institutions, and individual
characteristics of employees were identified as violence promoting factors. A reduction of
violence can be achieved through improved training of staff in dealing with aggression and
violence, through the creation of appropriate institutional arrangements to prevent violence
and specific de-escalation measures.
5
1
Einleitung
Gewalt und Aggression sind vermehrt auftretende Phänomene unserer Zeit. Im Meinungsbild
der
Allgemeinheit
kommt
dabei
aggressives
Verhalten
und
Gewalttätigkeit
im
Zusammenhang mit psychischer Krankheit und psychiatrischen Institutionen noch einmal
besondere Bedeutung zu. Die durch psychisch Kranke verübten Attentate auf die beiden
deutschen Politiker Oscar Lafontaine und Wolfgang Schäuble sowie die Affäre um die
psychiatrische Abteilung des Wiener Otto-Wagner-Spitals rückten das Thema in den letzten
Jahren vermehrt in den Fokus der Öffentlichkeit. Unter anderem wurde in Folge der
Vorkommnisse in Österreich das Bundesgesetz über die Unterbringung psychisch Kranker in
Krankenanstalten mit 1. Juli 2010 geändert. Schon durch den ordnungspolitischen Auftrag zur
Vollziehung des Unterbringungsgesetzes und den damit verbundenen Maßnahmen gegen den
Willen
von
Personen
(„Zwangsmaßnahmen“)
ist
eine
völlige
Vermeidung
von
Aggressionsereignissen in psychiatrischen Abteilungen unmöglich. Die Folgen solcher
Ereignisse können für die Institution, die Patienten und Mitarbeiter beträchtlich sein. Viel
schwerer als die Folgen einer physischen Verletzung sind meist die psychischen Schäden.
Auch die Beziehung von Mitarbeitern und Patienten wird dadurch belastet. Die Folgen für die
psychiatrische Einrichtung sind oftmals sinkende Arbeitsmoral oder vermehrter Arbeitsausfall
bei den Mitarbeitern.
Wie oft Gewaltsituationen auf psychiatrischen Stationen vorkommen ist schwierig
festzustellen. Das Fehlen einer einheitlichen Definition für Gewalt und Aggression, sowie die
mangelnde Registrierung und Dokumentation von Gewaltsituationen sind dabei erhebliche
Probleme. Nahezu alle Studien bestätigen, dass im Besonderen die Pflegekräfte in
psychiatrischen Einrichtungen von aggressiven Übergriffen der Patienten betroffen sind. Laut
einer Übersichtsarbeit von Whittington (1994) schwankt der Anteil der Pflegekräfte, die von
Gewaltübergriffen der Patienten betroffen sind, zwischen 65 % und 95 %. Auch Steinert et al.
(1991) berichten von einer Rate von 83 % in einer von ihnen durchgeführten Studie aus
Baden-Württemberg.
6
2
Material und Methoden
Die leitende Forschungsfrage für die Bearbeitung des Themas lautet:
Welche Faktoren fördern Gewalt und Aggression und welche Maßnahmen bzw.
Faktoren können Gewalt und Aggression in psychiatrischen Abteilungen reduzieren?
Weiters wird die im Bezug auf die Forschungsfrage entwickelte Hypothese: „Gewalt gegen
Patienten und Pflegekräfte wird durch die Abgeschiedenheit in geschlossenen
psychiatrischen Abteilungen gefördert!“ überprüft.
Die Ergebnisse zur Beantwortung der Forschungsfrage wurden im Rahmen einer
Literaturrecherche gewonnen. Die Recherche wurde in den Bibliothekskatalogen der
Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Graz und der Universitätsbibliothek der
Karl-Franzens-Universität Graz durchgeführt. Weitere Quellen zur Thematik wurden in der
Online Datenbank PubMed und im Zuge einer ausführlichen Internetrecherche gefunden.
Zunächst werden wichtige Begriffe zum Thema definiert, die wichtigsten Theorien zur
Aggressionsentstehung kurz zusammengefasst und die gesetzlichen Voraussetzungen in
Österreich dargestellt. Danach werden die Ergebnisse präsentiert. In der danach folgenden
Schlussfolgerung wird die Forschungsfrage beantwortet und die Hypothese überprüft.
Abschließend erfolgen die Diskussion der Ergebnisse und ein Ausblick.
7
3
3.1
Definitionen
Gewalt und Aggression
Eine eindeutige und allgemeine Definition für die Begriffe Gewalt und Aggression existieren
bisher nicht. In der psychiatrischen Fachliteratur werden die beiden Begriffe teilweise
Synonym benutzt.
Aggression ist jegliche Form von verbalem, nonverbalem oder körperlichen Verhalten, durch
das der Patient selbst, andere Personen oder deren Eigentum zu schaden gekommen sind
(Morrison 1990).
„Aggression ist demütigendes, herabsetzendes und destruktives Verhalten, das einen Mangel
an Respekt vor der Würde und dem Wert einer Person zeigt sowie jedes unerwünschte
Verhalten sexueller Art, das dazu führt, dass sich die belästigte Person bedroht, erniedrigt
oder beschämt fühlt. Dies umfasst sowohl verbale Beschimpfungen oder Bedrohungen als
auch physische Angriffe gegen die Person.“ (ICN 2007)
Die WHO definiert Gewalt als einen absichtlichen Gebrauch von angedrohtem oder
tatsächlichem körperlichen Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere
Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher
Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklungen oder
Deprivation führt (WHO 2002).
Unter der strukturellen Gewalt versteht man eine „verdeckte“ Gewalt, die indirekt und somit
unabhängig von Personen existieren kann. Allerdings fördert diese oftmals das individuelle
Handlungsgeschehen. Bei der individuellen oder personalen Gewalt handelt es sich hingegen
um eine beabsichtigte physische oder psychische Schädigung von Menschen, Lebewesen oder
Sachen (von Hirschberg 2009).
8
3.2
Psychiatrische Abteilung
Für den Begriff „Psychiatrische Abteilung“ gilt im Rahmen dieser Arbeit die Definition laut
des österreichischen Unterbringungsgesetzes. Danach wird wie folgt definiert:
Eine Krankenanstalt oder Abteilung für Psychiatrie in der Personen in einem geschlossenen
Bereich angehalten oder sonst Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit unterworfen werden
(§2 UbG).
Diese sind klar zu Unterscheiden von forensisch-psychiatrischen Einrichtungen in der
psychisch kranke Straftäter untergebracht werden.
3.3
Zwangsmaßnahmen
„Unter Zwangsmaßnahmen werden freiheitsentziehende Maßnahmen, wie Isolierung in
verschlossenen Zimmern, Fixierung und die Medikamentenverabreichung unter unmittelbaren
physischen Zwang, verstanden.“ (Schirmer, Mayer et al. 2009, S.62)
Als „Unterbringung“ wird, lt. §2 UbG, die Anhaltung einer Person in einem geschlossenen
Bereich, oder einem Bereich in dem die Person Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit
unterworfen wird, bezeichnet. „Mit der Maßnahme der „Unterbringung“ sind nur
Beschränkungen auf mehrere Räume oder bestimmte räumliche Bereiche (zB Teile einer
Station, ein Stockwerk, den Trakt eines Gebäudes oder einen Pavillon) legitimiert“.
(VertretungsNetz 2010, S. 8) Als „Zwangsmaßnahmen“ im Rahmen des UbG werden sog.
„weitergehende
Beschränkungen“
während
einer
Unterbringung
bezeichnet.
Diese
Maßnahmen sind laut dem Österreichischen Unterbringungsgesetz nur dann zulässig, solange
sie zur Abwehr einer Gefahr, zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerlässlich und zu
ihrem Zweck nicht außer Verhältnis stehen (§33 UbG). Zu den in Österreich durchgeführten
Beschränkungen gehören laut der Patientenanwaltschaft VertretungsNetz
u.a.
das
Einschränken der Bewegungsfreiheit auf einen Raum, das Angurten an ein Bett oder das
Festhalten in einem Netzbett (VertretungsNetz 2010, S. 8). Das Angurten an einem Bett wird
auch als „Fixierung“ bezeichnet. Unter einem „Netzbett“ (siehe auch Abbildung 1) versteht
man ein Bett auf dem ein abschließbares Metallgestänge aufgebracht ist, über das wiederum
9
ein Netz gespannt ist. Als Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie gelten weiters die
„Isolierung“, das ist die Verbringung einer Person gegen ihren Willen in einen Raum oder
Bereich, den sie nicht verlassen kann, sowie „Zwangsmedikation“, die Verabreichung von
Medikamenten gegen den Willen einer Person, und „Festhalten“, das Überwältigen und
Halten eines Patienten durch Mitarbeiter (DGPPN 2009, S 28f).
Abbildung 1: Netzbett
4
Theorien zur Aggressionsentstehung
Im Hinblick auf die Entstehung von Gewalt und Aggression werden verschiedenste
Erklärungsansätze diskutiert. Nachfolgend werden drei bedeutende Theorien kurz
zusammengefasst:
Trieb- oder Instinkttheorien: Darunter werden in erster Linie psychoanalytische oder
verhaltensbiologische Theorien verstanden. Sie gehen davon aus, dass Aggressionen einem
Trieb folgen und dieser Aggressionstrieb ein menschlicher Instinkt ist.
Frustrations-Aggressions-Theorie: Dieser Ansatz sieht Aggression als Reaktion auf
Enttäuschungen und frustrierende Situationen.
Aggression als erlerntes Verhalten: Danach entsteht aggressives Verhalten im Rahmen der
Erziehung und Sozialisation. Insbesondere durch Nachahmung (Ringbeck 1998, S. 31).
10
5
Gesetzliche Grundlagen
Eine Besonderheit einer psychiatrischen Abteilung in Österreich ist die Vollziehung des
Bundesgesetzes
über
die
Unterbringung
psychisch
Kranker
in
Krankenanstalten
(Unterbringungsgesetz – UbG). Dieses Gesetz regelt seit 1991 die Unterbringung psychisch
Kranker in psychiatrischen Krankenhäusern und Abteilungen sowie die rechtliche Kontrolle
von Zwangsmaßnahmen und Beschränkungen im Rahmen der Behandlung von psychisch
Kranken. Eine Novellierung des Gesetzes erfolgte in den Jahren 1997 und 2010.
5.1
Voraussetzungen für eine Unterbringung
Für eine Unterbringung einer Person in einer psychiatrischen Abteilung müssen drei
Voraussetzungen gegeben sein (§3 UbG):
1. Die Person leidet an einer psychischen Krankheit.
2. Im Zusammenhang mit dieser Krankheit ist das Leben oder die Gesundheit der
betreffenden Person oder anderer Personen ernstlich und erheblich gefährdet.
3. Die Person kann nicht auf andere Weise, insbesondere außerhalb einer psychiatrischen
Abteilung, ausreichend ärztlich betreut oder behandelt werden.
Die betreffende Person darf nur aufgenommen werden, wenn nach dem ärztlichen Zeugnis
des Abteilungsleiters die Voraussetzungen für die Unterbringung gegeben sind (§10 Abs. 1
UbG).
5.2
Zuweisungs- und Aufnahmearten
Im Zusammenhang mit dem UbG ist eine Unterscheidung der Zuweisungs- und
Aufnahmearten
erforderlich,
da
sie
sich
hinsichtlich
der
daraus
resultierenden
Kontrollmechanismen wesentlich unterscheiden.
 Zuweisungen durch Ärztinnen bzw. Ärzte im öffentlichen Sanitätsdienst bzw. durch
Polizeiärztinnen und Polizeiärzte: Im §8 ist geregelt, dass eine Person gegen oder ohne
ihren Willen von Sicherheitsbehörden nur dann auf eine psychiatrische Abteilung
11
gebracht werden darf, wenn ein im öffentlichen Sanitätsdienst stehender Arzt oder
Polizeiarzt sie untersucht und bescheinigt, dass die Voraussetzungen der
Unterbringung gegeben sind.
 Zuweisung durch eine Sicherheitsbehörde: Bei „Gefahr im Verzug“ haben die Organe
des öffentlichen Sicherheitsdienstes die Berechtigung eine Person auch ohne
Bescheinigung durch einen Arzt in eine psychiatrische Abteilung zu bringen (§9 Abs.
2 UbG).
 Informelle Zuweisung: Diese Form der Zuweisung ist unabhängig vom UbG (zB
Überweisung durch Hausarzt oder Hausärztin, Aufsuchen der Abteilung aus eigenem
Antrieb der Person, Überweisung durch ein Allgemeinkrankenhaus).
Unabhängig von der Art der Zuweisung sind folgende Aufnahmearten möglich:
 Aufnahme ohne Verlangen: Bei einer Aufnahme gegen oder ohne Willen der
zugewiesenen Person hat der Abteilungsleiter unverzüglich diese zu untersuchen und
ehestens über die Gründe der Unterbringung zu informieren. Weiters muss
unverzüglich ein Patientenanwalt und ein Angehöriger (außer der Kranke
widerspricht), bzw. auf Verlangen des Kranken auch der Rechtsbeistand der Person,
verständigt werden. Sowohl die aufgenommene Person, ihr Vertreter als auch der
Abteilungsleiter können die Erstellung eines zweiten ärztlichen Zeugnisses über das
Vorliegen der Voraussetzungen der Unterbringung durch einen weiteren Facharzt,
verlangen (§10 UbG). Des Weiteren ist bei jeder Aufnahme ohne Verlangen in eine
psychiatrische Abteilung unverzüglich das Gericht zu verständigen (§17 UbG).
 Aufnahme auf Verlangen: Das Verlangen muss von der Person eigenhändig
schriftlich, in Gegenwart des Abteilungsleiters, gestellt werden. Es müssen die
Voraussetzungen der Unterbringung gegeben sein sowie die Einsichts- und
Urteilsfähigkeit. Das Verlangen auf Unterbringung kann jederzeit, auch schlüssig,
widerrufen werden (§§4 und 6 UbG). Die Aufnahme ist auf 6 Wochen beschränkt. Sie
kann auf ein erneutes Verlangen auf insgesamt max. 10 Wochen ab dem Zeitpunkt der
12
Aufnahme verlängert werden (§7 UbG). Nach Ablauf der Frist ist im Rahmen des
UbG nur noch die Möglichkeit der Unterbringung ohne Verlangen möglich.
 Informelle Aufnahme: Hierbei handelt es sich um eine Aufnahme unabhängig vom
UbG. Diese ist auch möglich wenn eine Person durch eine Sicherheitsbehörde in die
psychiatrische Abteilung gebracht wird.
 Keine Aufnahme: Nicht jede Zuweisung in eine psychiatrische Abteilung bedeutet
eine stationäre Aufnahme. Dies kommt auch vor, wenn eine Person durch
Sicherheitsbehörden zugewiesen wird.
5.3
Aufhebung der Unterbringung
Beim Wegfall der Voraussetzungen hat der Abteilungsleiter die Unterbringung jederzeit
aufzuheben (§32). Dies führte in der Vergangenheit häufig dazu, dass Patienten entlassen
werden
mussten,
obwohl
ihr
psychischer
Zustand
noch
schlecht
war,
eine
Behandlungsnotwendigkeit gegeben war, aber keine akute Gefährdung mehr bestand. Die
Folge waren sehr häufige Behandlungsabbrüche und Wiederaufnahmen in geschlossene
Bereiche. Durch die Gesetzesnovellierung 2010 wurden die Bestimmungen bezgl. einer
Aufhebung der Unterbringung geändert bzw. ergänzt. Es hat eine Abwägung stattzufinden, ob
durch eine zeitlich begrenzte Fortführung der Unterbringung, insbesondere durch einen zu
erwartenden Behandlungsfortschritt, der nur im Rahmen der Unterbringung zu erzielen ist,
die Wahrscheinlichkeit wesentlich verringert werden kann, dass der Kranke in absehbarer Zeit
nach der Aufhebung der Unterbringung neuerlich in seiner Freiheit beschränkt werden muss
(§32a UbG).
5.4
Weitergehende Beschränkungen
Bei den weitergehenden Beschränkungen im Rahmen einer Unterbringung lt. UbG werden
drei Arten unterschieden. Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, ärztliche Behandlung
gegen den Willen und sonstige Beschränkungen.
13
5.4.1 Beschränkungen der Bewegungsfreiheit
Im Einzelfall sind Beschränkungen der Bewegungsfreiheit zulässig, wenn sie zur Abwehr
einer Gefahr sowie zur ärztlichen Behandlung oder Betreuung unerlässlich sind.
Beschränkungen auf einen Raum oder Bereiche eines Raumes müssen vom behandelnden
Arzt jeweils besonders angeordnet und in der Krankengeschichte unter Angabe des Grundes
dokumentiert werden. Über die Zulässigkeit dieser Beschränkung hat das Gericht auf
Verlangen des Kranken oder seines Vertreters unverzüglich zu entscheiden (§33 UbG).
5.4.2 Ärztliche Behandlung
Die ärztliche Behandlung muss nach den Grundsätzen und anerkannten Methoden der
medizinischen Wissenschaft durchgeführt werden. Der Grund und die Bedeutung der
Behandlung sind den Kranken oder auch deren gesetzlichen Vertretern zu erläutern. Auf
Verlangen ist die Erläuterung auch dem Patientenanwalt zu geben (§35 UbG). Gegen den
Willen eines einsichts- und urteilsfähigen Patienten oder einer Patientin darf grundsätzlich
keine Behandlung erfolgen. Einer besonderen Heilbehandlung (zB operative Eingriffe) muss
der Patient oder die Patientin schriftlich zustimmen. Bei fehlender Einsichtsfähigkeit muss die
gesetzliche Vertretung (zB Sachwalter) zustimmen. Hat der Kranke oder die Kranke keine
gesetzliche Vertretung so muss auf Verlangen des Patienten/der Patientin das Gericht
unverzüglich über die Zulässigkeit der Behandlung entscheiden (§36 UbG). Eine Behandlung
ohne Zustimmung bzw. gerichtliche Genehmigung ist nur dann erlaubt, wenn die Behandlung
so dringend notwendig ist, dass der mit der Einholung der Zustimmung oder Genehmigung
verbundene Aufschub das Leben gefährden würde oder mit der Gefahr einer schweren
Schädigung der Gesundheit des Kranken/der Kranken verbunden wäre. Die Entscheidung
über die Notwendigkeit und Dringlichkeit muss der Abteilungsleiter treffen (§37UbG).
5.4.3 Beschränkungen anderer Rechte
Eine Beschränkung weiterer Rechte (Telefonieren mit anderen Personen, Besuche von
anderen Personen zu empfangen, Tragen von Privatkleidung, Gebrauch persönlicher
Gegenstände, Ausgang ins Freie) ist, wenn nicht besondere Vorschriften bestehen, nur dann
zulässig wenn sie zur Abwehr einer Gefahr oder zum Schutz der Rechte anderer Personen in
14
der psychiatrischen Abteilung unerlässlich und für ihren Zweck verhältnismäßig sind. Der
Schriftverkehr des Kranken und dessen Verkehr mit seinem Vertreter dürfen nicht
eingeschränkt werden (§§ 34 und 34a UbG).
6
6.1
Gewaltfördernde Faktoren
Bedingungen einer psychiatrischen Abteilung
Die Bedingungen in psychiatrischen Abteilungen unterscheiden sich wesentlich von denen in
Stationen anderer medizinischer Bereiche. Neben dem medizinischen Behandlungsauftrag hat
die Psychiatrie nämlich auch noch einen ordnungspolitischen Auftrag zu erfüllen (Richter,
Sauter 1998, S.9).
Psychiatrische Institutionen richten sich, wie auch andere Institutionen, in ihren
Verfahrenweisen nicht ausschließlich an den Interessen und Bedürfnisse ihrer Nutzer sondern
auch an denen der Institution. Dadurch manifestiert sich strukturelle Gewalt. Zudem sind
psychiatrische Abteilungen auf Grund der öffentlich bekannten hoheitlichen Aufgaben der
Unterbringung und Beschränkungen gegen den Willen mit dem Stigma der Gewaltausübung
belegt. Dieses Stigma und die tatsächlichen oder befürchteten Erscheinungsweisen der
strukturellen Gewalt können aggressive Verhaltensweisen bei Patienten hervorrufen bzw.
verstärken (DGPPN 2009, S.11).
Schon die Aufnahmesituation ist auf geschlossenen psychiatrischen Stationen häufig mit
Aggression und Gewalt verbunden. Auslöser hierfür sind oftmals bereits die Ereignisse die
zur Aufnahme führen (Ringbeck 1998, S. 36). Insbesondere bei der Verbringung einer Person
in eine psychiatrische Abteilung ohne ihren Willen durch eine Sicherheitsbehörde bei „Gefahr
im Verzug“ (§9 Abs. 2 UbG) sind oftmals aggressive oder mit Gewalt verbundene Ereignisse
vorangegangen.
Auch die Patientenstruktur der untergebrachten Patienten in einer psychiatrischen Abteilung
sind ein zu berücksichtigender Aspekt im Bezug auf Gewalt und Aggression. Je mehr schwer
kranke Patienten und wegen Fremdgefährdung gegen ihren Willen untergebrachte Patienten
in einer psychiatrischen Einrichtung behandelt werden, desto größer ist das Problem mit
15
Gewalt. Ebenso ist eine gleichzeitige Behandlung von schwer erkrankten Patienten mit
distanzlosem, desorientiertem, lautem oder aggressivem Verhalten nicht förderlich für eine
gewaltarme Atmosphäre in der Abteilung. Auch die Überbelegung von psychiatrischen
Stationen, d.h. eine Ansammlung zu vieler Kranker auf zu wenig Raum („Crowding“) ist für
die Entstehung von Gewalt eher förderlich (DGPPN 2009, S.11).
6.2
Psychiatrische Patienten
Aggressive Übergriffe von psychiatrischen Patienten können eine Vielzahl von Ursachen und
Auslösern
haben.
krankheitsbedingte
Grob
können
dabei
Fehlwahrnehmungen
die
geprägten,
psychopathologischen,
und
die
also
durch
normalpsychologischen,
verständlichen, psychoreaktiven Ursachen, welche bei psychisch Gesunden ebenfalls
auftreten, unterschieden werden. Der Aggression liegt dabei oft ein ganzes Bündel
unterschiedlichster Auslöser zugrunde, die in komplexer Weise zusammenwirken (Steinert
2008, S. 42).
6.2.1 Psychopathologie
Aggressives Verhalten im psychiatrischen Kontext ist meist mit einem Erregungszustand
verbunden. Dieser Zustand ist gekennzeichnet durch gesteigerte motorische und vegetative
Erregung sowie intensive Emotionen von Wut und Ärger und damit verbundenen verbalen
und
psychomotorischen
Äußerungen.
Aggressives
Verhalten
ohne
derartige
psychopathologische Merkmale fallen primär nicht in eine psychiatrische Zuständigkeit,
sondern sind typischerweise mit kriminellen Handlungen verbunden. Langezeit ging man
davon aus, dass mit psychischen Störungen kein erhöhtes Aggressionsrisiko verbunden ist.
Seit den 1990er Jahren hat sich diese Meinung jedoch gewandelt, da mehrere Studien
übereinstimmend zu dem Ergebnis eines Zusammenhangs zwischen psychiatrischen
Symptomen und aggressiven Verhalten kamen (DGPPN 2009, S. 7ff).
Die
mit
Aggressionen
und
Gewalttätigkeit
einhergehenden
psychomotorischen
Erregungszustände können fast alle Arten psychischer Störungen und Erkrankungen sein.
16
Häufige Ursachen sind:
Alkoholintoxikation (evtl. in Verbindung mit einer Persönlichkeitsstörung),
akute Psychosen (Schizophrenie, Manie),
psychoreaktive Erregungszustände (zB familiäre Konfliktsituationen),
Intoxikation mit stimulierenden Drogen, zB Kokain, Amphetamin, Ecstasy (Steinert,
Kohler 2005, S. 64f).
Eine halluzinatorische oder paranoide Erkrankung kann der Grund dafür sein, dass Patienten
eine Situation falsch einschätzen, sich dadurch existenziell bedroht fühlen und eine
Aggression auslösen. Eine allgemeine Desorientiertheit, aus der die Betroffenen Unsicherheit
und Ängste entwickeln können, kann ebenfalls ursächlich für aggressives Verhalten sein. Bei
Patienten mit depressiven Erkrankungen sind eher aggressive Verhaltensweisen gegen die
eigene Person zu finden, die bis hin zu ihrer äußersten Form, dem Suizid, führen können
(Ringbeck 1998, S. 32). Aufgrund von psychischen Erkrankungen wie Demenz und
Schizophrenie, Ängsten oder geistiger Behinderung kann die Ausdrucksfähigkeit eines
Patienten vermindert sein. Können dadurch Meinungen, Bedürfnisse, Interessen und Gefühle
nicht in angemessener Weise mitgeteilt werden, kann dies zu Frustration und in weiterer
Folge zu Aggressionen beim Patienten führen. Auch krankheitsbedingte Angst und
Bedrohungen können bei psychisch kranken Menschen Auslöser von Aggressionen sein, da
sie durch ihre besondere Verletzlichkeit diese nicht mehr bewältigen können. Dies äußert sich
häufig in Form von Verfolgungs- und Vergiftungsideen, Verkennung von Personen bzw.
Situationen sowie der Angst vor Kontroll- und Autonomieverlust (Schank 2008, S. 153f).
Wahnvorstellungen, Personen- und Situationsverkennung sind vor allem bei Schizophrenie zu
finden. Manische Patienten haben eine erhöhte Reizbarkeit, die ebenfalls ein möglicher
Auslöser von aggressivem Verhalten ist (Steinert 2008, S. 42).
6.2.2 Weitere patientenbezogene Faktoren
Ärger und Wut treten bei Patienten häufig dann auf, wenn sie sich unfair oder abwertend
behandelt fühlen. Aufgrund mangelnder Be- und Verarbeitungsmöglichkeiten von Wut und
Ärger kann es in der Folge zu Aggressionsausbrüchen kommen. Durch Überforderung, Stress
oder enttäuschte Erwartungen können Frustrationen bei den Patienten entstehen. Aufgrund
17
der häufig herabgesetzten Frustrationstoleranz bei psychisch kranken Menschen kann dies in
aggressives Verhalten umschlagen. Drogen- oder Alkoholkonsum kann zu einer Enthemmung
des Patienten führen, welches in aggressives Verhalten umschlagen kann. Auch
Nebenwirkungen
einiger
Medikamente
(zB
Antidepressiva)
können
aggressive
Verhaltensweisen auslösen oder verstärken (Schank 2008, S. 154f).
Durch einen stationären Aufenthalt können Verhaltensweisen von Patienten durch diverse
Belastungen und Einschränkungen ihrer Bedürfnisse negativ beeinflusst werden. In
psychiatrischen Einrichtungen sind diese Einschränkungen oft noch viel massiver.
Zusätzlich zu den Einschränkungen, welche im Bereich der Intimsphäre und der Sexualität
bei stationären Aufenthalten gegeben sind, kann in psychiatrischen Einrichtungen der
Bewegungsfreiraum durch abgeschlossene Stationstüren eingeengt sein. Druck von
Angehörigen, eine Behandlung durchführen zu lassen, die der Patient für sich selbst noch gar
nicht akzeptiert hat, kann ein weiterer Aspekt sein. Weitere Faktoren wie Heimweh oder
Frustrationen, welche zB durch eine mindere Qualität der Mahlzeiten oder einen vergeblich
erwarteten Besuch ausgelöst werden können, wirken sich auf die Stimmung des Patienten aus
und können ein aggressives Verhalten fördern (Ringbeck 1998, S. 33). Auch Bruch mit der
Alltagswelt und den Alltagsgewohnheiten, Miterleben von Krankheit, Leiden und Tod sowie
belastende diagnostische und therapeutische Eingriffe sind Belastungen bei stationären
Aufenthalten, welche sich auf das Befinden des Patienten negativ auswirken können
(Hartdegen 1996, S. 146). Fehlende Rückzugsmöglichkeiten aufgrund einer schlechten
räumlichen Gestaltung der Abteilung dienen ebenfalls nicht der Schaffung eines gewaltarmen
Klimas (Schank 2008, S.157).
Ein auf der Station ausgeübtes Pflegesystem der Funktionspflege, in welchem administrative
Aufgaben oftmals wichtiger sind als den Patientenbedürfnissen nachzukommen, kann
ebenfalls ein guter Nährboden für aggressives Verhalten sein. Auch für die Entwicklung einer
partnerschaftlichen Beziehung zwischen Patient und Pflegeperson ist das System der
Funktionspflege nicht förderlich (Ringbeck 1998, S. 36f). Schlechte Zusammenarbeit
zwischen den Mitgliedern des Pflegeteams bzw. des multiprofessionellen Teams, sowie
persönliche Diskrepanzen und unbearbeitete Konflikte zwischen den einzelnen Mitarbeitern
können sich auf das Stationsklima negativ auswirken. Ein schlechtes Stationsklima drückt
wiederum auf die Stimmung des einzelnen Mitarbeiters, was sich auf den Patienten
übertragen kann. Auch die Präsenz des Pflegepersonals beeinflusst aggressives Verhalten des
18
Patienten. Ein weiterer Aspekt ist die Über- oder Unterforderung des Patienten durch das
Stationsteam. Das Selbstwertgefühl eines Patienten sinkt, wenn er für eine Aufgabe, die er
erfüllen sollte nicht die notwendigen Ressourcen hat. Der Patient könnte versuchen das
verminderte Selbstwertgefühl durch aggressives Verhalten wieder zu erhöhen. Mit einer
ähnlichen Reaktion könnte der Patient bei Frustration aufgrund Langeweile, welche durch
Unterforderung des Patienten entsteht, reagieren (Schank 2008, S. 157f).
6.3
Mitarbeiterbezogene Faktoren
Berger und Richter (2001) haben in einer Studie über die Häufigkeit, körperliche und
psychische
Folgen sowie Präventionsmöglichkeiten
von Gewaltsituationen in
der
psychiatrischen Pflege festgestellt, dass jüngere Mitarbeiter und Mitarbeiter mit geringer
Berufserfahrung vermehrt an Gewaltsituationen beteiligt sind. Besonders Auszubildende der
Krankenpflege haben ein erhöhtes Risiko, Opfer eines Patientenübergriffs, zu werden (Berger,
Richter 2001, S. 243). Bei jungen und in der psychiatrischen Pflege unerfahrenen
Pflegekräften können erste Anzeichen von aggressivem Verhalten unerkannt bleiben oder
falsch gedeutet werden (Schank 2008, S.158).
Eine wesentliche Rolle spielt die eigene Biografie einer Pflegeperson im Umgang mit
Konfliktsituationen. Wie hat der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin gelernt mit Konflikten
umzugehen? Hat er/sie in der Familie oder im sozialen Umfeld gelernt Konflikte mit
Aggression und Gewalt (verbal oder physisch) zu lösen, besteht die Gefahr auch Konflikte
mit Patienten auf diese Weise zu lösen. Auch fehlendes Einfühlungsvermögen einer
Pflegekraft kann zu Missverständnissen und Fehlreaktionen führen, welche in der Folge zu
aggressiven Verhalten bei Patienten führen können (Kienzle, Paul-Ettlinger 2001, S. 48).
Ein weiterer wichtiger Punkt sind die Selbstpflegefähigkeiten der Mitarbeiter. Wie schafft er
es den „Akku“ wieder aufzuladen, zum Beispiel durch Entspannung außerhalb der
Dienstzeiten. Können die eigenen Aggressionen der Pflegekraft nicht kompensiert werden,
können sich diese auf die Patienten übertragen. Das Pflegepersonal hat ebenfalls das
Bedürfnis nach Sicherheit auf einer Station und kann in manchen Situationen Angst
empfinden. Um diese Angst zu kompensieren, reglementieren psychiatrisch Pflegende oft
Patienten sehr rigide und schränken deren Bewegungs- und Entscheidungsfreiraum massiv
ein, um eine höchstmögliche Sicherheit auf einer Station zu erreichen. Dadurch wird jedoch
19
oftmals das Gegenteil erreicht und Patienten reagieren mit Aggressionen um ihre Bedürfnisse
durchzusetzen. Auf der Station ergibt sich ein hohes Aggressionspotenzial, wodurch die
Ängste des Pflegepersonals noch gesteigert werden (Schank 2008, S. 158).
7
7.1
Gewaltreduzierende Faktoren und Maßnahmen
Institutionelle Maßnahmen zur Gewaltprävention
Für eine wirksame und verhältnismäßige Gewaltprävention in einer Institution ist eine
möglichst gemeinsame Haltung und Zielsetzung bei Auseinandersetzungen gewaltbereiter
Menschen notwendig. Dies schafft Transparenz, Voraussehbarkeit der Maßnahmen und bringt
durch die Übereinstimmung von schriftlich festgelegten Regeln, den verbalen Mitteilungen
und Handlungen der Mitarbeiter für die Patienten eine notwendige Klarheit. Die Regeln
stimmen mit dem professionellen Selbstverständnis und der Haltung der Mitarbeiter noch
stärker überein, wenn die Standards nicht nur von einem einzelnen Mitglied sondern von
einem Team erarbeitet werden. Damit diese Richtlinien auch umgesetzt werden können
müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen geschaffen werden. Dies ist vor allem
Aufgabe
der
leitenden
Personen
einer
Institution.
Neben
der
Schaffung
der
Rahmenbedingungen müssen sie auch für die Durchsetzung der Standards sorgen und deren
Tauglichkeit fortwährend überprüfen. Es ist für eine gelingende Deeskalation unabdingbar,
dass die Institution ihre Mitarbeiter durch Schulungen und Maßnahmen unterstützt, damit
sichere Interventionsbedingungen (sicherungstechnisch, personell und organisatorisch)
geschaffen werden können. Nur wenn sich eine Pflegekraft bei einer ordnungsgemäß
durchgeführten Intervention darauf verlassen kann, dass sie von den Kollegen und
Vorgesetzten dabei unterstützt und im Notfall geschützt wird, kann sie sich voll auf die
Intervention
konzentrieren.
Bei
Mitarbeitern,
welche
(zB
aufgrund
früherer
Traumatisierungen) vermindert belastbar sind, ist es wichtig, dass sie von ihren Vorgesetzten
von Fall zu Fall entlastet werden. Bei unmittelbarer Gefahr für einen Mitarbeiter hat nicht der
Dienstleistungsauftrag für den Patienten, sondern die Wiederherstellung von Sicherheit
Vorrang (Rupp, Rauwald 2004, S. 39f).
Auf der Ebene der Institution beginnt die Gewaltprävention schon mit Pflege von
Anerkennung friedlichen Verhaltens, kompetenter Konfliktlösung und gegenseitigem
20
Respekt. Dies gilt im Kontakt mit den Patienten, für Teammitglieder untereinander und im
Bezug auf die verschiedenen Hierarchieebenen. Es braucht Raum zur wechselseitigen
Wahrnehmung von Gefühlen. Ist der Raum nicht gegeben, kann es, besonders bei Menschen
die sich gekränkt oder ohnmächtig fühlen, zu Gewalttätigkeit als letztes Mittel der
Gefühlsäußerung kommen. Es ist daher innerhalb einer Einrichtung besonders wichtig auf
gekränkte und sich ohnmächtig fühlende Menschen einzugehen (Rupp, Rauwald 2004, S.
40f).
7.1.1 Sicherheitskultur
Die Einrichtung einer systematischen Sicherheitskultur ist für den professionellen Umgang
mit aggressivem und gewalttätigem Verhalten ein entscheidender Faktor. Das bedeutet nicht
nur Vorkehrungen für die Sicherheit und Gesundheit der Mitarbeiter zu treffen sondern vor
allem die Förderung der Problemlösekompetenz der Mitarbeiter. An oberster Stelle steht
jedoch auch hier die Würde und den Respekt gegenüber allen Beteiligten, also auch
gegenüber aggressiven und gewalttätigen Patienten, zu wahren. Die Basis sollte das
Bewusstsein sein, dass es zum beruflichen Alltag gehört mit potenziell aggressiven Menschen
zu arbeiten. Der Schutz der Mitarbeiter vor Gefahren durch die Patienten, der Patienten vor
Autoaggressionen und aller mittelbar Beteiligten sind dabei das Ziel. In der Praxis sollte
daraus ein organisatorisches Sicherheitskonzept und ein personelles Sicherheitskonzept
erarbeitet werden. Im personellen Sicherheitskonzept sind alle Maßnahmen enthalten, welche
auf die Mitarbeiter der Organisation abzielen. Dazu gehören Mitarbeiterauswahl,
Mitarbeiterfortbildung, die Einarbeitung und Anleitung der Mitarbeiter, Supervision und
Nachbearbeitung von Krisenfällen, bis hin zur Verarbeitung von posttraumatischen
Belastungsstörungen. Im organisatorischen Sicherheitskonzept sind die Vorgehensweisen,
Regelungen, sowie Sicherheits- und Alarmeinrichtungen, für den Fall einer gewalttätigen
Krise, zu finden. In den Sicherheitskonzepten sollten alle Personen und Organisationen,
welche in Fällen einer aggressiven Krise herangezogen werden können, berücksichtigt
werden.
Hierzu
gehören
Polizei,
Beratungsstellen,
Angehörigengruppen (Schirmer, Mayer et al. 2009, S. 23ff).
21
Selbsthilfegruppen
und
7.2
Aus-, Fort- und Weiterbildung
Im Bereich Fort- und Weiterbildung werden vermehrt Trainingsprogramme für Mitarbeiter
psychiatrischer Einrichtungen in den Bereichen Prävention und Bewältigung von aggressivem
Patientenverhalten durchgeführt. Dies betrifft vor allem psychiatrisches Pflegepersonal. Die
Inhalte
dieser
Trainingsprogramme
sind
Deeskalationstechniken,
körperliche
Abwehrtechniken sowie Techniken zur Durchführung von Zwangsmaßnahmen.
Deeskalationstechniken
Stress- und Ärgermanagement
Grundregeln der Deeskalation (frühzeitige Intervention, Zeitgewinn, Fairness
gegenüber den Patienten/der Patientin)
Nonverbale Kommunikation (Körpersprache, Mimik, Gestik)
Verbale Kommunikationstechniken (Aktives Zuhören, Verzicht auf Provokationen,
Stärkung des Selbstwertgefühls des Patienten des Patienten/der Patientin etc.)
Körpertechniken
Befreiungstechniken (zB aus Umklammerungen)
Abwehrtechniken (gegen Tritte und Schläge)
Immobilisationstechniken
Fixierungstechniken
Haltetechniken (zB für Fixierungen oder Injektionen)
Zwangsmedikation (DGPPN 2009, S. 17f)
7.3
Deeskalationsmaßnahmen in aggressiven Krisensituationen
Das Ziel dieser Maßnahmen ist es eine weitere Eskalation zu vermeiden. Die gesetzten
Interventionen sollen dabei in bedrohlichen Situationen die Sicherheit des Patienten bzw.
Dritter erhöhen und das Gefühl von Angst bzw. Bedrohung vermindern. Zwang wird dabei so
wenig wie möglich angewandt. Das aggressive Verhalten des Patienten kann man als Teil
seiner
Kommunikation
verstehen.
Es
muss
22
daher
bei
den
Interventionen
des
Behandlungsteams versucht werden mit dem Patienten in eine antiaggressive, nicht
zurückschlagende Kommunikation zu treten.
7.3.1 Deeskalierende Kommunikation
Ein weiterer wichtiger Aspekt in der Gewaltprävention ist eine deeskalierende
Kommunikation. Kommunikationsmodelle wie das „Vier-Seiten-Modell“ von Friedemann
Schulz von Thun (2008) und das so genannte „Vier-Schritte-Modell“ von Marshall B.
Rosenberg (2004) bieten dafür eine Basis.
Neben der Beachtung dieser allgemeinen Grundsätze der Kommunikation ist es auch wichtig,
dass
unterschiedliche
Patientengruppen,
entsprechend
ihrer
psychopathologischen
Eigentümlichkeiten, einen je eigenen kommunikativen Zugang bedürfen.
Menschen
mit
einer
akuten
paranoiden
Schizophrenie
können
aufgrund
von
Wahnvorstellungen gefährliche Handlungen planen und umsetzen. In der Krisensituation
sollten deshalb mindestens drei armlängen Abstand eingehalten werden, man sollte in seitlich
abgedrehter Körperhaltung stehen, direkten Augenkontakt vermeiden und darauf achten, sich
in der Nähe einer offenen Tür zu befinden um sich im Notfall zurückziehen zu können.
Insbesondere bei unbekannten Patienten sollte grundsätzlich eine weitere Person
hinzugezogen werden. Bei Personen im Drogen- und Alkoholrausch kann beruhigendes
Zureden eine Situation verbessern. Eine Diskussion oder eine lange Erklärung von
Maßnahmen ist wenig sinnvoll. Ein argumentativer Zugang ist für diese Patienten nicht
möglich. Bei Patienten mit Persönlichkeitsstörungen sind ausschließlich auf die Einsicht
gegründete Interventionen meist ohne Wirkung wenn nicht durch zusätzliche Handlungen den
Worten Nachdruck verliehen wird. Sie benötigen gelegentlich eine deutliche, konfrontative
Grenzsetzung. Grund dafür ist eine geringe Einfühlungsfähigkeit in andere Personen.
Bei Menschen mit hirnorganischen Störungen ist Vorbeugung und prophylaktischer
Selbstschutz (Abstand halten!) wichtig. Von einer bestimmten Erregungsstufe an können
diese unvermittelt die Selbstkontrolle verlieren (Rupp, Rauwald 2004, S. 30f).
23
7.3.2 Gezielte Deeskalation in Krisensituationen
Das Verständnis für die Entstehung, den Verlauf und die Dynamik von aggressiven
Krisensituationen ist die Basis für eine gezielte Deeskalation.
Aggressive Verhaltensweisen haben immer einen Anlass, eine Ursache oder Auslöser. Bei der
Vorbereitung einer Intervention sollten Pflegende versuchen sich in die Lage des Patienten zu
versetzen, also die Motivation oder den Auslöser für das aggressive Verhalten des Patienten
zu verstehen. Als nächster Schritt sollte versucht werden die vorhandenen Ressourcen zu
erkennen und Entlastungen anzubieten. Sollten die Zeit und die Situation es erlauben sollte
eine Situationsanalyse bei der Suche nach der Entstehung mit einbezogen werden. Bei der
Analyse sollten laut Schulz und Zechert (2004) folgende Faktoren berücksichtigt werden:
Welche personenbezogenen Faktoren sind bei diesem Patienten bekannt? Wer kann
ggf. bezüglich weiterer Informationen befragt werden?
Was haben Zeit- und Örtlichkeit zur Eskalation beigetragen?
Welche Rolle spielt die Anzahl, die Art und das Verhalten der anwesenden
Menschen?
Gibt es jemanden, zu dem der Patient ein besonderes Vertrauensverhältnis hat?
Gibt es Absprachen mit dem Patienten darüber, was geschieht, wenn er aggressiv
wird?
Wie genau die Situationsanalyse durchgeführt wird, hängt davon ab, ob der Patient bereits
bekannt
ist
und
wie
schnell
gehandelt
werden
muss.
Die
entsprechenden
Verhaltensmaßnahmen müssen immer der jeweiligen Situation angepasst werden (Schulz,
Zechert 2004, S. 54ff).
Ist es nicht gelungen die Situation zu beruhigen und es kommt zu einer Steigerung der
Aggressivität ist es wichtig die nun entwickelnde Dynamik solcher aggressiven Vorfälle zu
verstehen um in den einzelnen Phasen die richtigen Interventionen setzen zu können. Schulz
und Zechert (2004) haben hilfreiche Interventionen in den einzelnen Eskalationsphasen am
Modell von Breakwell (Abbildung 2) beschrieben:
24
Abbildung 2: Typische Eskalationsphasen nach Breakwell (1998)
Auslösephase
Während dieser Phase kündigt eine Person durch Frühwarnzeichen an, dass sie sich von ihr
bekannten Handlungsweisen entfernt. Die Frühwarnzeichen werden im Abschnitt „Adäquate
Situations- und Risikoeinschätzung“ (Kapitel 7.4.1) näher beschrieben. In dieser Phase ist ein
Patient meist für deeskalierende Kommunikation noch am ehesten zugänglich.
Eskalationsphase
Das Anbieten von Alternativen und das Auffangen sind in dieser Phase nur mehr schwer
möglich. Der Patient ist stark erregt, Gestik, Mimik und das Verhalten anderer Personen wird
falsch interpretiert. Die betroffene Person reagiert empfindlich und verhält sich bedrohlich.
Die Aussagen der Mitarbeiter einer psychiatrischen Einrichtung müssen in der
Eskalationsphase klar und eindeutig sein. Dem Patient muss klar gemacht werden, welche
Konsequenzen sein Verhalten haben wird. Noch können Lösungsvarianten angesprochen
werden, um die Situation ohne Zwangsmaßnahmen zu lösen.
25
Krisenphase
In der Krisenphase ist, aufgrund der gesteigerten Erregung der Patienten, die Fähigkeit die
aggressiven Impulse zu kontrollieren vermindert. Die Versuche verbal zu argumentieren sind
vergeblich, da sie als weitere Konfrontation gedeutet werden. Diese Phase verläuft meist sehr
kurz und trifft meist mittels körperlicher Angriffe die Mitarbeiter. Die praktizierte und
angedrohte Gewalt gegen Dritte erfordert eine unmittelbare Intervention.
Erholungsphase
Nach einem aggressiven Vorfall normalisiert sich der Organismus wieder. Es besteht aber
weiterhin die Möglichkeit eines erneuten Angriffs. In der Erholungsphase ist eine intensive
pflegerische Begleitung wichtig. Der Vorfall sollte mit den beteiligten Personen unmittelbar
besprochen werden. Eine genaue Beobachtung ist dabei jedoch essenziell, da im Falle eines
erneuten Angriffs der Patient nicht wieder die Auslöse- und Eskalationsphase durchläuft und
somit in der Situation für die Mitarbeiter weniger Handlungsspielraum und Zeit vorhanden
ist.
Depressionsphase
Ziel der Maßnahmen während dieser Phase ist es für mögliche zukünftige aggressive Vorfälle
Lösungen zu entwickeln. Eine Analyse der Situation sollte gemeinsam mit dem Patienten so
bald das Befinden des Betroffenen es zulässt durchgeführt werden. Eine detaillierte
Dokumentation des Vorfalls sollte durch die Mitarbeiter durchgeführt werden (Schulz,
Zechert 2004, S. 61ff).
7.3.3 Nachbesprechung von aggressivem Verhalten und Zwangsmaßnahmen
Eine Nachbereitung eines auto- oder fremdaggressiven Vorfalls , durch Analyse und das
Verstehen des Vorgefallenen, die Möglichkeit für die weitere Behandlungsplanung
vorbeugende Strategien und Alternativlösungen für zukünftiges aggressives Verhalten zu
entwickeln. Die Nachbesprechung des Vorfalls sollte sowohl auf der Ebene der Patienten als
auch der Ebene der Mitarbeiter durchgeführt werden.
26
Sobald die Situation deeskaliert ist, sollte ehest möglich eine Nachbesprechung der
Zwangsmaßnahme oder des aggressiven Vorfalls mit dem Patienten durchgeführt werden.
Das Gespräch mit dem Patienten soll durch die pflegerische Bezugsperson, dem zuständigen
Therapeuten und den anderen an der Situation beteiligten Personen geführt werden. Beim
Gespräch muss das Erleben aller Beteiligten berücksichtigt werden. Sollten Symptome einer
posttraumatischen
Belastungsstörung
auftreten,
müssen
diese
im
Rahmen
des
psychotherapeutischen Prozesses behandelt werden. Eine mögliche Konsequenz aus dem
Gespräch kann eine gemeinsame Behandlungsvereinbarung für zukünftige Behandlungen bei
aggressivem Verhalten des Patienten erstellt werden (Ketelsen, Pieters 2004, S. 72ff).
Auch eine Nachbesprechung des Vorfalls sollte mit allen an der Situation beteiligten
Mitarbeitern möglichst bald erfolgen. Die Nachbesprechung sollte laut Ketelsen und Pieters
(2004) folgendes beinhalten:
Nachbesprechung der Strategie mit gegenseitigem Feedback,
Austausch und Äußerung der Emotionen,
Überprüfung, ob in der Situation eine alternative Vorgehensweise hilfreicher gewesen
wäre.
Die Mitarbeiter, welche von aggressiven Handlungen betroffen waren sind besonders
gefährdet psychische Folgeschäden zu erleiden. Die Vorgesetzten des Mitarbeiters sollten
daher innerhalb von 24 Stunden diesen Mitarbeitern ein Gesprächsangebot machen. Ziele
dieses Gesprächs sollten sein:
Information
über
mögliche
Unterstützungsmöglichkeiten
(zB
Supervision,
kurzfristige Arbeitsentlastung),
emotionale Entlastung des Mitarbeiters,
empathisches Nachvollziehen der Situation,
und erarbeiten von Bewältigungsstrategien.
Zu berücksichtigen ist auch, dass die psychischen Folgen eines aggressiven Vorfalls oft erst
mit Verzögerung auftreten können. Daher ist es sinnvoll zu einem späteren Zeitpunkt ein
Angebot für weitere Gespräche zu machen (Ketelsen, Pieters 2004, S. 76ff).
27
Neben einer Nachbesprechung mit dem Patienten und betroffenen Mitarbeitern muss der
Vorfall auch vom gesamten Team besprochen werden. Dabei soll geklärt werden ob im
Vorfeld Frühwarnzeichen übersehen wurden bzw. wenn diese erkannt wurden ob angemessen
reagiert wurde. Des Weiteren sollen Meinungen und Einschätzungen geäußert werden und
darüber diskutiert werden, ob eine alternative Vorgehensweise vor und während der
Akutsituation eher zu einer Deeskalation beigetragen hätte. Am Ende des Gesprächs sollte
eine Behandlungsplanung zur Prävention bzw. zum Verhalten bei zukünftigen Eskalationen
entwickelt werden (Ketelsen, Pieters 2004, S. 78).
7.3.4 Präventive Maßnahmen bei Zwangsmaßnahmen
Müssen Zwangsmaßnahmen gesetzt werden, so kommt es in vielen Fällen zu einer
erheblichen persönlichen Kränkung beim Patienten und zu einer anhaltenden Störung der
therapeutischen Beziehung zwischen Pflegekraft und Patient. Gründe hierfür sind aus der
Sicht der Patienten Maßnahmen die ihnen gegenüber nicht begründet werden, eine
entwürdigende Vorgehensweise bei der Durchführung der Zwangsmaßnahme (zB wortloses
Überwältigen), oder auch ein Vorgehen nach einem starr wirkenden Schema ohne
erkennbaren Bezug zu ihnen persönlich.
Um die Gefahr einer anhaltenden Störung der therapeutischen Beziehung zu mindern sollten
eine Reihe von Patienten-Anliegen im Bezug auf die Anwendung von Zwangsmitteln
beachtet werden:
Keine überfallsartige Durchführung der Zwangsmaßnahme,
klare und eindeutige Kriterien für die Durchführung einer Zwangsmaßnahme,
Absicherung der Maßnahme durch mitanwesende Vorgesetzte,
ein Gespräch mit dem Patienten nach der Durchführung,
eine taktvolle Ausdrucksweise auch bei energischem Vorgehen,
und emotionell möglichst neutrale Durchführung der Maßnahme (Rupp, Rauwald
2004, S. 27f).
28
7.4
Individuelle Maßnahmen der Mitarbeiter
Auch jeder einzelne Mitarbeiter kann präventive Maßnahmen setzen, um Gewalt und
Aggressionsereignisse in einer psychiatrischen Abteilung zu verhindern oder zu reduzieren.
7.4.1 Adäquate Situations- und Risikoeinschätzung
Die Voraussetzung um Schutzmaßnahmen ergreifen zu können oder um deeskalierend
einwirken zu können ist eine richtige Situations- und Risikoeinschätzung des Mitarbeiters.
Ein erster Schritt dabei ist das Erkennen von Frühwarnzeichen. Einige Anzeichen, die auf
eine erhöhte Gewaltbereitschaft hinweisen, fassen Schirmer, Mayer et al. (2009) zusammen.
Dazu zählen:
Eine feindselige Grundstimmung mit Zeichen von Wut oder Ärger (zB Schimpfen, Drohen),
Zeichen ungewöhnlicher Aufregung oder Passivität (zB gesteigerte Tonhöhe und
Lautstärke, starrer Blickkontakt),
psychomotorische Erregung oder Anspannung (die körperliche Aktivität ist mit der
sicherste Indikator für eine folgende Aggression),
gewalttätige Gestik, geringe Körperdistanz oder Sachbeschädigungen,
Auflösung des gewohnten Musters nonverbaler Kommunikation,
rasche Stimmungsschwankungen,
übersensible Reaktion auf Kontaktangebote oder Kritik,
und ein erhöhtes Gewaltrisiko am Tag der Aufnahme und in der ersten Woche.
Die Gewaltbereitschaft eines Patienten ist von einer Pflegeperson nur dann zu erkennen, wenn
sie auch eine klare Vorstellung vom Grundverhalten des Patienten hat (Schirmer, Mayer et al.
2009, S. 46). Das richtige Einschätzen der oben beschriebenen Verhaltensweisen können
Mitarbeiter einer psychiatrischen Einrichtung durch Rollenspiele oder Videoaufnahmen
erlernen (Richter 2004, S. 132). Das Verwenden von Skalen und Checklisten kann Pflegenden
bei der adäquaten Einschätzung einer Situation bzw. des Eskalationsrisikos helfen. Ein
Beispiel hierfür ist die Brøset-Gewalt-Checkliste (Brøset Violence Checklist, BVC).
29
7.4.2 Exkurs: Die Brøset-Gewalt-Checkliste
Die Checkliste dient zur Einschätzung des Risikos, dass ein akutpsychiatrischer Patient in 812
Stunden
nach
Verhaltensweisen
der
Einschätzung
(Verwirrtheit,
jemanden
Reizbarkeit,
physisch
lärmiges
angreifen
Verhalten,
wird.
verbales
Sechs
Drohen,
körperliches Drohen, Angriffe auf Gegenstände) werden zweimal täglich eingeschätzt (zB um
9 Uhr und 18 Uhr). Wird bei einer Einschätzung eine dieser Verhaltensweisen beobachtet, so
wird diese mit einem Punkt, ansonsten mit null Punkten bewertet. Aus der Gesamtsumme (06 Punkte) ergibt sich die Wahrscheinlichkeit für einen physischen Angriff bis zur nächsten
Einschätzung. Beträgt die Gesamtsumme drei oder mehr Punkte, so sollten Maßnahmen zur
Prävention geplant werden (Abderhalden 2005).
Die Checkliste erwies sich als Instrument, dass sich gut in den Arbeitsalltag integriert und
einfach anzuwenden ist (Schirmer, Mayer et al. 2009, S.47). Die Brøset-Gewalt-Checkliste
wurde bisher jedoch nur auf akutpsychiatrischen Stationen getestet, ein Einsatz in anderen
Bereichen sollte daher nur mit Vorsicht erfolgen (Abderhalden 2005). Ein Problem bei der
Einschätzung nach der BVC oder den oben angeführten Anzeichen ist die primäre
Fokussierung auf den Patienten. Die schwierig mit einzubeziehenden Randbedingungen
werden dabei nicht berücksichtigt. Häufig waren Konflikte zwischen Personal und Patienten,
bei denen es um die der Frage der Entlassung oder die Medikation ging oder der Verweis auf
Stationsregeln sowie Auseinandersetzungen mit anderen Patienten, der Auslöser von späteren
Aggressionen (Richter 1998, S. 125).
7.4.3 Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung
„Selbstkontrolle ist die Kraft und Fähigkeit, durch vernünftig-sittlichen Willen das eigene
Denken, Handeln und Fühlen zu gestalten.“ (Schirmer, Mayer et al. 2009, S. 35)
Um in angespannten Situationen die Ruhe und Übersicht zu behalten und ein inadäquates
Verhalten vermeiden zu können ist die Beherrschung von Selbstbeeinflussungstechniken, zum
Beispiel Selbstinstruktion oder (innerliche) Abreaktion eine gute Basis (Richter 2004, S. 132).
Es ist bei der Arbeit mit psychisch kranken Menschen besonders wichtig, die eigene Angst
wahrzunehmen, da die Gefahr besteht, auf Angst mit einem aggressiven Impuls zu reagieren.
30
Wird ein Mensch mit Gewalt bedroht, so reagiert der Körper mit Stress. Der Organismus
konzentriert sich auf den Stressor, und das Gedächtnis sucht nach geeigneten
Verhaltensweisen um die Aufgabe zu lösen. Es ist daher notwendig für eine Pflegekraft in
gewalttätigen Situationen die Selbstkontrolle aufrecht zu erhalten. Ein erster Schritt ist eine
Selbstreflexion zum Thema Angst und Aggression durch die Pflegekraft. Sie sollte sich dabei
Fragen stellen wie: Wie erlebe ich Angst? Wie habe ich in der Vergangenheit
Angstsituationen bewältigt? In welchen Situationen bin ich in der Vergangenheit aggressiv
geworden? Wie bin ich in der Vergangenheit mit Aggression umgegangen? Wie hat sich die
Aggression geäußert? Nur wenn die eigenen Gefühle angenommen werden, kann eine
situationsgerechte Lösung gefunden werden. Eine Möglichkeit für die Pflegekraft, um die
Selbstkontrolle in einer aggressiven Situation aufrecht zu erhalten, ist die Erstellung eines
„Selbstkontrollplans“. Dieser persönliche Notfallplan sollte zwei oder drei Punkte kurz und
klar anführen, an die sich Pflegende in Krisensituationen halten können. Die Techniken um
sich kontrollieren zu können sind vielfältig. Atemkontrolle (zB durch tiefes Luft holen),
Rückwärtszählen von 21 auf 0, oder sich positive Seiten beim Patienten suchen, wären
Möglichkeiten, um nur ein paar Beispiele zu nennen (Schirmer, Mayer et al. 2009, S. 31ff).
„Es ist nicht wichtig, was man tut, sondern dass man etwas tut, um aus der Eskalationsspirale
auszusteigen.“ (Schirmer, Mayer et al. 2009, S. 39)
31
8
Schlussfolgerungen
Hinsichtlich der zu bearbeitenden Forschungsfrage konnten verschiedene gewaltfördernde
und gewaltreduzierende Faktoren identifiziert werden.
Ein Aspekt sind die speziellen Bedingungen einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung.
Neben dem medizinischen Behandlungsauftrag hat eine psychiatrische Abteilung auch noch
einen ordnungspolitischen Auftrag. Im Rahmen des ordnungspolitischen Auftrags
(Vollziehung des Unterbringungsgesetzes) kann es auch zu Zwangsmaßnahmen und
Maßnahmen gegen den Willen einer Person bei Eigen- und Fremdgefährdung kommen.
Durch solche Maßnahmen reagieren Patienten oftmals mit aggressivem Verhalten. Je mehr
Patienten gegen ihren Willen auf einer Station gemeinsam untergebracht sind, desto größer ist
die Wahrscheinlichkeit für Aggressionsereignisse. Hinzu kommen Einschränkungen der
Intimsphäre und der Sexualität, fehlende Rückzugsmöglichkeiten und der Bruch mit der
Alltagswelt mit denen Patienten bei stationären Aufenthalten konfrontiert sind. Zusätzlich zu
diesen generellen Einschränkungen kann es in geschlossenen psychiatrischen Abteilungen
noch zu massiven Freiheitseinschränkungen (abgeschlossene Stationstür, Fixierung) kommen.
Diese Faktoren bestätigen die vor der Arbeit aufgestellte Hypothese einer Förderung von
Gewalt und Aggression durch die Abgeschiedenheit in psychiatrischen Abteilungen. Ein
weiterer Faktor für aggressives Verhalten kann die Psychopathologie des Patienten sein.
Häufige
Ursachen
der
mit
Aggressionen
und
Gewalttätigkeit
einhergehenden
psychomotorischen Erregungszustände sind Alkoholintoxikation (evtl. in Verbindung mit
einer Persönlichkeitsstörung), akute Psychosen (Schizophrenie, Manie), psychoreaktive
Erregungszustände (zB familiäre Konfliktsituationen) und Intoxikation mit stimulierenden
Drogen (zB Kokain, Amphetamin, Ecstasy). Neben der Psychopathologie können auch
„normalpsychologische“ Faktoren wie Ärger und Wut, Überforderungen, Stress und andere
psychosoziale Belastungen aggressives Verhalten beim Patienten auslösen oder verstärken.
Die Biografie, Ängste, das Alter und die Erfahrung sowie die Kommunikationsfähigkeit von
Mitarbeitern in psychiatrischen Abteilungen können Gewalt und Aggressionen fördern. Eine
mangelnde Psychohygiene der Pflegekräfte konnte als weiterer gewaltfördernder Faktor
identifiziert werden.
Zu den Institutionellen Voraussetzungen für eine Gewaltprävention in psychiatrischen
Abteilungen gehört eine systematische Sicherheitskultur, welche sowohl den Schutz der
32
Mitarbeiter achtet, als auch die Würde und den Respekt gegenüber aggressiven und
gewalttätigen Patienten bewahrt. Klare Leitlinien und Standards (zB für die Durchführung
von Zwangsmaßnahmen) sowie ein organisatorisches und ein personelles Sicherheitskonzept
der Einrichtung mindern die Wahrscheinlichkeit von Aggressionsereignissen. Mitarbeiter
einer psychiatrischen Einrichtung, insbesondere Pflegekräfte, können durch eine adäquate
Situations- und Risikoeinschätzung frühzeitig deeskalierend einwirken. Das Erkennen von
Frühwarnzeichen, welche auf eine erhöhte Gewaltbereitschaft hinweisen, ist dabei eine
wichtige Voraussetzung. Auch eine deeskalierende Kommunikation beugt Gewaltübergriffen
vor. Eine Orientierung an Kommunikationsmodellen wie dem „Vier-Schritte-Modell“ von
Marshall B. Rosenberg oder dem „Vier-Seiten-Modell“ von Friedemann Schulz von Thun
sind dabei hilfreich. Ein weiteres wichtiges Hilfsmittel können auch Checklisten für die
Risikoeinschätzung, wie die Broset-Gewalt-Checkliste, sein. Auch die Selbstkontrolle und
Selbstbeherrschung der Mitarbeiter und die Beherrschung von Deeskalationstechniken
können Gewalt und Aggression vermindern. Das oberste Ziel aller Deeskalationsstrategien ist
die Gewaltvermeidung. Sind körperliche Interventionen nicht zu vermeiden, so muss auf die
Verhältnismäßigkeit geachtet werden. Es geht dabei um den Schutz des Personals, dabei soll
der Angreifer möglichst keine körperlichen oder psychischen Schäden erleiden. Um dies
gewährleisten zu können müssen die entsprechenden Deeskalationstechniken und
Körpertechniken bereits in der Ausbildung der Mitarbeiter geschult werden. Während einer
aggressiven Notfallsituation sollen alle Maßnahmen auf eine weitere Eskalation abzielen. Die
Basis dafür sind das Verständnis für Entstehung, Verlauf und Dynamik einer Notfallsituation.
Eine Orientierung an den typischen Angriffsphasen des Modells von Breakwell kann dabei
helfen
die
passende
Nachbesprechung
eines
Intervention
Vorfalls
anzuwenden.
Durch
(Gewaltübergriff,
die
Nachbereitung
Zwangsmaßnahme)
und
können
Alternativlösungen und präventive Strategien für zukünftiges aggressives Verhalten
entwickelt werden. Auch um psychische Folgeschäden vermeiden zu können sind eine
Nachbesprechung mit den betroffenen Mitarbeitern, mit dem Team und dem Patienten nötig.
33
9
Diskussion und Ausblick
Gewalt und Aggression in geschlossenen psychiatrischen Abteilungen werden auch durch die
aktuelle Novelle des österreichischen Unterbringungsgesetzes nicht völlig zu vermeiden sein.
Ein weiterer Schritt zur Gewaltreduktion dürfte damit jedoch gesetzt worden sein. Schon die
Änderungen beim Aufnahmeverfahren im Rahmen einer Unterbringung auf Verlangen (§6
UbG) dürften zur Reduktion von Zwang und Aggression beitragen. Bei der Unterbringung auf
Verlangen mussten bislang zwei Ärzte den Patienten vor einer Unterbringung untersuchen
und die Notwendigkeit der Aufnahme bescheinigen. Dadurch war diese Art der
Unterbringung bislang eine Seltenheit. Eine Erhöhung des Anteils der Unterbringungen auf
Verlangen gegenüber den Unterbringungen ohne Verlangen ist wünschenswert. Die
Begriffsbereinigung (Anstatt des Begriffs „psychiatrischer Anstalt“, wird im Gesetz nun der
Begriff „psychiatrische Abteilung“ verwendet) ist ein weiterer begrüßenswerter Schritt, da
damit zur „Entstigmatisierung“ von psychiatrischen Abteilungen beigetragen wird. Ob die
weiteren Änderungen des Gesetzes (Abschaffung des verpflichteten zweiten Zeugnisses über
die Bescheinigung der Notwendigkeit einer Unterbringung ohne Verlangen; Änderungen bei
der Beendigung der Unterbringung; Bessere Rechtsstellung des Abteilungsleiters,
Änderungen bei den Beschränkungen) im Hinblick auf eine Reduzierung von Gewalt sich
positiv auswirken, wird darauf ankommen, wie diese in der Praxis umgesetzt werden.
Ein weiterer wichtiger Aspekt wäre eine Verbesserung der Ausbildung der in psychiatrischen
Abteilungen tätigen im Umgang mit Gewalt und Aggression. Dieses Thema spielt bei der
Ausbildung von Pflegekräften in Österreich noch immer eine untergeordnete bis gar keine
Rolle. Verpflichtende Module im Rahmen der Ausbildung und vermehrte Angebote von
Trainingsmaßnahmen
(Deeskalationstechniken,
Körpertechniken)
in
der
Weiterbildung wären ein Schritt zur Vermeidung von Aggression und Gewalt.
34
Fort-
und
10 Literaturverzeichnis:
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Bundeskanzleramt (2010) Bundesgesetz vom 1. März 1990 über die Unterbringung psychisch
Kranker in Krankenanstalten (Unterbringungsgesetz – UbG).
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aggressivem Verhalten in der Psychiatrie und Psychotherapie.
www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/038022_S2_Therapeutische_Massnahmen_bei_aggressivem_Verhalten_in_der_Psychiatrie_und_
Psychotherapie_lang_08-2009_08-2014.pdf, 18.04.2011.
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Jena, Lübeck, Ulm.
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79.
Kienzle T., Paul-Ettlinger B. (2001) Aggression in der Pflege. Umgangsstrategien für
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35
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11 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Netzbett .............................................................................................................. 10
Abbildung 2: Typische Eskalationsphasen nach Breakwell (1998) ......................................... 25
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