Editorial Martina Klenk Präsidentin des DHV Das Normale ist etwas ganz Besonderes! Vortrag auf der Abschlussveranstaltung des XIII. Hebammenkongress am 8. Mai 2013 in Nürnberg Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen, anregende Kongresstage liegen nun hinter uns, die sich in vielfältigen thematischen Zusammenhängen mit dem Hebammenwissen um das Besondere im Normalen und das Normale im Besonderen auseinandergesetzt haben. Als Hebammen sind wir Expertinnen in der Begleitung der normalen Schwangerschaft, der normalen Geburt unwd des Wochenbettes. Für die Versorgungsleistung der Geburtshilfe haben wir sogar eine Sonderstellung unter den Gesundheitsberufen, die sich in der Regelung des eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereichs von Hebammen in § 4 des Hebammengesetzes ausdrückt. Als den Hebammen vorbehaltene Tätigkeit benennt der Paragraph die Überwachung des Geburtsvorganges von Beginn der Wehen an, Hilfe bei der normalen Geburt und die Überwachung des Wochenbettverlaufs. Ärzte sind verpflichtet dafür Sorge zu tragen, dass eine Hebamme zur Geburt hinzugezogen wird. Schwangere und gebärende Frauen haben Anspruch auf die Begleitung durch eine Hebamme. Das Kerngeschäft der Hebamme ist also die eigenverantwortliche Begleitung von Geburten im Rahmen normaler, physiologischer Prozesse. In der Unterstützung der physiologischen und Förderung der normalen Geburt bauen Hebammen auf eine umfassende präventive und gesundheitsfördernde Betreuung der gesamten Lebensphase Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit. In unserem Selbstverständnis richtet sich der Arbeitsfokus vorwiegend auf körperliche und psychische, aber auch auf soziale Prozessbewältigungen. Die individuellen Bedürfnisse der Frau sollen berücksichtigt und die Autonomie der Frau soll in der Betreuung respektiert werden. Dies erfolgt unter der Einbeziehung der jeweiligen kulturellen Werte und Überzeugungen der Frauen und Familien. Weltweit vertreten Hebammen den Standpunkt, dass Schwangerschaft, Geburt und Familienentwicklung vitale, normale, gesunde und soziale Lebensprozesse sind. Insbesondere die Förderung der normalen Geburt hat kurz- und langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und deren Familien. Nur wenige Ereignisse haben eine vergleichbare Wirkung auf das Leben einer Frau wie die Geburt ihres Kindes. Die Geburtserfahrung begleitet sie und in gewisser Weise auch das Verhältnis zwischen ihr und ihrem Kind ein Leben lang. Gebären ist eine Grenzerfahrung und ein höchst sensibler Prozess. 1/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Editorial Als Hebamme verantworten wir, dass die Geburt möglichst störungsfrei in einem geschützten Raum unter Wahrung der Intimsphäre und Würde der Frau stattfinden kann. Denn nur so kann die Frau in ihre Kraft finden, ihrer Körperkompetenz vertrauen und gestärkt aus der Geburt mit einer guten Bindung zu ihrem Kind hervorgehen. Alle Prinzipien der Hebammenarbeit sind darauf ausgerichtet. Für Hebammen sind Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett grundsätzlich physiologische Prozesse. Entscheidend für eine gute, erfolgreiche Betreuung ist die Beziehung zwischen Frau und Hebamme. Deshalb wird der Betreuungsprozess in partnerschaftlicher und gleichberechtigter Zusammenarbeit von Hebamme und Frau geplant. Die Frau ist die zentrale Person im Betreuungsprozess. Als Hebammen unterstützen und respektieren wir die individuelle Autonomie, Werte und Überzeugungen und achten darauf, dass die Frau Kontrolle über ihre Situation behält. Damit eine Frau eine informierte Entscheidung treffen und zwischen verschiedenen Betreuungsoptionen wählen kann, bietet ihr die Hebamme Aufklärung, Beratung und Information für die Zeit der Schwangerschaft, der Geburt und des Wochenbettes. Ein wesentliches Merkmal für eine gelungene Geburtserfahrung ist eine Kontinuität im Betreuungsprozess. Aus diesen Betreuungsprinzipien lassen sich zwei übergeordnete Ziele von Hebammenarbeit ableiten. Das erste Ziel von Hebammenarbeit ist die Gesunderhaltung von Mutter und Kind. Hier fließt das theoretische Wissen aus Gesundheitswissenschaften, Medizin, Naturwissenschaften, Sozialwissenschaften, Pflegewissenschaft und anderen Wissensbereichen ein. Das theoretische Wissen wird unterfüttert und vernetzt mit dem dichten Erfahrungswissen aus der Praxis. Durch die enge Verknüpfung des Praxisfeldes der Hebammenarbeit mit der Lebenswelt der zu betreuenden Frau lassen sich drohende Gesundheitsstörungen frühzeitig erkennen und durch entsprechende Maßnahmen abwenden. Damit befindet sich das Hebammenwesen in einer einzigartigen Position zur Unterstützung und Förderung gesundheitsrelevanter Verhaltensweisen in Familien. Das zweite Ziel der Hebammenarbeit ist die Förderung der Kompetenz und Selbstbestimmung der Frau. Hier ist Hebammenarbeit Beratungs- und Vermittlungsarbeit. Der Betreuungsprozess wird so geleitet, dass die Frau ihre individuellen Fragen und Probleme klären und ordnen kann und den für sie bestmöglichen und praktizierbaren Weg findet. Die Hebamme trägt durch Aufklärung und Vermittlung von Informationen und Fertigkeiten zur Erweiterung der Ich-Kompetenz der werdenden Mutter bei. In einem selbstbestimmten Betreuungssetting stellt die Hebamme den Rat- und Hilfesuchenden ihre Kompetenzen zur Verfügung. Die betreute Frau entscheidet selbst, welche Kompetenzen der Hebamme sie für sich nutzen will. Eine Ebene, auf der die Hebamme zur Stärkung des Selbstbewusstseins der Frau arbeitet, ist die Beziehungsebene. Vertrauen in die Hebamme gilt als Vorraussetzung für eine gute und tiefe Kommunikation und das Gefühl sich ungeniert geben und benehmen zu können. Diese persönliche und vertrauensvolle Beziehungsqualität wird am ehesten mit der kontinuierlichen Betreuung durch eine einzige Hebamme oder ein kleines Hebammenteam erreicht. 2/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Das Einlassen auf eine partnerschaftliche soziale Beziehung und deren Pflege ist ein entscheidendes Merkmal der Hebamme in Abgrenzung zur Medizin. Ein weiteres Merkmal in Abgrenzung zur Medizin ist die Annahme der Hebammen, dass Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett normale Ereignisse im Leben einer Frau sind. Die Herangehensweise an diese reproduktive Lebensphase aus Hebammensicht ist salutogenetisch und ressourcenorientiert, während die Medizin stets das Risiko im Blick hat. Da 98 Prozent aller Geburten in Deutschland in Kliniken stattfinden, kann es eigentlich kaum verwundern, dass sich der medizinische Fokus in der geburtshilflichen Betreuung durchgesetzt hat. Die mächtige Medizin hat die Geburt als medizinisches, körperliches Ereignis vereinnahmt. Zudem trägt die klinische Umgebung mit all ihren Geräten wie CTG, Ultraschall und Infusionsständern nicht gerade zur Förderung einer normalen Geburt bei. Gerät will benutzt werden, schafft Distanz und gaukelt Sicherheit und Fortschritt durch messbare Parameter vor. Liebe Kolleginnen, welche von Ihnen würde je auf die Idee kommen, einen translabialen Ultraschall zur Höhenbestimmung des Kopfes zu machen? Als Hebammen haben wir noch alle Sinne beieinander und sind Kraft unserer Hände dazu befähigt, durch Palpation des Bauches der Mutter die Lage des Kindes zu erfassen, durch eine vaginale Untersuchung den Höhenstand des vorangehenden Kindsteiles sicher zu diagnostizieren oder schlicht durch Beobachten des Verhaltens der Frau zu erkennen, wie die Geburt voranschreitet. Sind wir in guter Beziehung zu der Frau, wird sie die Geburt geschehen lassen, sie kann sich dann ganz dem Geburtsvorgang hingeben, sich sicher wissend, denn die Hebamme sorgt für den geschützten Raum, in dem sie in Ruhe ihr Kind zur Welt bringen kann. Als Hebammen haben wir alle Sinne beieinander, denn wir beobachten den Geburtsprozess genau, bestätigen und ermutigen die Gebärende, sichern ihr immer wieder unseren Beistand zu und üben uns in bewusster und professioneller Zurückhaltung mit einem hohen Maß an Aufmerksamkeit. Zudem sind wir jederzeit bereit, aktive Maßnahmen zur Förderung der Geburt zu ergreifen und auf Bedürfnisse der Gebärenden bezüglich einer stärkeren Hilfestellung einzugehen. Hebammen wissen, dass eine physiologische Geburt im Sinne einer frauenorientierten Betreuungsphilosophie meist keine aktiven Interventionen benötigt beziehungsweise von solchen eher negativ beeinflusst wird. Mit diesem Berufsverständnis müssen sich Hebammen in den Kliniken gegen starke Widerstände durchsetzen. Zum Üblichen wird immer mehr eine Geburtsmedizin, die das Normale weitgehend ausblendet und sich stattdessen auf eine Abweichung vom Normalen konzentriert. Die frühzeitige Risikoausrichtung vom Beginn der Schwangerschaft an führt letztendlich zu Eingriffen, weit bevor eine Abweichung vom Normalen überhaupt eintritt. Es ist heute möglich jeden einzelnen Schritt des Prozesses von Zeugung, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit durch Interventionen zu beeinflussen oder zu ersetzen. Selbst am Beginn des Lebens scheint das Normale schon etwas Besonderes zu sein, denn In-vitro-Fertilisation, ICSI und andere Methoden der künstlichen Befruchtung nehmen rasant zu. Schwangerschaften werden mit dem Mutterpass auf genormte Passgenauigkeit überprüft und falls etwas aus der Norm gerät 3/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Editorial wird substituiert, interveniert und gegebenenfalls per Sectio in der 25. Schwangerschaftswoche therapiert. Ob und wie oft der Ultraschall in der Schwangerschaft nutzt, ist sekundär, Hauptsache es gibt einen Schnappschuss vom Fetus. Auch an der Geburt wird besessen manipuliert. Im Jahre 2011 wurden 22 Prozent aller Geburten eingeleitet. In 34,2 Prozent aller Fälle wurden Wehenmittel eingesetzt. 26,8 Prozent aller vaginalen Geburten fanden unter dem Einsatz einer PDA statt. Und, wie Sie alle wissen, in 33 Prozent endete die Geburt in einem Kaiserschnitt. Der neueste Trend im Lifestyle-Fach Geburtshilfe heißt Kaisergeburt, wo Muttern der Entwicklung des Kindes aus ihrer Bauchdecke sehenden Auges beiwohnen kann. Anschließend wird alles wieder schön straff zugenäht, damit bereits im Wochenbett Size Zero wieder passt. Die sensible Wochenbettzeit, in der der Übergang in die Mutterschaft mit all seinen Höhen und Tiefen erstmals erlebt werden muss, ist Konsum-überfrachtet und wird als Zeitraum der Regeneration und des Neufindens als Familie kaum bewusst gelebt. Vom Abstillen will ich hier jetzt gar nicht reden. Leitend bei dieser Entwicklung sind häufig nicht medizinische Notwendigkeiten, sondern auch wirtschaftliche Interessen und eine geschürte Erwartungshaltung, die alles für mach- und kontrollierbar ansieht. Dabei wird ausgeblendet, dass jeder einzelne Eingriff in die Fortpflanzung auch negative Wirkungen haben kann, die den Gesamtprozess stören. Die Antiquiertheit des Menschen, der immer noch geboren wird, gebiert und stirbt, hat Günther Anders (1974) wie folgt charakterisiert: »Der Mensch schämt sich, geboren statt gemacht zu sein. Er schämt sich der Tatsache, im Unterschied zu den tadellosen und bis ins Letzte durchkalkulierten Produkten sein Dasein dem blinden und unkalkulierten, dem höchst altertümlichen Prozess der Zeugung und der Geburt zu verdanken. Er schämt sich ebenso dem Altern und Sterben, dem Tod ausgeliefert zu sein.« Vielleicht schämt sich ja besonders Er, der männliche Mensch, der einfach akzeptieren muss, dass es nichts Lebendiges gibt, was keine Mutter hätte. Sogar der Papst hat eine. Auch Jesus wurde von einer Frau geboren. Und wer weiß, ob der Herrgott nicht auch eine hat. Überliefert ist jedenfalls des Teufels Großmutter. Ob die Möglichkeiten der modernen Reproduktionsmedizin und die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik Teufelswerk sind oder segensreiche Erfindungen, liegt zwar im Auge des Betrachters, führt aber trotzdem an ethische Grenzen. Wer entscheidet, was lebenswert und was lebensunwert ist? Allein diese Begrifflichkeiten wecken böse Erinnerungen. Reicht der bloße genetische Verdacht, dass ein Mensch später im Laufe seines Lebens einmal an einer unheilbaren Krankheit leiden wird, um eine Abtreibung durchzuführen? Geht es dabei wirklich darum, Leid zu verhindern, oder geht es schlicht um die Frage der Finanzierbarkeit der Versorgung? Wie passt die Abtreibung von Feten mit Down-Syndrom zusammen mit der Sectio von Frühestgeburten, die auf halbem vorgeburtlichen Wege ins Leben dem Mutterbauch entnommen mit schweren Behinderungen in Brutkästen leiden? Wie entscheiden wir, was richtig und falsch, was normal und unnormal ist? Wäre nicht etwas mehr Demut vor normalen, natürlichen Prozessen hilfreich? Etwas sein lassen zu können ist das Gegenteil von Machbarkeit und Aktionismus. 4/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Ich möchte an dieser Stelle erneut Günther Anders zitieren, der 1979 unter der Überschrift »Die Antiquiertheit des Sterbens« schrieb: »Im Zeitalter des Machens darf es eigentlich keine ungemachten Geschehnisse geben, mindestens keine die unverwertbar oder nicht mindestens in ein Produktionsgeschehnis integriert wären.« Was auf das Sterben zutrifft, gilt auch für das Gebären. Die Sorge um Menschen in Grenzerfahrungssituationen, die Leib und Seele betreffen, wird zur geplanten, durchkalkulierten und getakteten Versorgung. Im Geburtsplan wird versucht, die Unkalkulierbarkeit des Gebärens in verwaltete Planbarkeit zu verwandeln. Das suggeriert der Geburtsplanerin Machbarkeit, Kontrolle und definierte hebammenhilfliche Dienstleistungsbereitschaft. Der Grad der Dienstleistung richtet sich nach den ökonomischen Kennzahlen der Gesundheitswirtschaft. Und das nicht nur im Krankenhaus, sondern auch im Geburtshaus und sogar in der Hausgeburtshilfe. Leider. Ich habe bereits auf dem XI. Hebammenkongress in Leipzig im Jahre 2007 vor den Auswirkungen der Globalisierung und Liberalisierung der Märkte und im Zuge dessen vor dem Handel mit Dienstleistungen gewarnt. Jetzt, sechs Jahre später, zeigt sich deutlich, dass der erfolgte Umbau des Gesundheitswesens zur Gesundheitswirtschaft einige reich und gesund und viele arm und krank macht. Der Gesundheitswirtschaft geht es weniger um das Wohl der kranken und hilfebedürftigen Menschen, sondern um Umsatz, Gewinne und Verluste, um Rentabilität und Rendite. Wussten Sie, dass nirgendwo auf der Welt so viele Krankenhäuser privatisiert werden wie in Deutschland? Laut Statistischem Bundesamt sank die Zahl öffentlicher Kliniken von 1991 bis 2011 von 1.110 auf 621. Die Zahl der privaten Krankenhäuser hat sich in diesem Zeitraum auf 678 verdoppelt. Auslöser von Privatisierungen sind oft die Finanznot der Kommunen und der Investitionsstau in öffentlichen Häusern. Die tiefer liegende Ursache ist jedoch das geänderte Finanzierungssystem. Mit der Einführung der Budgetdeckelung und der Umstellung der Kostenerstattung auf Fallpauschalen (DRG) haben Markt und Wettbewerb im deutschen Krankenhauswesen Einzug gehalten. Seither ist es möglich mit dem Betreiben von Krankenhäusern enorme Gewinne einzufahren. Das ist auch das erste Ziel von privaten Klinikbetreibern: das Erwirtschaften von Profiten. Da gut 60 Prozent der Ausgaben fürs Personal verwendet werden, geht das fast immer zu Lasten der Beschäftigten. Die Steigerung der Fallzahlen bei gleichzeitigem Personalabbau, die Nutzung von Synergieeffekten zur Kostenoptimierung, Outsourcing und Tarifflucht sind hierfür zentral. Zudem spezialisieren sich Privatkonzerne gerne auf besonders rentable Fälle und überlassen die komplizierten und wenig lukrativen Behandlungen den öffentlichen Häusern der Maximalversorgung Als Hebamme kennen Sie alle den Zusammenhang zwischen der Anzahl beziehungsweise der Erkrankungshäufigkeit der Frühgeborenen in Ihrer Abteilung und dem Profil Ihrer angeschlossenen Kinderklinik. Oder glauben Sie an Zufall? Eine Kaiserschnittrate von 50 Prozent in der vom Rhön-Konzern aufgekauften Universitätsfrauenklinik Gießen ist sicher nicht nur medizinisch begründet. Rhön-Betreiber Münch sprach in einem Interview von der Übertragung von industriellen Fertigungsschritten auf die Patientenversorgung. 5/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Editorial Der Patient als Stückzahl. Entbindungen am Fließband getaktet durch einen digitalen Workflow. Die Verbetriebswirtschaftlichung des Gesundheitswesens ist politisch gewollt, beabsichtigt und gelungen. Das Gesundheitswesen ist zum Spielball der globalen Finanzmärkte geworden. Im Februar 2012 erschien im Deutschen Ärzteblatt die Meldung, dass die RatingAgentur Standard & Poors den Industrienationen den Verlust ihrer Top-Kreditwürdigkeit androhte, sollten die Ausgaben in den öffentlichen Gesundheitssystemen weiter steigen. Verhindert werden könne dies nur durch eine Vereinfachung und Digitalisierung des Gesundheitssystems, eine stärkere Privatisierung der Gesundheitsdienste und ein Zurückfahren des »Umfanges und der Großzügigkeit«. Da fehlen mir die Worte. Im klinischen Bereich ziehen deshalb immer noch Unternehmensberatungsfirmen durch die Kreißsäle, um sie auf Wettbewerbsfähigkeit, Optimierung von Arbeitsabläufen und Effizienz hin zu überprüfen. Dabei ist es doch bereits längst üblich, dass eine Hebamme mehrere Gebärende gleichzeitig betreut, sich um die Versorgung der ambulanten Schwangeren kümmert und zwischendurch noch zur Wochenbettvisite eilt. Auf diese untragbaren Zustände möchte der DHV mit einer Plakat- und Postkartenaktion hinweisen, wobei grafisch die Botschaft vermittelt wird: »Welches Drittel (Hebamme) hätten Sie denn gerne?« Diese Aktion wird im Sommer mit einer DHV-Kampagne flankiert, die von einer Agentur unterstützt wird, um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen. Die Übertragung von Industrienormen und industriellen Leistungserfassungssystemen auf soziale, pflegerische, medizinische und hebammenhilfliche Arbeit ist zutiefst fragwürdig, jedoch zunehmend verbreitet. Ziel ist es dabei, in kürzerer Zeit mehr zu leisten, also etwas zu beschleunigen. Die Auswirkungen auf die Hebammenhilfe sind verheerend. All diese McKinseys und Kollegen scheinen vergessen zu haben, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Nein, man macht es nur zunichte. Eine Schwangerschaft beschleunigen zu wollen entlarvt die Absurdität dieses Anspruchs. Den »Schnellen Brüter« haben wir in diesem Kontext glücklicherweise noch nicht erfunden. In der klinischen Geburtshilfe sieht es leider bereits anders aus. Nur noch 6,7 Prozent aller Frauen bringen ihr Kind ohne medizintechnische Interventionen zur Welt. Geburten werden künstlich eingeleitet, mit Wehentröpfen vorangepeitscht, am Muttermund wird manipuliert und, wenn es sein muss, von außen auch mal kräftig mitgepresst. Vorgeblich alles mit Indikation, also medizinischem Grund. Gebären jedoch braucht Zeit. Geburten beschleunigen zu wollen setzt Destruktivkräfte frei. Wie sehr eine Zeiterwartung eine Gebärende unter Druck setzt, wissen alle Hebammen und alle Frauen, die diese Erfahrung während der Geburt machen mussten. Geburt zeitlich managen zu wollen, ist vermessen. Geburt ist Rhythmus, nicht Takt. Und jede Frau gebiert in ihrem Rhythmus und in ihrer Eigenzeit. Das kann dauern und braucht hoffnungsvolles, geduldiges Zuwarten. Warten ist in der Hebammenhilfe kein Handlungsverzicht, sondern produktives Handeln. Warten wird dann ein Störmoment, wenn Zeit mit Geld verrechnet wird, wenn die Logik der knappen Zeit herrscht. Wartezeiten verursachen aus dieser Sicht Kosten, da in der verwarteten Zeit andere Chancen hätten wahrgenommen werden können. 6/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Hieraus ergibt sich der Eindruck, warten sei unproduktiv, es müsse etwas dagegen unternommen werden. Warten ist aber, bezogen auf das Gebären, kein mehr oder weniger erzwungener Handlungsverzicht, sondern es ist auch Ausdruck einer besonderen Qualität des Handelns. Warten und warten können bedeutet Zeit haben – und das ist etwas ganz Besonderes. Es ist eine Zeit, die nicht unter dem Druck steht, rasch zu Resultaten zu kommen. Wer warten kann, hat viel getan, heißt es in einem alten Sprichwort. Es wird allerdings kein Unternehmensberater, der Hebammenhilfe mit der Stoppuhr erfassen will, Warten als produktive Zeit erfassen. Das Zeitbewirtschaftungsprinzip der Zeitmanager ist ausschließlich dem Faktor Profit verhaftet. Deshalb sind die Aufforderungen, Arbeitsabläufe zu optimieren, ein besseres Zeitmanagement zu betreiben, mit Vorsicht zu genießen. Zeitmanagement löst oft nicht die Probleme der Zeitnot, sondern führt tiefer in sie hinein. Zeitknappheit ist der Effekt eines erfolgreichen Zeitmanagements, welches die Verdichtung zeitorganisatorischer Regelungen immer weiter vorantreibt. Auch die Krankenkassen erwarten von den Hebammenverbänden im Rahmen der Überführung ins SGB V eine Leistungsbeschreibung hebammenhilflichen Tuns, bei der Leistungen mit Zeitangaben gekoppelt werden sollen. Es wird eine der größten Herausforderungen für die Hebammenverbände sein, für die gute Versorgung der Frauen genügend Zeit als auskömmlich bezahlte Größe zu verhandeln. Ich würde eine angemessen hohe Vergütung befürworten, die fernab von jeder zeitlichen Taktung ist. Denn was brauchen eine Gebärende und die sie betreuende Hebamme mehr als Zeit? Zeit, in der die Hebamme einfach nur da sein kann. Zeit, die für beide bei der einen Geburt lang, bei der andern kurz sein kann. Zeit, um die Gebärende aktiv zu unterstützen oder einfach nur die Hand zu halten. Eigentlich brauchen wir als Hebammen gerade in der professionellen Unterstützung Gebärender unreglementierte, unbewirtschaftete Zeit. Zeit in eigener Verfügung. Aber genau die wird im Versorgungssystem Gesundheitswirtschaft systematisch verknappt. Minutentakte mit ständigem Rechtfertigungsdruck machen ein solches Da-Sein – nicht nur für Gebärende – prinzipiell zunichte. Vielleicht wäre ein unabhängiges Grundeinkommen für Hebammen eine Möglichkeit, unseren Beruf aus dem Markt der Möglichkeiten herauszuholen, wo er definitiv nicht hingehört. Es empört mich, wenn ich erfahre, dass Hebammen Frauen mit Bereitschaftspauschalen abzocken, die sich nur Gutverdienende leisten können. Oder mit weiteren individuellen Gesundheitsleistungen eine Zwei-Klassen-Hebammenhilfe etabliert wird, die vielleicht gerade noch legal, aber längst nicht mehr legitim ist. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich rede hier nicht dem Altruismus das Wort, sondern ich möchte klarstellen, dass ein Versorgungsauftrag (in unserem Fall für Frauen und Kinder) und Gewinnmaximierung eine schlechte Kombination sind. Hier wäre mehr Staat zwingend erforderlich. Es ist genug Geld da, um Frauen in der reproduktiven Lebensphase eine angemessene Versorgung in der Zeit, die sie brauchen, und den Hebammen eine auskömmliche Vergütung, einschließlich solider Renten, zu zahlen. 7/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Editorial Ich wiederhole: Geburt zeitlich managen zu wollen, ist vermessen. Geburt ist Rhythmus, nicht Takt. Die neueste Masche diesen verstörend unplanbaren Vorgang Gebären in den Griff zu bekommen, ist der Kaiserschnitt, allemal der geplante. Warum wird dieser gar nicht harmlose Eingriff anscheinend immer beliebter? Wie hoch die Rate des Wunschkaiserschnittes ist, ist nicht leicht zu ermitteln, denn aus Abrechnungsgründen wird ein Arzt immer eine Indikation angeben. Die Motive der Frauen reichen von Angst vor den Geburtsschmerzen über befürchtete Auswirkungen auf den Beckenboden (in den USA macht man sich für den Kaiserschnitt unter dem Motto »save your love-organs« stark) bis hin zur Planbarkeit des Geburtstermins. Wie wir alle wissen, ist der Kaiserschnitt alles andere als ein harmloser Eingriff. Für das Krankenhausunternehmen besteht durch das DRG-System jedoch immer noch ein finanzieller Anreiz, vermehrt Kaiserschnitte durchzuführen. Sie sind für eine Klinik lukrativer als eine Spontangeburt. Der durchschnittliche Erlös beträgt für eine Spontangeburt um die 1500 Euro, der eines geplanten Kaiserschnittes liegt bei 2600 Euro. Es ist nicht auszuschließen, dass pekuniäre Interessen den Anstieg der Kaiserschnittraten begünstigen. Der DHV fordert daher schon seit Jahren die dringende Überarbeitung des bestehenden Vergütungsmodells in der Geburtshilfe. Es kann nicht sein, dass eine Spontangeburt im Vergleich zum Kaiserschnitt zu betriebswirtschaftlichen Nachteilen des Krankenhauses führt. Es kann nicht sein, dass die Krankenkassen unnötige Leistungen bezahlen, die zudem oft noch hohe Folgekosten nach sich ziehen. Nach welchen Kriterien die Kassen ihre Ausgaben planen, erscheint mir allerdings manchmal rätselhaft. Da werden durch fragwürdige Präventionsprogramme scharenweise Gesunde in die Arztpraxen getrieben, aber einer hilfebedürftigen Mehrfachmutter wird die Haushaltshilfe nicht bezahlt. Da wird den Geburtshäusern ein QM-System aufgebürdet, dessen Umfang der Frankfurter Flugsicherung alle Ehre machen würde, damit diese ihre nun mal faktisch vorhandenen Betriebskosten geltend machen dürfen. Die Überführung der Hebammenleistungen von der RVO ins SGB V sieht nun Qualitätssicherung für alle freiberuflich tätigen Hebammen vor. Der DHV setzt sich dafür ein, die Maßnahmen für die einzelne Hebamme so unaufwendig wie möglich zu gestalten und dafür zu sorgen, dass die Kriterien der Qualität auch bei der Frau ankommen. Ich werde misstrauisch, wenn so genanntes Qualitätsmanagement von QM-Anbietern dazu genutzt wird, dass Menschen Systemen angepasst werden sollen. Bleiben wir kritisch und hinterfragen genau, ob all das Gerede über Qualität, Kompetenzen, Exzellenzen und Zertifizierung wirklich etwas zu tun hat mit uns leibhaftigen, lebendigen Menschen. Qualität im klinischen Setting ließe sich übrigens ganz schnell herstellen, indem in der Geburtshilfe die Geburtenzahl pro Hebamme gesenkt würde. Ebenso würde die Einrichtung von hebammengeleiteten Kreißsälen, in denen eine Eins-zu-eins-Betreuung üblich ist, die Qualität der Geburtshilfe steigern. Hebammenkreißsäle haben sich in der deutschen geburtshilflichen Versorgungslandschaft durchaus etabliert. 14 Hebammenkreißsäle haben sich im Netzwerk des DHV zusammengeschlossen, wo die Kolleginnen die Möglichkeit haben als reflektierte Prak- 8/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 tikerinnen ihre Arbeit zu bewerten, zu verbessern, voneinander zu lernen und sich gegenseitig zu bestärken. Vor allem Letzteres ist in seiner Wirkung nicht zu unterschätzen. Häufig wird geklagt, dass es dem DHV nicht gelingt, für eine flächendeckende Versorgung mit Hebammenkreißsälen zu sorgen. Ich denke, dass das Konzept den meisten Kolleginnen bekannt ist. Was sie an der Umsetzung hindert, sind die belastenden Arbeitsbedingungen in den Kliniken, wo Personalmangel und Zeitdruck wenig Raum für Projektarbeit zulassen. Die Schaffung einer zusätzlichen Projektstelle könnte weiterhelfen und dem klinischen Geschäftsführer unter Marketingaspekten durchaus vermittelbar sein. Als Hebammen implementieren wir den Hebammenkreißsaal allerdings nicht um des Wettbewerbs Willen, sondern um durch eine Eins-zu-Eins-Betreuung die normale Geburt zu fördern und die Arbeitszufriedenheit der Hebammen zu verbessern. Es ist durch internationale Studien belegt, dass die hebammengeleitete Geburtshilfe die sicherste Variante für Mutter und Kind ist. Leider ist die hebammengeleitete Geburtshilfe weltweit bedroht. In einigen Bundesstaaten der USA stehen den Frauen keine Fachkräfte für die Geburt mehr zur Verfügung. Der Grund dafür sind unbezahlbare Haftpflichtprämien. Die einzige Hilfemöglichkeit für die Frauen sind Laienhelferinnen, die haftungsrechtlich nicht belangt werden können. Dass diese Form der Versorgung keineswegs weniger Schadensfälle produziert, liegt auf der Hand. Diese Entwicklung gilt es in Deutschland abzuwenden. Der DHV arbeitet an einem interministeriellen Runden Tisch gemeinsam mit anderen an einer politischen Lösung der stetig steigenden Haftpflichtprämien. Im Jahr 2010 wurde ich von Politikern für meine Forderung nach einem steuerfinanzierten Fond noch ausgelacht. Jetzt höre ich diese Überlegungen von Herrn Pofalla aus dem Bundeskanzlerinnenamt. Wer sich diese mögliche Lösung auf die Fahnen schreibt, ist mir egal, Hauptsache wir bekommen eine Lösung. Uns zwar rasch. Denn nur durch großes Engagement der Hebammen konnte die Zahl der außerklinischen Geburten bislang konstant gehalten werden. Das Recht der Frauen auf die freie Wahl des Geburtsortes konnte glücklicherweise durch die gesetzliche Aufnahme der Geburtshäuser und die Benennung der Hausgeburt im Rahmen der Überführung ins SGB V gestärkt werden. Das ist ein Erfolg. Es ist auch ein positives Signal, dass immer mehr Krankenkassen die Kosten der Rufbereitschaft übernehmen. Das erleichtert den Frauen die Wahl einer außerklinischen Geburt oder einer Beleghebamme in Eins-zu-Eins-Betreuung. In der Schiedsstelle haben wir durch das Erzwingen eines Schiedsspruches eine Erhöhung der Vergütung erreicht, die zwar respektabel ist, aber gemessen am Ausgangsniveau des Hebammeneinkommens noch deutlicher Steigerungen bedarf. Der DHV setzt sich dafür ein, dass Hebammen von der Familienplanung über die bereits frühe Schwangerschaft, die Geburt und das Wochenbett bis zum Ende der Stillzeit alle Leistungen der Hebammenhilfe regelhaft vergütet bekommen und in der ganzen Bandbreite ohne Hemmnisse ausüben können. Der Kampf für eine angemessene Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen, die eine frauenorientierte und familienfreundliche Geburtshilfe ermöglichen, wird auch in den 9/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013 Editorial nächsten Jahren eine vorrangige Aufgabe Ihres Berufsverbandes bleiben. Die in den letzten Jahren unter Entbehrungen hart erkämpften Erfolge sind auch ein Ergebnis der Solidarität unter uns Hebammen. Ihre Beteiligung an öffentlichen Kundgebungen und Protesten hat den Druck auf die Politik und die Krankenkassen erheblich erhöht. Dafür möchte ich allen engagierten Frauen ein herzliches Dankeschön aussprechen. Gemeinsam gestalten wir Gesellschaft. Und gemeinsam gestalten wir unsere Geburtskultur. Die Bewertung der Geburt und die Bewertung der Fähigkeit der Frau zu gebären sagt viel über den Zustand aus, in dem eine Gesellschaft sich befindet. Geburtshilfe in Deutschland muss neu gedacht und vor allem neu gestaltet werden. Wir müssen weg vom Risikodenken, hin zum verantwortungsvollen Zutrauen. Hebammen wissen: Eine Schwangerschaft ist ein normales, wenn auch besonderes Ereignis im Leben einer Frau. Und Hebammen wissen: Eine normale Geburt beginnt nicht im Kreißsaal. Der Schlüssel für die normale Geburt liegt in der frühzeitigen Kontaktaufnahme zwischen Frau und Hebamme. Um diesen zu fördern, entwickelt der DHV zurzeit ein Konzept, mit dem Hebammen ermutigt werden sollen, in der frühen Schwangerenvorsorge tätig zu werden. Es liegt in unserer Hand, wie wir unsere Berufsausübung gestalten. Ob wir fraktioniert arbeiten, nur in Teilbereichen oder aber den kompletten Betreuungsbogen abdecken. Ob wir in der Klinik arbeiten, im Geburtshaus oder in der Hausgeburtshilfe, ob in Teams oder als Solo-Selbstständige. Der DHV wird sich als Ihr Berufsverband auch weiterhin mit aller Kraft dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen für unsere Berufsausübung so sind, dass Hebammen sicher und auskömmlich darin leben und arbeiten können, damit es Mutter und Kind gut geht. Denn Hebammen wissen: Das Normale ist etwas ganz Besonderes! Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Quellen Friederike zu Sayn-Wittgenstein (Hrsg.): Geburtshilfe neu denken, Bericht zur Situation und Zukunft des Hebammenwesens in Deutschland. 1. Aufl. 2007 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. München 1974 Ina Praetorius u.a.: ABC des guten Lebens. Rüsselsheim 2012 Friedhelm Hengsbach: Die Zeit gehört uns. Widerstand gegen das Regime der Beschleunigung. Frankfurt/Main 2012 Impatientia e.V./Gen-Archiv: Kritische Positionen und Interventionen zu Gesundheitswesen und Gesundheitspolitik (Internetseite) Moritz Gerhardt, Stephan Kolb u. a. (Hrsg.): Medizin und Gewissen. Im Streit zwischen Markt und Solidarität. Kongressdokumentation, Nürnberg 20.-22. Oktober 2006 10/10 Vortrag von Martina Klenk, XIII. Hebammenkongress, 8. Mai 2013