Wehrmachttruppen beim Vormarsch in Polen (1939): Leichte Triumphe über schwache Gegner ULLSTEIN BILDERDIENST Hitlers Blitzkriege SERIE (II): Polen ist in 37 Tagen erobert; Frankreich unterwirft sich nach 42 Tagen. Nach seiner Machtübernahme 1933 hat Adolf Hitler nur siebeneinhalb Jahre gebraucht, um Deutschland zur Hegemonialmacht Europas zu machen. Doch die schnellen Siege bergen schon den Keim der späteren Niederlage in sich. E s ist der Nachmittag des 21. Juni 1940, als Adolf Hitler in Compiègne nordöstlich von Paris eintrifft. Der Diktator will der Unterwerfung Frankreichs persönlich beiwohnen und hat befohlen, dass für die symbolträchtige Zeremonie jener Eisenbahnwaggon aus dem Museum geholt wird, in dem Matthias Erzberger im November 1918 die deutsche Niederlage anerkannt hatte. Als er die von den Franzosen zur nationalen Wallfahrtsstätte ausgebaute Waldlichtung betritt, entdeckt Hitler einen Granitblock mit der Inschrift: „Hier scheiterte am 11. November 1918 der verbre122 cherische Hochmut des Deutschen Kaiserreichs, besiegt durch die freien Völker, die zu unterjochen es sich anmaßte.“ Hitler ordnet an, den Gedenkstein zu schleifen. Während der Zeremonie wird die Präambel des Waffenstillstandsvertrags verlesen. Darin ist von der „Entehrung und Erniedrigung“ Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg die Rede, auch von der „tiefsten Schande aller Zeiten“, die jetzt endlich getilgt werde. Drei Tage nach der Kapitulation fliegt Hitler nach Paris, um mit seinem Chefarchitekten Albert Speer eine geheime Sightseeing-Tour durch die kampflos eind e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 genommene französische Hauptstadt zu unternehmen. An den Besuch im Invalidendom erinnert sich Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann später so: „Stumm und andächtig stand er vor dem Sarkophag Napoleons. Was ging in ihm vor? Zog er Parallelen zwischen sich und dem Mann, der Europa beherrscht hatte? Als sich Hitler endlich aus der Verzauberung löste, sagte er tief ergriffen: ,Das war der größte und schönste Augenblick meines Lebens!‘“ Der Frankreich-Eroberer steht nach siebeneinhalb Jahren Kanzlerschaft auf dem Höhepunkt seiner Popularität. Als er bei GRIFF NACH DER WELTMACHT tischen Standardrepertoire Der Aufstieg Hitlers der Nationalsozialisten. zum Regierungschef, der Auch Winston Churchill selbst Propagandachef Jowar früh klar, dass der seph Goebbels wie ein Versailler Vertrag keine „Märchen“ vorkam, war dauernde Grundlage für zweifelsohne nur in einem Frieden in Europa sein Land möglich, das mit konnte. Deutschland sei Massenarbeitslosigkeit und „eine viel stärkere Einheit politischer Instabilität geals Frankreich“, schrieb er schlagen war. Aber wie 1924, „und kann nicht perkonnte es die Wehrmacht manent unterjocht werzuwege bringen, zunächst den“. Polen und dann das hochHitler erklärte schon in gerüstete Frankreich so einer seiner ersten Kabischnell zu besiegen? nettssitzungen im Februar Es war nicht allein die 1933, dass die Zukunft moderne Kriegstaktik, die Deutschlands ausschließin einem neuartigen Zulich vom Wiederaufbau sammenspiel von Luftwafder Streitkräfte abhänge. fe, Panzerverbänden und Er war allerdings nicht der Infanterie bestand. Hitlers alleinige Vater der AufrüsErfolge lagen auch darin tung. Auf Weisung von begründet, dass er die AufGeneral Hans von Seeckt lagen des Versailler Ver- Hitler in Paris (im Juni 1940) hatten Stabsoffiziere der trags skrupellos missachtet Nerven verloren Reichswehr bereits 1923 hatte. Die Siegermächte des Ersten Weltkriegs wollten, angetrieben einen hochgeheimen Plan entworfen, der von der französischen Regierung, mit dem den Aufbau eines Heeres mit 102 Divisio1919 in Versailles abgeschlossenen Vertrag nen und 2,8 Millionen Mann vorsah. ein für alle Mal den preußisch-deutschen Auch der Bau von Panzern war projektiert Militarismus bändigen. Neben sehr hohen worden; ab 1929 erprobten ReichswehrexReparationszahlungen musste sich das perten zusammen mit der Roten Armee auf Deutsche Reich verpflichten, seine Armee geheimen Übungsplätzen in Kasan an der auf höchstens 100 000 Mann ohne Panzer Wolga als Traktoren getarnte Panzerwagenund Luftwaffe zu begrenzen. Prototypen von Daimler und Krupp. Das Sprengen der „Fesseln von VerGleich nach seiner Machtübernahme sailles“ zählte fortan zum propagandis- griff Hitler auf die Pläne der Reichswehr- HUGO JAEGER / TIME LIFE / GETTY IMAGES TIME LIFE / GETTY IMAGES der Rückkehr nach Berlin in seinem offenen Mercedes vom Anhalter Bahnhof zur Neuen Reichskanzlei fährt, jubeln ihm Hunderttausende zu. Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Wilhelm Keitel, ruft ihn zum „Größten Feldherrn aller Zeiten“ aus. Überall in der Reichshauptstadt wehen Hakenkreuzfahnen. Die Deutschen stehen nahezu geschlossen hinter ihrem „Führer“. Er hat es geschafft, so räumen selbst Anhänger der Kommunisten und Sozialdemokraten ein, den verhassten Vertrag von Versailles zu revidieren. Der deutschen Wehrmacht ist es gelungen, mit beeindruckender Geschwindigkeit Polen, Dänemark, Norwegen, Luxemburg, Niederlande, Belgien und Frankreich niederzuwerfen. Die deutsche Propaganda prägt das Wort vom „Blitzkrieg“. Die übrigen Staaten Europas sind neutral oder mit Nazi-Deutschland verbündet. Allein die Briten trotzen noch dem scheinbar unaufhaltbaren Aufsteiger aus dem österreichischen Braunau. Europa wird jetzt von einem Mann beherrscht, der die Realschule nicht beendet hat, der bei der Aufnahmeprüfung an der Kunstakademie gescheitert und im Ersten Weltkrieg mangels Führungsqualitäten nicht über den Rang eines Gefreiten hinausgekommen war; ein hypochondrischer Vegetarier, der von 1920 bis 1930 Erfolge als nationalsozialistischer Bierkeller-Agitator erzielte – bevor ihn Reichspräsident Paul von Hindenburg am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte. DER ZWEITE WELTKRIEG Deutsche Infanterie in Versailles (1940): „Einer der erstaunlichsten Feldzüge in der Geschichte des Krieges“ d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 123 DER ZWEITE WELTKRIEG GRIFF NACH DER WELTMACHT Militärisches Kräfteverhältnis in Europa zu Beginn des Zweiten Weltkriegs September 1939 Soldaten Schiffe gepanzerte Fahrzeuge Flugzeuge Polen Deutschland Ostfront 1,3 Mio. 1,5 Mio. 50 40 750 3600 900 1929 Mai 1940 Divisionen Geschütze Panzer Flugzeuge 104 10 22 8 144 141 10700 1280 1338 656 13974 7378 3063 310 10 1368 456 250 175 3099 5446 BPK Frankreich Großbritannien Belgien Niederlande zusammen Deutschland Westfront 3383 2445 F: nur Nordostfront, einschließlich Reserven und einer polnischen Division GB: auf den Kontinent verlegte Kräfte; zusätzlich 850 Flugzeuge im Mutterland Quelle: Militärgeschichtliches Forschungsamt Flugzeugmontage in den Augsburger Messerschmitt-Werken: Den Vertrag von Versailles skrupellos missachtet führung zurück und legte ein Rüstungsprogramm auf, mit dessen Hilfe sich auch die Massenarbeitslosigkeit abbauen ließ. Im Wehrgesetz, mit dem im Mai 1935 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt wurde, hieß es: „Wehrdienst ist Ehrendienst am Deutschen Volke.“ Die Friedensstärke der Wehrmacht, wie sie ab 1935 hieß, legte Hitler, ohne die Generäle der Reichswehr zu konsultieren, auf 36 Divisionen mit 550 000 Mann fest. Im Gegensatz zu den meist konservativen Generälen zog Hitler die richtigen Schlüsse aus dem Ersten Weltkrieg, der in einen für Deutschland nicht zu gewinnenden Stellungskrieg mündete. Der Autodidakt, der gern militärische Fachliteratur studierte, konzentrierte sich daher auf den Aufbau einer schlagkräftigen Luftwaffe sowie auf die Entwicklung eigenständig operierender Panzerdivisionen und moderner Funktechnik. Die Politiker der demokratischen Länder Europas beobachteten die „nationale Wiedergeburt“ in Deutschland mit wachsendem Unbehagen. Gleichzeitig befanden sie sich im Einklang mit ihren Völkern, als sie einen neuen Krieg unbedingt zu vermeiden suchten. Briten und Franzosen hatten im Ersten Weltkrieg einen sehr hohen Blutzoll gezahlt. Sie hatten also gute Gründe, als sie die Besetzung des entmilitarisierten Rheinlands durch Hitlers Truppen, den „Anschluss“ Österreichs und die militärische Unterstützung Deutschlands für General Francisco Franco im Spanischen Bürgerkrieg nicht mit militärischen Mitteln beantworteten. Briten-Premier Neville Chamberlain und sein französischer Kollege Edouard Daladier glaubten, sie könnten den braunen 124 Diktator durch Zugeständnisse von einem Krieg abhalten. Selbst als Hitler von der Tschechoslowakei die Abtretung des Sudetenlandes verlangte, nahmen sie dies Ende September 1938 auf der Münchner Konferenz hin. Sie glaubten Hitlers Versicherung, dass Deutschland keine weiteren territorialen Forderungen mehr habe. Offenbar hatten sie den ehemaligen Postkartenmaler nicht durchschaut. Ihnen war nicht klar, dass sie den Appetit des Diktators auf Eroberungen mit ihrem Entgegenkommen nicht stillten, sondern nur weiter anregten. Und zu den unbestrittenen Fähigkeiten Hitlers zählte, sofort jede Schwäche seiner Gegner zu wittern und auszunutzen. Bereits zehn Tage nach der Besetzung Prags durch die Wehrmacht im März 1939 und der „Erledigung der Rest-Tschechei“, wie Hitler die Okkupation bezeichnete, befahl er dem Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, Pläne für einen Angriff auf den polnischen Nachbarn ausarbeiten zu lassen. Von den Polen verlangte er exterritoriale Transitstrecken durch den Korridor, eine Autobahn sowie eine Eisenbahnlinie und die Rückkehr der Stadt Danzig ins Deutsche Reich, doch die polnische Regierung lehnte dies erwartungsgemäß ab. Bei den Bemühungen, Polen zu isolieren und Frankreich und Großbritannien von einer militärischen Intervention abzuschrecken, landete Hitler seinen größten diplomatischen Coup: Am 23. August 1939 konnte er den geheim ausgehandelten Abschluss eines Nichtangriffspakts mit der Sowjetunion bekannt geben. Bis heute ist umstritten, ob Hitler einen umfassenden Kriegsplan hatte oder ob er, von Rastlosigkeit getrieben, eher spontan, d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 je nach den sich gerade ergebenden Möglichkeiten, einen Feldzug an den anderen reihte. Unstrittig ist allerdings, dass er zunächst einen Krieg gegen Großbritannien vermeiden wollte. Die Briten sah er als arische Rassegenossen, die mit ihrem ausgedehnten Empire einen unverzichtbaren globalen Ordnungsfaktor darstellten. Doch nach dem dreisten Bruch des Münchener Abkommens packte die Engländer eine grimmig-resignierte Entschlossenheit. Wenn es nicht anders gehe, werde man wohl wieder gegen die „Hunnen“ in den Krieg ziehen müssen. Als der Druck Nazi-Deutschlands auf Polen immer stärker wurde, schloss Premierminister Chamberlain im April 1939 mit der Regierung in Warschau einen Beistandspakt. In Großbritannien kamen Regierung und Volk zu der Überzeugung, dass ein Verbrecher wie Hitler gestoppt werden müsse. Hätte es hierfür noch eine Begründung bedurft, dann lieferte sie der deutsche Diktator im Sommer 1939 selbst. Es war der letzte Augusttag des Jahres, als bei den an der Ostgrenze des Deutschen Reichs aufmarschierten Truppen der entscheidende Befehl einging: „Y = 1.9.4.45“. Am 1. September um 4.45 Uhr , bedeutete das, sollte der als „Fall Weiß“ geplante Überfall auf Polen beginnen. Im Morgengrauen eröffnete das ehemalige Linienschiff „Schleswig-Holstein“ das Feuer auf die polnische Exklave Westerplatte bei Danzig. Als kurz darauf deutsche Panzer über die Grenze rollten, trafen sie auf eine Armee, die zwar über elf Kavalleriebrigaden, aber nur über gut 500 veraltete Panzer verfügte. Und eine polnische Luftabwehr existierte allenfalls in Ansätzen. Kriegsminister Tadeusz Kasprzycki hatte es dennoch abgelehnt, defensive Opera- Am gleichen Tag wie Großbritannien und Frankreich erklärten Australien, Neuseeland und Indien dem Deutschen Reich den Krieg. Kurz darauf folgten noch Südafrika und Kanada. Franklin D. Roosevelt hingegen äußerte in Washington die Hoffnung, dass Amerika neutral bleiben könne. „Ich habe Krieg gesehen“, so der US-Präsident, „und ich hasse Krieg.“ Trotz ihrer Kriegserklärung wurden die Franzosen und Briten militärisch kaum ak- Angesichts der Überlegenheit der Wehrmacht mit ihren 1,5 Millionen Soldaten ergaben sich die letzten polnischen Verteidiger am 6. Oktober 1939. Am 17. September – dem Tag, an dem die polnische Regierung zunächst nach Rumänien ins Exil flüchtete – waren zudem noch Einheiten der Roten Armee in Polen einmarschiert. Entsprechend dem geheimen Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt, das nicht einmal Hitlers Generälen bekannt war, besetzten sie den Osten des Landes. Die französischen Generäle befinden Die Mitte Polens wurde zum sich – im Gegensatz zu den deutschen – deutschen Generalgouvernenicht bei den Kampftruppen. ment degradiert, der Westen ins Reich eingegliedert. Als tiv. Die polnischen Streitkräfte waren des- „ein Volk, welches sich nur unter der halb auf sich gestellt. Der Rundfunkrepor- Knute wohlfühlt“, charakterisierte der später William L. Shirer beobachtete die Er- tere Hitler-Attentäter Claus Schenk Graf oberung der Hafenstadt Gdingen durch die von Stauffenberg die Polen. Für die WehrWehrmacht. Man habe den Eindruck, be- macht hielten sich die Verluste in Grenrichtete der Amerikaner, „als bewege sich zen. Weniger als 11 000 gefallenen deutdie deutsche Armee mit der Präzision ei- schen Soldaten standen 70 000 polnische ner Maschine, wie eine Dampfwalze, al- gegenüber. lerdings eine schnelle“. Bei den Offizieren Hitler hatte schon gut eine Woche vor auf dem Beobachtungsposten sei „nicht dem Beginn des Feldzugs die „Vernichder geringste Anschein von Erschöpfung tung Polens“ als dessen Ziel benannt. oder Aufregung“ festzustellen. Sie erin- Reinhard Heydrich, Chef des Reichssinerten Shirer „an Trainer einer Football- cherheitshauptamts, kündigte zwei WoMannschaft, die gelassen am Rand des chen später an: „Die führenden BevölkeSpielfelds sitzen und beobachten, wie die rungsschichten Polens sollen unschädlich Maschine ihrer Schöpfung die gestellte gemacht werden.“ Damit bliebe „der Aufgabe löst“. Pole“, so Heydrich, „der ewige Saison- GALERIE BILDERWELT tionen vorzubereiten: „Wir kennen nur die Offensive“, hatte er geprahlt, „und im Angriff werden wir siegen.“ Sobald die Wehrmacht vorgerückt war, stießen ihre schnellen Panzerverbände, unterstützt von Sturzkampfbombern, durch die polnischen Linien und zerstörten deren rückwärtige Verbindungen. Am Abend des ersten von insgesamt 2194 Tagen des Zweiten Weltkriegs saß Hitler im Musiksalon der Neuen Reichskanzlei in Berlin und verkündete seinem Hofstaat triumphierend immer neue Siegesnachrichten. Die Regierungen in London und Paris forderten sofort den Rückzug der deutschen Truppen, zwei Tage später stellten sie ein Ultimatum. Nachdem beides ohne Antwort geblieben war, erklärten sie am 3. September dem Deutschen Reich den Krieg. Chamberlain berief noch am gleichen Tag als Marineminister einen Mann in sein Kabinett, der wie kein anderer englischer Politiker stets vor Hitler und Nazi-Deutschland gewarnt hatte: Winston Churchill. „Es geht nicht darum, für Danzig zu kämpfen oder für Polen zu kämpfen“, erklärte der aus dem englischen Hochadel stammende Konservative, der bald zum wortmächtigsten und entschlossensten Gegner Hitlers werden sollte. „Wir kämpfen, um die gesamte Welt vor der Pestilenz der Nazi-Tyrannei zu retten und um all das zu verteidigen, was dem Menschen am heiligsten ist.“ Wehrmachtpanzer in Frankreich (1940): Die deutschen Angreifer sind so schnell, dass sogar Hitler Angst bekommt d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 125 DER ZWEITE WELTKRIEG GRIFF NACH DER WELTMACHT streitmacht einzukesseln. General Heinz Guderian, der Panzerspezialist der Wehrmacht, und General Gerd von Rundstedt, Kommandeur der Heeresgruppe A, hielten den Plan für realisierbar und unterstützten ihn. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, und das OKH glaubten hingegen ebenso wie der französische Generalstab, das bergige und waldige Terrain der Ardennen würde einen großen Panzerangriff unmöglich machen. Brauchitsch weigerte sich, Mansteins Vorschlag überhaupt zu diskutieren, geschweige denn, ihn Hitler vorzulegen. Nachdem Manstein keine Ruhe gab und immer neue Denkschriften verfasste, versetzte ihn das OKH kurzerhand als Kommandeur zu einem erst im Aufbau befindlichen Armeekorps nach Stettin. Trotzdem gelang es Manstein, seine unkonventionelle Idee Hitler persönlich vorzutragen und ihn zu überzeugen. Am 10. Mai 1940 greifen 118 deutsche Divisionen Luxemburg, die Niederlande, Belgien und Frankreich an. Insgesamt 29mal hat Hitler den Beginn seines Feldzugs im Westen verschieben müssen, zunächst wegen logistischer Probleme beim Aufmarsch, zuletzt mehrfach wegen schlechten Wetters. Als er aber an diesem Morgen in seinem gepanzerten Sonderzug mit dem Tarnnamen „Amerika“ in seinem militärischen Hauptquartier „Felsennest“ bei Münstereifel eintrifft, strahlt die Sonne – Der „Sichelschnitt“ im Westen Beginn: 10. Mai 1940 NIEDERLANDE Amsterdam GROSSBRITANNIEN DEUTSCHES REICH Dünkirchen Brüssel Rhein BELGIEN Abbeville Ardennen Sedan Westwall Verdun FRANKREICH Paris MaginotLinie Seine 100 km Hitler schenkte seinem Chefmeteorologen später als Dank für die präzise Prognose ein goldenes Chronometer. Luxemburg, das keine Armee unterhält, fällt am ersten Tag. In den Niederlanden besetzen Fallschirmjäger, die zu Tausenden hinter den feindlichen Linien abspringen, wichtige Brücken und erobern RUE DES ARCHIVES und Wanderarbeiter“. Der Generalstabschef des Heeres, Franz Halder, notierte: „Flurbereinigung: Judentum, Intelligenz, Geistlichkeit, Adel.“ Hitler war nun kaum noch zu bremsen. Von dem schnellen und leichten Sieg über Polen beflügelt, wollte er sofort in Frankreich einmarschieren, doch seinen Generälen war bewusst, dass ihre Soldaten es in diesem Fall mit einer weitaus stärkeren Armee zu tun bekommen würden. Umstritten war deshalb auch, nach welchem Angriffsplan die Wehrmacht in Frankreich einfallen sollte. Das Oberkommando des Heeres (OKH) präsentierte eine Variante des von dem preußischen General Alfred Graf von Schlieffen entwickelten Plans, nach dem die Truppen durch Belgien vorstoßen sollten. Der Schlieffen-Plan hatte allerdings den großen Makel, dass er im Herbst 1914 gescheitert war, als der deutsche Vormarsch an der Marne gestoppt wurde und sich daraufhin der für den Ersten Weltkrieg charakteristische Stellungskrieg entwickelt hatte. Zudem bot er das geringste Überraschungsmoment. Diese Schwächen erkannte der ehrgeizige Generalleutnant Erich von Manstein, Stabschef der Heeresgruppe A. Bereits im Oktober 1939 entwickelte er in einer Denkschrift die Idee, mit starken Panzerkräften in der Mitte der Front in den Ardennen durchzubrechen, in Richtung Kanalküste vorzustoßen und so die feindliche Haupt- Deutsche Truppen beim Vormarsch auf Sedan: Aneinander gereiht würden die Kolonnen bis nach Ostpreußen reichen 126 d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 Hitlers Blitzkriege NIEDERLANDE Kapitulation 15. 5. 1940 NORWEGEN Kapitulation 10.6.1940 Der Polenfeldzug DÄNEMARK Kampflos besetzt ab 9.4.1940 DEUTSCHES REICH BELGIEN Kapitulation 28. 5. 1940 Beginn: 1. September 1939 Königsberg Danzig Deutschsowjetische Demarkationslinie Ostpreußen Vorstoß der Roten Armee Weichsel POLEN Ende der Kampfhandlungen 6.10.1939 Warthe Warschau Lódź POLEN Oder Kartenausschnitt BrestLitowsk Bug Breslau Kartenausschnitt FRANKREICH Waffenstillstand 22. 6. 1940 DEUTSCHES REICH JUGOSLAWIEN Kapitulation 18.4.1941 Weichsel Krakau Lemberg 100 km FOTOS: W. FRENTZ / ULLSTEIN BILDERDIENST Als General Fedor von Bock, Oberbewichtige Festungen. Am 15. Mai, nachdem ter ein „phénomène d’halluzination collecdie Luftwaffe die Innenstadt von Rotter- tive“ für den Zusammenbruch der Front fehlshaber der Heeresgruppe B, die sensationelle Nachricht vom Fall Sedans erhält, dam in Schutt und Asche gebombt hat, verantwortlich. Die französischen Generäle befinden sich notiert er: „Der Franzose scheint wirklich unterzeichnet der niederländische Oberbefehlshaber Henri Winkelman die Kapi- – im Gegensatz zu den deutschen – nicht von allen guten Geistern verlassen, sonst tulation. Königin Wilhelmina flieht mit bei den Kampftruppen. Ihr Oberbefehls- konnte und musste er das verhindern.“ „Im Lauf einer einzigen Woche“, so ihrer Familie und ihrer Regierung auf ei- haber Maurice Gamelin, ein hochgebildeter nem britischen Zerstörer nach England, Mann von 68 Jahren, hat sein Hauptquar- schreibt Charles de Gaulle später in seiwo ihr König George VI. ein standesge- tier in einem Vorort von Paris aufgeschla- nen Memoiren, „war das Schicksal besiemäßes Asyl im Londoner Buckingham gen, um Kontakt zum Parlament halten zu gelt.“ Der spätere Führer des „Freien können. Dort hat er keine Funkverbindung Frankreich“ befehligt als Oberst eine PanPalace gewährt. Die entscheidenden Operationen des zu den für einzelne Frontabschnitte ver- zereinheit, welcher der einzige nennensFeldzugs spielen sich allerdings weiter süd- antwortlichen Generälen, da er fürchtet, werte französische Gegenangriff des gelich ab, dort, wo die von den Franzosen die Deutschen könnten dann seine Posi- samten Feldzugs gelingt. Sechs Tage nach dem Beginn des deutschwer befestigte Maginotlinie nach Bel- tion entdecken und das Hauptquartier schen Angriffs fliegt der neue britische Pregien ausläuft. General Rundstedt hat in den bombardieren. Die entscheidende Nordostfront kom- mier Winston Churchill nach Paris und will Ardennen sieben der zehn deutschen Panzerdivisionen zur Verfügung, die im Schnitt mandiert General Alphonse Georges. Als von Gamelin wissen, wo dessen strategijeweils über knapp 12 000 Mann, rund er am vierten Tag vom deutschen Durch- sche Reserven stehen. Als der französische 400 Panzer und 3300 andere Fahrzeuge bruch bei Sedan erfährt, bricht er schluch- Oberbefehlshaber antwortet, dass er keine zend vor seinem Stab zusammen. Sedan habe, kann Churchill das zunächst nicht verfügen. Obwohl ihre motorisierten Vehikel an- war ein Symbol, schließlich hatte hier Hel- glauben und stellt die gleiche Frage noch einander gereiht eine bis nach Ostpreu- muth Graf von Moltke im Sommer 1870 einmal auf Französisch. Nachdem die deutschen Panzerdivisioßen reichende Kolonne ausgemacht hät- Kaiser Napoleon III. und rund 100000 franten, überwinden die Panzertruppen die zösische Soldaten eingeschlossen und ge- nen die Maas überwunden haben, bewegen sie sich mit einer derartigen GeschwindigArdennen und stehen drei Tage nach dem fangen genommen. keit nach Westen in RichBeginn der Offensive an tung Ärmelkanal, dass auch der Maas relativ schwachen Hitler, der fürchtet, dass sie französischen Kräften geden Franzosen eine offene genüber. Flanke für Gegenangriffe Sturmpioniere setzen sobieten, die Nerven verliert. fort über den Fluss und er„Er tobt und brüllt“, norichten Pontonbrücken für tierte Generalstabschef die Panzer. Bei den franzöHalder in seinem Kriegstasischen Verteidigern reicht gebuch, man sei „auf dem allerdings schon das GeWege, die ganze Operation rücht, dass deutsche Panzer zu verderben und sich der auf dem Nordufer der Maas Gefahr einer Niederlage gesichtet wurden, um sie auszusetzen.“ in die Flucht zu schlagen. Als der „Schnelle Heinz“ Ein französisches UntersuGuderian, der das XIX. chungskomitee macht spä- Generäle Guderian, Rommel, Manstein: Meister des Panzerkriegs d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5 127 DER ZWEITE WELTKRIEG GRIFF NACH DER WELTMACHT HUGO JAEGER / TIME LIFE / GETTY IMAGES Verdun, von dem Kurort Vichy aus ein Restfrankreich verwalten; für rund 270 000 in den französischen Kolonien stationierte Soldaten war der Krieg zu Ende. Als Hitler Mitte Juli 1940 in Berlin zwölf Generäle zu Feldmarschällen befördert, appelliert er „an die Vernunft auch in England“. Er sehe „keinen Grund, der zur Fortsetzung dieses Kampfes zwingen könnte“. Doch der Diktator, der in seinen Kriegsplänen Großbritannien immer als verbündet oder neutral vorgesehen hat, täuscht sich. Außenminister Lord Halifax antwortet trocken: „Deutschland wird den Frieden bekommen, wenn es die von ihm besetzten Gebiete geräumt“ habe. Das waren mutige Worte angesichts der erbärmlichen Verfassung, in der sich die britischen Streitkräfte befanden. Von den rund 300 Panzern, mit denen ihZurückgelassene alliierte Ausrüstung am Strand von Dünkirchen (1940): Demütigende Niederlage re Expeditionskräfte nach FrankPanzerkorps führt, den Befehl bekommt art „lächerlicher Leichtigkeit“ überrollen reich übergesetzt hatten, waren sie mit nur 9 zurückgekommen; von rund 1000 Aranzuhalten, legt er aus Protest das Kom- konnte. mando nieder. Einen Tag später wird ihm Immerhin verfügten die Alliierten über tilleriegeschützen konnten gerade 12 gewieder erlaubt, Vorauskommandos loszu- mehr Soldaten und doppelt so viele Artil- rettet werden. Die Legende, nach der es sich bei den schicken, und er fährt weiter. Der Schnells- leriegeschütze wie die Wehrmacht. Auch te in dieser entscheidenden Phase des Feld- was Panzer angeht, hatten die Franzosen Blitzkriegen Hitlers, die er noch mit der Erzugs ist Erwin Rommel mit seiner 7. ein numerisches Übergewicht. Dies alles oberung Jugoslawiens und Griechenlands Panzerdivision, die an einem Tag 120 Ki- nützte nichts gegen die operative Überle- abrundete, um eine wohldurchdachte Stralometer zurücklegt. genheit der Wehrmacht. Während die fran- tegie gehandelt habe, hat der Historiker Der ehrgeizige Rommel, der im Polen- zösische Führung einen relativ statischen Karl-Heinz Frieser widerlegt. Die leichten feldzug Kommandant des Führerhaupt- Krieg im Stil des Ersten Weltkriegs erwar- Triumphe seien schwachen Gegnern zu quartiers war, wird Hitlers Lieblingsgene- tet und beispielsweise ihre Panzer gleich- verdanken gewesen. Da im Industriezeitral und legt den Grundstein zu dem My- mäßig entlang der Front verteilt, massieren alter nicht operative Führungskunst, sondern letztlich die Menschenthos, der den späteren „Wüstenfuchs“ bis und Rüstungspotentiale kriegsheute umgibt. „Auf der Rommelbahn Die schnellen Erfolge verleiten Hitler entscheidend waren, bleiben nachts um halb drei“, wird der Hans-Aldazu, die eigenen Kräfte und die Siege nur das Vorspiel für bers-Schlager über die Hamburger Reedie absehbare Niederlage der perbahn umgedichtet, „jagen Geister mit Fähigkeiten kolossal zu überschätzen. nächsten Jahre. achtzig vorbei; Rommel selbst voran, jeDie unerwartet schnelle Eroberung der hält sich ran, auf der Rommelbahn die deutschen Generäle ihre Panzer in einachts um halb drei.“ genen schlagkräftigen Divisionen, die dann großer Teile Europas verleitet Hitler, die Rommel ist auch ganz vorn, als die deut- via Funk eng mit der Luftwaffe kommuni- eigenen Kräfte und Fähigkeiten kolossal zu überschätzen. Kaum ist Frankreich nieschen Spitzen am 20. Mai Abbéville am zieren und kooperieren. Ärmelkanal nehmen; damit sind rund 1,7 Hitler allerdings macht nach dem uner- dergeworfen, visiert er den Feldzug gegen Millionen Soldaten der Alliierten in Flan- warteten Anfangserfolg einen schweren die Sowjetunion an, mit dem er dem deutdern eingeschlossen. „Der Führer“, notiert Fehler, als er die Panzerdivisionen kurz schen Volk „Lebensraum im Osten“ erGeneral Alfred Jodl, „ist ganz außer sich vor Dünkirchen stoppt. Über sein Motiv obern will. Zum blanken Entsetzen seiner Generäle vor Freude.“ Winston Churchill gibt der spekulieren seitdem Militärhistoriker. Wollspektakulären Operation später den Na- te er, wie heute die meisten Fachleute an- will der Diktator noch im Herbst 1940 die nehmen, der Luftwaffe eine heroische Rol- Wehrmacht Richtung Osten marschieren men „Sichelschnitt“. lassen, obwohl er damit dem Deutschen Die Verluste des Frankreichfeldzugs le einräumen? halten sich für die Deutschen – die den Fest steht, dass so 139 000 französische Reich einen Zweifrontenkrieg bescheren Krieg im Gegensatz zum Sommer 1914 und 226 000 englische Soldaten, fast das ge- würde, der seit der Niederlage im Ersten nicht gefeiert, sondern gefürchtet haben – samte britische Berufsheer, trotz heftiger Weltkrieg ein nationales Trauma ist. „Jetzt haben wir gezeigt, wozu wir fähig in Grenzen. Während etwa 30 000 Soldaten Bombardements der Luftwaffe nach Engder Wehrmacht fallen, haben die Franzo- land flüchten konnten. Die Rettung aus dem sind“, erklärt er seinem General Wilhelm sen 90 000 Gefallene zu beklagen. Kessel von Dünkirchen wurde zwar in Groß- Keitel. „Ein Feldzug gegen Russland wäre Der britische Militärhistoriker Corelli britannien zur Heldensaga verklärt, doch in dagegen nur ein Sandkastenspiel.“ Doch ehe es dazu kommt, stellt sich HitBarnett charakterisiert den „Westfeldzug“ Wahrheit musste die in keiner Weise auf den als „einen der erstaunlichsten Feldzüge in Krieg vorbereitete Weltmacht selten eine so ler der erste Gegner in den Weg, der ihm mindestens gewachsen ist: der englische der Geschichte des Krieges“. Auch Eric demütigende Niederlage hinnehmen. Hobsbawm stellt die Frage, wie die WehrNach dem Zusammenbruch Frankreichs Premier Sir Winston Churchill. macht die alliierten Streitkräfte mit der- durfte Henri Pétain, der einstige Held von Michael Sontheimer 128 d e r s p i e g e l 6 / 2 0 0 5