MEDIZINREPORT REGENERATIVE MEDIZIN Gezüchtetes Gewebe ersetzt komplexe Strukturen im Gesicht Bei der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie sind die Anforderungen an die Funktionalität, Verträglichkeit und das ästhetische Ergebnis hoch. Gegenstand intensiver Forschung sind auch die Potenziale, in vitro die Neurogenese im Gehirn nachzuahmen. irca 13 000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland an Hals-Nasen-Ohren-Karzinomen. Bei den meisten Patienten, die im Gesichtsbereich operiert werden müssen, sind umfangreiche funktionelle und ästhetische Rekonstruktionen erforderlich. Weil sich aber trotz der Fortschritte in der plastisch-rekonstruktiven Chirurgie der Löwenheim von der Hals-NasenOhren-Klinik der Universität Tübingen. Die Konzepte, die verfolgt und teilweise auch miteinander kombiniert werden, umfassen die bioartifizielle Gewebeimplantation auf der Basis von körperverträglichen und biologisch abbaubaren Materialien, die Stimulation der Zellteilung des verbleibenden Gewebes mit Wachs- ursprüngliche Zustand oft nicht wiederherstellen lässt, ist es ein neuer Therapieansatz, zu versuchen, die körpereigenen Regenerationsmechanismen zu aktivieren. Wachstum in all seinen Facetten – dieses Thema hatte die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte zum Schwerpunkt ihrer 125. Versammlung in Tübingen gemacht. Ein Beispiel für die praktische Relevanz von Wachstumsprozessen ist die regenerative Medizin. Sie habe das Ziel, Zellen, Gewebe und Organe zu regenerieren, bei denen natürliche Prozesse nicht ausreichten, um eine normale Funktion wiederherzustellen, sagte Priv.-Doz. Dr. med. Hubert tumsfaktoren und die Zelltransplantation unter Verwendung von körpereigenen Stammzellen. Zu den Biomaterialien, die die Funktion zerstörter Knochen übernehmen können, gehören Hydroxylapatit und Tricalciumphosphat, die in den verbleibenden Knochen implantiert werden und auf denen sich Vorläuferzellen ansiedeln können, die neues Gewebe bilden. Unterstützend wirken dabei sogenannte Bone morphogenetic proteins (BMPs), Signalproteine, die undifferenzierte Stammzellen aus dem Knochenmark dazu anregen, sich zu Knochenzellen zu entwickeln und auf dem Trägermaterial neues Gewebe zu bilden. Einer der bisherigen Höhepunkte auf diesem Gebiet war die Konstruktion eines Unterkiefers nach Maß für einen 56-jährigen Patienten, der nach einer Tumoroperation acht Jahre lang keine feste Nahrung mehr essen konnte. Für ihn hatte ein Team um Priv.-Doz. Dr. Dr. Patrick Warnke (Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universität zu Kiel) am Computer einen neuen Unterkiefer modelliert, der aus einem Titangitter geformt und mit Knochenersatzmaterial, Stammzellen und BMP befüllt worden war (Lancet 2004; Vol 364: 766–70). Dieses Gebilde hatte man dann für sieben Wochen in einen Rückenmuskel eingesetzt und schließlich ins Untergesicht des Mannes verpflanzt, der mit dem wiedererlangten Kauvermögen sehr zufrieden war. Gegenüber einer konventionellen Prothese aus Knochen vom Wadenbein oder Becken, gab es mit der neuen Methode weniger Beschwerden an den Operationsstellen und eine bessere Ästhetik. „Noch aber kommen die Transplanteure nicht ohne künstliche Materialien aus“, bemerkte Löwenheim. Zudem sind nicht alle Fortschritte so spektakulär, wie manche Medien glauben machen: Als die US-amerikanischen Gewebepioniere Robert Langer und Joseph Vacanti 1993 eine Labormaus präsentierten, der ein menschliches Ohr aus dem Rücken zu wachsen schien, feierten viele dies als Durchbruch – und übersahen dabei, dass es sich hierbei „nur“ um eine KunststoffFoto: SPL/Agentur Focus C Schmale Streifen von Sehnen auf größere Kunststoffunterlagen gebettet, sind Ausgangsmaterial für nachwachsendes Gewebe. A 498 ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 11⏐ ⏐ 13. März 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ MEDIZINREPORT prothese handelte, die mit isolierten Knorpelzellen beimpft worden war und deren Gewebeverträglichkeit unter der Haut des Versuchstiers getestet werden sollte. Transplantationsversuche mit derart rekonstruierten Ohrmuscheln schlugen jedoch fehl, weil der Körper das Gewebe innerhalb weniger Wochen resorbierte. Dogmenwechsel: Auch Neurone werden regeneriert Die vom Fachmagazin „Science“ als „Durchbruch des Jahres 2008“ gefeierte Herstellung induzierter pluripotenter Zellen (iPS) ohne den Verbrauch von Eizellen oder Embryonen nannte Löwenheim bemerkenswert, warnte aber vor überzogenen Erwartungen angesichts der Tatsache, dass die meisten derartigen Versuche bisher nur in Kulturschalen stattgefunden haben. Dennoch gab sich Löwenstein optimistisch: „Die regenerative Medizin verspricht eine der Schlüsseldisziplinen für die Biomedizin des 21. Jahrhunderts zu werden.“ Auch Prof. Dr. rer. nat. Magdalena Götz beschäftigt das Thema Regeneration, speziell im erwachsenen Gehirn. Die Leiterin des Instituts für Stammzellforschung am Helmholtz-Zentrum München und der Abteilung Physiologische Genomik der Ludwig-Maximilians-Universität München verfolgt das Ziel, grundlegende Mechanismen der Spezifizierung von Stammzellen zu klären, und will diese Erkenntnisse nutzen, um geschädigte Zellen im Gehirn gezielt zu reparieren. Dass Hirnzellen nach Verletzungen nicht mehr ersetzt werden können, war jahrzehntelang ein Dogma gewesen, zu dessen Beseitigung auch Götz mit ihrer Arbeitsgruppe beigetragen hat. Speziell für ihre Entdeckung, dass die von jeher lediglich als „Kittmasse“ des Gehirns angesehenen Gliazellen unter geeigneten Umständen Nervenzellen (Neuronen) bilden und somit als Stammzellen fungieren können, erhielt Götz im Jahr 2007 den LeibnizPreis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Gliazellen sind auch im erwachsenen Gehirn der häufigste Zelltyp und übertreffen die Zahl der „ech- ten“ Neuronen bei der Maus um das Zwei- bis Dreifache, beim Menschen sogar um das Zehnfache. Während ein Teil von ihnen – die neurogenen Gliazellen – noch während der Entwicklung der Großhirnrinde die meisten Nervenzellen dieser Region bilden, sind andere Gliazellen darauf beschränkt, sich selbst zu vermehren. Gegen Ende der Entwicklungsphase erschöpfen sich die neurogenen Gliazellen, indem sie in einem letzten Teilungsschritt zwei Nervenzellen bilden. Die restlichen Gliazellen verwandeln sich zu diesem Zeitpunkt in die sternförmigen Astrozyten. Nur in einigen wenigen Hirnregionen, etwa im Hippocampus und in der subventrikulären Zone sowie bei der Maus im Riechkolben, bleiben die neurogenen Gliazellen als sogenannte adulte neurale Stammzellen erhalten. Gliazellen übernehmen an diesen Orten also die Eigenschaften von Stammzellen, und zwar sowohl die Fähigkeit, sich selbst zu regenerieren als auch sich zu spezialisierten Nervenzellen weiterzuentwickeln. „Wenn man darüber redet, zerstörte Netzwerke bei Krankheiten des Gehirns wiederherstellen zu wollen, ist es wichtig zu wissen, welcher Anteil der Neuronen unter natürlichen Umständen im erwachsenen Gehirn neu gebildet wird“, sagte Götz. Zusammen mit ihren Mitarbeitern Jovica Ninkovic und Tetsuji Mori untersuchte Götz diese Frage im Riechkolben und im Gyrus dentatus der Maus, wo sich täglich Zehntausende neu gebildeter Neuronen nachweisen lassen. Mit der genetischen Technik des „Fate mapping“ konnte das Forscherteam das Schicksal dieser im Erwachsenenalter gebildeten Neuronen über lange Zeiträume verfolgen und fand heraus, dass die neuen Nervenzellen ortsspezifisch auf zwei verschiedene Arten dem bereits vorhandenen Netzwerk hinzugefügt werden: In der Glomerulischicht gibt es einen konstanten Nettozuwachs, durch den binnen neun Monaten ein Drittel der gesamten Neuronenpopulation gebildet wird. In der Granulärschicht des Riechkolbens und des Gyrus dentatus dagegen ersetzt die Neubildung von Neuronen nur einen ⏐ Jg. 106⏐ ⏐ Heft 11⏐ ⏐ 13. März 2009 Deutsches Ärzteblatt⏐ kleinen Bruchteil des bestehenden Netzwerks – ein Anteil, der auch durch eine abwechslungsreiche Umgebung für die Versuchstiere nicht wesentlich erhöht werden kann. „Im Modellsystem der Maus ist also nur ein Teil des Nervennetzes wirklich plastisch, und es gibt Hinweise darauf, dass die im Erwachsenenalter gebildeten Nervenzellen sich von den während der Entwicklung gebildeten unterscheiden“, unterstrich Götz. Unter physiologischen Bedingungen bilden Gliazellen in den meisten Hirnregionen keine neuen Neuronen. Jedoch weiß man, dass nach Verletzungen – etwa einer Stichwunde im Kortex der Maus – Astrozyten sich zu teilen beginnen und dass sie dabei auch dedifferenzieren. Götz und ihre Mitarbeiter konnten nun zeigen, dass ein Teil dieser Astrozyten multipotent ist, also verschiedene Arten von Zellen bilden kann, wenn sie unter bestimmten Bedingungen in Zellkulturen gehalten werden. Ebenfalls identifizierten sie mit dem Transkriptionsfaktor Olig2 eines jener Signale, welche die Neurogenese im Bereich des Narbengewebes inhibieren. „Man darf keine Wunderheilungen erwarten“ Bereits früher hatte das Team den Beweis erbracht, dass ein weiterer Transkriptionsfaktor (Pax6) in der Lage ist, Gliazellen nach einer Gehirnverletzung zur Bildung unreifer Nervenzellen anzuregen. Und erst kürzlich ist es gelungen, aus Gewebe, das bei Operationen an Epilepsiepatienten entfernt werden musste, Gliazellen heranzuzüchten und durch das Ausschalten des Transkriptionsfaktors Mash1 die Bildung neuer Nervenzellen anzuregen. Noch ist die absolute Zahl dieser neu gewonnenen Neuronen sehr gering und der Beweis, dass sie eine physiologische Funktion erfüllen können, steht noch aus. „Man darf keine Wunderheilungen erwarten“, warnte Götz. „Aber dank der neuen Erkenntnisse rückt das Fernziel ein wenig näher, diese Prozesse therapeutisch nutzen zu können.“ I Michael Simm 125. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Tübingen: Wachstum – Eskalation, Steuerung und Grenzen A 499