Vier Nobelpreise für ein Hühnervirus

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Vier Nobelpreise für ein Hühnervirus
Das Rous-Sarkom-Virus (RSV) stand am Anfang des Nachweises, dass Krebs durch
Infektionen induziert werden kann. Im RSV wurde die „reverse Transkriptase“ entdeckt, die
ein Umdenken und eine technologische Revolution in der Molekularbiologie bewirkte, und
in ihm wurden erstmalig Onkogene entdeckt, die zu einem neuen molekulargenetischen
Konzept der Krebsentstehung und schließlich zur Entwicklung einer neuen Generation von
Krebstherapeutika führte.
Die Übertragung von RNA-Sequenzen in DNA mit Hilfe der reversen Transkriptase ist heute
Standard bei vielen grundlegenden Technologien der Molekularbiologie wie zum Beispiel
Klonierungen, PCR und in der Proteomforschung. Den wenigsten Wissenschaftlern, die damit
arbeiten, dürfte bewusst sein, wie heftig umstritten der Erkenntnisprozess war, der dahin
führte.
Angriff auf das „Zentrale Dogma“
Howard Temin © Nobelpreis-Komitee
1958 hatte Francis Crick sein „Zentrales Dogma der Molekularbiologie“ formuliert, nach dem
die genetische Information von DNA zu RNA und von dort weiter zu Protein fließt - keinesfalls
aber umgekehrt. Schon die Bezeichnung Zentrales Dogma impliziert einen kanonischen
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Anspruch, und für die meisten Forscher galt es denn auch als unumstößliche Wahrheit. Im
Gegensatz zu der verbreiteten Meinung, dass Wissenschaft revolutionär sei, ist sie im
allgemeinen konservativ, und der Fortschritt vollzieht sich langsam und vorsichtig tastend,
ausgehend von anerkannten Glaubenssätzen. Umstürzlerische Ideen stoßen gewöhnlich
zunächst auf heftige Abwehr.
Anfang der 1960er Jahre hatte Howard Temin, ein junger Virologe an der University of
Wisconsin in Madison - eher intuitiv als auf der Basis solider Experimente - die „ProvirusHypothese“ aufgestellt. Sie besagt, dass die Einzelstrang-RNA von RNA-Tumorviren nach der
Infektion der Wirtszelle in doppelsträngige DNA umgeschrieben wird, die dann als „Provirus“ in
ein Chromosom der Zelle inseriert und zusammen mit der Wirts-DNA bei der Zellteilung
propagiert wird. Die ins Chromosom eingebettete Provirus- DNA wirkt wie normale zelluläre
DNA: sie dient zur Synthese neuer Viruspartikel durch Transkription neuer Virus-RNA und zur
Translation von Virusproteinen mit Hilfe von Wirtsenzymen. Temin arbeitete mit dem RousSarkom-Virus (RSV), das als das infizierende Agens in den Experimenten identifiziert worden
war, mit denen fünfzig Jahre zuvor Peyton Rous bei Hühnern Krebs durch Infektion mit einem
zellfreien Extrakt erzeugt hatte. Erst 1961 konnte nachgewiesen werden, dass es sich bei RSV
um ein Einzelstrang-RNA-Virus handelt. Rous selbst erhielt für seine Entdeckung der
tumorerzeugenden Viren 1966 im Alter von 87 Jahren den Nobelpreis - 55 Jahre nach der
Publikation seiner bahnbrechenden Befunde.
Reverse Transkriptase und Retroviren
Temins Provirus-Hypothese wurde heftig angegriffen, weil sie ketzerisch gegen das Zentrale
Dogma verstieß, aber auch, weil kein Enzym bekannt war, das RNA in DNA kopieren konnte,
und weil man die postulierte Provirus-DNA nicht nachweisen konnte. Der Durchbruch erfolgte
1970, als Temin und sein PostDoc Mizutani für RSV und David Baltimore vom Massachusetts
Institute of Technology für ein anderes Virus vom gleichen Typus, das Maus-Leukämievirus
(MLV), bekannt gaben, dass sie ein Enzym gefunden hatten, welches das RNA-Genom der RNATumorviren in DNA überträgt. Das unter dem Namen „reverse Transkriptase“ bekannt
gewordene Enzym war nicht etwa in den Zellen, sondern in den Viren lokalisiert; die RNATumorviren selbst wurden als „Retroviren “ bezeichnet.
Die Entdeckung der reversen Transkriptase war für die Entwicklung der Biotechnologie
entscheidendes Ereignis. 1975, nur fünf Jahre nach der Erstbeschreibung, erhielten Temin und
Baltimore dafür den Medizin-Nobelpreis. Francis Crick stellte klar, dass die reverse
Transkriptase das Zentrale Dogma nicht verletzte; seine wesentliche Aussage liegt in der
Unmöglichkeit des Informationsflusses von Protein zu Nukleinsäuren. Mit dem neuen Enzym
konnte messenger RNA direkt in DNA kopiert werden, und diese neu synthetisierte DNA konnte
nun auf verschiedenste Weise verwendet werden: zur Amplifizierung in Bakterien oder anderen
Zellen, für die Herstellung radioaktiver DNA als genspezifische Sonden, insbesondere bei
molekularen Hybridisierungen, für die PCR-Technologie, für die Klonierung der cDNA von
medizinisch wichtigen Proteinen wie zum Beispiel Insulin und Wachstumshormon durch Axel
Ulrich und Peter Seeburg, was den Grundstock des ersten und erfolgreichsten BiotechnologieUnternehmens, Genentech, legte.
Der Nachweis der RSV-Provirus-DNA im zellulären Chromosom, um den sich besonders Harold
Varmus und Michael Bishop an der University of California in San Francisco bemühten,
gestaltete sich als äußerst schwierig, hatte aber ungeahnte und weitreichende Konsequenzen.
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Harold Varmus © Nobelpreis-Komitee
Zunächst war es ein quantitatives Problem. Ein einzelnes virales RNA-Molekül, das RNA-Genom
, hat etwa 8.000 Nukleotide und die entsprechende Provirus-DNA ist etwa ebenso lang. Das
Genom der von RSV infizierten Hühnerzellen hat etwa 2 Milliarden Nukleotide , ist also
250.000fach größer. Für den Nachweis der vergleichsweise winzigen Menge an viraler DNA
mussten (mit Hilfe von reverser Transkriptase) hoch radioaktive (Einzelstrang-)DNA-Sonden zur
molekularen Hybridisierung hergestellt werden; sie mussten außerdem hoch spezifisch sein,
das heißt, eine fehlerlose Basenpaarung bei der Bildung der zu messenden DNA-DoppelstrangMoleküle ermöglichen.
Onkogene
Zu ihrer Überraschung fanden Varmus und Bishop, dass auch normale Hühnchenzellen DNA
enthalten, die der RNA des infizierenden Virus sehr ähnlich ist. Auch mit verbesserten
Techniken zur Bestimmung von RNA-Tumorviren und ihren Proteinen, zum Beispiel mit
spezifischen Antikörpern, fanden verschiedene Forschergruppen, dass Zellen von normalen
Hühnchenembryonen solche viralen Proteine oder sogar infektiöse Partikel produzieren
konnten. Diese Befunde waren reproduzierbar und ließen kaum einen anderen Schluss zu als
den, dass es in den Tieren „endogene“ RNA-Tumorvirus-Gene gibt, die in die normalen
Chromosomen eingebaut sind und in der Keimbahn auf die Nachkommen vererbt werden. Von
diesen Beobachtungen führte der Weg nicht nur zum endgültigen Nachweis des von Temin
postulierten Provirus im Wirtschromosom, sondern auch zur Entdeckung der viralen und
zellulären Onkogene - das sind Gene, die eine Transformation von normalen Zellen in
Krebszellen bewirken. Es war zwar - mit den vergleichsweise groben Methoden, die den
Molekularbiologen in den 1960er und 70er Jahren zur Verfügung standen - ein langer und
mühsamer Weg, aber am Ende brachte er Varmus und Bishop 1989 den Nobelpreis „für ihre
Entdeckung des zellulären Ursprungs der potenziell krebserzeugenden sogenannten
Retroviren “ ein. Der spröde Titel verbirgt, dass die Ehrung dem gesicherten Nachweis der
genetischen Basis von Krebs galt.
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RNA-Tumorviren, elektronenmikroskopische Aufnahme © Zell- und Tumorbiologie, DKFZ
Die entscheidenden Befunde wurden wiederum mit Rous-Sarkom-Virus gemacht: Bei einer
temperatursensitiven Mutante des RSV konnten die Eigenschaften der Vermehrungsfähigkeit
und Freisetzung von Viruspartikeln aus Hühnerfibroblasten von der Transformationsfähigkeit
(der Umwandlung der Fibroblasten in Sarkomzellen) voneinander getrennt werden: Die von der
reversen Transkriptase erzeugte DNA-Abschrift des Gens wurde in die Chromosomen der
Wirtszelle eingebaut und gab als Provirus, wie Temin es vorhergesagt hatte, die Anweisungen
zur Produktion neuer Viren. Aber es gab auch ein von der Virus-RNA abstammendes Gen auf
dem Wirtschromosom, das im aktivierten Zustand für ein Protein kodierte, welches die
Transformation der Fibroblastenzelle zu einer Sarkomzelle bewirkte. In diesem Falle wurden
keine neuen Viruspartikel freigesetzt. Damit war das erste Onkogen identifiziert, src genannt
(von Sarkom). Bald stellte sich heraus, dass die src-Gensequenz auch auf Chromosomen von
nicht RSV-infizierten Zellen gefunden wird.
Um in dieser verwirrenden Situation klare Begriffe zu schaffen, wurde das Virus-Onkogen in vsrc umgetauft und das entsprechende Gen im Wirtschromosom c-src. Bei letzterem handelt es
sich um ein Proto-Onkogen. Die Umwandlung der Proto-Onkogene in Krebsgene erfolgt durch
Mutationen (zum Beispiel auch, wenn sie in das retrovirale Genom inkorporiert werden), durch
die ihre Proteinprodukte stark aktiviert werden und die normalen Muster von Zellwachstum,
Zelldifferenzierung und Zelltod stören, so dass Krebs entstehen kann.
Seitdem wurden zahllose weitere endogene Onkogene retroviraler Herkunft entdeckt. Manche
kommen bei Wirbeltieren wie Mensch und Maus in Hunderten oder sogar Tausenden von
Kopien vor. Schon 1981 beschrieb Robert Weinberg vom MIT das erste menschliche Onkogen,
das zu der großen Superfamilie der ras-Gene gehört, und konnte zeigen, dass es im
Ruhezustand auch in gesunden Zellen vorhanden ist. Aktivierende Mutationen von ras findet
man in nahezu einem Viertel aller menschlicher Tumortypen.
Diese Entdeckungen führten zu einer neuen molekulargenetischen Ausrichtung der
Krebsforschung. Hormone,Wachstumsfaktoren oder ihre Rezeptoren sowie andere
Komponenten an den Schaltstellen der zellulären Signaltransduktion haben sich als
Genprodukte viraler Onkogene und Proto-Onkogene erwiesen. Darunter befinden sich eine
Reihe von Proteinkinasen, insbesondere Tyrosinkinasen, die zu den wichtigsten Targets für die
Entwicklung einer neuen Generation von Krebsmedikamenten wie Glivec, Tarceva, Iressa,
Sutent gehören. Wie wir heute wissen, entsteht auch das 1911 von Peyton Rous beschriebene
virusinduzierte Hühnersarkom durch die Wirkung einer von v-src bzw. c-src kodierten
Tyrosinkinase.
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Fachbeitrag
09.07.2009
EJ
BioRN
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
Weitere Informationen
zum Text:
Harold Varmus: The Art and Politics of Science. W.W. Norton & Company, New York and London, 2009.
Der Fachbeitrag ist Teil folgender Dossiers
DNA- und RNA-Replikation
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