Die Soziale Sicherung als Grundpfeiler einer neuen Entwicklungstrategie International Labour Office Michael Cichon Abteilung Soziale Sicherheit Internationales Arbeitsamt, Genf Berlin, 18. September 2007 The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 1 International Labour Office “Der Welt fehlen nicht die Resourcen zur Vermeidung von Armut, sondern die richtigen Prioritäten.” Juan Somavia, Generaldirektor der ILO The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 2 Gliederung der Präsentation International Labour Office Erster Punkt: Die politische Herausforderung Zweiter Punkt: Drei ökonomische Mythen, die die Entwicklung von sozialer Sicherheit behindern Dritter Punkt: Eine kurze KostenNutzen-Analyse von sozialer Sicherheit Vierter Punkt: Argumente für einen Paradigmenwechsel in der sozialen Entwicklungspolitik Fünfter Punkt: Voraussetzungen für einen Wandel The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 3 Erster Punkt: Die politische Herausforderung Die Fakten – – – International Labour Office 80% der Menschheit lebt in sozialer Unsicherheit 20% der Menschen leben in extremer Armut Mehr als 5 Millionen Kinder unter 5 Jahren sterben jedes Jahr mangels Zugang zu Gesundheitsversorgung und Einkommenssicherheit Soziale Sicherheit reduziert Armut um mindestens 50% in fast allen OECD-Ländern Soziale Sicherheit reduziert Einkommensungleichheit um 50% in vielen OECD-Ländern Soziale Sicherheit ist als Menschenrecht allgemein anerkannt (Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) Daher sind Sozialtransfers ein wesentliches Instrument der Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung – und doch ist dieses Instrument in nationalen Armuts- und Entwicklungsstrategien noch viel zu wenig genutzt The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 4 Erster Punkt: …soziale Sicherheit wird diskreditiert, obwohl sich drei alte Vorurteile als Mythen erwiesen haben International Labour Office Es gibt keinen allgemeingültigen Trade-off zwischen wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und dem Niveau sozialer Sicherheit, vorausgesetzt soziale Sicherungssysteme sind gut gestaltet und verwaltet Ökonomisches Wachstum alleine vermeidet keine Armut (“the tide does not raise all boats”) … und ein gewisses Niveau sozialer Sicherheit ist in fast allen Stadien wirtschaftlicher Entwicklung finanzierbar… 5 Zweiter Punkt: Entlarvung dreier Mythen über die wirtschaftlichen Auswirkungen der sozialen Sicherung, hier: Trade-off zwischen Effizienz und Gerechtigkeit International Labour Office Das « konventionelle alte » Argument ist: Verlust an Wirtschaftskraft durch Trade-off zwischen Effizienz und Gerechtigkeit (Equity-EfficiencyTrade-Off) Jedoch: Dieser Trade-off ist ein Mythos: « Wachstum ist auch unter Bedingungen gerechterer Verteilung möglich » The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 6 participation as a multiple of the unemployment rate Labour market performance measured by labour force Zweiter Punkt: …viele der offenen Ökonomien investieren relativ viel in soziale Sicherheit International Labour Office 2 0 .0 0 CHN NLD IR L IN D UK DK USA 1 0 .0 0 SW BRA G ER F S A 0 .0 0 0 .0 0 5 .0 0 1 0 .0 0 1 5 .0 0 2 0 .0 0 2 5 .0 0 3 0 .0 0 3 5 .0 0 4 0 .0 0 P u b lic s o c ia l e x p e n d it u r e in p e r c e n t o f G D P 7 International Labour Office Correlations between per hour productivity and social expenditure per capita in OECD countries in 2001 Productivity (per hour worked) 60 50 40 30 20 10 0 0 y = 0.0043x + 8.7845 R2 = 0.7812 2000 4000 6000 8000 10000 12000 Total public social expenditure per capita in PPP The ILO Global Campaign to extend Social Security to all Source: OECD 8 Zweiter Punkt: Verwerfung des Trickle-Down-Mythos auf nationaler Ebene: Relativ starke negative Korrelation zwischen Armutsquoten und Sozialausgaben The ILO Global Campaign to extend Social Security to all International Labour Office 9 Zweiter Punkt: Dagegen deutlich schwächere Korrelation zwischen Armutsquoten und BIP The ILO Global Campaign to extend Social Security to all International Labour Office 10 Zweiter Punkt: …und führt möglicherweise zu einer grösseren Einkommensungleichheit International Labour Office 11 Zweiter Punkt: Verwerfung des NichtFinanzierbarkeits-Mythos: Können einkommensschwache Länder sich ein Mindestniveau sozialer Sicherung leisten? International Labour Office ILO-Studien: Zwei Kostenschätzungen der ILO und eine Verteilungsstudie zu einem Paket sozialer Mindestleistungen in einkommensschwachen Ländern – – – Costing minimum benefit packages in seven countries in Africa (Pal et al. 2005) Costing minimum benefit packages in five countries in Asia (Mizunoya et al. 2006) Assessing the poverty effects in two low income African countries (Gassmann and Behrendt, 2006) The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 12 Paket sozialer Mindestleistungen: Annahmen zu Leistungsniveaus Universelle Alters- und Invaliditätsgrundrenten: – – International Labour Office Senegal/Tansania: Leistung in Höhe von 70% der nationalen Armutsgrenze (food poverty line) 12 Länder in Afrika und Asien: Leistung von $0.5 PPP pro Tag Universelle Leistungen für Kinder: Senegal/Tansania: Leistung von 35% der nationalen Armutsgrenze (50% der Grundrente) für alle Kinder im Schulalter (7-14) und Waisen unter 7 Jahren of food poverty line (half of a pension) – 12 Länder in Afrika und Asien: Leistung von $0.25 PPP pro Tag für alle Kinder bis 14 Jahre Gesundheitsgrundversorgung: Jährliche Pro-Kopf-Kosten basierend auf den Erfahrungen in Namibia und Thailand Verwaltungskosten: 15% der Leistungsausgaben für universelle Barleistungsprogramme – The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 13 … Paket sozialer Mindestleistungen ist auch in einkommensschwachen Ländern finanzierbar International Labour Office 40.0% 35.0% Percent of GDP 30.0% 25.0% 2010 20.0% 2020 15.0% 2030 10.0% 5.0% Asia Tanzania Senegal Kenya Guinea Ethiopia Cameroon Burkina Faso Viet Nam Pakistan Nepal India Bangladesh 0.0% Africa The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 14 14 Dritter Punkt: Kosten-Nutzen-Analyse: Auswirkung auf die Reduzierung der Armutsquote (Simulation) International Labour Office Poverty rate (percent of the population) 25 20 Universal old age and disability pension 15 Universal child benefit for school-age children (7-14) 10 Simulated remaining poverty rate 5 0 Senegal Tanzania The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 15 Auswirkung auf die Reduzierung der Armutsquote (Simulation): Tansania International Labour Office Simulated reduction of poverty rates in Tanzania 45 40.8 40 5.0 Poverty rate (head count) 35 8.8 30 25 22.2 20 5.1 15 7.9 27.0 10 5 9.2 0 Food poverty line Remaining poverty Basic needs poverty line Old age and disability pension and benefit for children and orphans The ILO Global Campaign to extend Social Security to all Access to health care 16 Analyse der möglichen Wirkungen und der Kosten von Barleistungen in Senegal und Tansania: Kosten der Leistungen in Prozent des BIP child benefit International Labour Office pension 5% 4% 3% 2% 1% 0% Senegal Tanzania The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 17 Dritter Punkt: Weitere Erfahrungen Die Kosten eines nationalen Sozialhilfeprogramms in Sambia werden auf 0.5% des BIP geschätzt (basierend auf einem dortigen Pilotprojekt der GTZ) Universelle Grundrenten in Botswana, Brasilien, Lesotho, Mauritius, Namibia, Nepal, and Südafrika kosten zwischen 0.2 und 2% des BIP. Die (bedarfsgeprüfte) Altersgrundrente in Südafrika verbessert entscheidend die Lebenssituation älterer Menschen wie auch ihrer Haushaltsangehörigen, namentlich von im Haushalt lebenden Kindern. Das mexikanische Programm konditionierter Bargeldtransfers « Progresa » hat positive Wirkungen auf die Lebenssituation von Kindern, insbesondere im Hinblick auf Ernährung, Gesundheit, Impfungen und Schulbesuch. The ILO Global Campaign to extend Social Security to all International Labour Office 18 Weitere Erfahrungen: Wirkung von universellen Grundrenten auf Altersarmut (ECLAC) International Labour Office Effect and cost of universal pensions (ECLAC2006) 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Latina America and Caribbean Uruguay Mexico Chile Brazil Argentina Poverty before Poverty rate after Cost in % of GDP The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 19 Dritter Punkt: …was würde ein Paket sozialer Grundleistungen in einer dynamischen Gesellschaft tatsächlich kosten?… International Labour Office Vielleicht nichts? Angenommen das BIP würde um 10% aufgrund von Produktivitätseffekten von sozialen Grundleistungen wachsen, dann würden diese sich aufgrund höherer Steuereinnahmen selbst finanzieren Damit könnten Länder gerechter wachsen… The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 20 Vierter Punkt: …es gibt gute Argumente für eine Entwicklungsstrategie, die Wachstum und Gerechtigkeit gleichzeitig verfolgt Indem soziale Sicherheit und Arbeitsmarktpolitiken dazu benutzt werden, Wachstum zu stabilisieren und zu fördern – – – – – International Labour Office Investitionen in Humankapital Erleichterung des Strukturwandels auf dem Arbeitsmarkt Aktivierung von inaktiven Bevölkerungsgruppen Sicherung von Einkommen für diejenigen, die nicht am Arbeitsleben teilnehmen können (soziales Mindestniveau, social floor) Schaffung eines sozialen Gleichgewichts durch sozialen Dialog Dieses politische Paradigma gewinnt zunehmend Unterstützung, ASEM 2006, G8 Arbeitsministerkonferenz 2007 21 Vierter Punkt: Das neue Paradigma der ILO Global Campaign: Hin zu einem progressiven Universalismus International Labour Office Universell aber progressiv könnte heissen: Nach und nach Erhöhung der sozialen Sicherungsniveaus Basierend auf einem grundlegenden Niveau sozialer Sicherheit für alle The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 22 Fünfter Punkt: Eine neue pragmatische Strategie für soziale Sicherheit International Labour Office Empfohlene Prinzipien für die Strategie der Campaign 1. 2. 3. 4. 5. Universelle Grundsicherung für alle, aber nicht notwendigerweise einheitliche Abdeckung Verantwortung für soziale Sicherheit bleibt in den Händen des Staates, aber die Leistungserbringung kann in Zusammenarbeit mit privatem Sektor und Gemeinschaften erbracht werden (Ausnahme: zerfallene Staaten) Basierend auf klaren Rechten («jeder hat … das Recht auf soziale Sicherheit», Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) Akzeptanz von Pluralismus in der Organisation und Finanzierung sozialer Sicherheit Good governance: tripartistische Verwaltung und Finanzgebaren The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 23 Schritte zu einer progressiven Entwicklung von sozialer Sicherheit, beginnend mit Zugang zu einem grundlegenden Paket von Mindestleistungen (graduelle Einführung) : International Labour Office Grundlegende Gesundheitsleistungen, durch ein System von miteinander verbundenen Elementen, einschliesslich eines steuerfinanzierten Gesundheitsdienstes, soziale und private Krankenversicherung und Microinsurance. Familien-/Kinderleistungen im Hinblick auf die Erleichterung des Zugangs zu sozialen Dienstleistungen: Bildung, Gesundheit, Wohnen Bedarfsgeprüfte/self targeting Sozialhilfe für Arbeitslose, Programme verbunden mit Arbeitsmarktprogrammen und beruflicher Bildung (z. B. 100 day guaranteed employment scheme in Indien) Universelle Grundrenten für ältere Menschen, Behinderte und Hinterbliebene. The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 24 Schritte zu einer progressiven Entwicklung von sozialer Sicherheit…: Kombination von bottom-up and top-down-Strategien Top Down Public health care delivery system Family benefits Financing Universal pensions Financing International Labour Office Social assistance Financing Health care Finacing State Health care Financing SHI Health care Financing Community A basic social security system for all Family benefit delivery community Pension delivery Community ? Social assistance delivery community The ILO Global Campaign to extend Social Security to all Bottom UP 25 Fünfter Punkt: Was wird benötigt? Ein internationaler Konsensus für das neue Entwicklungsparadigma: Wachstum und Gerechtigkeit (Growing with equity) Internationale Solidarität – auch finanzieller Art… Mehr Erfahrung mit nationalen Implementations-prozessen von sozialen Grundleistungen; dies testet die ILO gerade in Tanzania, Zambia and Vietnam (Finanzierung durch DfID) Stärkung nationaler Kapazitäten in sozialer Sicherheit – – International Labour Office Bedarfsanalysen, Programmdesign, Finanzplanung und Management Verwaltung Und idealerweise eine internationale Konvention zu sozialen Grundleistungen, das das Menschenrecht auf soziale Sicherheit konkretisiert und ein globales Mindestsicherungsniveau schafft, und damit – – einer sich globalisierenden Wirtschaft soziale Regeln gibt ein moralisches Recht definiert, auf das sich nationale und internationale Unterstützer berufen können… The ILO Global Campaign to extend Social Security to all 26