Der Wert der Musik - Zur Ästhetik des Populären

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Ralf von Appen
Der Wert der Musik
texte zur populären musik 4
Herausgegeben von Winfried Pape und Mechthild von Schoenebeck
Ralf von Appen (Dr. phil.) ist Musikwissenschaftler an der Universität
Gießen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Geschichte, Theorie, Analyse und
Ästhetik der populären Musik sowie Musikästhetik und Musikpsychologie.
Ralf von Appen
Der Wert der Musik.
Zur Ästhetik des Populären
Gießener Dissertation im Fachbereich
Sozial- und Kulturwissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld
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Umschlaggestaltung:
Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Umschlagabbildung:
DJ Genius »Medien in Gold«, © Photocase, 2007
Lektorat & Satz: Ralf von Appen
Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar
ISBN 978-3-89942-734-9
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit
chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
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I n h al t
I.
AUSGANGSPUNKTE
I.0
Ein erster Ausgangspunkt: Ich
11
I.1
Ein zweiter Ausgangspunkt:
Der blinde Fleck der Popularmusikforschung
Pop und Ästhetik: ein problematisches Verhältnis
Andrew Chester
Dörte Hartwich-Wiechell
Dieter Baacke
Tibor Kneif
Weitere Entwicklungen
Peter Wicke und Simon Frith
Außereuropäische Beiträge zur Ästhetik populärer Musik
Theodore Gracyk
Resümee
15
16
21
23
25
26
29
31
34
37
40
Ein dritter Ausgangspunkt:
Kneifs Bestimmung der Musikästhetik
45
I.2
II.
KRITERIEN DER BEWERTUNG POPULÄRER MUSIK
II.0 Methode und Stichprobe
Qualitative Inhaltsanalyse
Auswahl der Population und Charakterisierung
der Textgrundlage
Die Auswahl der zu untersuchenden Alben
Die Auswahl der Kundenrezensionen
Das Kategoriensystem
Quantitative Inhaltsanalyse
53
53
II.1 Qualitäten der Songtexte
Quantitative Ergebnisse
Realismus und Weltbezug
Kognitive Orientierung
Lyrische Qualitäten
Weitere Bewertungskriterien: Humor, Härte
und Distinktionspotential
Resümee
81
81
82
87
89
II.2 Kompositorische Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Formale, rhythmische und harmonische Gestaltungsmittel
Komplexität und Einfachheit
Melodische Qualitäten
Langlebigkeit und Zeitlosigkeit
Besonderheiten im HipHop
54
63
67
71
76
90
92
95
95
97
99
100
102
103
II.3 Interpretatorische Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Stimme, Gesang und Sprechgesang
Qualitäten des Instrumentalspiels
Qualitäten der Produktion, der Instrumentierung und
des Arrangements
105
105
106
110
II.4 Authentizität und andere menschliche Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
Authentizität als ethisches und soziales Phänomen
Authentizität als Bewahrung des Individuellen
Authentizität als Treue zu einer sozialen Gemeinschaft
Ein Zwischenspiel: Authentizität im Zeichen der Postmoderne
Authentizität als wahrhaftiger, persönlicher Ausdruck
Weitere menschliche Qualitäten
115
115
117
118
122
126
129
131
II.5 Emotionale Qualitäten
Quantitative Ergebnisse
»Gefühl«
»Energie«
Resümee
135
136
139
151
159
II.6 Originalität, Neuheit, Vielfalt, Langeweile:
das Interessante
Quantitative Ergebnisse
Originalität
Neuheit
Vielfalt
Langeweile
Originalität, Neuheit, Vielfalt und Langeweile aus
psychobiologischer Sicht
112
163
163
165
168
175
178
179
II.7 Sonstiges
Kombinierte Kriterien
Weitere Kriterien von geringer Bedeutung
185
185
186
II.8 Bewertung der empirischen Studie
Methodenreflexion
Beantwortete und offene Fragen
189
189
193
III. ÄSTHETISCHE DIMENSIONEN DER MUSIKREZEPTION
III.0 Einleitung
Funktionen
Die (neue) Ästhetik
Martin Seel — Einige Grundzüge seiner Ästhetik
201
201
203
205
III.1 Das bloße Erscheinen:
Musik als Objekt der Kontemplation
Das kontemplative Urteil
Das Beispiel Norah Jones
Die Wertkriterien aus dem Blickwinkel der Kontemplation
Das Rauschen als Extremfall
Das Beispiel Neil Young
Versenkung und Taumel
211
214
215
217
221
222
224
Das Rauschen im Techno und zuvor
Resümee
227
229
III.2 Das atmosphärische Erscheinen: Musik als Objekt
der Korrespondenz
Die atmosphärische Macht der Musik
Atmosphäre und Charakter
Atmosphärisch-Situative Korrespondenzen
Charakterliche Korrespondenzen und Identität
Charakterliche Korrespondenzen und Distinktion
Resümee
233
236
237
238
242
249
256
III.3 Das artistische Erscheinen:
Musik als Objekt der Imagination
Verstehen und ästhetische Erfahrung
Exkurs: Gegen das Musikverstehen
a) Situationspräsentation und Verfahrenspräsentation
b) Imagination
c) Die persönliche Bedeutsamkeit von Sichtweisen der Welt
Die Rezeption artistischen Erscheinens in der Stichprobe
Einige Beispiele
Exkurs: Gegen das Verstehen populärer Musik
Resümee
259
260
263
265
267
268
273
275
280
285
III.4 Der Wert der Musik
289
Epilog: Ich (und der Apfelmann)
293
Literaturverzeichnis
297
Auswahldiskographie
319
ANHANG
321
I. A U S G A N G S P U N K T E
Musik übersteigt menschliche Logik. Es muss aber ein Geheimnis
bleiben, wieso man Musik so liebt. Man darf es nicht selbst aufdecken
(Björk in Venker 2003: 144).
Es gehört zu den besonderen Bedürfnissen des Menschen, wissen zu
wollen, warum er zu diesem oder jenem Verhalten neigt, was der
Grund seiner Vorlieben und Abneigungen ist, weshalb er lacht oder
weint, obgleich doch »nur« Musik erklungen ist. Aufklärung über sich
selbst ist das Grundmotiv allen Fragens und damit aller Wissenschaft
(Rösing/Petersen 2000: 16).
Im Philosophieren können wir jederzeit bei uns selbst beginnen.
Wir dürfen nur nicht bei uns bleiben (Seel 2002a: 196).
I.0 Ein erster Ausgangspunkt: Ich
Regen prasselt auf das Dach, das Wasser spritzt zwischen den Autos, die
Scheibenwischer kommen kaum nach, außerdem hinken sie dem Rhythmus
der Musik mit jedem Takt mehr hinterher. Es ist kalt, selbst die sprichwörtlichen Hunde wollte man jetzt nicht auf die Straße jagen. Bis Hamburg
sind's noch rund vierzig Minuten, dann Parkplatz suchen, Karte kaufen (hoffentlich gibt's noch welche), eine Stunde 'rumstehen. Zwei Stunden Musik.
Wieder raus in das Sauwetter, Stadtverkehr, 100 Kilometer zurückfahren,
mit diesem penetranten Pfeifen in den Ohren, verrauchten Klamotten und
schmerzenden Füßen — aber bestimmt glücklich!
Die zwei Stunden des Konzerts werden für alles entschädigen, hoffentlich!
Aber warum bloß?
Pathologisch scheint es nicht zu sein, zumindest geht es jährlich etwa
34 Millionen Konzertbesuchern und knapp 26 Millionen CD-Käufern in
Deutschland ähnlich (Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 2004: 4
u. 17). Was ist an der Musik, das mich und all die anderen viel Zeit, viel
Geld und nicht-erneuerbare Energien opfern lässt? Warum riskieren Menschen vor den Bühnen und in den Discos ihr Gehör, warum gehen sie das
Risiko empfindlicher Freiheitsstrafen wegen illegaler Downloads ein? Warum
streiten sie sich wegen abweichender Vorlieben, warum bewundern sie Popstars mehr als Nobelpreisträger, warum wissen sie, wenn sie die Plattensammlung ihres Nachbarn gesehen haben, dass sie mit diesem Menschen
nichts mehr zu tun haben wollen? Was bietet Musik dem Menschen und wie
soll sie beschaffen sein, damit sie die hohen Erwartungen erfüllt?
11
I. AUSGANGSPUNKTE
Wer Antworten auf solche Fragen sucht, mag mit der Suche in der wissenschaftlichen Disziplin der Musikästhetik beginnen. Doch ein Blick in die
Fachzeitschrift Musik & Ästhetik, in das aktuelle Handbuch Musikästhetik
(Motte-Haber 2004a) oder in den betreffenden Artikel der Enzyklopädie Die
Musik in Geschichte und Gegenwart (Nowak 1997 u. Behne 1997) zeigt, dass
die dort beschriebene Gegenwart sich leider nicht mit der Gegenwart der
Hörer populärer Musik deckt — und diese Majorität sollte man doch eigentlich nicht unberücksichtigt lassen. Also versuchen wir es einmal bei der sogenannten Popularmusikforschung. Aber auch dort will man nicht weiterhelfen: Ästhetik? Um diese als Ideologie enttarnte elitäre Kunsttheorie aus der
Welt zu räumen, die stets das zum wertvollen Werk erklärt, was dem gut
situierten Musikwissenschaftler und der sozialen Klasse, aus der er stammt,
gerade gefällt und zur Abgrenzung von den vermeintlichen Banausen dient,
sei man doch überhaupt erst angetreten! Den Fehler, das objektive (und angeblich objektiv gute) Werk in Form einer Partitur in den Mittelpunkt des
Forschungsinteresses zu stellen und darüber die kulturelle, soziale, mediale,
psychologische und körperliche Bedingtheit des Musikhörens zu verleugnen,
wolle man im Umgang mit Pop und Rock nicht wiederholen!
Überhaupt, so erklärt uns auch der MGG-Artikel, sei die philosophische
Ästhetik mit dem Aufkommen der empirischen, an naturwissenschaftlichen
Erkenntnisidealen orientierten Einzelwissenschaften stark unter Legitimationsdruck geraten. Die Frage der »spekulativen« Philosophie, was »das
Schöne« und die Kunst sei, sei weitgehend von der in Experimenten und mit
Fragebögen zu bearbeitenden Frage abgelöst worden, was verschiedenen
Menschen und Teilkulturen in verschiedenen Situationen jeweils als schön
gelte (auf den Kunstbegriff wird dabei sicherheitshalber verzichtet). Entsprechend hat man den Abschnitt über Werturteile lieber einen ausgewiesenen Musikpsychologen verfassen lassen (vgl. Nowak 1997: 972 u. Behne
1997).
Also setzen wir die Suche in Musikpsychologie und -soziologie fort, wobei wir erfahren, dass unsere Musikvorlieben davon abhängen, welche Bildung wir genießen durften, welchen Geschlechts und wie alt wir sind, dass
Persönlichkeitsfaktoren wie Neurotizismus, Psychotizismus oder das persönliche Arousal-Bedürfnis bei Präferenzentscheidungen eine wichtige Rolle
spielen, dass sich unser Urteil in Abhängigkeit von der momentanen Stimmung ändert und es von Minder- und Mehrheiten in starkem Maße manipuliert werden kann, dass wir uns über unsere Lieblingsmusik gesellschaftlich
repräsentieren und abgrenzen, dass also das Urteil auch davon abhängt,
wem gegenüber wir es äußern usf. Am Ende bedanken wir uns für die vielen
wertvollen Informationen, werden aber das Gefühl nicht los, dass dies nicht
12
I.0 EIN ERSTER AUSGANGSPUNKT: ICH
alles sein kann, dass wir immer noch nicht wissen, warum wir das Konzert
gestern Abend so großartig fanden und warum uns der erste Song auf der
neuen Lieblings-CD besser gefällt als der zweite.
Pop und Ästhetik: schließen sie sich denn wirklich aus?
Die Antwort muss wohl »Ja« lauten — aber nur, solange man einem
Ästhetik-Begriff anhängt, den die wissenschaftliche Ästhetik selbst seit circa
20 Jahren überwunden hat — dies erfahren wir auf unserer weiteren Suche
von den Philosophen, von denen wir bezüglich unserer Lust an populären
Musikformen eigentlich keine Aufklärung erwartet hatten. Das Interesse
philosophischer Ästhetik gelte nach aktueller Auffassung ganz allgemein den
Möglichkeiten und Gewinnen, die uns eine Wahrnehmungsform bietet, der
es um den Vollzug dieser Wahrnehmung selbst gehe (s. Kap. III.0). Da wir
der Meinung sind, dass wir Musik durchaus gerne hören, um Musik zu hören,
und da dies offenbar die Fragen sind, um die es uns ursprünglich ging,
bitten wir darum, uns hier einmal etwas genauer umschauen zu dürfen,
denn hier sind wir vermutlich richtig.
Doch bevor wir uns in die Gedanken gegenwärtiger Ästhetik vertiefen
dürfen, rät man uns dringend, nicht den direkten Weg einzuschlagen, sondern empfiehlt den Gang über zwei Vorräume: »Umwege erhöhen die Ortskenntnis« steht über der Tür des ersten und mit »Erkenne Dich selbst (im
Spiegel der Anderen)!« ist der zweite überschrieben. Man wolle uns vor dem
Vorwurf beschützen, nicht zu wissen, was die Vorfahren und die Gegner gedacht haben — dazu sei der erste Raum gut (Kap. I.1). Der zweite aber helfe, sich der eigenen Ansichten bewusster zu werden, und bewahre zugleich
davor, sie nicht für allgemein verbreitet und einzig wahr zu halten (Kap. II).
Wir sollten uns die dortige Ausstellung fremder und vertrauter Sichtweisen
genauestens ansehen, denn Antworten, die nur für uns und nicht auch für
andere Geltung hätten, seien keine. Wir müssten dort ganz leise sein, den
anderen genau zuhören und uns selbst für eine Weile in den Hintergrund
stellen. Dann könnten wir uns aus der Distanz besser erkennen und uns
zugleich zum Anwalt der Exponate aus Raum II machen. Von ihnen, so werden wir ermuntert, sollten wir als Zeugen reichlich in den dritten, unseren
Ziel-Raum (Kap. III) mitnehmen, um für die Lösung der uns bewegenden
Rätsel gut gerüstet zu sein und um immer wieder zu überprüfen, ob die
eigene Wahrheit auch die der anderen sei.
Am Ausgang aber müssten wir die anderen zurücklassen und noch einmal
allein in den Spiegel schauen, um uns selbst wieder in den Blick zu nehmen
und gewissenhaft zu fragen, ob der Gang durch das Haus der Ästhetik der
richtige Weg war.
Also los!
13
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