Stigma psychische Krankheit

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Identifikation – mit wem?
»Rainer Maria Rilke geht während vieler Jahre wie ein Nachtwand-
ler am Abgrund entlang, hart am Rande der schizophrenen Katastrophe, ohne jedoch wie Hölderlin ganz darin zu versinken. Es
kommt zu schubweisen Verstimmungen mit jahrelanger quälender
Unproduktivität, die durch Angst- und Unheimlichkeitsgefühle und
zuweilen durch halluzinatorische und magische Beeinflussungserlebnisse akzentuiert ist. Fast ein Jahrzehnt des Verstummens fällt in die
Zeitspanne vor 1922. Vor und nach solchen Zuständen krankenden
Gemütes gibt es Phasen stürmischer Produktivität mit dem unmittelbaren Erleben mystischer Verbundenheit des Göttlichen. [...] Diese
Grundzüge formen sich schon in der Frühzeit. [...] Nach der stummen, schweren Krisenzeit aber ist in der hochproduktiven Periode
der letzten Lebensjahre ein deutlicher Stilwandel festzustellen. [...]
Hier kommt es zu einer fortschreitenden Auflösung der sprachlichen
und logischen Bindungen und ihrem Ersatz durch vieldeutige Symbole. [...] Diese lose hintreibenden, sich drängenden und übergipfelnden farbigen Symbole üben auf den empfänglichen Leser einen
geheimnisvollen, magischen Reiz aus und lassen nur noch einen dunklen Sinn erahnen. Hier liegt der poetische Wert. Für den Arzt aber
sind sie, ähnlich wie die späten Hymnen von Hölderlin, Signale der
vordringenden psychischen Gefährdungszone. Man spürt, wie das
Gefüge der Persönlichkeit sich aufzulösen droht. «
Leider sind solche Ausnahmepersönlichkeiten, auch der im KZ ermordete Jakob van Hoddis wäre hier zu nennen, mit einem überzeugenden
Lebenswerk im Alltag kaum als Identifikationsfiguren tauglich.
Identifikation – mit wem?
Nichts wäre wichtiger für junge Schizophreniekranke als Identifikationsfiguren, die verkünden: »Ich bin psychotisch erkrankt« – oder
auch: Ich war es. »Ich lebe mit der Krankheit. Ich habe sie bewältigt.
Gewiss, zeitweise war es die Hölle. Aber ich kann und will damit leben. Seht her, das ist mein Leben. Das habe ich vorzuweisen. Ich bin
genauso viel wert wie jeder andere auch.«
Aber darauf werden wir vermutlich noch lange warten müssen. Und
das hat, wie wir später sehen werden, gute Gründe.
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Psychose und Stigma – die Herausforderung
Bis dahin sind autobiografische Berichte von Menschen, die schwere
psychische Krankheiten durchlebt und durchlitten haben, von umso
größerer Bedeutung. Mittlerweile liegen zahlreiche solche Zeugnisse
vor. Eindrucksvolle Beispiele sind: Sylvia Plaths Die Glasglocke, Stuart Sutherlands Die seelische Krise, Hannah Greens Ich hab dir nie
einen Rosengarten versprochen, Mary Barnes’ Meine Reise durch den
Wahnsinn, Dorothea Bucks Auf der Spur des Morgensterns, Maria Erlenbergers Der Hunger nach Wahnsinn, Piet Kuipers Seelenfinsternis
oder Janet Frames Ein Engel an meiner Tafel.
Bei diesen Büchern handelt es sich teils um Berichte über das eigene Leben und die Auseinandersetzung mit psychischen Krankheiten,
teils um Romane mit ausgeprägten autobiografischen Zügen, wobei
nicht immer ganz klar ist, an welchen psychischen Störungen die Verfasserinnen und Verfasser gelitten haben. Über Mary Barnes, Hannah
Green und Sylvia Plath streiten die Gelehrten. Stuart Sutherland, der
eines der für mich eindrucksvollsten Bücher geschrieben hat, litt an
einer schweren manisch-depressiven Psychose.
Sein Schritt an die Öffentlichkeit ist – auch die Hamburger Bildhauerin
Dorothea Buck wählte zunächst das Pseudonym Sophie Zerchin (ein
Anagramm von »Schizophrenie«) – deswegen von besonderer Bedeutung, weil er als aktiver und amtierender Professor für experimentelle
Psychologie, der die Krankheit bewältigt hatte, eben doch die Funktion
einer Identifikationsfigur übernehmen konnte. Ähnliches galt für den
schwer depressiven holländischen Psychiatrieprofessor Piet Kuiper.
Eines der wichtigsten Dokumente einer erfolgreichen Auseinandersetzung mit einer Psychose (Wahnsinn im Kopf) stammt von der bereits
zitierten Amerikanerin Lori Schiller, die mit siebzehn an einer schweren Schizophrenie erkrankte und bis über ihr dreißigstes Lebensjahr
hinaus andauernde und zum Teil außerordentlich belastende Krankheitsphasen durchlitt. Ergänzt durch Kapitel aus der Sicht ihrer Angehörigen, Freundinnen und ihrer behandelnden Ärztin beschreibt das
Buch ohne Sentimentalität, aber bewegend und anrührend eine Leidensgeschichte, deren glimpflicher Ausgang lange Zeit nicht absehbar
war. Ihr Buch kann für Kranke und Angehörige in gleicher Weise zur
Quelle der Ermutigung werden. Nebenbei räumt es mit einer Fülle von
Vorurteilen über die Krankheit auf und zeigt, mit welchen Reaktionen
Kranke und Angehörige konfrontiert werden. Es leistet einen wertvollen Beitrag dazu, die Krankheit und die Kranken zu verstehen. Es
Krankheit und soziales Leid
kann Kranken helfen, ihre Identität wiederzufinden und zu festigen
oder ihre beschädigte Identität zu »reparieren«, denn genau darum
geht es – aber das ist natürlich alles andere als einfach.
Wer öffentlich zugibt, dass er an einer schizophrenen Psychose leidet
oder gelitten hat, läuft in manchen deutschen Bundesländern auch
heute noch Gefahr, seinen Führerschein zu verlieren, wenn das der
Polizei oder bestimmten Behörden bekannt wird. Wer schizophren ist,
wird im öffentlichen Dienst nicht eingestellt und schon gar nicht verbeamtet. Wer schizophren ist, erhält keine Approbation als Arzt. Alles
dies nicht etwa, weil er Symptome zeigt, die seine Eignung infrage stellen, ein Auto zu fahren oder eine bestimmte Stellung im öffentlichen
Dienst auszuüben, sondern allein wegen des Wortes, wegen der Diagnose, des Etiketts »Schizophrenie«. Das muss nicht so sein; man kann
(und sollte) sich auch dagegen wehren; aber es ist leider immer noch
allzu oft der Fall.
Krankheit und soziales Leid
Die sozialen Folgen des Leidens müssen als zweite Krankheit verstanden werden, die sich in Diskriminierung und Stigmatisierung niederschlägt. Ein Stigma ist mehr als ein Vorurteil. Es ist Zuweisung – und
Empfindung – von Scham, Schuld, Schimpf und Schande zugleich. Es
ist deshalb auch nicht durch simple Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit aufzulösen, wie das immer wieder gehofft und propagiert wird.
Ein »Stigma«, erinnern wir uns, ist ein Zeichen, das dazu dient, »etwas
Ungewöhnliches oder Schlechtes über den moralischen Zustand des
Zeichenträgers zu offenbaren« (Goffman 1975).
Historisch wurden zuerst die Wundmale Jesu und die Narben der Markierung von Sklaven als »Stigmata« bezeichnet. Aber auch in der jüngeren Geschichte wurden solche Zeichen zur Kenntlichmachung verwendet, bis hin zu den eintätowierten Nummern von KZ-Insassen.
Das Stigma der Schizophrenie entwickelt eine eigene Dynamik, der sich
niemand entziehen kann. In ihm begegnen sich Fantasien und Ängste;
historische und religiöse Mythen; subjektive Theorien von psychischer
Gesundheit und Krankheit; Alltagswissen und soziale Repräsentatio­
nen; Bilder und Erinnerungen an den nationalsozialistischen Mas-
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Psychose und Stigma – die Herausforderung
senmord an psychisch Kranken und geistig Behinderten; persönliche
Begegnungen und Erfahrungen; und nicht zuletzt Assoziationen, die
sich mit dem metaphorischen Gebrauch des Wortes »Schizophrenie«
verbinden. Das Stigma ist zur zweiten Krankheit geworden. Seine Bewältigung – sein »Management«, wie Erving Goffman gesagt hat
(ebd.) – wird somit zur selbstverständlichen Aufgabe bei der Behandlung Psychosekranker.
Es ist der Symbolgehalt von allen stigmatisierenden Leiden, der hier
wirksam wird; und dieser ist tief im Irrationalen, tief in unserer Gefühlswelt verankert. Wir müssen uns selbst immer wieder fragen, welche Bilder und Vorstellungen von Schizophrenie in uns lebendig sind.
Wir müssen uns fragen, ob es uns als Therapeutinnen und Therapeuten
gelingt, den irrationalen Anteil davon zu begreifen und im Rahmen
der Behandlung zu kontrollieren. Wir können die Stigmatisierung der
Psychosekranken in unserer Gesellschaft nicht aufheben. Wir können
sie als Therapeuten im gesamtgesellschaftlichen Rahmen vermutlich
nur sehr eingeschränkt beeinflussen. Aber indem wir uns ihrer bewusst
werden und wir sie den Betroffenen verständlich machen, können wir
den Kranken und ihren Angehörigen helfen.
Über die gesellschaftlich-kulturelle Teilhabe wird das Vorurteil ja
selbst von den Betroffenen verinnerlicht und reproduziert – das macht
die hohe Kraft der Stigmatisierung erst aus und die Dynamik so richtig
wirksam! Wie oft sagt jemand: »Ich hab ja früher selbst so gedacht«
(siehe Kapitel zur sogenannten Selbststigmatisierung).
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Die »verrufene« Krankheit
Verrufene Krankheiten hat es immer gegeben. Mit Schaudern erinnert
sich vielleicht so mancher an die Schilderungen der »Aussätzigen« im
Neuen Testament, die mich im Religionsunterricht in Angst und Schrecken versetzt haben. Das Stigma des Aussätzigen haftet den Leprakranken bereits über mehr als 2000 Jahre an, obwohl die Art der Infektion
als Ursache lange bekannt ist und obwohl die Krankheit wirksam und
erfolgreich behandelt werden kann. Im christlichen Mittelalter kamen
andere hinzu: die »Krüppel«, die »Besessenen« in ihren Tollkisten, die
Pestkranken, überhaupt alle kranken Menschen, deren Leiden mit Entstellungen der Haut, des Gesichtes oder der Gliedmaßen verbunden
waren (Müller 1996). Später waren es die Syphilis, die Tuberkulose
und im 20. Jahrhundert der Krebs und schließlich Aids.
Aber immer waren es vor allem die »Geisteskrankheiten« in ihren
vielfältigen Ausprägungen, die zur Isolierung, zu sozialem Ausschluss,
Diskriminierung und Stigmatisierung führten. Ja, eine aufgeklärtere Sichtweise dieser Leiden, eine begrenzt tolerantere Gesellschaft,
eine menschlichere und leistungsfähigere Psychiatrie oder der anhaltende Versuch der Integration psychisch kranker Menschen in Familie, Nachbarschaft und Gemeinde haben viel bewirkt. Das soll nicht
kleingeredet werden. Aber immer noch sind die Kranken zusätzlich
zu ihrem eigentlichen Leiden durch Vorurteile, Diskriminierung und
Stigmatisierung belastet. Das gilt für alle Menschen mit psychischen
Störungen, die für Dritte sichtbar werden – insbesondere wenn sie in
der Öffentlichkeit auffallen, wenn sie als »peinlich« oder als störend
erlebt werden. Doch eigentlich ist das kein Maßstab, denn die Menschen, die uns unangenehm auffallen, sind meistens »normal« oder
aber: betrunken. Aber für die Vorurteilsbildung spielt das keine Rolle:
Sie werden als »verrückt« wahrgenommen, und nur das zählt.
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