Kapitel 1: Entstehung und Verlauf von Krankheiten Unter der Überschrift Entstehung und Verlauf von Krankheiten werden die Grundlagen der Medizinischen Psychologie und der Medizinischen Soziologie aus verschiedenen Perspektiven dargestellt. Dabei liegt einleitend der Schwerpunkt auf einer eher soziologischen Betrachtung der Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit. Neben der Abklärung der in diesem Zusammenhang relevanten Begriffe, wie die Bezeichnungen „o. B.“ oder „Risikofaktor“, werden wichtige juristische Vorgaben, wie z. B. das Psychotherapeutengesetz und gesellschaftliche Vereinbarungen, wie die Definitionen von Gesundheit und Krankheit der Weltgesundheitsorganisation (WHO), erläutert. Darauf aufbauend wird dann die Bedeutung von Gesundheit und Krankheit aus Patientensicht skizziert. Von welchen Krankheiten sind wir heute mehr als früher betroffen? Was bedeutet gesundheitsbezogene Lebensqualität? Diagnosesysteme und der Zusammenhang von „objektivem“ Befund und „subjektiven“ Beschwerden sind wichtige Aspekte der Darstellung des medizinischen Wissens- und Handlungssystems. Schließlich werden gesamtgesellschaftlich relevante Begriffe wie Krankschreibung oder Stigmatisierung umrissen. Den zweiten Teil des Kapitels bildet die Beschreibung unterschiedlicher Gesundheits- und Krankheitsmodelle. Hier wird die Brücke geschlagen von den stärker naturwissenschaftlich orientierten Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit als lernbedingt und biologisch verankert zu den sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Modellen als Weiterentwicklung der Freudschen Psychoanalyse und den Konzeptionen der Sozialpsychologie bis zu den soziologischen Modellen, in denen auch Bedingungen der Arbeitswelt, sozialer Status und Anerkennung als mögliche Krankheitsursachen berücksichtigt werden. Die Kenntnis dieser Modelle bildet eine wichtige Voraussetzung, um praktisch relevante Probleme des ärztlichen Alltags systematisch lösen zu können. Hierzu zählen z. B. Fragen nach der Veränderbarkeit von gesundheitsriskantem Verhalten oder der Konditionierbarkeit von Immunreaktionen. Mit dem Abschnitt Methodische Grundlagen soll dem Leser ein kompakter Überblick zu dem mittlerweile sehr umfangreichen methodischen Inventar der Sozial- und Verhaltenswissenschaften an die Hand gegeben werden. Anders als in der Medizinischen Ausbildung nimmt insbesondere im Psychologiestudium seit den 1970er Jahren die fundierte Vermittlung des methodischen Know-how einen großen Stellenwert ein. Diese Gewichtung wird der Tatsache gerecht, dass die wissenschaftlichen Grundlagen der heutigen Psychologie, aber auch der modernen Soziologie auf der Durchführung experimenteller Studien und auf Befragungen basieren, die strengen Gütekriterien genügen müssen. Selbstverständlich entspricht der formale Aufbau einer sozial- und verhaltenswissenschaftlichen Studie mittlerweile demjenigen aus den klassischen Naturwissenschaften Biologie, Physik und Chemie. Dazu gehört auch die Unverzichtbarkeit der beschreibenden (deskriptiven) und der schließenden (induktiven) Statistik. Nur mit letzterer kann die Frage beantwortet werden, ob z. B. das Ergebnis einer Beobachtung an mehreren Patienten einer bestimmten Universitätsklinik signifikant ist, d. h. ob die Ergebnisse der Studie auch mit hinreichender Sicherheit auf Patienten allgemein übertragbar sind. Wenngleich weniger umfassend als in der Psychologie, so lässt sich doch auch in der Medizin jenseits der Grundlagenforschung eine steigende Bedeutung statistischer Methoden feststellen. Dies betrifft nicht nur die allgemeine Akzeptanz eines sog. „Goldstandards“ z. B. für Arzneimittelwirkungsstudien, sondern auch die immer stärker werdende Forderung nach einer „evidenzbasierten Medizin“ (EbM). Führte lange Zeit die wissenschaftliche Forschung in der Medizin ein eher isoliertes Dasein im „Elfenbeinturm“ Universität, so stellt EbM den erfolgreichen Versuch dar, wissenschaftliche Erkenntnisse zu bündeln und unter Berücksichtigung kondensierter klinischer Erfahrung auch überwiegend praktisch tätigen Ärzten sowie interessierten Patienten in kompakter Form zugänglich zu machen. Der Medizinstudent wird spätestens beim Erstellen seiner Doktorarbeit mit den methodischen Grundlagen konfrontiert; aber oft setzt auch bereits das Lesen (und vor allem Verstehen) eines Fachartikels jenes Minimum an methodischen Kenntnissen voraus, wie es hier vermittelt werden soll. Ein wesentlicher Bestandteil des ersten Kapitels ist die Vermittlung der theoretischen Grundlagen der Medizinischen Psychologie und Soziologie. Hierbei wird zunächst wieder die starke Verankerung der Psychologie in den anderen Naturwissenschaften deutlich, indem der Abschnitt mit der Skizzierung der biologischen Grundlagen beginnt. Das Spektrum reicht hier von den bereits viele Jahrzehnte zurückliegenden wissenschaftlichen Beobachtungen der Analogie tierischen und menschlichen Verhaltens bis hin zu den Erkenntnissen der erst jungen Neurobiologie und -psychologie. Die Abschnitte Lernen, Kognition, Emotion, Motivation und Persönlichkeit spiegeln dann exakt die theoretischen Kernfächer der Psychologie wider. Unter den Überschriften soziodemografische sowie sozialstrukturelle Determinanten des Lebenslaufs werden abschließend die soziologischen Aspekte von Bevölkerungensveränderungen umrissen. 14 Vorwort Kapitel 1 Hier erfährt der Leser, was es mit einer sog. Patchwork-Identity oder der Midlife-Crisis auf sich hat. Anhand der Analyse von „Bevölkerungspyramiden“ wird es schließlich möglich, die Entwicklung einer Bevölkerung über einen längeren Zeitraum sichtbar zu machen, um so auch fundierte Vorhersagen zu ermöglichen und Schwerpunkte für das zukünftige medizinische Handeln abzubilden. 1.1 Bezugssysteme von Gesundheit und Krankheit Inhaltsübersicht 1.1.1 Begriffskl!rungen................................................................................................... 17 Jörg Schumacher und Elmar Brähler 1.1.2 Die"betroffene"Person ............................................................................................ 23 Jörg Schumacher und Elmar Brähler 1.1.3 Die"Medizin"als"Wissens-"und"Handlungssystem ................................................... 31 Jörg Schumacher und Elmar Brähler 1.1.4 Die"Gesellschaft..................................................................................................... 37 Jörg Schumacher und Elmar Brähler 1.1.1 Begriffsklärungen 17 1.1.1 Begriffsklärungen Gesundheit und Krankheit stellen Phänomene dar, die sich in drei unterschiedlichen Bezugssystemen beschreiben lassen: (1) Im Bezugssystem der betroffenen Person stehen das subjektive Erleben von Krankheit und Gesundheit, die zugrunde liegenden subjektiven Krankheitstheorien und die psychologischen Prozesse der Krankheitsverarbeitung im Mittelpunkt. (2) Im Bezugssystem der Medizin als ein Wissens- und Handlungssystem werden Krankheiten und Syndrome vor allem als Normabweichungen und als medizinische Befunde verstanden. (3) Im Bezugssystem der Gesellschaft sind vor allem sozialrechtliche Aspekte wie krankheitsbedingte Leistungsminderungen und die Notwendigkeit zur Gewährleistung von Hilfen (wie z. B. Krankschreibung, Versicherungsleistungen) von Bedeutung. Gesundheit und Krankheit lassen sich im Bezugssystem der betroffenen Person, der Medizin als Wissens- und Handlungssystem sowie der Gesellschaft beschreiben. Allgemein anerkannte Definitionen von Gesundheit und Krankheit liegen derzeit nicht vor. Vielmehr werden beide Begriffe in Abhängigkeit von der jeweiligen Betrachtungsperspektive (juristische, naturwissenschaftlich-medizinische, psychologische, soziologische) und den zugrunde liegenden Bezugssystemen zum Teil unterschiedlich definiert bzw. es werden jeweils spezifische Aspekte des Krankheits- bzw. Gesundheitsbegriffes besonders hervorgehoben (vgl. Kapitel 1.2). Es existieren keine allgemein anerkannten Definitionen von Gesundheit und Krankheit. Der deutsche Gesetzgeber hat im Sozialgesetzbuch (SGB) auf eine explizite Definition von Krankheit oder Behinderung verzichtet. Die in der Rechtssprechung bestehenden Grundsätze gehen jedoch davon aus, dass dann von einer Krankheit zu sprechen ist, wenn ein regelwidriger (d. h. von den Normen abweichender) Zustand des Körpers, des Geistes oder der Seele vorliegt, der eine Heilbehandlung erforderlich macht. Für die gesetzliche Krankenversicherung ist darüber hinaus von besonderem Interesse, dass dieser Zustand auch oder ausschließlich eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Eine Heilbehandlung ist immer dann angezeigt, wenn dadurch die Arbeitsfähigkeit erhalten oder wieder hergestellt werden kann oder Schmerzen oder Beschwerden verhindert, behoben oder gelindert werden können. Um die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung auszulösen, muss eine Behandlungsmöglichkeit existieren. Die juristische Auffassung von Krankheit betont die Abweichung von Normen sowie die Notwendigkeit einer Heilbehandlung. Entsprechend dieser juristischen Auffassung ist Krankheit demnach ein Zustand, der eine ärztliche Behandlung notwendig macht, wobei im Sozialgesetzbuch (SGB) vom Arzt ausdrücklich eine Urteilsbildung und Behandlung nach dem aktuellen Stand des medizinischen Wissens und den Regeln der ärztlichen Heilkunst erwartet wird. Seit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes (PsychThG) im Jahre 1999 können Krankheiten mit Störungswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist, nicht nur durch Ärzte sondern auch durch Psychologische Psychotherapeuten sowie bei Patienten vor Vollendung des 21. Lebensjahrs auch durch Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten behandelt werden. Voraussetzung dafür ist neben einem Hochschulabschluss (Diplom) in Psychologie (bei Kinderund Jugendlichen-Psychotherapeuten alternativ auch in Pädagogik oder Sozialpädagogik) eine Approbation sowie eine durch die zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV) erteilte Zulassung zur psychotherapeutischen Behandlung. Weiterhin besteht die Verpflichtung zur somatischen Abklärung der Beschwerden durch einen Arzt (Konsiliarbericht). Die Medizin hat sich bisher vor allem um eine Definition von (körperlicher) „Krankheit“ bemüht. Als ein wesentliches Merkmal wird hier die Abweichung von einem physiologischen Gleichgewicht, einer biologischen Regelgröße oder aber einer Organstruktur oder -funktion betont. Bei Krankheit ist eine ärztliche Behandlung oder eine Behandlung durch Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten erforderlich. 18 Jörg Schumacher und Elmar Brähler Krankheit wird in der Medizin oft als Abweichung von biologischen Normen definiert. Krankheit kann auch eine Abweichung von verhaltensmäßigen und sozialen Normen darstellen. Gesundheit kann als Fehlen von Normabweichungen aufgefasst werden (Diagnose „ohne Befund, o. B.“). Die subjektive (psychische) Dimension von Gesundheit und Krankheit lässt sich mit den Begriffen „Gesundsein“ und „Kranksein“ beschreiben. Gesundheit und Krankheit können auch als dichotome Alternativen oder als Phänomene auf einem Kontinuum verstanden werden. Bezugspunkt sind dabei biologische Normen, die auf statistischen Häufigkeitsanalysen von biologischen und physiologischen Parametern (z. B. Körpergewicht, Blutdruck) in einer Referenzpopulation (z. B. den männlichen Deutschen zwischen 18 und 30 Jahren) basieren. Allerdings ist die Entscheidung, ob jemand als „gesund“ oder „krank“ einzustufen ist, allein auf der Basis biologischer Normen oftmals schwer zu treffen, da diese innerhalb der Bevölkerung nicht selten eine große Schwankungsbreite aufweisen und zudem oft nicht eindeutig klar ist, welche konkreten gesundheitlichen Auswirkungen bei welchen Normabweichungen zu erwarten sind. Nicht nur deshalb sollten neben biologischen Normen immer auch verhaltensbezogene und soziale Normen berücksichtigt werden. Dies gilt um so mehr, je geringer oder unklarer der Anteil biologisch-somatischer Prozesse an der Entstehung und Aufrechterhaltung der Beschwerden und Probleme ist. Insbesondere gilt dies für den Bereich der psychischen Erkrankungen. Verhaltensbezogene Normen gehen davon aus, dass sich ein normales, „übliches“ Verhalten von Menschen beschreiben lässt. Soziale Normen sind per Übereinkunft (informell) oder Verordnung (formell) festgelegte Regeln für ein allgemein akzeptiertes und von der Gemeinschaft erwartetes zwischenmenschliches Verhalten. Die Diagnose einer Krankheit steht in der Regel am Ende eines Entscheidungsprozesses, bei dem der Arzt zu der Auffassung gelangt ist, dass die vom Patienten geschilderten Beschwerden und die darüber hinaus erhobenen Befunde signifikante Abweichungen von biologischen, verhaltensmäßigen und/oder sozialen Normen darstellen und sich einer der Medizin bekannten Krankheit zuordnen lassen. Liegen keine relevanten Normabweichungen vor (ohne Befund, o. B.), wird der Patient hingegen als gesund betrachtet. Die formale Entscheidung darüber, ob jemand als „gesund“ oder aber als „krank“ einzustufen ist und damit einer medizinischen Behandlung bedarf, liegt somit in der Hand des Arztes. Gesundheit und Krankheit haben immer auch eine subjektive (psychische) Dimension, die im Erleben des Betroffenen zum Ausdruck kommt und mit den Begriffen „Gesundsein“ und „Kranksein“ beschrieben werden kann. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers und das subjektive Wohlbefinden sind dabei wesentliche Bedingungen dafür, ob sich jemand als gesund oder krank erlebt. Dabei kann das, was als „normales“ Befinden zu betrachten ist, interindividuell stark variieren. Allgemein verbindliche Normen für die subjektive Gesundheit sind deshalb kaum festzulegen. Problematisch ist zudem, dass der subjektiv erlebte Gesundheitszustand von der Diagnose des Arztes und dessen objektiven Befunden mehr oder weniger deutlich abweichen kann (vgl. Kapitel 1.1.3). Prinzipiell können Gesundheit und Krankheit (1) dichotom als Alternativen (entweder gesund oder krank) oder (2) als Phänomene auf einem Kontinuum zwischen den beiden Extremen „vollständig gesund“ und „todkrank“ verstanden werden. In der Praxis erfordert die Notwendigkeit von Entscheidungen über Sozialleistungen und andere Rechte, dass sich Ärzte im Sinne einer dichotomisierenden Entscheidung auf ein entweder gesund oder krank festlegen müssen. Moderne Klassifikations- und Diagnosesysteme, wie die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebene 10. Revision der International Classification of Diseases (ICD-10), geben klare und verbindliche Kriterien vor, ab wann eine körperliche oder psychische Beeinträchtigung als Störung mit Krankheitswert zu bezeichnen ist. Auch hier werden Entweder-Oder-Entscheidungen verlangt; eine „Übergangszone“ zwischen Gesundheit und Krankheit ist nicht vorgesehen. 1.1.1 Begriffsklärungen 19 Kontinuum-Modell Gesundheit Krankheit viele Zwei-FaktorenModell Gesundheit gesunderhaltende Bedingungen Krankheit wenige krankmachende Bedingungen viele Abbildung 1: Modellvorstellungen zu Gesundheit und Krankheit. Eine Modellvorstellung, die den biologischen, psychischen und sozialen Gegebenheiten besser entspricht, ist die eines bipolaren GesundheitsKrankheits-Kontinuums. Gesundheit und Krankheit werden hier nicht als dichotome, einander ausschließende Kategorien betrachtet, sondern als Endpunkte eines Kontinuums. Ein Mensch ist entsprechend dieser Vorstellung zu einem gegebenen Zeitpunkt nicht entweder gesund oder krank, sondern mehr oder weniger gesund oder krank. Andere Autoren gehen davon aus, dass Gesundheit und Krankheit durch das jeweilige Ausmaß gesunderhaltender und krankmachender Bedingungen zu beschreiben sind. Die genannten Bedingungsgruppen variieren dabei unabhängig voneinander. Beiden Auffassungen ist gemeinsam, dass sie sich weniger mit den Ursachen einer Erkrankung (Ätiologie) und dem Prozess der Krankheitsentstehung (Pathogenese) beschäftigen, sondern stattdessen den Prozess der Salutogenese, also die Frage: „Warum und wie bleibt jemand trotz unterschiedlicher krankheitsauslösender Bedingungen gesund?“, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung rücken. Unter einem solchen Blickwinkel ist es notwendig, „Gesundheit“ nicht negativ, bezogen auf Krankheit zu definieren, sondern einen positiven Gesundheitsbegriff zu verwenden. Von besonderer Bedeutung ist hier die Gesundheitsdefinition der WHO aus dem Jahre 1946: „Gesundheit ist ein Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“. Trotz kritischer Einwände hatte die WHO-Definition eine visionäre Wirkung und einen bedeutsamen Einfluss auf Zielvorgaben der Gesundheitspolitik in zahlreichen Ländern. Die Kritik an dieser Definition bezieht sich auf verschiedene Aspekte. So wird sie als zu statisch angelegt betrachtet, da sie lediglich den Zustand der Gesundheit betrachtet; dynamische Aspekte der Entwicklung von Gesundheit werden dagegen vernachlässigt. Die Definition betont in erster Linie die subjektiven Aspekte der Gesundheit („Wohlbefinden“) und vernachlässigt objektivierbare Daten. Es können aber trotz subjektiven Wohlbefindens objektive gesundheitliche Gefährdungen vorliegen. Im Gegensatz zur Pathogenese wird bei der Salutogenese nach den gesunderhaltenden Bedingungen gefragt. 1946 definierte die WHO einen positiven Gesundheitsbegriff. Diese Definition ist allerdings sehr statisch und betont nur subjektive Aspekte. 20 Jörg Schumacher und Elmar Brähler In den letzten Jahren sind verstärkt Bemühungen unternommen worden, den Gesundheitsbegriff näher zu definieren. Wesentliche Dimensionen der Gesundheit, die von verschiedener Seite (Medizin, Psychologie, Soziologie) immer wieder betont wurden, sind nachfolgend aufgeführt. (1) Gesundheit als Störungsfreiheit: Gesund ist, wer nicht krank ist. (2) Gesundheit als Leistungsfähigkeit: Gesundheit wird als Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die wirksame Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist, aufgefasst; auch in psychologischen Gesundheitsdefinitionen spielt der Aspekt der Leistungsfähigkeit im Sinne von Produktivität, Tätigkeit bzw. Kompetenz eine wichtige Rolle. Dimensionen der Gesundheit sind Störungsfreiheit, Leistungsfähigkeit, Rollenerfüllung, Gleichgewichtszustand, Flexibilität, Anpassung und Wohlbefinden. (3) Gesundheit als Rollenerfüllung ist eng verknüpft mit dem Begriff von Gesundheit als Leistungsfähigkeit. Bewertungsgrundlage für die Gesundheit einer Person ist deren Fähigkeit, ihren Anteil am Gesamt der gesellschaftlichen Aufgaben zu leisten. Gesundheit stellt somit eine funktionale Norm dar. (4) Gesundheit als Gleichgewichtszustand bzw. Homöostase gehört zu den ältesten, noch aus der Antike stammenden Definitionen. Aber auch medizinisch-naturwissenschaftliche Modelle dienen als Basis für solche Gesundheitsdefinitionen. (5) Gesundheit als Flexibilität ist dem Homöostase-Konzept eng verwandt, beschreibt aber eher die aktive, flexible Anpassung an neue Situationen. Statt eines Ruhezustandes wird die dynamische Veränderung angestrebt. (6) Gesundheit als Anpassung beschreibt Gesundheit als Fähigkeit, sich mit den Bedingungen der Umwelt optimal auseinander zu setzen. Gemeint ist hier nicht nur die seelisch gesunde Persönlichkeit. Angesprochen sind auch primär biomedizinische Anpassungsprozesse. So kann sich der Mensch vor Krankheitserregern nicht nur schützen, er kann darüber hinaus seine Resistenzkräfte gegen Infektionen erhöhen. (7) Gesundheit als Wohlbefinden schließlich hebt auf die subjektive Seite der Gesundheit ab, wie etwa vorgezeichnet in der WHO-Definition von 1946. Der Begriff „Ätiologie“ bezeichnet die Ursachen einer Erkrankung. „Pathogenese“ ist der Prozess der Krankheitsentstehung. Auch wenn die Vorstellung eines Gesundheits-Krankheits-Kontinuums und positive Gesundheitsdefinitionen zunehmend Beachtung finden, dominiert in der Medizin nach wie vor eine Begrifflichkeit, die eher mit dem Konzept der „Krankheit“ verbunden ist. Neben den bereits erwähnten Begriffen der Ätiologie und Pathogenese, die auch in dem Wort Ätiopathogenese zusammengeführt werden, sind hier die Begriffe Rezidiv und Chronifizierung zu nennen. Ein Rezidiv bezeichnet einen Rückfall in einem Heilungsprozess oder das Wiederauftreten einer Krankheit nach potentieller Heilung. Ein Rezidiv (lat.: recidere, zurückfallen) ist ein Rückfall in einem Heilungsprozess oder das Wiederauftreten einer Krankheit nach einer (potentiellen) Heilung (z. B. Tumorrezidiv: Wiederauftreten eines histologisch gleichartigen Tumors am gleichen Ort oder im gleichen Organ nach einer vorausgegangenen radikalen Behandlung). Der Anteil biologischer und verhaltensmäßiger Komponenten bei der Rezidiventstehung ist im Einzelfall nur schwer zu klären und kann je nach Erkrankung variieren. Chronifizierung meint eine Verlängerung eines akuten Krankheitsprozesses über das zu erwartende Maß hinaus. Von Chronifizierung wird immer dann gesprochen, wenn sich ein akuter Krankheitsprozess über das zu erwartende („übliche“) Maß hinaus verlängert. Insbesondere im Zusammenhang mit Schmerzen kommt der Chronifizierung eine große Bedeutung zu. In Tabelle 1 werden wichtige Merkmale und Dimensionen der Chronifizierung von Schmerzen genannt. 1.1.1 Begriffsklärungen 21 Tabelle 1: Dimensionen der Chronifizierung von Schmerzen. Dimensionen der Chronifizierung von Schmerzen Anzahl"der"konsultierten"%rzte Anzahl"der"Behandlungsversuche Anzahl"verschiedener"Therapien"und"Operationen Anzahl"der"Reha-Ma'nahmen Krankheitsverhalten Schon-"und"Vermeidungsverhalten Missbrauch"von"Medikamenten Verst!rktes"Gr(beln Katastrophisieren Selbstwertverlust Psychische"Beeintr!chtigungen Hilf-"und"Hoffnungslosigkeit Depression Verzweiflung Angst Ver!nderung"sozialer"Rollen Soziale"Beeintr!chtigungen Einschr!nkung"sozialer"Interaktionen"und"Kontakte Soziale"Isolation Fehltage"wegen"Arbeitsunf!higkeit Berufliche"Folgen Arbeitsplatzverlust Umschulung Berentung Im kognitiv-emotionalen Bereich finden sich oftmals Beeinträchtigungen der Befindlichkeit und der Stimmung (insbesondere eine erhöhte Depressivität) sowie des Denkens. Im sozialen und beruflichen Bereich finden sich Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion sowie häufige Arbeitsunfähigkeit mit Verlust des Arbeitsplatzes. Nicht zuletzt sind auch auf der organisch-physiologischen Ebene Beeinträchtigungen (z. B. Funktionsbehinderungen der Fein- und Grobmotorik) zu verzeichnen. Chronische Schmerzen gehen mit vielfältigen Beeinträchtigungen und Funktionseinschränkungen einher. Bemühungen, vermeidbare Folgeschäden und Rezidive schwerer/chronischer Erkrankungen zu verhindern, werden unter dem Begriff der Rehabilitation zusammengefasst. Neben der medizinischen Rehabilitation ist dabei die berufliche und soziale Rehabilitation von besonderer Bedeutung. Diese zielt auf eine umfassende (Wieder-) Eingliederung von chronisch Kranken und Behinderten in die Gesellschaft ab. Dazu gehört vor allem auch die Teilnahme am Arbeitsleben (vgl. Kapitel 3.1.4). Rehabilitation zielt auf die Verhinderung von Folgeschäden und Rezidiven chronischer Erkrankungen und die berufliche und soziale Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Unter Risikofaktoren werden Merkmale verstanden, die statistisch überzufällig mit dem Auftreten von Krankheiten verbunden sind. Diese Merkmale können biologischer Natur sein, aber auch Umweltbedingungen, soziale Beziehungen oder Verhaltensweisen eines Menschen betreffen (personale, soziale und umweltbezogene Risikofaktoren). Risikofaktoren stehen im Zusammenhang mit dem Auftreten von Krankheiten. 22 Jörg Schumacher und Elmar Brähler Protektive Faktoren schützen vor dem Auftreten von Krankheiten. Von besonderer Bedeutung sind dabei personale und soziale Ressourcen. Bei der Salutogenese stellt das Kohärenzgefühl eine zentrale personale Ressource dar. Die psychische Widerstandsfähigkeit angesichts ausgeprägter Belastungen und Risiken wird als Resilienz bezeichnet. Protektive Faktoren sind Merkmale, die mit dem Nichtauftreten von Erkrankungen in Zusammenhang stehen und von denen angenommen wird, dass sie vor Krankheiten schützen (Schutzfaktoren). Dabei sind protektive Faktoren nicht lediglich durch das „Fehlen von Risikofaktoren“ zu beschreiben, sondern stellen qualitativ unterscheidbare Merkmale dar. Von besonderer Bedeutung sind dabei personale und soziale Ressourcen (Selbstwirksamkeitserwartung, Bewältigungsfähigkeiten, soziale Unterstützung). Personale und soziale Ressourcen spielen in der Salutogenese, dem Prozess der Entstehung und Aufrechterhaltung von Gesundheit, eine wichtige Rolle. Bei der Salutogenese geht es somit um die Frage, was Menschen trotz der vielfältigen und allgegenwärtigen Belastungen und Stressoren gesund erhält bzw. wieder gesund werden lässt. Eine zentrale personale Ressource im Salutogenese-Modell von Antonovsky ist das Kohärenzgefühl (Sense of Coherence, SOC), das sich aus drei Komponenten zusammensetzt: (1) Verstehbarkeit (comprehensibility) bezeichnet das Ausmaß, in dem Reize, Ereignisse oder Entwicklungen als strukturiert, geordnet und vorhersehbar wahrgenommen werden. (2) Handhabbarkeit (manageability) bezieht sich auf das Ausmaß, in dem eine Person geeignete personale und soziale Ressourcen wahrnimmt, um interne und externe Anforderungen bewältigen zu können. (3) Sinnhaftigkeit (meaningfulness) meint das Ausmaß, in dem eine Person ihr Leben als sinnvoll empfindet und die vom Leben gestellten Anforderungen als Herausforderungen betrachtet (Antonovsky, 1997). Inhaltlich eng verwandt ist das Konzept der Resilienz, worunter die „psychische Widerstandsfähigkeit“ verstanden wird. Resilienz kann als positives Gegenstück zur Vulnerabilität betrachtet werden. Dabei geht es weniger um eine absolute „Invulnerabilität“ als vielmehr um eine relative Widerstandsfähigkeit gegenüber pathogenen Umständen und Ereignissen. Resilienz bezieht sich somit auf eine flexible, den jeweiligen Situationsanforderungen angemessene („elastische“) Widerstandfähigkeit. 1.1.2 Die betroffene Person 23 1.1.2 Die betroffene Person Die verbesserten Lebensbedingungen sowie die Behandlungsfortschritte der Medizin haben in Deutschland wie auch in anderen Industriestaaten zu einem allgemeinen Anstieg der Lebenserwartung, aber auch zu Veränderungen in der Morbiditäts- und Mortalitätsstruktur der Bevölkerung geführt. Während Infektionskrankheiten und die dadurch bedingte Mortalität stetig abnahmen, ist bei den chronischen Erkrankungen ein starker Anstieg zu verzeichnen. So sind die Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebserkrankungen heute die beiden häufigsten Todesursachen in Deutschland. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass sehr viele Menschen viele Jahre mit diesen Krankheiten leben können. In den letzten Jahrzehnten ist ein allgemeiner Anstieg der Lebenserwartung und eine Zunahme chronischer Erkrankungen zu verzeichnen. Bei der Beurteilung und Bewertung von Ergebnissen medizinischer Behandlungsmaßnahmen geht es nicht allein um die Veränderung der klinischen Symptomatik oder die Verlängerung des Lebens, sondern zunehmend auch darum, wie erkrankte Menschen ihren Gesundheitszustand erleben, wie sie in ihrem Alltag zurechtkommen und ihre sozialen Beziehungen gestalten. Im Kontext dieser Entwicklung rücken das subjektive Erleben und Befinden der betroffenen Person und deren Bemühungen zur Krankheitsbewältigung verstärkt in den Mittelpunkt der Betrachtung. Bei chronischen Erkrankungen gewinnen das subjektive Erleben und Befinden der betroffenen Person sowie Prozesse der Krankheitsbewältigung zunehmend an Bedeutung. Die Konzepte „Subjektive Gesundheit“, „Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ sowie „Wohlbefinden“ gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung. Sie werden in Ergänzung zu den geläufigen Gesundheitsindikatoren Morbidität und Mortalität verwendet. Die subjektive Gesundheit bzw. Krankheit wird im Englischen durch das Begriffspaar „health vs. illness“ bezeichnet. Eine klare Abgrenzung des Konzepts der subjektiven Gesundheit von dem der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Health Related Quality of Life, HRQOL) ist nur schwer vorzunehmen. Deshalb werden beide Begriffe synonym verwendet. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität stellt ein multidimensionales Konstrukt dar, das körperliche, emotionale, mentale, soziale, spirituelle und verhaltensbezogene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit (des Handlungsvermögens) beinhaltet. Allgemein lässt sich Lebensqualität als die individuelle Wahrnehmung der eigenen Lebenssituation im Kontext der jeweiligen Kultur und des jeweiligen Wertesystems und in Bezug auf die eigenen Ziele, Erwartungen, Beurteilungsmaßstäbe und Interessen definieren. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität umfasst neben (1) der psychischen Verfassung im Sinne von emotionaler Befindlichkeit, allgemeinem Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit auch (2) erkrankungsbedingte körperliche Beschwerden, die von vielen Patienten als primäre Ursache für Einschränkungen der Lebensqualität betrachtet werden, (3) erkrankungsbedingte funktionale Einschränkungen in alltäglichen Lebensbereichen wie Beruf, Haushalt und Freizeit sowie (4) die Ausgestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und sozialer Interaktionen sowie erkrankungsbedingte Beeinträchtigungen in diesem Bereich. Die individuelle Lebensqualität wird dabei durch die körperliche Gesundheit, den psychologischen Zustand, den Grad der Unabhängigkeit, die sozialen Beziehungen sowie durch ökologische Umweltmerkmale beeinflusst. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität ist ein wichtiges Forschungsthema und gewinnt als Evaluationskriterium in der Medizin zunehmend an Bedeutung. Die Konzepte „Subjektive Gesundheit“ (health vs. illness) und „Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ sind inhaltlich eng verwandt. Lebensqualität ist ein multidimensionales Konstrukt, das verschiedene Komponenten des Wohlbefindens und der Funktionsfähigkeit aus subjektiver Sicht beinhaltet. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität umfasst die Befindlichkeit im körperlichen, psychischen und sozialen Bereich und ist ein wichtiges Evaluationskriterium in der Medizin. 24 Jörg Schumacher und Elmar Brähler Die gesundheitsbezogene Lebensqualität kann mittels Fragebögen erfasst werden. Das psychologische Konzept des subjektiven Wohlbefindens umfasst eine emotionale und eine kognitive Komponente. Emotionales Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit können durch Fragebögen erfasst werden. Der subjektive Gesundheitszustand wird wesentlich durch das Ausmaß körperlicher Beschwerden und Schmerzen bestimmt. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität lässt sich durch Selbstbeurteilungsinstrumente (Fragebögen) erfassen. Diese können in krankheitsübergreifende (generische) und krankheitsspezifische Verfahren unterteilt werden. Zu den international häufig eingesetzten Instrumenten zählen der SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand (vgl. Tabelle 2), der EuroQOL-Fragebogen, der EORTC-Fragebogen und der Quality of LifeFragebogen der WHO (WHOQOL). Das Konzept des Wohlbefindens weist starke inhaltliche Überschneidungen mit den Konzepten „Subjektive Gesundheit“ und „Gesundheitsbezogene Lebensqualität“ auf. Es wird davon ausgegangen, dass sich das subjektive Wohlbefinden (subjective well-being) aus zwei Hauptkomponenten zusammensetzt: (1) der emotionalen oder affektiven Komponente und (2) der kognitiv-evaluativen Komponente. Die emotionale Komponente lässt sich noch einmal in die beiden unabhängig voneinander variierenden Teilkomponenten „Positiver Affekt“, „Negativer Affekt“ sowie „Glück“ (als längerfristiger positiver affektiver Zustand) aufspalten. Diese Komponenten konstituieren das subjektive emotionale Wohlbefinden. Die kognitivevaluative Komponente des subjektiven Wohlbefindens umfasst die globale (allgemeine) und bereichsspezifische Lebenszufriedenheit. Auch das emotionale Wohlbefinden und die Lebenszufriedenheit lassen sich mittels Fragebögen erfassen, z. B. mit der Befindlichkeitsskala (Bf-S) oder mit dem Fragebogen zur Lebenszufriedenheit (FLZ). Der subjektive Gesundheitszustand und die gesundheitsbezogene Lebensqualität eines Menschen wird wesentlich durch das Ausmaß der von ihm erlebten körperlichen Beschwerden und Schmerzen bestimmt. Es kann davon ausgegangen werden, dass körperliche Beschwerden und Schmerzen in der Bevölkerung häufig auftreten. Dabei schildern in der Regel Menschen im höheren Lebensalter mehr körperliche Beschwerden als jüngere und Frauen klagen über mehr Beschwerden als Männer (vgl. Kapitel 1.4.9). Tabelle 2: Der SF-36-Fragebogen zur Erfassung des (subjektiven) Gesundheitszustandes (Bullinger & Kirchberger, 1998). SF-36 Fragebogen zum Gesundheitszustand Skalenbezeichnungen"und"jeweilige"Itemanzahl: (1)"K#rperliche"Funktionsf!higkeit"(K*FU)"(10"Items) (2)"K#rperliche"Rollenfunktion"(K*RO)"(4"Items) (3)"Schmerz"(SCHM)"(2"Items) (4)"Allgemeine"Gesundheitswahrnehmung"(AGES)"(5"Items) (5)"Vitalit!t"(VITA)"(4"Items) (6)"Soziale"Funktionsf!higkeit"(SOFU)"(2"Items) (7)"Emotionale"Rollenfunktion"(EMRO)"(3"Items) (8)"Psychisches"Wohlbefinden"(PSYC)"(5"Items) (9)"Ver!nderung"der"Gesundheit"(Einzelitem/keiner"Skala"zugeordnet) Die"Skalen"(1)"bis"(4)"werden"zur"K#rperlichen"Summenskala"(PHS)"und die"Skalen"(5)"bis"(8)"zur"Psychischen"Summenskala"(MHS) zusammengefasst. 1.1.2 Die betroffene Person Aus psychologischer Sicht kann das Klagen über körperliche Beschwerden und Schmerzen unterschiedliche Funktionen besitzen. So kann es dem Ziel dienen, emotionale Zuwendung bei anderen Menschen hervorzurufen und deren Hilfe und Unterstützung zu mobilisieren („Hilfesuchverhalten“) oder um als unangenehm erlebte Tätigkeiten und Ereignisse zu vermeiden. Darüber hinaus sollte in Betracht gezogen werden, dass das Äußern von Beschwerden auch der Selbstdarstellung dienen und einen Versuch darstellen kann, bei anderen Menschen durch die Präsentation des eigenen Leidens oder der eigenen Leidensfähigkeit einen positiven Eindruck zu hinterlassen („impression management“), um auf diesem Wege das eigene Selbstwertgefühl zu stabilisieren und die Identitätsbildung zu fördern. Zwischen subjektiv geschilderten Beschwerden und objektiven medizinischen Befunden lassen sich oft nur geringe oder keine Zusammenhänge nachweisen. Auf dieses, für die klinische Praxis sehr relevante Problem wird an späterer Stelle ausführlicher eingegangen (vgl. Kapitel 1.1.3). Die Diskrepanz zwischen subjektiv berichteten körperlichen Beschwerden und medizinisch nachweisbaren somatischen Befunden wird manchmal auch unter dem Begriff des „unangemessenen Krankheitsverhaltens“ („abnormal illness behavior“) gefasst. 25 Das Klagen über körperliche Beschwerden kann der Mobilisierung von Hilfe und Unterstützung, der Vermeidung unangenehmer Tätigkeiten oder der Selbstdarstellung und Identitätsbildung dienen. Häufig findet sich eine Diskrepanz zwischen subjektiven körperlichen Beschwerden und medizinisch nachweisbaren somatischen Befunden. Chronisches Krankheitsverhalten zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: ● zunehmende Passivität und Hilflosigkeit ● Verlust an Selbsthilfemöglichkeiten ● zunehmende Inanspruchnahme medizinischer Maßnahmen ● Verlust an Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit des eigenen Körpers ● Verlust an Vertrauen in die eigene psychische Funktionstüchtigkeit ● körperliches Schonverhalten – körperlicher Trainingsmangel ● psychisches und soziales Schonverhalten – sozialer Trainingsmangel Merkmale chronischen Krankheitsverhaltens sind u. a. Passivität, Verlust an Vertrauen, Schonverhalten und Medikamentenmissbrauch. ● Einschränkung passiver Entspannungsmöglichkeiten ● soziale Beziehungen werden durch Krankenrolle stabilisiert ● Missbrauch von Medikamenten bzw. Abhängigkeitsgefährdung ● zunehmende Abhängigkeit vom medizinischen Versorgungssystem Wenn das subjektive Krankheitserleben von Patienten und das daraus resultierende Verhalten nicht durch medizinische Befunde zu rechtfertigen ist, spricht man von einem „chronischen Krankheitsverhalten“. Zumeist haben die betroffenen Personen bereits eine längere Patientenkarriere (d. h. zahlreiche Arztbesuche und/oder Krankenhausaufenthalte) hinter sich und ihre gesundheitlichen Probleme wurden zusätzlich durch iatrogene Chronifizierung (d. h. Stützung und Förderung des organmedizinischen Krankheitsmodells des Patienten durch entsprechende ärztliche Erklärungen, Untersuchungen und Behandlungsmaßnahmen) verstärkt und verfestigt. Eine wesentliche Rolle bei der Aufrechterhaltung des Krankheitsverhaltens und der damit verbundenen Krankenrolle spielen Lernvorgänge (Modelllernen, operante Konditionierung). Wichtige soziale Verstärkungsmechanismen sind eine erhöhte emotionale Zuwendung und Aufmerksamkeit durch andere Menschen und die Möglichkeit, subjektiv als unangenehm erlebte Tätigkeiten oder Situationen zu vermeiden. Eine Voraussetzung für die Entstehung eines unangemessenen oder chronischen Krankheitsverhaltens ist eine beeinträchtigte oder gestörte Symptomwahrnehmung und Interozeption. Chronisches Krankheitsverhalten wird oftmals durch iatrogene Chronifizierung und Lernvorgänge aufrecht erhalten. 26 Jörg Schumacher und Elmar Brähler Eine gestörte Symptomwahrnehmung und Interozeption ist eine wesentliche Voraussetzung für ein unangemessenes oder chronisches Krankheitsverhalten. Als Interozeption wird die Wahrnehmung von Vorgängen aus dem Körperinnern bezeichnet, wobei hier zwei grundlegende Wahrnehmungsformen zu unterscheiden sind: Körpersignale, welche im Rahmen der Propriozeption wahrgenommen werden, stammen aus dem Bereich der Haut und aus dem Bewegungsapparat (Muskeln, Sehnen und Gelenke). Bei der Viszerozeption haben die wahrgenommenen Körpersignale dagegen ihren Ursprung in den inneren Organen (lateinisch: viscera = Eingeweide). Die Viszerozeption wird zumeist als Interozeption im engeren Sinne verstanden und wurde vor allem am kardiovaskulären, respiratorischen sowie am gastrointestinalen Organsystem näher untersucht. Bei der Interozeption werden drei grundlegende Prozesse unterschieden: Grundlegende Prozesse bei der Interozeption sind Encoding, Awareness und Reporting. (1) Encoding: Umwandlung von Reizen (z. B. Druck, Dehnung, Wärme) an den Interozeptoren in Impulsmuster (d. h. in afferente Signale) und deren Weiterleitung („Transmission“) an das zentrale Nervensystem. (2) Awareness: Bewusstwerden der interozeptiven Prozesse im Verlauf der kortikalen Verarbeitung der afferenten Signale. (3) Reporting: Verbale und/oder motorische Äußerung von interozeptiven Wahrnehmungen (Berichtsverhalten). Die Fähigkeit zur Interozeption variiert interindividuell und ist durch Lernen veränderbar. Die Schmerzwahrnehmung wird als Nozizeption bezeichnet. Unter psychologischen Gesichtspunkten ist die Unterscheidung von akuten und chronischen Schmerzen wichtig. Bei der kortikalen Verarbeitung der interozeptiven Reize werden diese auf dem Hintergrund kognitiver Schemata interpretiert und bewertet. Daneben bestimmen die Einstellungen, Überzeugungen und Erwartungen einer Person auch mit, auf welche internen oder externen Reize die Aufmerksamkeit selektiv gelenkt wird. Prozesse der Symptomwahrnehmung und Interozeption sind deshalb prinzipiell durch Lernen veränderbar. Entsprechende Lernvorgänge können durch Biofeedback unterstützt werden. Dabei ist zu beachten, dass es interindividuelle Unterschiede bezüglich der Interozeptionsfähigkeit gibt. Bei der Schmerzwahrnehmung (Nozizeption) wird der Schmerz in Abhängigkeit vom Entstehungsort in einen Oberflächen- und einen Tiefenschmerz eingeteilt. Akute Schmerzen treten zumeist zeitlich begrenzt (Sekunden bis maximal Wochen) auf und verlaufen mit einem absehbaren Ende. Sie verweisen auf eine drohende oder bereits eingetretene Gewebsschädigung und sind in der Regel auf den Ort der Schädigung begrenzt. Akute Schmerzen haben eine wichtige Signal- und Warnfunktion und sollen den Organismus vor weitergehenden Schäden schützen. Aus der Schmerzlokalisation kann unter Berücksichtigung der jeweiligen Schmerzqualität auf die zugrunde liegende Schmerzursache geschlossen werden. Das Ausmaß des Schmerzes steht in direkter Beziehung zur Intensität des schmerzauslösenden Reizes. Bei chronischen Schmerzen besteht hingegen keine direkte Beziehung zwischen dem Ausmaß der Gewebsoder Organschädigung und der Intensität der Schmerzen. Sie haben ihre Schutz- und Warnfunktion für den Organismus verloren, da sie nicht mehr unmittelbar auf eine bereits bestehende oder drohende Schädigung hinweisen, die gezielt behoben oder durch geeignete Maßnahmen verhindert werden könnte. Das chronische Schmerzerleben ist von der ursprünglich zugrunde liegenden Störung „abgekoppelt“ und muss als eigenständiges Krankheitssyndrom betrachtet werden, bei dem psychologische Prozesse (insbesondere operante Lernvorgänge) eine wesentliche Rolle spielen. Das Fehlen hinreichender organischer Ursachen oder Auslöser ist für chronische Schmerzerkrankungen charakteristisch. 1.1.2 Die betroffene Person Prozesse der Interozeption unterliegen prinzipiell denselben Regeln der Informationsverarbeitung, die auch für die Wahrnehmung von Ereignissen aus der Umwelt (Exterozeption) gelten. Da die zentrale Verarbeitungskapazität des Organismus begrenzt ist, besteht eine ständige Konkurrenz zwischen interozeptiven Vorgängen und äußeren Reizen. Nach dieser „Wettstreit-Hypothese“ („competition of cues“) wird die Aufmerksamkeit einer Person eher auf interozeptive Reize gerichtet sein (und diese werden eine größere Wahrscheinlichkeit besitzen, bewusst wahrgenommen zu werden), wenn sie im Vergleich zu den exterozeptiven Reizen auffälliger sind. So ist zu erklären, dass Menschen häufig erst nach einer Gefahrenoder Bedrohungssituation ihre innere Erregung bemerken. Während einer aufregenden Situation verändert sich das Verhältnis externer zu interner Reize nicht wesentlich, da beide gleichzeitig in ihrer Intensität zunehmen. Erst nach der Entschärfung der äußeren Gefahrensituation wird die Aufmerksamkeit auf die zumeist langsamer abklingenden und daher stärker auffallenden inneren Erregungssymptome (Herzklopfen, schnelle Atmung usw.) gelenkt, die bewusst wahrgenommen werden. Die subjektive Beurteilung physiologischer Vorgänge (insbesondere der Herzfrequenz und des Blutdrucks) erfolgt unter Rückgriff auf kontextuelle Informationen, wie zum Beispiel die aktuelle emotionale Befindlichkeit oder den momentanen körperlichen Aktiviertheitszustand. Eine direkte und unmittelbare Wahrnehmung von physiologischen Vorgängen ist nur in einem begrenzten Umfang möglich. Die einzuschätzenden körperlichen Vorgänge werden eher aus externen Hinweisreizen „erschlossen“ als direkt „wahrgenommen“. Von besonderer Bedeutung sind dabei die subjektiven Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit und das Alltagswissen über körperliche Funktionen. Subjektive Krankheitstheorien (Synonyme: implizite Krankheitsmodelle, subjektive Krankheitskonzepte, Laientheorien) sind Vorstellungen und Annahmen, die Patienten und andere medizinische „Laien“ („Alltagsmenschen“) von Krankheit und Gesundheit haben. Diese Wissenssysteme weisen dabei eine ähnliche Struktur wie wissenschaftliche (d. h. objektive) Theorien auf (Strukturparallelität). Zwischen Wissenschaftler und Alltagsmensch bestehen somit keine prinzipiellen Unterschiede im Prozess der Erkenntnisgewinnung. Subjektive Theorien variieren häufig in Abhängigkeit vom Lebensalter und Geschlecht sowie dem soziokulturellen Kontext. 27 Prozesse der Interozeption und Exterozeption stehen in einem ständigen Wettstreit. Körperliche Symptome werden erst dann verstärkt wahrgenommen, wenn sie im Vergleich zu den externen Reizen auffälliger sind. Die subjektive Beurteilung physiologischer Vorgänge erfolgt vor allem unter Rückgriff auf kontextuelle Informationen. Eine unmittelbare Wahrnehmung physiologischer Prozesse ist nur begrenzt möglich. Subjektive Krankheitstheorien sind von ihrer Struktur her wissenschaftlichen (d. h. objektiven) Theorien vergleichbar. Folgende Elemente subjektiver Krankheitstheorien können unterschieden werden: ● Annahmen zur Verursachung von Krankheiten („Warum“-Fragen; Kausalattributionen) ● Annahmen zu Verlauf und Kurabilität von Krankheiten (Kontrollier- barkeitsannahmen, Kontrollüberzeugungen) ● Krankheitsbezogene Vorstellungsbilder und Assoziationen („Krankheit als Metapher“) ● Konstruktion von „Sinn“ im Umfeld von Krankheit („Wozu“-Fragen, “Why me?“) ● Wahrnehmung von Risikofaktoren und der Glaube an die eigene Un- verwundbarkeit (Risikoeinschätzung, Optimismus, positive Illusionen) Elemente subjektiver Krankheitstheorien sind Kontrollüberzeugungen, Risikoeinschätzungen und Fragen nach dem „Warum?“ und „Wozu?“ 28 Jörg Schumacher und Elmar Brähler Subjektive Theorien haben für Betroffene die Funktion, das durch Krankheit erschütterte Vertrauen in eine geordnete, verstehbare und vorhersehbare Welt wiederzugewinnen. Für Menschen, die von einer Krankheit betroffen sind und deren Angehörige haben subjektive Theorien die Funktion, das durch die Diagnose einer (schweren) Erkrankung erschütterte Vertrauen in eine geordnete, verstehbare und vorhersehbare Welt wiederzugewinnen Es liegt nahe, dass Menschen im Zuge der Auseinandersetzung mit einer Erkrankung Annahmen formulieren über das Wesen dieser Erkrankung, dass sie nach Erklärungen suchen und Deutungen vornehmen (d. h. krankheitsbezogenes Wissen aufbauen. Für Nicht-Betroffene haben subjektive Theorien hingegen eher die Funktion, den Glauben an die eigene Unverwundbarkeit zu erhalten. Schwere Erkrankungen besitzen eine hohe subjektive Erklärungsbedürftigkeit. Die entsprechenden Ursachenzuschreibungen werden als Kausalattributionen bezeichnet. Annahmen zur Verursachung einer Erkrankung stellen ein zentrales Element subjektiver Theorien dar. Menschen haben prinzipiell das Bedürfnis ihre Erfahrungswelt verstehbar und kontrollierbar werden zu lassen und stellen deshalb häufig „Warum“-Fragen. Es kann davon ausgegangen werden, dass schwere Erkrankungen eine besondere Erklärungsbedürftigkeit besitzen. Die subjektiven Ursachenzuschreibungen werden als Kausalattributionen bezeichnet (vgl. Kapitel 1.2.4). Ein Beispiel für den Zusammenhang zwischen Kausalattributionen und der Dauer des Krankenhausaufenthaltes ist in Abbildung 2 dargestellt: Personen nach einem Verkehrsunfall erholten sich schneller von ihren Verletzungen, wenn sie sich selbst keine Schuld am Unfall zuschrieben (externale Attribution) und diesen als unvermeidbar erlebten. Weitere gesundheitsbezogene Kognitionen stellen die gesundheitsbezogene Kontrollüberzeugung (Health Locus of Control), die Selbstwirksamkeitserwartung sowie der Optimismus dar (genauer siehe Kapitel 1.2.4). 35 Krankenhaus tage 30.3 30.3 30 26.6 25 20 22.7 20 18 15 10 nicht m ä ßig hoch ke ine m äßig hoch 5 0 Selbstschuldzuschreibung W ahrgenom m ene für den Unfall Verm eidba rke it des Unfa lls Abbildung 2: Zusammenhang zwischen Genesung und Ursachenzuschreibung (Rogner, Frey & Havemann, 1987). 1.1.2 Die betroffene Person Gesundheitsbezogene Kognitionen stehen in enger Wechselbeziehung mit Emotionen. Insbesondere Angst und Depression werden von körperlich kranken Patienten häufig berichtet. Diese negativen Gefühle können sich beispielsweise auf den Verlauf und die Prognose einer Krebserkrankung beziehen (Werden Rezidive oder Metastasen auftreten? Werde ich sterben?) oder auf einen chirurgischen Eingriff und seine Folgen (Werde ich während der Narkose aufwachen? Werde ich nach der Operation starke Schmerzen haben?). Menschen mit schweren und potentiell lebensbedrohlichen Erkrankungen leiden häufig unter depressiven Verstimmungen sowie einem Verlust von Interesse und Freude (Anhedonie). 29 Emotionen wie Angst und Depression gehören zu den häufigen Begleiterscheinungen von körperlichen Erkrankungen. Sie variieren interindividuell stark und können in eigenständige psychische Störungen übergehen. Das Ausmaß der erlebten Angst und Depression kann jedoch interindividuell stark variieren und steht in keinem linearen Zusammenhang mit der Schwere der Erkrankung oder dem objektiven Risiko eines Eingriffs. Entscheidend für die Intensität der Gefühlszustände sind vielmehr kognitive Bewertungsprozesse und die zur Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten. Sowohl Angst und Depressivität können in eigenständige psychische Störungen übergehen (Angststörung, Depressive Störung) und bedürfen dann einer psychotherapeutischen Behandlung (vgl. Kapitel 1.4.4). Ein Phänomen, das mit Ängsten einhergeht, ist die Hypochondrie. Die Patienten berichten über anhaltende Ängste vor einer körperlichen Erkrankung oder sind der Überzeugung, körperlich schwer krank zu sein, obwohl keine entsprechenden somatischen Befunde vorliegen. Die von den betroffenen Personen erlebten körperlichen Beschwerden und Symptome werden fehl- und überinterpretiert und als Beweis für das Vorhandensein einer schweren körperlichen Erkrankung angesehen. Häufig sind Ängste vor einem Hirntumor oder vor AIDS sowie die Überzeugung, krebskrank zu sein. Diese Ängste lassen sich auch durch wiederholte medizinische Untersuchungen und die Versicherung mehrerer Ärzte, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt, nur schwer beeinflussen. Die Hypochondrie ist durch anhaltende Ängste vor einer körperlichen Erkrankung oder die Überzeugung, körperlich schwer krank zu sein, gekennzeichnet.