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Was ist Verhaltensmedizin?
Andreas von Leupoldt und Thomas Ritz
Einleitung
Die Verhaltensmedizin ist im Vergleich zu anderen Fachrichtungen in der Wissenschaft eine recht junge Disziplin. Ihre eigentliche Entwicklung begann in den frühen
Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, wobei ihre Wurzeln bereits deutlich
älter sind. Wie der Name vielleicht vermuten lässt, handelt es sich hierbei um eine
Verbindung von verhaltensbezogenen Aspekten und solchen, die körperlicher bzw.
medizinischer Natur sind. Dies deutet bereits namentlich auf den interdisziplinären
Charakter dieses Wissenschaftszweigs hin, der in den vergangenen Jahren stetig an
Relevanz und beteiligten Vertretern zugenommen hat. Nachfolgend sollen einige
wichtige grundlegende Merkmale der Verhaltensmedizin dargestellt werden sowie
die hier versammelten Disziplinen. Neben einem entwicklungsgeschichtlichen Abriss sollen zudem einige Anwendungsfelder skizziert werden, die in den nachfolgenden Beiträgen dieses Buches vertiefend behandelt werden.
1
Definition und theoretischer Rahmen der
Verhaltensmedizin
1.1
Definition
Im Jahr 1977 trafen sich an der Yale University in den USA Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen, die allesamt auf dem Gebiet Gesundheit und Krankheit tätig waren. Ziel dieser ersten und wegbereitenden Konferenz zur Verhaltensmedizin („Behavioral Medicine“) war die Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit der unterschiedlichen Wissenschaftszweige bei der Erforschung von
Gesundheits- und Krankheitsprozessen bzw. bei der Anwendung von entsprechenden Interventionen. Die von den Teilnehmern gemeinsam verfasste Definition
der Verhaltensmedizin (Schwartz und Weiss 1978) ist bis heute weitgehend anerkannt und findet sich auch in leicht modifizierter deutscher Fassung in entsprechenden Lehrbüchern:
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Was ist Verhaltensmedizin?
„Im Kontext einer biopsychosozialen Sichtweise von Gesundheit und Krankheit ist die Verhaltensmedizin das interdisziplinäre Arbeitsfeld, in dem Gesundheits- und Krankheitsmechanismen unter Berücksichtigung psychosozialer, verhaltensbezogener und biomedizinischer Wissenschaften erforscht werden und
die empirisch geprüften Erkenntnisse und Methoden in der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation eingesetzt werden“ (nach Ehlert 2003,
S. 4).
Die Verhaltensmedizin verbindet somit verhaltensorientierte Wissenschaften wie
die Psychologie mit der körperlich ausgerichteten Biomedizin, um auf betont interdisziplinäre Weise alle relevanten Faktoren auf den verschiedenen Ebenen von
körperlicher Gesundheit und Krankheit zu erforschen. Wichtig ist hierbei zum
einen, dass die Interaktion psychischer und physischer Aspekte bei Krankheiten
explizit anerkannt wird und somit eine lange Tradition der reduktionistischen
Trennung von Körper und Geist aufgehoben wird. Zum anderen wird deutlich,
dass die Verhaltensmedizin auf empirisch geprüften Kenntnissen beruht, deren
daraus abgeleitete Methoden ebenfalls in der Empirie validiert wurden und werden.
Zudem wird durch die fachübergreifende Zusammenarbeit der verschiedenen beteiligten Disziplinen nach einem bestmöglichen umfassenden Verständnis der Mechanismen von Gesundheit und Krankheit gestrebt, was durch die Beschränkung
auf eine einzige Wissenschaftsschule häufig verhindert wird.
Das Handlungsfeld der Verhaltensmedizin liegt neben Gesundheitsprozessen in
erster Linie bei körperlichen Erkrankungen und weniger bei psychischen Störungen.
Letztere erlangen allerdings dann verhaltensmedizinische Relevanz, wenn sie mit
einer körperlichen Erkrankung einhergehen, unabhängig davon, ob sie deren Ursache oder Folge sind (Kaptein und van Rooijen 1990; Strauß 2002). Die ursprüngliche Definition von Verhaltensmedizin (Schwartz und Weiss 1977) enthielt einen
weiteren Satz, der bemerkenswerterweise keinen Eingang in neuere Lehrbücher und
die aktuelle Definition der Disziplin durch die Society of Behavioral Medicine
(SBM) gefunden hat: „Psychose, Neurose und Substanzmissbrauch sind nur insofern eingeschlossen, als sie zu körperlichen Störungen als Endpunkt beitragen
(S. 379)“ (siehe auch Kaptein und Weinman 2004). Neue integrative Konzepte
der Gesundheitsversorgung führen besonders im angloamerikanischen Raum zu
einer zunehmenden Verknüpfung klassisch verhaltensmedizinischer und klinischpsychologischer Arbeitsfelder. Eine neuere Verhaltensmedizin-Sonderausgabe des
Journal of Consulting and Clinical Psychology wird diesem Trend gerecht durch
den erweiterten Titel „Behavioral Medicine and Clinical Health Psychology“
(Smith et al. 2002). Die Autoren verknüpfen die Zukunft der Disziplin mit einer
zunehmenden Integration von Aspekten der wissenschaftlichen Erfassung und des
Managements psychischer und körperlicher Gesundheit im Rahmen der Gesundheitsversorgung. In der Tat wird auch mit dem Fortschritt in der Grundlagenforschung von Psychiatrie, Neurowissenschaften und Verhaltensmedizin die Trennung von mentalen und körperlichen Problemen zunehmend schwieriger. Besonders der vierte Teil des vorliegenden Buches greift diese Entwicklung auf und
widmet sich primär psychischen Störungen und ihrem Bezug zu einer integrierten
verhaltensmedizinischen Sichtweise.
11
I Einführung in die Verhaltensmedizin und angrenzende Disziplinen
1.2
Biopsychosoziales Modell der Verhaltensmedizin
Aus der oben genannten Definition wird ersichtlich, dass die Verhaltensmedizin in
einem verallgemeinerten Sinne auf einem biopsychosozialen Modell beruht. Dies
bedeutet, dass zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung der verschiedensten Krankheiten bzw. der Wiederherstellung von Gesundheit verschiedene
biologische, psychische und soziale Komponenten vereint und ebenso ihre Interaktionen beachtet werden. Ausgehend von diesem multifaktoriellen Erklärungsansatz erscheint es geradezu verständlich, dass Vertreter der unterschiedlichen biomedizinischen, psychischen und sozialwissenschaftlichen Fachrichtungen (siehe
unten) interdisziplinär zusammenarbeiten.
Dennoch ist der Umfang der bislang realisierten Interdisziplinarität noch weit
von den Idealen einer integrativen biopsychosozialen Perspektive nach George
Engel (1980) entfernt. Sein Blick auf den erweiterten Erkrankungsprozess, der
sich nicht auf die Explikation des pathophysiologischen Prozesses allein beschränkt, schloss idealerweise die Analyse des Beitrags signifikanter Interaktionspartner des Patienten, der Familie und zumindest des gemeindenahen Interaktionsfeldes ein, wenn nicht auch der kulturellen und subkulturellen Bezüge, in die der
Patient eingebettet ist, sowie die Gesellschaft und Nation als solche. Er verstand
diese Ebenen als ineinander geschachtelte Systeme, die jeweils für sich genuine
Charakteristiken und Dynamiken besitzen, jedoch jeweils auch Komponenten eines
Systems höherer Ordnung darstellen und ohne Bezug zur nächsthöheren Ebene
nicht vollständig charakterisiert sind.
Engel (1980) explizierte die Nützlichkeit dieser Sichtweise am Beispiel eines
Patienten mit akutem Verschluss der Koronararterien. Während entsprechend einer
klassischen biomedizinischen Versorgung Prozesse auf der Ebene des Organs, des
Gewebes und der Zellen (ischämische Prozesse im Myokard, elektrische Instabilität,
Zelltod etc.) untersucht werden und dementsprechend interveniert würde, umfasst
die biopsychosoziale Versorgung eine gezielte Analyse höherer Ebenen, wie etwa
typische Persönlichkeitseigenschaften und Bewältigungsmechanismen des Patienten
(Bedürfnis nach Kontrolle, Erleben der Krankheit als Schwäche), die einer frühzeitigen Selbsteinlieferung des Patienten im Wege stehen könnten oder die medizinische Diagnose und Behandlung erschweren könnten. Beispielsweise könnten die
unbeachteten Gefühle der Ohnmacht während einer misslungenen arteriellen Punktierung im Krankenhaus auf niedrigerer Ebene über die Mobilisierung des sympathischen Nervensystems zur Instabilität des kardialen Systems beitragen und das
Risiko eines Infarkts erhöhen. Auf der Ebene der sozialen Bezüge werden weitere
Einflussfaktoren in die Analyse einbezogen, wie etwa die stabilisierende Rolle von
Ehepartnern und die Wichtigkeit, auch im Sinne der Genesung des Patienten, deren
Gesundheit zu bewahren und Ressourcen zu stärken.
Während Verhaltensmedizin sich zur Aufgabe macht, derartige Aspekte in die
wissenschaftliche Untersuchung und Behandlung einzubeziehen, bleibt angesichts
des Umfangs der zu verarbeitenden Information im Einzelfall oft nur die partielle
Reduktion. Dies betrifft insbesondere höhere Ebenen der Analyse über die unmittelbare Ebene der Person des Patienten hinaus. Die nachfolgenden Beiträge zu den
verschiedenen Krankheitsbildern reflektieren im Kern eine Sichtweise entsprechend
12
Was ist Verhaltensmedizin?
einem biopsychosozialen Modell sowie auch Ansätze zu einer vollständigeren Betrachtung der Erkrankung auf den Ebenen von Familie, Gemeinde und Kultur.
2
Entwicklung der Verhaltensmedizin
2.1
Historische Entwicklung
Die erstmalige Verwendung des Begriffs Verhaltensmedizin wird übereinstimmend
dem Buch „Biofeedback: Behavioral Medicine“ von Berk aus dem Jahr 1973
zugeschrieben (Kaptein und van Rooijen 1990; Ehlert 2003). Der komplementäre
Begriff „Behavioral Paediatrics“ für die Verhaltensmedizin bei Kindern findet sich
hingegen bereits in einem Übersichtsartikel von Kraft und Bratteng aus dem Jahre
1968. In den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts fand im amerikanischen
Sprachraum allerdings schon eine Diskussion dahingehend statt, dass die Verhaltenswissenschaften eine größere Relevanz in der Medizin erhalten müssen. Die
Notwendigkeit ihres Einbezugs in die Ausbildungscurricula von Medizinern wurde
in diesem Zusammenhang im Jahre 1952 von der Vereinigung der amerikanischen
Medizinhochschulen erkannt (Berry 1953) und die Frage der Umsetzung nachfolgend regelmäßig in Fachorganen diskutiert (Stainbrook und Wexler 1956; West
1959).
Die gegenseitige Beeinflussung körperlicher und psychischer bzw. verhaltensbezogener Aspekte bei Gesundheits- und Krankheitsprozessen ist allerdings keine
Erfindung des vergangenen Jahrhunderts. Bereits in der Antike finden sich entsprechende Ansätze in Philosophie und Medizin. Ein viel zitiertes Anwendungsbeispiel stellt beispielsweise das sogenannte Liebesfieber dar. Bei Mesulam und Perry
(1972) werden hierzu verschiedene überlieferte Fallbeschreibungen der antiken
Ärzte Erasistratos (300–240 v. Chr.) und Galen von Pergamon (129–199) sowie
des frühmittelalterlichen Ibn Sina (987–1037) gelistet. Allen Berichten ist gemein,
dass persistierende körperliche Symptome und Erkrankungen von Patienten auf
unerfüllte Liebe zurückgeführt und anschließend geheilt werden konnten. Interessant ist hierbei, dass das geheime Verliebtsein erst durch genaue Verhaltensbeobachtungen seitens der Ärzte entdeckt wurde. Ibn Sina hat hierzu die Pulsdiagnostik eingesetzt, die er wie folgt beschrieb:
„Die Technik besteht darin, dass viele verschiedene Namen genannt und mehrfach wiederholt
werden, während man die Finger am Puls lässt. Wenn er sehr unregelmäßig wird und fast
verschwindet, wird der Vorgang wiederholt. Ändert er sich bei der Erwähnung eines bestimmten Punkts wiederholt, so kannst Du daraus auf Name, Erscheinung, Beruf und ähnliche Kennzeichen des Geliebten schließen“ (nach Hölzl 1999).
Zur anschließenden Therapie bemerkt Sina:
„Wenn schließlich keine andere Heilung erkennbar ist, als die beiden nach den Vorschriften
von Religion und Gesetz zu vereinen, so tue dies. Wir haben Fälle gesehen, in denen der
Patient nach der Vereinigung mit seiner Geliebten in kürzester Zeit seine frühere Gesundheit
und Stärke völlig wiedergewann [. . .]. Dies hat uns über die Maßen erstaunt und wir
erkannten die Abhängigkeit (Unterordnung) der menschlichen Natur (der Körpervorgänge)
von psychischen (geistige) Vorstellungen“ (nach Hölzl 1999).
13
I Einführung in die Verhaltensmedizin und angrenzende Disziplinen
Dieses Vorgehen entspricht im Kern dem heutigen verhaltensmedizinischen Verständnis der Behandlung von Erkrankungen, da neben der somatischen Diagnostik
gleichwertig die psychischen bzw. sozialen Umgebungsbedingungen zur Deutung
und Behandlung von Erkrankungen herangezogen wurden.
Auch in fernöstlichen Kulturkreisen findet sich ein Jahrtausende altes Verständnis einer Einheit von Körper und Geist. In der Tradition des Yoga zeigt sich
beispielsweise, dass durch gezielte willentliche Beeinflussung physiologischer Funktionen durch Atemtechniken, Meditation bzw. körperliche Übungen ein gesteigertes
psychisches Wohlbefinden erreicht werden kann, was wiederum positive Auswirkungen auf das physische Geschehen hat. Eine moderne Variante dieses Vorgehens
findet sich in verschiedenen Biofeedbackprozeduren (Pomerleau und Brady 1979),
welche, wie nachfolgend noch erläutert wird, eine hohe Bedeutung in der Verhaltensmedizin besitzen.
Im christlichen Mittelalter wurde diese ganzheitliche Sichtweise von einer rigiden
Trennung zwischen Körper und Geist abgelöst. Das wohl prominenteste Beispiel
stellt hier der französische Philosoph und Naturforscher René Descartes dar. Dieser
trug durch seine 1641 in den erkenntnistheoretischen „Meditationes de prima
philosophia“ veröffentlichte reduktionistische Sichtweise wesentlich zu dieser Auffassung bei, indem er eine Abkopplung des Körperlichen (res extensa) vom Gedanklichen (res cogitans) postulierte (Wiesendanger 1987). Diese Vorstellungen des
„Leib-Seele-Dualismus“ konservierten sich lange Zeit in einer rein somatisch orientierten Behandlung von Erkrankungen.
Erst Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Zusammenwirken von psychischen
und physischen Einflussfaktoren bei der Entstehung von Krankheiten wiederentdeckt. Dies ist maßgeblich auf den Einfluss der psychoanalytischen Vorstellungen
Sigmund Freuds und seiner Anhänger zurückzuführen. Freud ging in seinem Konversionsmodell davon aus, dass unterdrückte Affekte und intrapsychische Konflikte
sich als physische wie auch psychische Krankheitssymptome manifestieren können.
Wilhelm Reich (1933) erweiterte die Freud’sche Abwehrtheorie zur „Charakteranalyse“, in der er die körperliche Manifestation von Abwehrmechanismen in
skelettmuskulären Verspannungen („Charakterpanzer“) aufzuspüren suchte und
Überlegungen zu Folgen für verschiedene Organfunktionen und deren Erkrankungen anstellte. In psychoanalytischer Tradition entwickelten sich auch die psychosomatischen Theorien (z. B. Alexander 1950), welche den Ursprung spezifischer
organischer Erkrankungen in bestimmten Persönlichkeitscharakteristiken, interpersonellen Konflikten und spezifischen Reaktionen auf diese Konflikte sahen.
Demnach führten erworbene oder konstitutionelle Vulnerabilitäten eines bestimmten Organs oder Organsystems bei Vorliegen einer dieser interpersonellen Charakteristika zur Ausbildung einer spezifischen Krankheit. Nach Alexander (1950) sind
vor allem Neurodermitis, Asthma bronchiale, Ulcus, rheumatöse Arthritis, Diabetes
und essentielle Hypertonie solche psychosomatischen Krankheiten. Ein akuter
Asthmaanfall wird hier beispielsweise als „unterdrückter Schrei nach der Mutter“
interpretiert. Die Behandlung dieser Erkrankungen wurde vor allem mit psychoanalytischer Methodik durchgeführt, wobei ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts viele psychosomatische Fachabteilungen und Kliniken entstanden. Aufgrund
der bislang weitgehend nicht stattgefundenen bzw. von vornherein nicht möglichen
empirischen Überprüfung der psychoanalytischen Konzepte und Entstehungsmo14
Was ist Verhaltensmedizin?
delle von Krankheit sowie durch den häufig wenig verständlichen bzw. als realitätsfern geltenden psychoanalytischen Sprachgebrauch hat sich die Psychosomatik in
der Medizin nur eingeschränkt durchsetzen können (Ehlert 2003).
Ungeachtet dessen existiert weitgehend unabhängig von akademischer Forschung ein Praxisfeld der psychoanalytisch oder psychodynamisch orientierten
Körpertherapien, wie etwa Bioenergetik (Lowen 1975) und Biodynamik (Boyesen
und Boyesen 1977), die sich vielfach in der Nachfolge Reichs und in verschiedenen
Varianten angereichert durch isolierte medizinische und neurowissenschaftliche
Erkenntnisse sowie pragmatische Übernahme von systemtheoretischen Ideen und
fernöstlichen Energetik-Philosophien einer Behandlung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen verschrieben haben. Eine Wiedereinbettung dieser wie
auch anderer alternativer und komplementärer Behandlungsverfahren in die akademische Forschung und ihre Nutzbarmachung für eine erfolgreichere verhaltensorientierte Behandlung von körperlichen und psychischen Erkrankungen ist wünschenswert und wird beispielsweise in den USA durch das 1988 gegründete National Center for Complementary and Alternative Medicine (NCCAM) der National
Institutes of Health finanziell unterstützt.
Ein deutlicher Einfluss auf eine integrierte Sichtweise von Psyche, Verhalten und
Körper bei der Entstehung und Behandlung von körperlichen Erkrankungen und
letztlich auf die Entstehung der Verhaltensmedizin bestand in den erfolgreichen
Forschungsergebnissen zur Verhaltensmodifikation. Insbesondere die aus der behavioristischen Schule hervorgegangene kognitive Verhaltenstherapie konnte auf
eine Vielzahl von empirisch gesicherten Erfolgen in der Behandlung von psychischen Störungen, aber auch von medizinisch relevanten Problemen wie z. B. der
Raucherentwöhnung, verweisen (siehe auch Beitrag von Martin Hautzinger in
diesem Band). Genaue Analysen dysfunktionalen Verhaltens, überprüfbare Störungsmodelle und Behandlungspläne sowie validierte Methoden zur Verhaltensänderung, basierend auf elaborierten lerntheoretischen Konzepten, führten zu einer
zunehmenden Akzeptanz in medizinischen Fachkreisen und zu einer Anwendung
bei körperlichen Erkrankungen (Pearce und Wardle 1989; Pommerleau und Brady
1979). Neben den bis dato fehlenden wirksamen Interventionsmethoden zur Veränderung von dysfunktionalem Verhalten waren es aber auch die erfolgreichen
Forschungsmethoden und Befunde aus der experimentellen Psychologie, welche
nun aussichtsreich für das Feld von Gesundheit und Krankheit zur Verfügung
standen (Katz und Zlutnick 1975).
Zudem gilt auch der erfolgreiche Einsatz von Biofeedbackverfahren als wesentlicher Einfluss für die Entstehung der Verhaltensmedizin. Mit den durch Neil Miller
und Kollegen anfangs im Tierexperiment demonstrierten Erfolgen in der instrumentellen Konditionierung autonomer Prozesse wurde in den 70er und 80er Jahren
eine Flut von Untersuchungen begründet, die sich des Biofeedbacktrainings von
Organfunktionen widmeten (Miller 1978). Hierbei werden dem bewussten Erleben
meist kaum zugängliche autonome Vorgänge mittels entsprechender Geräte aufgezeichnet, in elektrische Signale umgewandelt und zumeist visuell oder akustisch
rückgemeldet. Patienten werden dabei trainiert, das Signal und somit den entsprechenden physiologischen Vorgang in eine gewünschte Richtung hin zu beeinflussen. Forschung zu Biofeedbackverfahren hat damit in großem Umfang die
verhaltensbezogene Erforschung und Modifikation von Körperprozessen in den
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I Einführung in die Verhaltensmedizin und angrenzende Disziplinen
Mittelpunkt des Interesses eines psychologisch und medizinisch orientierten Fachpublikums gerückt. Das Unvermögen, die früheren tierexperimentellen Erfolge zu
replizieren, und die sich häufenden negativen Ergebnisse von Interventionsstudien
haben einer realistischeren Zielsetzung des Biofeedbacks Vorschub geleistet, indem
sich Behandlungsmodalitäten nun zunehmend auf Prozesse beschränken, die direkt
oder indirekt durch Mobilisierung von Funktionen des somatischen oder zentralen
Nervensystems modifizierbar sind, wie etwa über die Atmung, Skelettmuskelaktivierung oder elektrokortikale Prozesse. Chronische Rückenschmerzen etwa, denen
in vielen Fällen eine erhöhte Anspannung der Rückenmuskulatur zugrunde liegt,
werden seit Jahren mittels Biofeedback erfolgreich behandelt (siehe auch den Beitrag von Gisela Peters in diesem Band). Hierbei wird die Spannung der Rückenmuskulatur elektromyographisch mittels Oberflächenelektroden erfasst und dem
Patienten beispielsweise als Tonsignal rückgemeldet, welches bei steigender Anspannung ebenfalls ansteigt. Der Patient trainiert nun die Reduktion der Muskelspannung über eine Verringerung der Tonhöhe (Rief und Birbaumer 2006). Zusätzlich können diese Verfahren dazu beitragen, den Betroffenen den Zusammenhang
zwischen psychischen und körperlichen Aspekten ihrer Erkrankung zu verdeutlichen, sowie über das Erlernen von Kontrolle über die eigenen Körperfunktionen
zu einer gesteigerten Selbstwirksamkeitserwartung führen.
Nicht vergessen werden darf, dass die seit Jahren immense und stetig ansteigende
Kostenbelastung des Gesundheitssystems einen enormen Druck auf die Heilberufe
ausübt. Effiziente, evidenzbasierte und kostengünstige Behandlungsmethoden gewannen somit auch von volkswirtschaftlicher Seite her an Bedeutung. Bereits in den
80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde darauf hingewiesen, dass die
Verhaltensmedizin mit ihren erfolgreichen und empirisch gesicherten Methoden bei
der Prävention, Diagnostik, Behandlung und Rehabilitation einen wirksamen Beitrag zur Reduktion von Kosten leisten kann, was zu ihrer verstärkten Verbreitung
beitragen dürfte (Kaptein und van Rooijen 1990).
2.2
Aktueller Stand der Verhaltensmedizin
Mittlerweile gilt die Verhaltensmedizin als etablierter Wissenschaftszweig, dessen
biopsychosoziales Erklärungsmodell für eine Vielzahl von Erkrankungen und deren
Interventionen als weithin akzeptiert bezeichnet werden kann. Das Interesses an
dieser Disziplin wächst hierbei stetig. Während für das Jahr 1977, in welchem die
wegweisende Yale Konferenz stattfand, erst eine Publikation mit dem Stichwort
„Behavioral medicine“ in der Wissenschaftsdatenbank PubMed gelistet wird, finden sich für das Jahr 1987 schon 18 derartige Publikationen, für das Jahr 1997
bereits 43 und für das Jahr 2005 mittlerweile 63 Veröffentlichungen. Eine Vielzahl
von nationalen wie auch internationalen verhaltensmedizinischen Fachzeitschriften
(u. a. Annals of Behavioral Medicine, Behavioral Medicine, Journal of Behavioral
Medicine, International Journal of Behavioral Medicine oder Verhaltenstherapie
und Verhaltensmedizin), Büchern und Kongressen beschäftigen sich fortlaufend mit
verhaltensmedizinischen Themen. Im Kern überwiegend verhaltensmedizinisch relevante Arbeiten werden auch in weiteren renommierten internationalen Fachzeit16
Was ist Verhaltensmedizin?
schriften der Nachbardisziplinen, wie Psychosomatic Medicine und Health Psychology, publiziert. Zudem gibt es eine Reihe von nationalen wie auch internationalen
wissenschaftlichen Gesellschaften, die der Förderung dieser Disziplin verpflichtet
sind (International Society of Behavioral Medicine, ISBM; Society of Behavioral
Medicine, SBM). In Deutschland ist dies seit zwei Jahrzehnten die Deutsche Gesellschaft für Verhaltensmedizin und Verhaltensmodifikation e. V. (DGVM).
Seminare zur Verhaltensmedizin werden mittlerweile an psychologischen wie
auch an medizinischen Fakultäten angeboten, wobei diese zumeist noch nicht
zum Pflichtcurriculum zählen. Eine zunehmende Verbreitung der verhaltensmedizinischen Ausbildung für angehende Psychologen und Mediziner wäre, wie bereits
von Pearce und Wardle (1989) angemerkt, essentiell, um verhaltensmedizinischen
Erkenntnissen und Methoden zukünftig eine noch stärkere Bedeutung in der Praxis
zukommen zu lassen. Auf aktuelle Trends in der verhaltensmedizinischen Forschung und Praxis wird vertiefend in den nachfolgenden Beiträgen zu den einzelnen
Störungsbildern eingegangen. Angemerkt sei an dieser Stelle lediglich, dass die
rasanten methodischen Entwicklungen, z. B. in der Psychoneuroimmunologie und
den Neurowissenschaften, zunehmend in die Arbeit von Verhaltensmedizinern
einfließen werden. Biofeedbackverfahren, die mittels funktioneller Magnetresonanztomographie die gezielte Beeinflussung der Aktivität spezifischer Hirnareale
erlauben, sind nur ein Beispiel für diese spannenden Entwicklungen (Weiskopf et al.
2003). Eine Reihe neuerer Trends in der Verhaltensmedizin greift auch das Sonderheft des Journal of Consulting and Clinical Psychology auf (Keefe et al. 2002).
3
Wichtige psychologische Konzepte in der
Verhaltensmedizin
Psychologische Konzepte und Modellvorstellungen sind in die Entwicklung von
Interventionsverfahren eingeflossen, die zunächst für die Behandlung psychischer
Störungen eingesetzt wurden. Empirische Belege für die Effektivität vieler dieser
Verfahren führten zu einer erfolgreichen Ausweitung der Anwendung auf körperliche Erkrankungen, was, wie voranstehend erwähnt, vor allem für die verhaltenstherapeutischen Konzepte zutrifft. Aber auch andere Modellvorstellungen und
Interventionen haben große Bedeutung für die Verhaltensmedizin erlangt, z. B.
Entspannungstechniken oder Motivationstechniken, welche in den spezifischen
Beiträgen dieses Buches näher vorgestellt werden sollen. Grundlegende Konzepte,
die in die Verhaltensmedizin von psychologischer Seite eingebracht werden, sind im
Überblick bei Flor et al. (1999) und Rief und Nanke (2003) dargestellt. Im Folgenden gehen wir kurz schlaglichtartig auf einige neuere Entwicklungen ein, die für die
verhaltensmedizinische Forschung von aktueller Relevanz sind.
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I Einführung in die Verhaltensmedizin und angrenzende Disziplinen
3.1
Kognitive Repräsentation von Krankheit
Im Zuge einer konsequenteren Anwendung der kognitiven Perspektive in der Verhaltensmedizin sind in den letzten Jahren zunehmend die kognitiven Modelle, die
sich Patienten von ihrer Krankheit machen, in den Vordergrund gerückt (Weinman
und Petrie 1997). Krankheitsrepräsentation kann dabei auch als Oberbegriff für
eine Reihe von Konzepten stehen, die in ihrer Anwendung auf den Krankheitsbereich die Wahrnehmung von Wesen und Verlauf der Erkrankung durch den Patienten thematisieren. Der Begriff integriert Konzepte der Symptomwahrnehmung
(„Krankheitsidentität“), der Kausalattributionen zur Verursachung, der Wahrnehmung der zeitlichen Dynamik sowie Kontroll- und Konsequenzerwartungen, persönliche Sinnbildung und emotionale Bewertungen. Während Erkenntnisse zu
diesen Elementen einer kognitiven Krankheitsrepräsentation in Zusammenhang
mit verschiedenen Krankheitsbildern teilweise schon untersucht wurden (siehe
etwa die umfangreiche und differenzierte Literatur zur wahrgenommenen Kontrolle
bei Gesundheit und Krankheit, Strickland 1978; Steptoe 2001), bietet die neuere
Forschung erstmals die Gelegenheit der Zusammenführung und des direkten Vergleichs dieser verschiedenen Konzepte bezüglich ihrer Vorhersagekraft für präventive Maßnahmen, den Krankheitsverlauf und die Compliance mit Behandlungsmaßnahmen. Die Beschäftigung mit diesen Konzepten stellt eines von vielen Beispielen dafür dar, dass Verhaltensmedizin längst nicht mehr auf die Anwendung des
behavioristischen Paradigmas auf medizinische Fragestellungen reduzierbar ist.
3.2
Soziale Bezüge
Ein Einbezug der sozialen Bezüge zum Verständnis von Ätiologie und Aufrechterhaltung von Störungen, Krankheitsbewertungen oder Inanspruchnahme von Behandlungen ist seit jeher Teil einer biopsychosozial ausgerichteten Verhaltensmedizin. Mittlerweile belegt ein formidabler Grundstock an Studien die Wichtigkeit der
sozialen Unterstützung für Gesundheit und Erkrankung (Uchino et al. 2006; DiMatteo 2004), jedoch ist weitere Forschung zu den vermittelnden Mechanismen
nötig, die den Einfluss struktureller Aspekte der sozialen Unterstützung (z. B. Größe
des familiären Netzwerks) oder funktionaler Aspekte (Qualität des sozialen Kontakts) erklären können.
Ein zunehmend mehr beachtetes Feld der sozialen Bezüge betrifft den Einfluss
soziodemographischer Diversität, wie etwa kulturelle Zugehörigkeiten, ethnische
Besonderheiten und sozioökonomischer Status, auf den Umgang mit Erkrankung
und die Aufrechterhaltung von Gesundheit (Whitfield et al. 2002). Barrieren oder
auch Ressourcen der Behandlung können in spezifischen kulturellen, religiösen und
folkloristischen Konzepten von Erkrankung bestehen, wie etwa bezüglich der Ursachen und Behandlung von Asthma (Pachter et al. 1995 ) oder der Kommunikation von körperlichen Symptomen (Rhee 2005). In Zeiten der Ressourcenverknappung der sozialen Gesundheitssysteme und zunehmenden finanziellen Verantwortungsübertragung auf den Einzelnen rückt auch der sozioökonomische Status der
18
Was ist Verhaltensmedizin?
Patienten als wichtiger Prädiktor von Erkrankungen und deren Behandlung in den
Vordergrund (Anderson und Armstead 1995).
3.3
Stress und Emotion
Im Gegensatz zur populären Konzeptualisierung von Stress als intrapsychischem
Phänomen („Ich habe Stress“) ist die wissenschaftliche Betrachtung des Phänomens
eher mit der Charakterisierung aversiver Situationen und ihren Konsequenzen für
den Organismus verbunden. Während eine umfangreiche Literatur sich mit der
physiologischen Reaktivität auf experimentelle Stresssituationen beschäftigt hat
(siehe z. B. kardiovaskuläre Reaktivität, Claus Vögele in diesem Band), sind in
den letzten Jahren vermehrt die Wirkungen von chronischem Stress ins Blickfeld
gerückt. McEwen (1998) hat dafür das Konzept der allostatischen Belastung eingeführt (siehe dazu Beitrag von Karl-Heinz Schulz in diesem Band), welche die
akkumulierten Effekte einer andauernden Über- oder Unteraktivierung der organismischen Regulationssysteme bezeichnet. So kann Langzeitbelastung etwa in
einer Herabregulierung der Immunabwehr resultieren, während einmalige, kurzfristige Belastungen teilweise stärkende Effekte auf die Immunabwehr haben können. Besonders der chronische Charakter allostatischer Belastung, ob durch anhaltende organismische Aktivierung, in hoher Frequenz wiederholte Aktivierungen,
fehlende Erholung oder inadäquate Aktivierung von Teilsystemen, die zur Überkompensation anderer Systeme führt, ist im Zusammenhang mit dem Erstauftreten
von Erkrankungen sowie ihrem Management von großer Wichtigkeit.
Die Folgen von Belastung durch Stress wirken sich intrapsychisch durch Veränderungen der Emotionalität (spezifische Emotionen, Stimmungen wie Angst oder
emotionale Reaktivität wie etwa ärgerliche Gereiztheit) aus. Global wird dies meist
über Maße der negativen Affektivität erfasst, die erwiesenermaßen einen engen
Bezug zum Symptombericht und Aspekten der chronischen Erkrankung hat (siehe
z. B. Jonas und Lando 2000; Watson und Pennebaker 1989). Die neuere verhaltensmedizinisch relevante Forschung erbringt demgegenüber zunehmend Hinweise auf
die Wichtigkeit positiver Emotionalität (Pressman und Cohen 2005). So zeigt sich in
experimentellen Studien die Wirkung der Auslösung positiver Emotionen auf die
Erholung von Blutdruckwerten nach einem unangenehmen Film (Fredrickson und
Levenson 1998), im Hinblick auf Persönlichkeitsmerkmale etwa der positive Effekt
von Optimismus auf die Entwicklung der Lungenfunktion (Kubzansky et al. 2002)
oder die Vorhersagekraft positiver, jedoch nicht negativer, Affektivität auf das
Erkrankungsrisiko nach experimenteller Infektion (Cohen et al. 2006).
3.4
Bewältigung
Die auf dem Stress-Bewältigungskonzept von Lazarus und Folkman (1984) basierte
Forschung zu Appraisal und Coping hat im Bereich der klinischen Versorgung von
organischen Erkrankungen vielfältige Anwendung gefunden, wie etwa bei der
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