Gesetzgebung und Grundgesetz

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Gesetzgebung und Grundgesetz
Bindungen des Bundes-Gesetzgeber durch die
“verfassungsmäßige Ordnung“ (Art. 20 Abs. 3 GG) in
der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGE 1 bis BVerfGE 141
Stand Mai 2017
Dr. Bernd Brunn
(RiBVerwG i.R.)
.
Übersichts- und Inhaltsverzeichnis
A. Aufgaben, Formen und das Entstehen von neuer Gesetzgebung und
deren verfassungsrechtlicher Rahmen
B. Die Veränderung bestehenden Bundesrechts und die damit verbundenen verfassungsrechtlich bedeutsamen Risiken
C. Gesetzgebungskompetenzen
D. “Verfassungsfeste“ Grundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) sowie
Demokratie-, Sozialstaats- , Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsgrundsätze (Art. 20 GG)
E. Gesetzgeber und Menschenwürde, Menschenrechte sowie (Bindungen an) Grundrechte
F. Grundrechtsähnliche Verbürgungen (insb. Art. 19 Abs. 4, Art. 101
Abs. 1 Satz 2, Art. 103 sowie Art. 104 GG) - Verfahrensgrundrechte
Inhaltsverzeichnis
A. Aufgaben, Formen und das Entstehen von neuer Gesetzgebung und deren
verfassungsrechtlicher Rahmen
I.
Anspruch der Handreichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Haupt- und Nebenzwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Hauptzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Nebenzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die (zumindest) Nützlichkeit der Beachtung verfassungsgerichtlicher
Verfassungsauslegung bei Gesetzesvorhaben . . . . . . . . . . . . .
a) Identität von verfassungsmäßiger Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG)
und einschlägiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts? . . .
b) Bundesverfassungsgericht und (verfassungsändernder) Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Gefahren und Hauptschwierigkeiten des Vorhabens . . . . . . . . .
a) Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schwierigkeiten (Fortentwicklung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtsmaterien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Dank für die Grundlagen der Darstellung (BVerfGE 1 bis BVerfGE
141) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
II.
Aufgaben sowie Grundlagen und taugliche Mittel der Gesetzgebung bei
der Erzeugung neuen Bundesrechts (Einführung in allgemeine sowie verfassungsbedingte Gesetzgebungsregeln) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die vom Bundestag wahrzunehmenden Aufgaben der Gesetzgebung
(Schaffung “wirksamer“ Gesetze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Zweck der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Parlament als Aufgabenträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Missbrauch der sowie Verpflichtung zur Gesetzgebung als Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Rechtsetzung (Erzeugung und/oder Veränderung des Rechts) vermittels an Sachverhalten anknüpfenden Rechtsfolgen-Bewirkungen . . .
a) Mittel der (an Sachverhalten anknüpfenden) RechtsfolgenBewirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Statische und dynamische Verweisungen . . . . . . . . . . . . .
c) Beispiele außergewöhnlicher Rechtsfolgen-Bewirkungen . . . . .
3. Tatsachen- und Rechtsfragen bei der Zuordnung von Normen sowie
deren Rechtsfolgenbewirkungen auf die Zeit- und Sachebenen . . . .
a) Die tatsächlichen Grundlagen der neuen Regelung . . . . . . .
b) Rechtliche Probleme bei der normativen Rechtsfolgenbewirkung
(insbesondere auf der Ebene der Vergangenheit) . . . . . . . . .
c) Pflicht zur Vermeidung paralleler Rechtsregime ohne zwingenden
Grund (Pflicht zur Einfügung von neuen Regelungen in bestehende
Kodifikationen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I
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III.
Seite II
d) Begründungspflichten im Recht (Funktionen von Begründungen)
e) Der gesetzgeberische Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum
f) Ausblick: “Maßstäbe - bzw. Grundsätze - Gesetze“ . . . . . . .
4. Das “gelungene“ (reibungslos angewendete) Gesetz als Ideal . . . .
Verfassungsrechtliche Bindungen und Prüfgesichtspunkte (insbesondere
“Verfassungsauslegung“) bei der Erarbeitung einer Gesetzesvorlage des
Bundesrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Primärbindung des Gesetzgebers an die “verfassungsmäßige Ordnung“ (Art. 20 Abs. 3, 1. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Gewisse“ Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) “Ungewisse“ Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Insbesondere: (Ungewisse) Bindungen von Gerichten und Behörden sowie des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Verfassungsinterpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Allgemeingültige Regeln für die Auslegung von Verfassungsbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Aufgabe der Verfassungsauslegung und Einheit der Verfassung als
vornehmstes Interpretationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verbot der isolierten Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Bedeutungswandel einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit . . . . . . . . . . . . .
e) Menschenrechtskonvention sowie deren Interpretation als Hilfe zur
Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Verfassungs-Bindungen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit
Gemeinschafts- bzw. Unions- und Völkerrecht . . . . . . . . . . . .
a) Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht (Art. 23 GG i.V.m. Art. 24 GG
sowie Art. 59 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Völker(vertrags-)recht als bindendes (meist nicht mehr fremdes)
Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Sonderfall der verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers als
Folge von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen über Bundesgesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Unvereinbarkeit und Nichtigkeit von Gesetzen sowie Folgenbewältigung (§§ 78 f. BVerfGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die Bindung nach Art. 94 GG i.V.m. § 31 BVerfGG . . . . . .
c) Anhang: Überblick über die gebräuchlichsten (statistisch häufigsten) Formen der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts . . .
B. Die Veränderung bestehenden Bundesrechts und die damit verbundenen verfassungsrechtlich bedeutsamen Risiken
I.
Einführende Darlegungen in die Problematik der Aufhebung und Änderung vorhandenen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Zusammenhänge zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen tatsächlichen Sachverhalten und den sie regelnden (früheren,
bestehenden und geplanten) Normen (“anhaftendes Recht“) . . . .
a) “Anhaftendes“ Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Folgen von “Anhaftungen“ (“Geregeltsein“) . . . . . . . . . . .
2. (Ersatzlose) Aufhebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Prüfung der Aufhebungsfähigkeit und -bedürftigkeit . . . . . .
b) Aufhebungsmodalitäten und -besonderheiten . . . . . . . . . .
c) Folgen von (ersatzlosen) Aufhebungen . . . . . . . . . . . . . .
3. Abänderungen von Bundesrecht und Hauptgefahren . . . . . . . .
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a)
II.
III.
Unpräzise Festlegungen der zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Unbewusste) “Regelungslücken“ bzw. “sich überschneidende
Rechtsregime“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Bewusste Entwertungen von Rechtspositionen (Rückwirkung) .
d) Fehlerhafte “Klarstellungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Verfehlung des Ziel klarer, bestimmter, berechenbarer und “verlässlicher“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Sichtung und Auslegung des vorhandenen Rechts . . . . . . . . . .
1. “Vorhandenes“ Recht (neben dem materiellen nachkonstitutionellen
Recht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gültiges vorkonstitutionelles Recht . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gewohnheits- und obsoletes Recht . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Aufgehobenes bzw. “ausgelaufenes“ bzw. “auslaufendes“ (befristetes) altes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d)
Gesetzestechnisches “Hilfsrecht“ sowie (meist materielles)
Übergangs- bzw. Überleitungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Die Auslegung des “vorhandenen“ (gültigen) Bundesrechts . . . . .
a) Grundsatz der Auslegung “mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Gebot gemeinschaftskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . .
d) Gebot völkerrechtskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . .
Gesetzgeber und Einwirkungen auf bestehende “geregelte“ Rechtslagen
und Rechtsverhältnisse namentlich durch Gesetzesänderungen (Rückwirkungsverbot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers zu Regelungen (bereits)
geregelter Rechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Einführung in die für die Rückwirkungsproblematik maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundprinzipien (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit,
Rechtssicherheit, Gesetzesbindung sowie Vertrauensschutz) und deren
Konkretisierungspflichten durch den (abändernden) Gesetzgeber . .
a) Konkretisierungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Grundprinzipien des Rechtsstaatsgebots (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit, Gesetzesbindung, Vertrauensschutz)
3. Die drei Begriffspaare, die zum Verständnis der Rechtsprechung erforderlich sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Unterscheidung zwischen dem zeitlichen und dem sachlichen
Anwendungsbereich einer Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die Unterscheidung zwischen der Rückbewirkung von Rechtsfolgen
und der tatbestandlichen Rückanknüpfung . . . . . . . . . . . .
c) Die Unterscheidung zwischen den “echten“ und “unechten“ Rückwirkungen (und damit zwischen “abgewickelten“ und den noch
nicht abgeschlossenen Sachverhalten und Rechtsbeziehungen) . .
d) Fehlen schutzwürdigen betätigten Vertrauens und Offenbleiben
einer echten bzw. unechten Rückwirkung . . . . . . . . . . . . .
4. Der gesetzgeberische Eingriff in abgewickelte Sachverhalte bzw.
Rechtsverhältnisse (“echte Rückwirkung“) . . . . . . . . . . . . . .
a) Grundsatz und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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b)
Rechtfertigungs- bzw. Begründungspflicht als Folge einer echten
Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Sonderfall des Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Der Eingriff in noch nicht abgeschlossene Verhältnisse . . . . . . .
a) Grenzen einer grundsätzlich zulässigen Rückwirkung . . . . . .
b) Beispielfälle für (zulässige und unzulässige) unechte Rückwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Bestehende Dauerrechtsverhältnisse als typische Anwendungsfälle
der (zulässigen echten sowie) unechten Rückwirkung . . . . . . .
6. Fehlendes schutzwürdiges Vertrauen als - ausnahmsweise - rechtfertigender Grund sogar für “echte“ Rückwirkung (Eingriffe in “abgewickelte“ Sachverhalte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Denkbare Zeitpunkte für den Verlust eines Vertrauensschutzes .
b) Erfordernis des “sachlich gerechtfertigten“ Vertrauens . . . . .
7. “Zwingende Gründe“ als Rechtfertigungsgründe für Rückwirkungen
a) Rückwirkungsgrenze der Verletzung des “grundrechtlichen Schutzes des Lebenssachverhalts“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Steuerrecht und (nicht-) “zwingende“ Gründe . . . . . . . . . .
c) Pflicht zur Aufrechterhaltung von Übergangsregelungen und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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C. Gesetzgebungskompetenzen
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I.
Bedeutung von Kompetenznormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
1. Umfang und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
a) Umfang der Regelungsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
b) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
c) Nichtigkeit des Gesetzes als Folge einer fehlenden Kompetenz . 151
2. Regelmäßig keine Pflicht zum gesetzgeberischen Tätigwerden . . . 151
a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
b) Denkbare Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
3. Gesetzgebungskompetenzen und (Pflicht zur) Begründung . . . . . 152
a) Grundsatz der Erkennbarkeit des Vorliegens der Kompetenz . . 152
b) Ratsamkeit von Begründungen bei von vornherein umstrittenen
Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
II.
Die “Grundkompetenz“ von Bundestag und Bundesrat für das Zustandekommen von Bundesgesetzen (Art. 76 - 79 GG sowie Art. 82 GG) . 153
1. Gesetzesvorlagen (Art. 76 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
2. Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG) . . . . . . . . 155
a) Die Stellung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
b) Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses und Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156
c) Folgen von Mängeln im Vermittlungsausschuss-Verfahren . . . . 156
3. Zustandekommen eines Gesetzes durch Zustimmung sowie Zustimmungsbedürftigkeit (Art. 78 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
a) Art und Weise der Zustimmung bzw. deren Versagung . . . . . 157
b) Zustimmungsbedürftigkeit als von der Verfassung ausdrücklich zu
regelnde Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
c) Umfang der Zustimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
4. Verkündung und Inkraftsetzen von Gesetzen im Sinne von Art. 82
GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
a) Verkündung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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III.
IV.
V.
Seite V
b) Inkrafttreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Der Bundespräsident und die Ausfertigung von Gesetzen (formelles/materielles Prüfungsrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Neubekanntmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(Materienübergreifende) Kompetenzen zur Übertragung von Normsetzungsbefugnissen und Hoheitsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Übertragung der Befugnis zur Normsetzung auf den Verordnungsgeber (Art. 80 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Rechtsverordnung und Gesetzesvorbehalt (“Wesentlichkeitsdoktrin“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die wichtigsten Verpflichtungen und Bindungen des Gesetzgebers
sowie des Verordnungsgebers aus Art. 80 GG (insbesondere: Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Normtypen und “Ablösungen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Anhang: Verfassungsgerichtlicher sowie einfach-rechtlicher Rechtsschutz gegen Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen (in Satzungsautonomie) .
3. Die Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 24 GG im
Allgemeinen und Art. 23 GG im Speziellen) . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Übertragungen von Hoheitsrechten (Art. 24 GG)
b) Gesetzgeber und Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union (Art. 23 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die aus dem Prinzip der Länderkompetenz (Art. 70 GG i.V.m. Art. 30
GG) abzuleitenden Regeln für die Erzeugung von Bundesrecht . . . . .
1. Grundsatz der Länderkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Keine Vermutung zugunsten des Bundes . . . . . . . . . . . . .
b) Länder als Träger der Kulturhoheit (u.a. Rundfunk und Schule),
des Kommunalrechts sowie des Polizeirechts . . . . . . . . . . .
c) Das Verhältnis der Gesetzgebungs- zur Verwaltungskompetenz
2. Die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Kompetenzzuordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Unbedingt zu vermeidende “Doppelzuständigkeit“ . . . . . . . .
b) Gegenstand des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Die Problematik der Zuordnung einzelner Teilregelungen eines umfassenden Regelungskomplexes . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Sonderfall des Gewohnheitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Zulässige und unzulässige Beanspruchungen der Gesetzgebungskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Natur der Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Sachzusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Zulässige Beanspruchung einer Kompetenz zu Lenkungszwecken
4. Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Länderkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Fehlende Länderkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die ausschließliche Gesetzgebung (Art. 71 und 73 GG) . . . . . . . . .
1. Auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) . . . . . .
a) Auslandsaufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Rundfunk für das Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Wehrpflicht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Zulässigkeit einer “Freiwilligenarmee“ . . . . . . . . . . . . . .
b) Spezieller Sachbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Bundesstaatsangehörigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG) . . . . . . .
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4.
Freizügigkeit, Passwesen, Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung
(Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Währungs- und Geldwesen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG) . . . . . . .
6. Einheit des Zoll- und Handelsgebiets u.a. (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG)
7. Luftverkehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
8. Bundeseisenbahnen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG) . . . . . . . . . . .
9. Postwesen und Telekommunikation (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG) . . .
a) Telekommunikation im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . .
b) Telekommunikation im Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . .
10. Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes stehenden Personen
(Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11. Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht und Verlagsrecht (Art. 73
Abs. 1 Nr. 9 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12. Terrorismusabwehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 a GG) . . . . . . . . . . .
13. Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Belangen der Sicherheit - Kriminalpolizei, Verfassungsschutz, Bestrebungen mit Auslandsbezug - (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Zusammenarbeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Staatenübergreifende Verbrechensbekämpfung . . . . . . . . . .
14. Statistik für Bundeszwecke (Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG) . . . . . . .
a) Verbleibende Länderkompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Erfassung von inneren Tatsachen und Meinungen . . . . . . . .
VI. Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 und Art. 74 GG) .
1. Überkommene Regeln zum Gebrauchmachen einer Kompetenz durch
den Bund (Art. 72 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Erfüllung des Tatbestandes des Gebrauchmachens . . . . .
b) Die Folgen eines (zulässigen) Gebrauchmachens . . . . . . . . .
2. Neuere Regeln über die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung als Folge von Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . . . .
a) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse . . . . . . . . . .
b) Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit . . . . . . . . . .
c) Die Beurteilung der Erforderlichkeit durch den Bundesgesetzgeber
d) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und verfassungsgerichtliche Überprüfung von vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Einzelfälle, in denen die Voraussetzungen der Erforderlichkeit in
jüngerer Zeit verneint bzw. bejaht worden sind . . . . . . . . . .
3. Abweichende Regelungen durch die Länder (Art. 72 Abs. 3 GG) .
4. Freigaben sowie Ersetzungen durch Landesrecht (Art. 72 Abs. 4 und
Art. 125 a Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Freigabe“ und “Ersetzung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Wahl zwischen “Modifizierung“ des Bundesrechts und Freigabe
c) “Mischfälle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII. Die Materien des Art. 74 GG im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . .
1. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (BGB, Strafrecht, Gerichtsverfassung und
-verfahren, Rechtsberatung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Bürgerliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Strafrecht (“weites“ Verständnis in kompetenzrechtlicher Hinsicht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren . . . . . . . . .
d) Rechtsanwaltschaft, Notariat und Rechtsberatung . . . . . . . .
2. Personenstandswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 2 GG) . . . . . . . . . .
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3.
Seite VII
Öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG) . . . . . . . . . . .
a) Erfassung sowohl der “traditionellen“ als auch neuen Fürsorge .
b) Erfassung auch (nicht notwendig akuter) präventiver Maßnahmen
c) Erfassung eines großen Personen- und Trägerkreises . . . . . . .
d) Fürsorgerisches “Gesamtkonzept“ (verschiedene Arten von Fürsorgeleistungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Entschiedene Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG),
Kriegsbeschädigte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG) . . . . . . . . . . . .
5. Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) . . . . . . . . . .
a) Zweck und Umfang der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Berufsordnende Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Einzelfälle für das Recht der Wirtschaft und Untergruppen . .
6. Arbeitsrecht und Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) .
a) Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Enteignung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
8. Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung u.a. (Art.
74 Abs. 1 Nr. 17 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9. Grundstücksverkehr, Bodenrecht, landwirtschaftliches Pachtwesen,
Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen (Art. 74 Abs. 1
Nr. 18 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Grundstücksverkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Bodenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Wohnungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Siedlungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
10. Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten
bei Menschen und Tieren, Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Maßnahmen gegen Krankheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11. Tierschutz u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG) . . . . . . . . . . . . .
12. Schifffahrt und Wasserstraßen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG) . . . . .
a) Schifffahrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Wasserstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13. Straßenverkehr u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG) . . . . . . . . . . .
a) Straßenverkehrsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Bundesfernstraßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Straßenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14. Schienenbahnen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 23 GG) . . . . . . . . . . . . .
15. Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 Abs.
1 Nr. 24 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Abfallwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Sonstiges Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16. Staatshaftung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG) . . . . . . . . . . . . . .
17. Medizinisch unterstützte Erzeugung menschlichen Lebens u.a. (Art.
74 Abs. 1 Nr. 26 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Umfassende Zuständigkeit im Recht der Gentechnik . . . . . .
b) “Eingebettete“ Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18. Statusrechte und -pflichten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG) . . . . . .
a) Ersetzung der früheren Art. 74 a GG und Art. 75 GG . . . . .
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Seite VIII
b) Denkbare Übernahmen früherer Rechtsprechung . . . . . . . .
19. Jagdwesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 GG), Naturschutz und Landschaftspflege (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG), Bodenverteilung (Art. 74 Abs. 1 Nr.
30 GG), Raumordnung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG), Wasserhaushalt
(Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG) sowie Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Wasserhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Hochschulzulassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Bundesgesetzgebung und Verwaltungskompetenzen (Art. 83 ff. GG) .
1. Die Bedeutung des Demokratieprinzips (Volkssouveränität), des
Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit sowie des Gebots der Bundesstaatlichkeit für die Regelung der Verwaltungskompetenzen . . . . .
a) Demokratie und Volkssouveränität sowie problematische “Verflechtung von Zuständigkeiten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Bundesstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Grundsatz der Verwaltung von Bundesgesetzen durch die Länder (Art.
83 und Art. 84 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Ausführung von (Landesgesetzen und) Bundesgesetzen ohne
Verwaltungsverfahrensregelungen, allgemeine Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Ausführung von Bundesgesetzen mit Verfahrensregelungen (Art.
84 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Kein Gesetzesvorbehalt für Verwaltungsaufbau, Behördenzuständigkeit und Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) “Regelungen“ von Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . .
3. Abweichungsmöglichkeiten (Art. 84 Abs. 1 Sätze 2 - 6 GG) . . . .
4. Pflicht zur Zustimmung des Bundesrats als Folge von bestimmten
Verfahrensregelungen (Art. 84 Abs. 1 Satz 6 sowie Abs. 5 GG) . . .
a) Zweck eines Zustimmungserfordernisses . . . . . . . . . . . . .
b) Voraussetzungen einer Zustimmungsbedürftigkeit . . . . . . . .
c) Folgen des Vorliegens der Voraussetzungen der Zustimmungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Bundesaufsicht (Art. 84 Abs. 3 und Abs. 4 GG) . . . . . . . . . . .
a) Zwecke der Bundesaufsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) “Durchgriff“ auf die Gemeinden . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. “Bundesauftragsverwaltung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Charakter der Bundesauftragsverwaltung der Länder . . . . . .
b) Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Bundeseigene Verwaltung (Art. 86 ff. GG) . . . . . . . . . . . . . .
a) Bundesgrenzschutz (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG) . . . . . . . . .
b) Soziale Versicherungsträger (Art. 87 Abs. 2 GG) . . . . . . . .
c) Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden (Art. 87 Abs. 3
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Organisationsformen “funktionaler Selbstverwaltung“ . . . . . .
e) Bundeswehrverwaltung (Art. 87 b GG) . . . . . . . . . . . . . .
f) Luftverkehrsverwaltung (Art. 87 d GG) . . . . . . . . . . . . .
g) Eisenbahnverkehrsverwaltung (Art. 87 e GG) . . . . . . . . . .
h) Postwesen und Telekommunikation . . . . . . . . . . . . . . . .
i) Bundesbank (Art. 88 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
j) Übertragungen auf die Europäische Zentralbank (Art. 88 Satz 2
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX.
Seite IX
k) Bundeswasserstraßen (Art. 89 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
l) Bundesstraßen (Art. 90 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
m) Gemeinschaftsaufgaben, Verwaltungszusammenarbeitsfälle (Art.
91 a ff. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gesetzgeber und “Steuerstaat“ (Finanzverfassung gem. Art. 104 ff. GG);
insbesondere Gesetzgebungskompetenz für nicht-steuerliche Abgaben sowie Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Grundsatz des “festen Rahmens“ der Finanzverfassung . . . . . . .
a) Finanzverfassung als für den Gesetzgeber “unübersteigbare“ Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verbot von Analogien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Grundsatz der strikten Kompetenztrennung bei Steuern (Art. 105
GG) einerseits und nicht-steuerlichen Abgaben andererseits . . . . .
3. Sonderfall der Finanzierung der Sozialversicherung . . . . . . . . .
4. Nichtsteuerliche Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeines (insb. Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen)
b) Gebühren und Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Andere Abgaben (“eigener Art“) . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Gesetze gem. Art. 104 a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Gesetze gem. Art. 104 b Abs. 1 und Abs. 2 GG (Art. 104 a Abs. 4
GG a.F.) - Bundesfinanzhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Wesentliche“ Bestandteile eines entsprechenden Gesetzes . . .
b) Keine Ermächtigung der Bundesverwaltung durch Art. 104 b Abs.
2 Satz 1 GG zur Regelung von Verwaltungsbefugnissen gegenüber
den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Steuern (Art. 105 GG) .
a) Geltung des Art. 70 Abs. 1 GG auch für das Steuerrecht . . . .
b) Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes über Zölle und Finanzmonopole (Art. 105 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 105 Abs. 2 GG) . . . . . .
d) Bundesgesetze mit Zustimmungserfordernis (Art. 105 Abs. 3 GG)
8. Der Bundesgesetzgeber und die Verteilung des Steueraufkommens
(Art. 106 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Vertikale Steuerverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Einzelne in Art. 106 Abs. 1 und Abs. 2 GG genannte Steuern
(Verkehr-, Erbschaft- und Vermögensteuer) . . . . . . . . . . . .
c) Art. 106 Abs. 3 ff. GG als erste Stufe der gesetzlichen Verteilung
des Finanzaufkommens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Gewerbesteuer und Grundsteuer gem. Art. 106 Abs. 6 GG . . .
9. Verkehrsbezogene Länderanteile (Art. 106 a GG sowie Art. 106 b GG)
10. Art. 107 GG (Finanzausgleich; Ergänzungszuweisungen) . . . . . .
a) (Nicht allein durch Art. 107 GG erreichbare) Ziele und Zwecke des
Art. 107 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die für den Bundesgesetzgeber maßgeblichen Rechtsquellen und
deren Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11. Finanzverwaltung (Art. 108 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Verhältnis der einzelnen Absätze des Art. 108 GG zu den Art. 83
ff. GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Oberfinanzdirektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
12. Art. 109 GG (Haushaltswirtschaft) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Schuldenbremse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite X
b)
Verantwortung des Haushaltsgesetzgebers für das “gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13. Art. 109 a GG (Haushaltsnotlagen) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14. Art. 110 (Haushaltsplan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die besondere Bedeutung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . .
b) Die vier Haushaltsgrundsätze im Einzelnen . . . . . . . . . . .
c) Haushaltsgesetz und Haushaltsplan . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Ablauf des Verfahrens und Rechte sowie Pflichten von Beteiligten
15. Art. 111 GG und Art. 112 GG (Ausgaben vor Etatgenehmigung bzw.
überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben) . . . . . . . . . .
a) Art. 111 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Art. 112 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16. Art. 114 GG (Rechnungslegung und Rechnungsprüfung) . . . . . .
a) Die gewöhnlichen Aufgaben des Bundesrechnungshofs . . . . .
b) Bundesrechnungshof und Länderbereich . . . . . . . . . . . . .
17. Art. 115 GG (Kreditbeschaffung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Art. 115 Abs. 1 GG als Konkretisierung des demokratischen Parlamentsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung, die zumindest bestimmbar den Höchstbetrag festlegen muss . . . . . . . . . . . .
c) Insbesondere: Gewährleistungsübernahme . . . . . . . . . . . .
d) Insbesondere: Gewährleistungsermächtigungen im Rahmen internationaler Übereinkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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D. “Verfassungsfeste“ Grundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) sowie Demokratie-,
Sozialstaats- , Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsgrundsätze (Art. 20 GG)
281
I.
Überblick über (möglicherweise) veränderungsfeste Verfassungsgebote.
281
1. Art. 79 Abs. 3 GG (Kriterien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
a) Allgemeines (Übersicht; BVerfGE 109, 279) . . . . . . . . . . . 282
b) “Ausnahmevorschrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
2. “Niedergelegte“ Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
a) Menschenwürde und Menschenrechte (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2
i.V.m. Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
b) Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . 283
c) Sozialstaatsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
d) Grundlegende Gerechtigkeitspostulate (grundlegende Elemente
des Rechtsstaatsprinzips, insbesondere Rechtsgleichheit und
Willkürverbot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
e) Gewaltenteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284
II.
Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285
1. Zusammenfassung des 1. Senats aus dem Jahre 2004 (BVerfGE 109,
279) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
a) Anknüpfung an historische Erfahrungen sowie SchwerpunktVerlagerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
b) “Objektformel“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
c) “Heimliches“ staatliches Vorgehen und Beobachten . . . . . . . 287
2. Vorläufige (neuere) Zusammenfassung aus dem 2. Senat (2 BvR
1111/13) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287
3. Unionsrecht und geltend gemachte Verletzungen der Menschenwürde
(“Identitätskontrolle“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
III. Demokratieprinzip und Volkssouveränität (Art 20 Abs. 1, 1. Alt. i.V.m.
Abs. 2 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Brunn - Inhaltsverzeichnis
1.
IV.
Seite XI
Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft im Bund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Länderbereich (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . .
2. Staatsvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Wahlvolk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Deutscheneigenschaft i.S.v. Art. 116 GG . . . . . . . . . . . . .
c) Verlust der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG) . . . . . .
3. Wahlen als Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Periodische Wahlen als “Quelle der Staatsgewalt“ . . . . . . . .
b) Verbot der (staatlichen) Beeinflussung von Wählern und Wahlen
c) Freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Einführung in die Grundsätze des Art. 38 GG (Zusammenhänge
mit Art. 20 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.
Wahlgesetzgeber und Verwirklichung der Wahlrechtsgrundsätze
(Wahrnehmung des Gesetzgebungsauftrags gem. Art. 38 Abs. 3 GG)
a) Zielsetzungen und zulässige Mittel der Zielerreichung . . . . . .
b) Die Wahlrechtsgrundsätze in ihren Grundzügen . . . . . . . . .
c) Insbesondere: Wahlrechtsgleichheit (i.V.m. “Chancengleichheit“)
5. Legitimierungsbedürftige Wahrnehmung (vornehmlich behördlicher
und richterlicher) staatlicher Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeines (“Sachlich-inhaltliche Legitimation“, “Legitimationsniveau“ und “amtsgebundene Legitimation“) . . . . . . . . . . .
b) Legitimation für Exekutiv-Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . .
c) Beleihung Privater mit hoheitlichen Befugnissen . . . . . . . . .
6. Die Parteien und der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Reichweite und Grenzen des Art. 21 Abs. 3 GG . . . . . . . . .
b) Der Rang der Parteien als “verfassungsrechtliche Institutionen“
c) Die Beteiligung an Wahlen (als unverzichtbares Element) und die
Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . .
1. Bekenntnis zum Sozialstaat (Konkretisierung durch den - regelmäßig
über einen Gestaltungsraum verfügenden - Gesetzgeber) . . . . . .
a) Adressaten von Leistungen (Hilfs- und Schutzbedürftige) . . . .
b) Grundaufgaben (Betreuung, Pflege, Krankheit) . . . . . . . . .
2. Menschenrecht und Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (auch) durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . .
a) Pflicht zur gesetzlichen Sicherung des unbedingt Erforderlichen
b) Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Vorgehen des Gesetzgebers
(“Ergebnisorientierung“ des Verfahrens) . . . . . . . . . . . . . .
3. Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzliche Krankenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Arbeitslosenversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Hinterbliebenenversorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Unfallversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Fürsorge für (insbesondere altersbedingt) Pflegebedürftige . . .
4. Steuerfreiheit des (zu “verschonenden“) Existenzminimums . . . .
a) Bedarf (nach Erfüllung der Steuerschuld) . . . . . . . . . . . .
b) Bemessung des zu verschonenden Existenzminimums . . . . . .
c) Sozialrechtlicher Mindestbedarf als Untergrenze . . . . . . . . .
d) Sonstige Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte im Steuerrecht
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Seite XII
5.
Anspruch auf Zutritt zu vom Staat geschaffenen Ausbildungseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Wiedergutmachung von Vermögensverlusten . . . . . . . . . . . . .
7. Resozialisierung von Straftätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8. Fremdrentengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
In Art. 20 GG “niedergelegte“ (oder zumindest vom einfachen Gesetzgeber zu beachtende) Rechtsstaatsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Überblick über die vom Gesetzgeber möglicherweise zu beachtenden
Rechtsstaatsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Erfordernis des Gemeinwohlbezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Freiheit“ des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Bestimmtheitsgebot, Vorbehalt des Gesetzes, Vorrang des Gesetzes,
Bindung an Gesetz und Recht sowie Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im
Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Erfordernisse der Bestimmt-, Klar- und Wahrheit eines Gesetzes
b) Vorbehalt des Gesetzes (Parlamentsvorbehalt) . . . . . . . . . .
c) Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 2. Alt. GG) . .
e) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Gewaltenteilungsgrundsatz (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Abs.
1, 1. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Ableitung aus dem Demokratieprinzip (“gewaltenteilende Demokratie“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Mäßigung der Staatsherrschaft (insbesondere: Parlamentarische
Kontrolle von Regierung und Verwaltung) . . . . . . . . . . . .
b) Unveränderbare Kernbereiche der Gewalten . . . . . . . . . . .
2. Gewaltenteilung zwischen erster und zweiter Gewalt . . . . . . . .
a) Normsetzung und Kernbereich exekutiver Verantwortung als “eindringungsresistente“ Kernkompetenzen . . . . . . . . . . . . . .
b) (Bejahte bzw. verneinte) “Übergriffe“ der Legislative in den exekutiven Bereich (bzw. wechselseitige “Preisgaben“ von Befugnissen)
c) “Übergriffe“ der Exekutive in den Bereich der Gesetzgebung . .
3. Gewaltenteilung zwischen der ersten und der dritten Gewalt . . . .
a) Wahrung des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers durch das
Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Unzulässige Beanspruchungen der Fachgerichte . . . . . . . . .
c) “Unüberprüfbare“ Gesetzgebungsakte als unzulässige Beanspruchungen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Gewaltenteilung zwischen zweiter und dritter Gewalt . . . . . . . .
a) Eingriffe der Exekutive in den Bereich der Rechtsprechung . . .
b) “Übergriffe“ der Rechtsprechung in den Bereich der Verwaltung
VII. Anhang: Die durch den Gesetzgeber beeinflussbare Rechtsstellung von
Abgeordneten, Beamten und Richtern als den demokratisch legitimierten
Trägern der drei voneinander getrennten Staatsgewalten . . . . . . . .
1. Abgeordnete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Der repräsentative Status des Abgeordneten . . . . . . . . . . .
b) Freiheit des Mandats (Ausübungsfreiheit) . . . . . . . . . . . .
c) Gleichheit der Abgeordneten und Beschränkungen der Statusrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Gesetzgeber und die Art. 46 GG bis 48 GG . . . . . . . . . . .
2. Beamte (Art. 33 Abs. 1 bis 5 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite XIII
a) Zugang (Art. 33 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die Regelung der Ausübung hoheitlicher Befugnisse (Art. 33 Abs.
4 GG); “Funktionsvorbehalt“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Pflicht zur Berücksichtigung hergebrachter Grundsätze des Berufsbeamtentums (Art. 33 Abs. 5 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die Rechtsstellung der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Auswahl, Bestimmung und Besoldung der Richter . . . . . . . .
c) Unabhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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E. Gesetzgeber und Menschenwürde, Menschenrechte sowie (Bindungen an)
Grundrechte
441
I.
Art. 1 GG (i.V.m. Art. 19 Abs. 1 bis 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . 441
1. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und Konkretisierung (durch
Grundrechte sowie Gesetzgebung und Rechtsprechung) . . . . . . . 450
a) Menschenbild des Grundgesetzes als Ausgangspunkt . . . . . . 450
b) Berechtigte des Menschenrechts und Schutzpflicht . . . . . . . . 451
c) Umfang und Folgen einer (“unverfüg- und verabsolutierbaren“)
Berechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452
d) Rechtsgebiete, in denen die Menschenwürdeproblematik angesprochen war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 454
e) Insbesondere: Menschenwürde im Strafrecht (Strafverfahren) . 457
f) Insbesondere: Übergreifende Anforderungen (die aus den Grundrechten und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren
Sinne abgeleitet sind) für heimliche Überwachungsmaßnahmen (gesetzliche Ermittlungs- und Überwachungsbefugnisse), die tief in die
Privatsphäre eingreifen (BVerfGE 141, 220 [269 ff.]) . . . . . . . 463
2. Art. 1 Abs. 2 GG (Bekenntnis zu den Menschenrechten) . . . . . . 479
a) Kernbestand als (zumindest) Auslegungshilfe . . . . . . . . . . 479
b) Zwingende Völkerrechtsnormen (Art. 1 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 25
Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
3. Art. 1 Abs. 3 GG (Bindung an Grundrechte) i.V.m. Art. 19 Abs. 1
bis 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
a) Umfang und Grenzen der gesetzgeberischen Befugnisse und Verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480
b) Grundrechts-Bindungen im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . 484
c) Verbot der Einschränkung von Grundrechten durch Einzelfall- Gesetz sowie Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . 487
d) Antastung des Wesensgehalts eines Grundrechts (Art. 19 Abs. 2
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
e) Grundrechtsgeltung auch für inländische juristische Personen (Art.
19 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
4. Allgemeine Grundrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
a) Grundrechtsfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 494
b) Schutzbereiche bzw. Gewährleistungsinhalte der Grundrechte . 496
c) Schutz vor (unmittelbaren bzw. nicht erkennbaren) Grundrechtsbeeinträchtigungen und auch schon -gefährdungen . . . . . . . . 498
d) Von der Verfassung vorgesehene Grundrechtsschranken und zulässige Zwecke von Grundrechtsbeschränkungen . . . . . . . . . . . 501
e) “Beschränkungen“ uneinschränkbarer Grundrechte . . . . . . . 502
f) Gesetzesvorbehalt für Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . 503
II.
Art. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503
Brunn - Inhaltsverzeichnis
1.
III.
Seite XIV
Art. 2 Abs. 1 GG (Handlungsfreiheit und/oder Persönlichkeitsrecht)
a) Gemeinsames (sowie Unterschiedliches) der Handlungsfreiheit und
des Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Unzulässige) Eingriffe des Gesetzgebers in den “absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung“ . . . . . . . . . . . .
2. Schutz vor Eingriffen in die allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . .
a) Schutzbereiche bzw. Gewährleistungsinhalte (insbesondere: “Reiten im Wald“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Zulässige und unzulässige) Eingriffe des Gesetzgebers in die allgemeine Handlungsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Erlaubnisvorbehalt für Grundrechtsausübungen . . . . . . . . .
3. Schutz des Persönlichkeitsrechts (Art. 2 Abs. 1 GG) . . . . . . . .
a) Das Persönlichkeitsgrundrecht als - durch den Gesetzgeber zu
konkretisierendes, insbesondere einschränkbares - “offenes“ Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die in Betracht zu ziehenden Berechtigten (und Verpflichteten) des
“eigenständigen“ Grundrechts (“unbenannten“ Freiheitsrechts) .
c) Schutzbereiche im Einzelnen (Schutzbereichsschwerpunkte Ehe
und Familie sowie Gesundheitsbereich) . . . . . . . . . . . . . .
4. Die beiden aus dem Persönlichkeitsrecht abgeleiteten “Datengrundrechte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (und seine Einschränkungsmöglichkeiten auf gesetzlicher Grundlage) . . . . . .
b) Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 (1. und 2. Alt.) GG (Recht auf Leben sowie Recht
auf körperliche Unversehrtheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Schutzbereich des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1, 1. Alt.
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schutzbereich des Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2
Abs. 2 Satz 1, 2. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Gesetzesvorbehalt (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG) für Einschränkungen des Rechts auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit sowie auf
Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Sätze 2 und 3 GG) . . . . . . .
a) Der “hohe Rang“ der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Allgemeine Schutz- und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . .
c) Spezielle strafverfahrensrechtliche Schutz- und Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 3 GG (Gleichheit vor dem Gesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. (Gesetzgeber und) Allgemeiner Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG
“Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“) . . . . . . . . . . . .
a) Grundrechts- bzw. Gleichheitsverpflichtete . . . . . . . . . . . .
b) Grundrechts- bzw. Gleichheitsberechtigte . . . . . . . . . . . .
c) Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Zulässige und unzulässige differenzierende Wertungen des Gesetzgebers je nach Sach- und Regelungsbereich (“Gesamtüberblick“)
e) Insbesondere: Rechtfertigungen für Generalisierungen und Typisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f) Stichtagsregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
g) Entscheidungsaussprüche bei Verstößen gegen Art. 3 Abs. 1 GG
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Seite XV
h)
IV.
Gesetzgeber, Gleichheitssatz und Steuer- sowie Abgabenrecht
(Grundsatz der Belastungsgleichheit) im Allgemeinen und
Speziellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
i) Maßstabsbildende Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
in verschiedenen anderen Rechtsgebieten (alphabetische Reihenfolge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Art. 3 Abs. 2 GG (Männer und Frauen sind gleichberechtigt) . . .
a) Art. 3 Abs. 2 GG und der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . .
b) Gleichberechtigungsgebot und Konkurrenzen (Verhältnis zu anderen Bestimmungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Ungleichbehandlungen in Form von Benachteiligungen . . . . .
d) Rechtfertigungen für Ungleichbehandlungen . . . . . . . . . . .
e) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Art. 3 Abs. 3 GG (spezieller Gleichheitsgrundsatz) . . . . . . . . .
a) Geschlecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Abstammung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Heimat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Herkunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f) Religiöse oder politische Anschauungen . . . . . . . . . . . . .
g) Behinderung (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) . . . . . . . . . . . . .
Art. 4 GG (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit) . . . . . . .
1. Die Grundentscheidung der Verfassung für ein freiheitliches Religionsund Staatskirchenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die inkorporierten Artikel der Weimarer Reichsverfassung als
“vollgültiges Verfassungsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) “Interpretatorische Wechselwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . .
c) Staatliches Neutralitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Insbesondere: Die Verleihung des Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts an eine Religionsgemeinschaft und deren Folgen
2. Die schwierigen Aufgaben des Gesetzgebers vornehmlich angesichts
der Vorbehaltlosigkeit des Art. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Einschränkungen aus der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schutzgebote (als Gewährleistungsinhalte) . . . . . . . . . . . .
c) “Selbstverständnis“ der Glaubensgemeinschaften und “Prüfbefugnisse“ des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Konkurrenzen (Verhältnis zu anderen Grundrechten) . . . . . . . .
a) Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Art. 5 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Art. 12a GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Art. 140 GG (i. V. m. WRV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Individuelle Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Kollektive Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Der grundrechtsverpflichtete Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Weltanschaulich-religiöse Neutralität“ des Staates . . . . . . .
b) (Kritische) Äußerungen von Staatsorganen . . . . . . . . . . . .
6. Schutzgüter bzw. Gewährleistungsinhalte des Art. 4 Abs. 1 und Abs.
2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Glaubensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Freiheit des religiösen Bekenntnisses . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite XVI
d)
V.
VI.
Grundrecht der ungestörten Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. “Ausgleich“ bei (Grundrechts-)Kollisionen . . . . . . . . . . . . . .
a) Toleranzgebot und Ausgleich von “Spannungsverhältnissen“ . .
b) Konfliktfälle im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Konfliktfälle im privaten Raum (Konflikte zwischen kirchlichem
Selbstbestimmungsrecht und Glaubensfreiheit von Arbeitnehmern
bzw. Vertragspartnern; BVerfGE 137, 273) . . . . . . . . . . . .
8. Kriegsdienstverweigerungsgrundrecht (Art. 4 Abs. 3 GG) . . . . .
a) “Echtes Grundrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) “Kernbereich“ und Randbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Problematik des Schutzes der sog. situationsbedingten Kriegsdienstverweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Nachprüfung der Gewissensentscheidung . . . . . . . . . . . . .
Art. 5 GG (Recht der freien Meinungsäußerung) . . . . . . . . . . . .
1. Art. 5 Abs. 1 GG (Recht der freien Meinungsäußerung und -bildung)
a) Konkurrenzen (kursorischer Überblick) . . . . . . . . . . . . . .
b) Zwecke des (unterschiedlichen Ausmaßes des) Schutzes der Meinungsfreiheit (insbesondere: Meinungsäußerungen) . . . . . . . .
c) Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. GG) . . . . . . . . .
d) Freiheit der Berichterstattung durch insbesondere den Rundfunk
(Art. 5 Abs. 1 Satz 2, 2. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Zensurverbot (Art. 5 Abs. 1 Satz 3 GG) . . . . . . . . . . . . .
2. Schranken und Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeine Gesetze (Art. 5 Abs. 2, 1. Alt. GG) und “Sonderrechtsverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gesetzliche Bestimmungen zum Schutze der Jugend (Art. 5 Abs.
2, 2. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2, 3. Alt. GG) . . . .
3. Kunst-, Wissenschafts-, Forschungs- und Lehrfreiheit sowie Beschränkungen (Art. 5 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Kunstfreiheit (und Schranken) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Wissenschaftsfreiheit (und Landesgesetzgeber) . . . . . . . . . .
Art. 6 GG (Ehe, Familie und - nichteheliche - Kinder) . . . . . . . . .
1. “Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen
Ordnung“ (Art. 6 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Ehe (Ausgestaltung unter Beachtung der “wesentlichen Strukturprinzipien“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gesetzgeber und Familie (Strukturprinzipien) . . . . . . . . . .
c) (Gesetzlicher) Schutz von Ehe und Familie durch Förderungs- und
Gleichbehandlungsgebote sowie Beeinträchtigungsverbote . . . .
2. Art 6 Abs. 2 GG (Eltern- und Kinder-Rechte) . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) “Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der
Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht“ (Art. 6 Abs. 2
Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Art. 6 Abs. 2 Satz 2 GG (Wächteramt des Staates) . . . . . . .
3. Art. 6 Abs. 3 GG (Trennung des Kindes von der Familie) . . . . .
a) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verhältnismäßigkeitsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. “Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der
Gemeinschaft.“ (Art. 6 Abs. 4 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite XVII
a) Bindender Auftrag an den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . .
b) Einzelfragen zum Schutzauftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Nichteheliche Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Auftrag und Bindungen des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . .
b) (Zulässige und unzulässige) Ziele sowie Mittel der Regelung . .
VII. Art. 7 GG (Schulwesen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Bedeutung des Art. 7 GG (Grundrecht und Institutsgarantie) . . .
a) Aufsicht des Staates über das Schulwesen . . . . . . . . . . . .
b) Insbesondere: Bekenntnismäßige Gestaltung des Schulwesens . .
c) Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitsgrundsatz . . . . . . . .
2. Einschränkungen der Gestaltungsfreiheit der Landesgesetzgeber . .
a) Gesetzgeberischer Gestaltungsbereich . . . . . . . . . . . . . . .
b) Grenzen durch übergeordnete Normen des Grundgesetzes . . .
3.
Insbesondere: Rechtschreibreform, Sexualkundeunterricht sowie
“Kopftuchverbot“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Rechtschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Sexualerziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Religiöse Bekundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. “Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ (Art. 8 Abs. 1 GG) .
a) Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Entscheidungen über den) Ort der Versammlung . . . . . . . .
c) (Entscheidungen über die) Zeit bzw. das Stadium der Versammlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) (Entscheidungen über das) Thema der Veranstaltung . . . . . .
e) (Entscheidungen über die) Teilnehmer der Versammlung . . . .
2. “Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch
Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt werden.“ (Art. 8 Abs.
2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzesvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 GG . . . . . . . . . . . . .
b) “Versammlungen unter freiem Himmel“ . . . . . . . . . . . . .
IX. Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. “Alle Deutschen haben das Recht, Vereine und Gesellschaften zu bilden.“ (Art. 9 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Regelungen durch den - “gebundenen“ - Gesetzgeber (Regelungsbedürfnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Verbotene Vereinigungen (Art. 9 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . .
a) “Ausfüllung“ des Art. 9 Abs. 2 GG durch den Gesetzgeber . . .
b) Erstreckung auf “abhängige“ Organisationen . . . . . . . . . .
3. Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) (Traditionelle) Aufgaben von Koalitionen . . . . . . . . . . . .
b) Gewährleistungsinhalte des Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG . . . . . .
c) (Zulässige und unzulässige) Zwecke und Mittel der koalitionsmäßigen Tätigkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Fehlender Gesetzesvorbehalt und Ausgestaltungen sowie Einschränkungen durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . .
X.
Art. 10 GG (Brief-, Post- und Fernmelde- bzw. Telekommunikationsgeheimnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. “Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind
unverletzlich.“ (Art. 10 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite XVIII
a)
Die Rolle des Staates (Gesetzgebers) im mehrpoligen Schutzverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Brief- bzw. Postgeheimnis und Telekommunikationsgeheimnis .
c) In Betracht zu ziehende Eingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Allgemeine gesetzliche Beschränkungen (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG)
a) “Beschränkungen dürfen nur aufgrund eines Gesetzes angeordnet
werden.“ (Art. 10 Abs. 2 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gemeinwohlzwecke (Strafverfolgung, Gefahrenabwehr und Nachrichtendienste) als legitime (abstrakte und konkrete) Beschränkungszwecke; Zweckänderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) (Nicht mit Art. 10 GG “schlechthin unvereinbare“) Gesetzliche
Anordnungen zu vorsorglichen anlasslosen Erhebungen und Speicherungen von Telekommunikationsdaten (zu Lasten nichtstaatlicher Datenspeicherer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Spezielle Beschränkungen (Art. 10 Abs. 2 Satz 2 GG) . . . . . . .
a) Gesetzlich vorzusehende Ver- und Gebote . . . . . . . . . . . .
b) Benachrichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Rechtsweg und/oder sonstige Nachprüfung . . . . . . . . . . . .
XI. Art. 11 GG (Freizügigkeitsrecht ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. “Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet.“
(Art. 11 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Problematische Rechtsprechung zum erzwungenen “Heimatverlust“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Kein Anspruch auf Wege und Beförderungsmittel . . . . . . . .
2. Einschränkungen bzw. Beschränkungen der Freizügigkeit (Art. 11
Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeberisches Ermessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Einschränkungen bzw.) Beschränkungen . . . . . . . . . . . .
XII. Art. 12 GG (Berufsfreiheit) und (einschränkende sowie grundrechtsunterstützende) Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. “Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ (Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG) . . . . . . .
a) Gesetzgeber (Befugnisse und Pflichten) sowie einzelne Grundrechtsgarantien (gegenüber Eingriffen) . . . . . . . . . . . . . . .
b) Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Grundrechtsinhaber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Berufsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Freiheit der Berufswahl (und einschränkende Regelungen) . . .
2. “Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes
geregelt werden.“ (Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG) . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Regelungsbefugnis des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG
b) Rechtfertigungen von eingreifenden Regelungen (“Stufentheorie“)
XIII. Art. 13 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) . . . . . . . . . . . . . .
1. “Die Wohnung ist unverletzlich“ (Art. 13 Abs. 1 GG) . . . . . . .
a) Nicht dem Schutz des Art. 13 GG unterfallende Interessen sowie
Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Eingriffe in den Schutzbereich bzw. Gewährleistungsinhalte
(Grundrechtsberechtigte und Schutzgegenstände) . . . . . . . .
2. Durchsuchungen (Art. 13 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Begriff der Durchsuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Verfassungsrechtlicher) Richtervorbehalt . . . . . . . . . . . .
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Seite XIX
c) Einzelne gesetzliche Prüfpflichten des Richters . . . . . . . . . .
d) Die Ausnahme der “Gefahr im Verzug“ (“Doppelnatur“ des Begriffs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Die konstitutive Beschränkung des Grundrechts aus Art. 13 Abs. 1
GG durch Art. 13 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Pflicht zur Gewährleistung des Unverletztbleibens der Menschenwürde (im Allgemeinen) . . . . . . . . . . . .
b) Das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit der akustischen Wohnraumüberwachung und die einzelnen Tatbestandsmerkmale des
Art. 13 Abs. 3 Satz 1 GG (Verdacht besonders schwerer Straftaten)
unter der Voraussetzung, dass der Kernbereich nicht berührt ist
(BVerfGE 109, 279 [335 ff.]) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Maßnahmen “aufgrund richterlicher Anordnung“ (qualifizierter
Richtervorbehalt des Art. 13 Abs. 3 sowie Abs. 4 GG; BVerfGE
109, 279 [357 ff.]) sowie Benachrichtigungspflichten . . . . . . .
d) Das weitere Schicksal der gewonnenen Informationen (Zweckbindung; BVerfGE 109, 279 [374 ff.]) . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Maßnahmen zur Abwehr dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit (Art. 13 Abs. 4 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Informationserhebung nach landesrechtlichen Normen und Zweckbindungen und - änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Eingriffe durch (zweckändernde) Verwertung in gerichtlichen Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Verfassungsgemäßheit von verwertenden Normen (wie § 261 StPO)
zumindest bei verfassungskonformer Auslegung (Verwertungsverbot im Einzelfall) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Technische Mittel zum Schutz der bei einem Einsatz in Wohnungen
tätigen Personen (Art. 13 Abs. 5 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Unterrichtungspflichten (Art. 13 Abs. 6 GG) . . . . . . . . . . . .
7. Eingriffe und Beschränkungen (Art. 13 Abs. 7 GG) . . . . . . . . .
a) Unterscheidung zwischen Eingriffen aufgrund Gesetzes und zur
Gefahrenabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schutz der Wohnräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Geschäfts- und Betriebsräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XIV. Art. 14 GG (Eigentum, Erbrecht und Enteignung) . . . . . . . . . . .
1. Gesetzgeber und Gewährleistung von Eigentum und Erbrecht sowie
Schranken (Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die verantwortungsvollen und schwierigen Aufgaben der Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gewährleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Bestimmung von Inhalt und Schranken durch Gesetze (Art. 14
Abs. 1 Satz 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Insbesondere: Art. 14 Abs. 1 und Abs. 2 GG und Auferlegung von
steuerlichen Geldleistungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG) . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Sozialpflichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Besondere Bindungen des Grundeigentums . . . . . . . . . . . .
c) Sonstige Rechtspositionen und Ansprüche . . . . . . . . . . . .
3. Enteignungen und Entschädigungen (Art. 14 Abs. 3 GG) . . . . .
a) “Junktim“ zwischen Enteignung und Entschädigung . . . . . .
b) Mittel einer Enteignung (Legalenteignung bzw. Administrativenteignung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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c) Gemeinwohl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Entschädigung durch Gesetz (Art. 14 Abs. 3 Satz 2 GG) . . . .
e) Bestimmung der (Art der) Entschädigung (Art. 14 Abs. 3 Satz 3
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
f) Rechtsweg (Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG) . . . . . . . . . . . . . .
XV. Art. 16 GG (Ausbürgerung, Auslieferung) . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Verlust und Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs.
1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Entziehung (Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . . . .
b) Verlust (Satz 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Auslieferungen (von Deutschen und Ausländern; Art. 16 Abs. 2 GG)
a) Grundsatz (Satz 1) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Die Auslieferung eigener Staatsbürger als (u.U. zulässige) Ausnahme vom Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Ausnahmen nach Art. 16 Abs. 2 Satz 2GG . . . . . . . . . . . .
d) Auslieferungen Nichtdeutscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
XVI. Art. 16 a GG (Asylrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Politisch Verfolgte genießen Asylrecht (Art. 16 a Abs. 1 GG) . . .
a) Politisches bzw. rechtliches “Umfeld“ des Asylgrundrechts . . .
b) Der (politisch) “Verfolgte“ (Flüchtender vor erlittenen oder drohenden asylerheblichen Rechtsverletzungen) . . . . . . . . . . .
c) Der/die Verfolger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Zusammenfassung: Die “Ausgrenzung“ und die “ausweglose Lage“
als die Hauptkriterien für das Vorliegen einer politischen Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Verfahrensfragen sowie “Nachfluchtgründe“ und Rechtsfolgen
einer
Asylberechtigung/-nichtberechtigung
(Unterscheidung
zwischen dem Recht auf Asyl und den Rechten im Asyl) . . . .
2. Einreise aus einem Drittstaat (Art. 16 a Abs. 2 GG) . . . . . . . .
a) (Tatsächliche) Möglichkeiten eines Drittstaats-Kontakts . . . .
b) Drittstaaten im Sinne des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG . . . . .
c) Die Sonderregelung des Art. 16 a Abs. 2 Satz 3 GG . . . . . . .
3. “Sichere“ Herkunftsstaaten (Art. 16 a Abs. 3 GG) . . . . . . . . .
a) “Arbeitsteilung“ zwischen Gesetzgeber und Behörden sowie Gerichten (mit dem Ziel der Verfahrensverkürzung) . . . . . . . . .
b) “Grundrechtsausfüllendes Gesetz“ (als Option des Art. 16 a Abs.
3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Die “Vermutungen“ des Art. 16 Abs. 3 Satz 2 GG . . . . . . .
4. Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen (Art. 16 a Abs. 4
GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Begrenzung des verfahrensrechtlichen Schutzbereichs des Asylgrundrechts aus Beschleunigungsgründen . . . . . . . . . . . . .
b) Die in Betracht zu ziehenden Fallgruppen . . . . . . . . . . . .
c) Befugnisse und Pflichten des Gerichts im Falle ernstlicher Zweifel
an der Rechtmäßigkeit (Prüfungsgegenstand) . . . . . . . . . . .
d) Insbesondere: Flughafenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Völkerrechtliche Verträge (Art. 16 a Abs. 5 GG) . . . . . . . . . .
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F. Grundrechtsähnliche Verbürgungen (insb. Art. 19 Abs. 4, Art. 101 Abs. 1 Satz
2, Art. 103 sowie Art. 104 GG) - Verfahrensgrundrechte
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I.
Gemeinsames für die “objektiven Verfahrensgrundsätze“ des Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG und des Art. 103 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . 913
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Geltendmachung durch juristische Personen des öffentlichen Rechts
Geltendmachung durch (nach der Verfahrensordnung beteiligungsfähige) Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz) . . . . . . . . . . . . . . .
1. Aufgaben des Gesetzgebers (und der Prozessordnungen) . . . . . .
a) Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Wahrung der gerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . .
c) Effektiver Rechtsschutz (Ausgestaltung durch die Prozessordnungen und deren Handhabung durch die Gerichte) . . . . . . . . .
d) Insbesondere: Flankierender verfahrensrechtlicher Schutz in Verbindung mit Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. “Zentrale Verbürgung gerichtlichen Rechtsschutzes durch Fachgerichte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Konkurrenzen und Ergänzungen (“Justizgewährungsansprüche“
sowie “Rechtsschutz gegen den Richter“) . . . . . . . . . . . . .
b) Ausmaß des Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Denkbare Berechtigte (insb. Ausländer und Vereinigungen) . .
3. Öffentliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Deutsche öffentliche Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Begrenzung auf die vollziehende Gewalt und deren “Selbstherrlichkeit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Verletzung in Rechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Konkretisierung durch Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6. Erforderliche Rechts-Maßstäbe für (Behörden und) Gerichte . . . .
a) Behördliche Spielräume . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Entscheidungen ohne (vollständige) normative Entscheidungsprogramme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Verweisungen auf Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . .
d) Zulässige und unzulässige Bindungen an tatsächliche und rechtliche Bewertungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Instanzenzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verbote bei gesetzlich vorgesehenem Instanzenzug . . . . . . .
8. “In-camera-Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Bestehendes Geheimhaltungsinteresse und effektiver Rechtsschutz
b) Geringes Geheimhaltungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . .
Das (“ungeschriebene“) Prozessgrundrecht auf ein (faires und effektives) rechtsstaatliches Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3
GG) auch in nicht öffentlich-rechtlichen Verfahren (Justizgewährungsanspruch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Aufgaben des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Ausgestaltungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Gesetzgeberische “Ausgleichspflichten“ . . . . . . . . . . . . . .
2. Die wichtigsten Garantien des (“allgemeinen“) Justizgewährungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Allgemeine“ Effektivität des Rechtsschutzes . . . . . . . . . .
b) Grundsatz der umfassenden (tatsächlichen und rechtlichen) Prüfung des Streitgegenstands durch Richter . . . . . . . . . . . . .
3. Einzelausformungen des gerichtlichen Rechtsschutzes . . . . . . . .
4. Gehörsverstöße im fachgerichtlichen Verfahren . . . . . . . . . . . .
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Brunn - Inhaltsverzeichnis
IV.
Seite XXII
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG (gesetzlicher Richter) . . . . . . . . . . . .
1. Zweck der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Adressaten der Gebote und Verbote sowie gesetzgeberische Mittel zur
Vorbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Erforderlicher Bestand an Rechtssätzen . . . . . . . . . . . . .
b) Ergänzung einschlägiger Gesetze durch Geschäftsverteilungspläne
3. “Gewöhnliche“ und “außergewöhnliche“ Verletzungsmöglichkeiten .
a) Verstöße im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verstöße im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Anhang: Besondere Gerichte (Art. 101 Abs. 2 GG) . . . . . . . . .
a) Beschränkung auf Sondergerichte der Länder . . . . . . . . . .
b) Beispielsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
V.
Art. 103 Abs. 1 GG (rechtliches Gehör) . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Ausgestaltung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Einschränkungen von Äußerungsmöglichkeiten aus “sachlichen
Gründen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Mindestmaß an Verfahrensbeteiligung . . . . . . . . . . . . . .
2. Gericht als ausschließlicher Anwendungsbereich . . . . . . . . . . .
a) Gerichtliches Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. “Dreistufigkeit“ des Gehörsrechts in gerichtlichen Verfahren . . . .
4. Zulässige Einschränkungen des rechtlichen Gehörs . . . . . . . . .
a) Ersetzung einer vorherigen Anhörung durch eine nachträgliche
b) Präklusionsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) “In-camera-Verfahren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5. Die “Ausformung“ des Rechtsschutzsystems durch den Gesetzgeber
und die Sanktionierung eines Gehörsverstoßes durch Fachgerichte .
a) Rechtsschutz gegen Gehörsverstöße in jeder gerichtlichen Instanz
b) Abhilfemöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VI. Nulla poena sine lege (Art. 103 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
1. Strafrecht, Strafe (Kriterien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Dem Strafrechtsbegriff unterfallende Maßnahmen . . . . . . . .
b) Aus dem Strafrechtsbegriff ausgesonderte Maßnahmen . . . . .
2. Gesetzesvorbehalt und Bestimmtheitsgebot im Strafrecht . . . . .
a) Gesetzesgebundenheit im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Grenzen des Bestimmtheits- und Einfachheitsgebots . . . . . .
3. (Absolutes) Rückwirkungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Schutzzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Spezielle Anwendungsbereiche des Rückwirkungsverbots (insbes.
Rechtfertigungen i.S. des StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) (Nicht-)Anwendungsfälle (insbesondere Verjährungsvorschriften,
Maßregeln der Sicherung und Besserung) . . . . . . . . . . . . .
VII. Ne bis in idem (Art. 103 Abs. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Dieselbe Tat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Folgen einer Tatidentität (Strafklageverbrauch auch hinsichtlich
erschwerender Folgen der Tat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Entschiedene Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2. Allgemeine Strafgesetze (Abgrenzungen) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Entschiedene Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite XXIII
b)
Problematischer Fall der Ersetzung einer verfassungswidrigen
Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
3. Auslandsbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Verfolgung einer im Ausland abgeurteilten Tat . . . . . . . . .
b) Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an “Zweitverfolgung“ im Ausland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VIII. Gesetzgeber und Rechtsstaatsprinzip (insbesondere: faires Verfahren) im
Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Die Aufgaben des Strafrechts und -prozesses . . . . . . . . . . . . .
a) Sicherung des Rechtsfriedens durch Strafrecht . . . . . . . . . .
b) Ziel und Aufgabe von Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . .
c) Pflicht zur Verfolgung bzw. Vollstreckung und Ausnahmen . . .
2. Gesetzgeber und Schuldgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Schuldgrundsatz als aus der Verfassung ableitbarer zentraler
Grundsatz des Strafprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Insbesondere: Lebenslange Freiheitsstrafe . . . . . . . . . . . .
c) Anhang: Auslieferungen und Schuldgrundsatz . . . . . . . . . .
3. Pflicht zur Wahrheitsermittlung und Grenzen dieser Pflicht . . . .
a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Kein Zwang zur Selbstbelastung . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Einführung von vereinfachten Verfahren zur Gewinnung von richterlichen Überzeugungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Einführung von strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechten
und Beschlag-nahmeverboten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Grenzen für Beweisverwertungen (Beweisverwertungsverbote als
begründungsbedürftige Ausnahmen) . . . . . . . . . . . . . . . .
4. Gesetzgeber und Unschuldsvermutung . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Konkretisierung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . .
b) Kein Schuldvorwurf vor Widerlegung der Unschuldsvermutung
5. Faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) . .
a) Das Recht auf ein faires Verfahren im Strafverfahren und seine
Konkretisierung durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . .
b) Recht auf aktive und wirkungsvolle Einflussnahme . . . . . . .
c) Einzelfragen im Zusammenhang mit der Verteidigung . . . . . .
d) “Missbrauch“ des Gebots der Verhandlungsfähigkeit . . . . . .
e) Faires Strafverfahren und Rechte ausländischer Beschuldigter .
6. Beschleunigungsgebot im Strafprozess und überlange Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Strafe als Reaktion auf geschehenes Unrecht . . . . . . . . . . .
b) Von den Verfolgungsorganen (nicht) zu verantwortende Verzögerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7. Verständigung im Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Verbot einer Verständigung über den Schuldspruch . . . . . . .
b) Einfluss der Wahrheitsermittlungspflicht . . . . . . . . . . . . .
c) Autonomie des Angeklagten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Belehrungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
e) Verfahrensrechtliche Sicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
IX. Freiheitsbeschränkung und -entziehung (Art. 104 GG i.V.m. Art. 2 Abs.
2 Sätze 2 und 3 GG ) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
1. Vorbehalt förmlichen Gesetzes (Art. 104 Abs. 1 GG) . . . . . . . .
a) Bestimmtheitsgebot und Konkretisierungspflicht des Gesetzgebers
b) Gesetzesvorbehalt und Rechtsverordnung . . . . . . . . . . . .
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Brunn - Inhaltsverzeichnis
Seite XXIV
2.
Abgrenzung der Freiheitsbeschränkung (Art. 104 Abs. 1 GG) von der
Freiheitsentziehung (Art. 104 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Freiheitsentziehung als schwerwiegendste Form der -beschränkung
b) Freiheitsentziehungen (Freiheitsstrafen sowie präventive Freiheitsentziehungen) und Bestimmtheitsgebot . . . . . . . . . . . . . .
3. Vorbehalt richterlicher Entscheidung (Art. 104 Abs. 2 und 3 GG) .
a) Gebot grundsätzlich “vorgängiger“ richterlicher Anordnung bei
Freiheitsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Äußerste Grenze eines Festhaltens ohne (“unverzüglich“) richterliche Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c) Gesetzgebungsauftrag des Art. 104 Abs. 2 Satz 4 GG . . . . . .
4. Art. 104 Abs. 4 GG (Benachrichtigung) . . . . . . . . . . . . . . .
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Seite 1
A. Aufgaben, Formen und das Entstehen von neuer Gesetzgebung
und deren verfassungsrechtlicher Rahmen
[1] “Lapidar“ bestimmt § 20 Abs. 3 GG, dass die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung (zum anfänglichen Verständnis: v. Mangoldt, Bonner Grundgesetz, 1953,
S. 140 sowie Wernicke in: Bonner Kommentar (Erstfassung) Art. 9, S. 7 f.) gebunden ist
(nicht aber - im Gegensatz zu Exekutive und Judikative - an “einfachrechtliche“ Regeln;
vgl. BVerfGE 141, 1 [22] für Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen; dort
[33] auch dazu, dass die Verfassung auch aus sie “innerlich zusammenhaltenden allgemeinen Grundsätzen und Leitideen“ besteht), was die Fragen aufwirft, worin - erstens das Kennzeichnende dieser Ordnung liegt (ob es insbesondere die Ordnung “als solche“
oder die durch die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts “geschaffene“ ist; nachfolgend
A.I.2.a) (vgl. S. 3) sowie den “Beantwortungsversuch“ unter A.III.1.c)bb) (vgl. S. 46) ),
was - zweitens - in diesem Zusammenhang unter Bindung zu verstehen ist und ob drittens - die Gesetzgebung im Übrigen “ungebunden“ ist (oder quasi einfach-rechtlich
gebunden sein kann).
[2] Ebenso lapidar bestimmt die zweite Alternative des Art. 20 Abs. 3 GG, dass die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind, wodurch
die in Art. 20 Abs. 2 GG aufgeführten und dort eher im Sinne einer Gewaltenteilung
charakterisierten drei Staatsgewalten in ihren wechselseitigen Bindungen gekennzeichnet
werden; man kann insoweit zwanglos von einer - neben einer selbstverständlichen unmittelbaren - “mittelbaren“ Verfassungsbindung (nämlich vermittelt über die Gesetzgebung
und die von dieser erzeugten Gesetze) von vollziehender Gewalt und Rechtsprechung
reden.
[3] Ist das Vorstehende (“aus sich heraus“) ohne weiteres verständlich, so folgt daraus
nicht (mit der gleichen Selbstverständlichkeit) die verfassungsrechtlich zugewiesene Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts in diesem Gewaltengeflecht (wahrscheinlich - sofern
man hier zu “Recht“ nicht auch das Verfassungsrecht rechnet - erscheint nur, dass die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht der vorerwähnten Rechtsprechung
zuzuordnen ist); erst in den Art. 93 f. GG sind diese Aufgaben umfassend beschrieben.
I. Anspruch der Handreichung
1.
2.
Haupt- und Nebenzwecke . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Hauptzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Nebenzweck . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die (zumindest) Nützlichkeit der Beachtung verfassungsgerichtlicher Verfassungsauslegung bei Gesetzesvorhaben . . . . . . . . . . .
a) Identität von verfassungsmäßiger Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und
einschlägiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts? . . . .
b) Bundesverfassungsgericht und (verfassungsändernder) Gesetzgeber
aa) “Bindung“ des Bundesverfassungsgerichts durch den verfassungsändernden Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2
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3
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Brunn - Kapitel A.I.1.
Seite 2
bb) (Misslungene) Verfassungsänderungen und (misslungene)
Nachzeichnungsversuche durch den einfachen Gesetzgeber
(Beispielfall “Europäischer Haftbefehl“) . . . . . . . . . . . .
4
(1) Die bereits bei der Verfassungsänderung (2000) sich aufdrängenden Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
5
(2) Beachtlichkeit tradierter Rechtsprechung . . . . . . . . .
5
(2a)
Zweck des Auslieferungsverbots
(2b)
Staatliches Interesse an internationaler Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung . .
6
Grenze des Auslieferungsverbots (“gerechte“ Bestrafung im Ausland) . . . . . . . . . . . . . .
6
(2c)
3.
4.
. . . . . . . .
cc) “Gelungene“ Verfassungsänderung (und einigermaßen gelungene verfassungsausfüllende Gesetze) . . . . . . . . . . . . . . .
Gefahren und Hauptschwierigkeiten des Vorhabens . . . . . . .
a) Gefahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Schwierigkeiten (Fortentwicklung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe für die Rechtsmaterien) . . . . . . . . . . . . .
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7
aa) Zivil- und öffentliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
8
bb) Straf- und Strafverfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
Dank für die Grundlagen der Darstellung (BVerfGE 1 bis BVerfGE 141)
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Weil der hier vorgelegten Zusammenstellung (“Handreichung“) kein eigener (wissenschaftlicher) Anspruch zugrunde liegt, enthält sie (fast) nur Senats-Rechtsprechungszitate;
wo das Bundesverfassungsgericht sich (noch) nicht geäußert hat (wie zu einzelnen Überleitungsvorschriften, neu geschaffenen Vorschriften - wie etwa Art. 45 d GG mit seinem
Absatz 2 - sowie zu der Fülle von Gesetzesermächtigungen in den Art. 104 ff. GG),
müssen zwangsläufig Lücken bleiben, die mit Hilfe der ganz überwiegend hervorragenden Kommentare zum Grundgesetz sowie Grundrechts- sowie Staatsrechtslehr- und
-handbücher, zu denen die Handreichung nicht in Konkurrenz treten will, geschlossen
werden können.
1. Haupt- und Nebenzwecke
Das vom Bundesministerium der Justiz herausgegebene Handbuch der Rechtsförmlichkeit
(3. Aufl., 2008) enthält auf den Seiten 26 ff. ein Kapitel “Prüfung der Verfassungsmäßigkeit“.
a) Hauptzweck
Die vorliegende Handreichung, die sich zwar vorwiegend an die gesetzesvorbereitende
Exekutive sowie die Abgeordneten (und deren Mitarbeiter) wendet, aber (hoffentlich)
auch von Studierenden und Praktikern mit Gewinn gelesen werden kann, verfolgt den
Zweck, diese Prüfung - im ersten Schritt des “Einstiegs“ in die jeweilige Problematik - dadurch zu erleichtern, dass ausschließlich Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
(dem “Hüter der Verfassung“, welcher aber auch den Gesetzgeber gegenüber den Fachgerichten gewissermaßen in Schutz nimmt; BVerfGE 1, 184 [195 ff.]) zu den angesprochenen
Brunn - Kapitel A.I.2.
Seite 3
Fragen dargestellt wird, die speziell die Pflichten und Befugnisse des Gesetzgebers ,
welcher gemäß Art. 20 Abs. 3 (1. Alt.) GG “an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden
(ist)“, in den Blick genommen und das Vorgehen des Gesetzgebers beurteilt hat.
Bevor eingangs des nachfolgenden Kapitels A.III. versucht wird, der Frage nachzugehen,
was im Einzelnen von dieser “bindenden“ Ordnung umfasst wird (A.III.1.c)bb) (vgl. S.
46) ; vgl. auch A.III.4.b)cc) (vgl. S. 79) und E.I.3.b)bb) (vgl. S. 485) ), was dann in
den Kapiteln C. bis F. im Einzelnen behandelt wird, und im nachfolgenden Kapitel C.
II. der äußere Ablauf eines Gesetzesvorhabens (Art. 76 ff. GG) dargestellt wird, wird
im nachfolgenden Kapitel A.II. unternommen zu zeigen, dass bereits eine sorgfältige
Bewältigung der eher technischen Regeln gelungener Rechtsetzung nahezu zwangsläufig
auf schwierige verfassungsrechtliche Probleme - nachfolgend A.III. - (die vor allem die
Fragen um gesetzgeberische Prognosen sowie die Rückwirkungsproblematik -nachfolgend
B. - betreffen) hinführt.
b) Nebenzweck
Ein Nebenzweck der Darstellung ist es, den Bundestag zu ermuntern, es entweder
selbst zu unternehmen oder die Ministerien - als die “federführenden“ Gesetzesvorbereiter - zu “drängen“, der zunehmenden “Rechtszersplitterung“ (BVerfGE 138, 64 [91] für
“Rechtsunsicherheit“ und “Rechtszersplitterung“ freilich durch unterschiedliche gerichtliche Auslegungen) entgegenzuwirken und deshalb wieder “große Gesetzgebung“ (wie in
der Nachkriegszeit das Grundgesetz, die Strafrechtsreform, die Vereinheitlichung des behördlichen - Verfahrensrechts, die Sozialrechtsbücher sowie in jüngerer Zeit die - allem
Anschein nach gelungene - Reform des FGG) zu “wagen“; insoweit hat das Bundesverfassungsgericht fast alles Notwendige gesagt.
Zu denken ist dabei vor allem an die (überfällige) vollständige Kodifizierung des Arbeitsrechts, eines einheitlichen Umweltrechts, einer einheitlichen öffentlich-rechtlichen Prozessordnung, einer (materienübergreifenden) allgemeinen Prozessordnung und eines
übersichtlichen Verbraucherschutzrechts (der Rechtsanwender bzw. -unterworfene muss
sich - um ein Beispiel zu nennen - durch mehrere Abkommen über Fluggastrechte “hindurchkämpfen“, bis er zumindest ahnt, welches Abkommen für einen Flug einschlägig ist,
wenn mehrere “Flugfrachtführer“ beteiligt waren).
Oft liegt es allein am mehr oder weniger guten Willen des “federführenden“ Ressorts
bzw. dessen Referatsleiters, ob eine überfällige Rechtsbereinigung in Angriff genommen
wird oder nicht, und die Folgen haben Behörden, Gerichte und Rechtsunterworfene zu
tragen, wobei sie nicht zufriedengestellt werden können mit dem (oft unzutreffenden, aber
in den Materialien immer wieder zu lesenden) Hinweis, eine bestehende Regelung habe
sich “in der Praxis bewährt“.
2. Die (zumindest) Nützlichkeit der Beachtung verfassungsgerichtlicher
Verfassungsauslegung bei Gesetzesvorhaben
In der Plenarentscheidung BVerfGE 2, 79 (86 f.) hat das Bundesverfassungsgericht davon
gesprochen, dass im Verfahren der Normenkontrolle der Feststellung über die Gültigkeit
oder Ungültigkeit eines Gesetzes “eine rechtssatzähnliche Kraft beigelegt“ wird.
Brunn - Kapitel A.I.2.
Seite 4
a) Identität von verfassungsmäßiger Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG) und
einschlägiger Rechtsprechung des Verfassungsgerichts?
Es ist zwar keineswegs sicher, ob das vor allem in Art. 93 GG sowie Art. 100 GG zum Ausdruck kommende “Monopol“ der verbindlichen Verfassungsauslegung (BVerfGE 19, 377
[392]; vgl. auch BVerfGE 138, 64 [90 f.] “alleinige Normverwerfungskompetenz“) durch
das Bundesverfassungsgericht darüber hinaus dazu führt, dass die in Art. 20 Abs. 3 GG
bestimmte Bindung - nicht nur, wie mit Gewissheit anzunehmen ist, faktisch , sondern zwingend verfassungsrechtlich - sich erstreckt auf die “verfassungsmäßige Ordnung
in der Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht“ (nachfolgend A.III.1.c)bb) (vgl.
S. 46) , A.III.4.b)cc) (vgl. S. 79) und E.I.3.b)bb) (vgl. S. 485) ), aber - vorbehaltlich einer
Absicht des Verfassungsorgans Gesetzgeber (vgl. BVerfGE 97, 117 [122] “Autorität des
konstitutionellen Gesetzgebers“), welcher aber gleichwohl durch sein “Handeln“ die Verfassung verletzen kann (BVerfGE 6, 257 [264]), einen Konflikt mit dem Verfassungsorgan
Bundesverfassungsgericht zu suchen - ist es für den Gesetzgeber immer zumindest nützlich , vorhandene Verfassungsauslegung in der Rechtsprechung zu sichten und darauf zu
untersuchen, ob sie einem Gesetzesvorhaben (teilweise oder zur Gänze) “im Wege steht“,
bzw. zu ermitteln, wie das Vorhaben - womöglich auch in Anlehnung an überzeugende
abweichende Meinungen (wie etwa BVerfGE 93, 121 [149 ff.]) - in einen Einklang mit
der Verfassung gebracht werden kann.
b) Bundesverfassungsgericht und (verfassungsändernder) Gesetzgeber
Diese “Nützlichkeitserwägungen“ (das “Auf der sicheren Seite-Stehen“) können sogar den
verfassungsändernden Gesetzgeber welcher (vorbehaltlich Art. 79 Abs. 3 GG; hierzu
im Einzelnen nachfolgend D.I.) das Bundesverfassungsgericht regelmäßig durch neues
Verfassungsrecht “übertrumpfen“ kann, betreffen, wie unmittelbar nachfolgend zu zeigen
ist.
aa) “Bindung“ des Bundesverfassungsgerichts durch den verfassungsändernden Gesetzgeber
Hierdurch darf allerdings nicht der Regelfall aus dem Blick verloren werden, dass der
verfassungsändernde Gesetzgeber (sogar) auch in der Gestaltung und Veränderung von
Grundrechten - vorbehaltlich Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 1 GG bzw. Art. 19 Abs.
2 GG - rechtlich (vergleichsweise) frei ist und (auch) dem Bundesverfassungsgericht den
Maßstab vorgibt (BVerfGE 94, 49 [102 ff.]).
bb) (Misslungene) Verfassungsänderungen und (misslungene) Nachzeichnungsversuche durch den einfachen Gesetzgeber (Beispielfall “Europäischer Haftbefehl“)
Oft bleibt auch (sogar) dem verfassungsändernden Gesetzgeber nichts anderes übrig,
als sich an Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu orientieren, die vor der
beabsichtigten Verfassungsänderung ergangen ist; unterlässt er dies, so kann die Folge
sein, dass schon die Veränderung “misslingt“, und dann ist die nahezu zwangsläufige
Folge meist, dass der einfache Gesetzgeber ein ungenügendes Gesetz erzeugt, wie sich am
Fall BVerfGE 113, 273 (Umsetzungsgesetz zum Rahmenbeschluss über den Europäischen
Haftbefehl; vgl. insoweit auch BVerfGE 140, 137: gegen die Menschenwürde verstoßende
Auslieferung nach Italien) nachvollziehen lässt:
Brunn - Kapitel A.I.2.
Seite 5
Über ein halbes Jahrhundert hinweg hatte, was das Thema Auslieferung von Deutschen
angeht, Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG, wonach kein Deutscher an das Ausland ausgeliefert werden darf, die Praxis gesteuert. Man wird dieses Recht in seiner ursprünglichen
Form als ein vorbehaltloses Deutschen-Grundrecht qualifizieren dürfen, auch wenn das
Bundesverfassungsgericht - soweit ersichtlich - sich nicht so geäußert hat.
(1) Die bereits bei der Verfassungsänderung (2000) sich aufdrängenden Fragen
Seit dem Jahr 2000 sieht Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG vor, dass durch Gesetz abweichende Regelungen für Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder
an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden können, soweit rechtsstaatliche
Grundsätze gewahrt sind.
Bekanntlich ist der erste Versuch des einfachen Gesetzgebers misslungen, die sich aufdrängenden Fragen zu beantworten, ob
• ein (überwiegender) Auslandsbezug der vorgeworfenen Tat, die die Auslieferung
rechtfertigen soll, zur Voraussetzung zu erheben ist,
• die Auslieferung (ausnahmslos) nur zulässig ist, wenn die vorgeworfene Tat, ihre
Erwiesenheit unterstellt, auch eine Verurteilung in der Bundesrepublik Deutschland
ermöglichen würde (oder ob umgekehrt eine Auslieferung nur möglich ist, wenn die
Bundesrepublik Deutschland an der Durchführung eines eigenen Strafverfahrens
wegen der vorgeworfenen Tat gehindert wäre),
• durch Behörden und/oder Gerichte geprüft werden kann/soll/ muss, ob der Tatverdacht nach den Auslieferungsunterlagen (nur) schlüssig oder (wenigstens) erheblich
ist und schließlich
• durch Behörden und/oder Gerichte überprüft werden kann/soll/muss, ob das im
ersuchenden Staat anzuwendende Verfahrens- und materielle Strafrecht abstrakt
und/oder konkret nur den traditionellen Mindeststandard für gewöhnliche Auslieferungen erreicht oder in einer Weise übersteigt, dass er im Wesentlichen dem
Grundrechtsschutz entspricht.
Mit größter Sicherheit hätte der Bundesgesetzgeber diese Fragen besser beantworten
können, wenn bereits der verfassungsändernde Gesetzgeber sie ausdrücklich oder zumindest deutlich entnehmbar beantwortet hätte; indessen erschöpfen sich die Materialien zur
Verfassungsänderung in den Aussagen, dass Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG dem rechtsstaatlichen Standard in den Staaten der Europäischen Union Rechnung trage und auch die
Überstellung Deutscher an einen internationalen Gerichtshof nur zulässig sei, “wenn die
Sicherung rechtsstaatlicher Gebote und insbesondere ein im Wesentlichen vergleichbarer
Grundrechtsschutz gewährleistet sind“.
(2) Beachtlichkeit tradierter Rechtsprechung
Hätte der verfassungsändernde Gesetzgeber die vor der Verfassungsänderung ergangene
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 4, 299 [304 ff.], BVerfGE 8, 81
[84 ff.], BVerfGE 10, 136 [139 f.] sowie BVerfGE 29, 183 [188 ff.]) berücksichtigt, so hätte
er zumindest seiner Begründung die folgenden maßgeblichen Aussagen zugrunde legen
können:
Brunn - Kapitel A.I.2.
Seite 6
(2a) Zweck des Auslieferungsverbots
Das Auslieferungsverbot Deutscher beruht “seinem Grundgedanken nach“ auf dem Recht
jedes Staatsbürgers, sich in seinem Heimatland aufhalten zu dürfen, und auf der Verpflichtung dieses Staates, seine im Staatsgebiet lebenden Bürger in jeder Weise zu schützen.
Dazu gehört insbesondere, dass er sie davor bewahrt, zwangsweise in fremde Hoheitsgewalt verbracht und dort vor Gericht gestellt zu werden, und insbesondere soll er - soweit
er im Staatsgebiet lebt - “vor den Unsicherheiten einer Aburteilung unter einem ihm
fremden Rechtssystem und in für ihn schwer durchschaubaren fremden Verhältnissen“
bewahrt werden.
(2b) Staatliches Interesse an internationaler Zusammenarbeit bei der Verbrechensbekämpfung
Demgegenüber beruht das Bedürfnis nach einer Auslieferung zur Strafverfolgung oder
Strafvollstreckung auf der Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit der Staaten bei der Bekämpfung des Verbrechens, die den einzelnen Staaten Anlass geben muss,
im Ausland begangene Verbrechen entweder selbst zu verfolgen oder den Täter zur
Strafverfolgung an die Gerichte des Tatortes auszuliefern.
Diesem Bedürfnis darf im Hinblick auf die Auslieferung Deutscher nur dann genügt
werden, wenn sie wirksam davor geschützt sind, an Gerichte überstellt zu werden, die
zur Wahrung der rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes nicht verpflichtet
sind und deren Entscheidungen der Nachprüfung durch die Verfassungsgerichtsbarkeit
der Bundesrepublik Deutschland nicht unterliegen.
Womöglich war - vor diesem “gesicherten“ Hintergrund - von den vorbezeichneten Fragen
sowohl vom verfassungsändernden als auch vom einfachen Gesetzgeber lediglich noch
die Frage zu beantworten, wie es sich mit Taten verhält, deren Folgen im Ausland
eingetreten sind (Erfolgsort i.S.v. § 9 StGB), aber vom Inland aus durch Deutsche
ausgelöst worden sind:
(2c)
Grenze des Auslieferungsverbots (“gerechte“ Bestrafung im Ausland)
Denn das Auslieferungsverbot gibt nichts her für einen Anspruch der Bundesrepublik
Deutschland, für Straftaten Deutscher im Ausland ausschließlich die deutsche Staatsgewalt auszuüben, und das Verbot der Auslieferung Deutscher hat auch nicht den Zweck,
sie einer gerechten Bestrafung im Ausland zu entziehen (BVerfGE 29, 183 [193]).
cc) “Gelungene“ Verfassungsänderung (und einigermaßen gelungene verfassungsausfüllende Gesetze)
“Vorbildlicher“ hat sich der verfassungsändernde Gesetzgeber nach den Gründen der
Entscheidung BVerfGE 109, 279 (309 ff.) hingegen bei der Einführung des Art. 13 Abs. 3
GG (akustische Wohnraumüberwachung) verhalten, indem er nicht nur ein - weil Art. 79
Abs. 3 GG (Menschenwürde) nicht verletzendes - verfassungsentsprechendes grundrechtseinschränkendes Gesetz erlassen hat (was überwiegend auf die Beachtung vorliegender
Rechtsprechung zurückzuführen ist), sondern auch zugleich darin dem einfachen Gesetzgeber präzise Vorgaben gemacht hat, und dementsprechend der einfache Gesetzgeber
“nur“ zum Teil das Ziel verfehlt hat, verfassungsgemäße grundrechtsausfüllende bzw.
grundrechtsbeschränkende Bestimmungen zu erlassen.
Brunn - Kapitel A.I.3.
Seite 7
In diesem Zusammenhang hat es sich (erneut) erwiesen, wie entscheidend es bisweilen
sein kann, dass das grundrechtsändernde Gesetz sorgfältig begründet wird, sei es in den
Materialien, sei es im Parlament (a.a.O. [315 f.]).
3. Gefahren und Hauptschwierigkeiten des Vorhabens
Der naive Kompilator glaubte, mit ca. 200 Seiten auszukommen, weil er vor allem die
Fülle der verfassungsrechtlichen Probleme und der hierzu ergangenen Rechtsprechung
weit unterschätzte.
a) Gefahren
Die Gefahren einer solchen Zusammenstellung liegen deshalb zum einen darin, dass
- angesichts von inzwischen Tausenden von Senatsentscheidungen in über 60 Jahren keine Vollständigkeit möglich ist, und zum anderen darin, dass der Zusammenstellende (“Kompilator“) etwas völlig übersehen bzw. missverstanden hat oder sich ungenau
bzw. missverständlich ausdrückt; es kann daher nur geraten werden, die angegebenen
Fundstellen kritisch selbst zu lesen und die Kompilation auf “Lücken“ zu überprüfen.
Damit hängt zusammen die Warnung vor “Fehlzitaten“, die der größte Feind eines Kompilators sind; ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass die Aussagen des Verfassungsgerichts
(“als solche“) einigermaßen zuverlässig zusammengetragen sind, aber bei vielfältigen Korrekturen, Umstellungen und Neudiktaten können durch “Zahlendreher“ Fehlzitate auftreten, die ich (zum einen) zu entschuldigen und (zum anderen) mir anzuzeigen bitte.
b) Schwierigkeiten (Fortentwicklung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe
für die Rechtsmaterien)
[1] Die Hauptschwierigkeit einer solchen Zusammenstellung liegt darin begründet, dass
sich für die einzelnen Hauptmaterien (Zivil-, Straf- und öffentliches Recht, insbesondere
Sozial- und Steuerrecht) durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung unterschiedlich viele verschiedene (allerdings teils miteinander verschränkte), für den Gesetzgeber
gleich- oder nachrangig zu beachtende verfassungsrechtliche Prüfmaßstäbe ergeben haben
(nachfolgend aa) und bb)).
[2] Hinzu kommt überdies, dass das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit (wohl in
der Tendenz anders als in den ersten Jahren und Jahrzehnten seiner Tätigkeit) dazu
übergegangen ist, seine Entscheidungsgründe länger und ausführlicher (mit einer Fülle von Eigen- und Fremdzitaten) zu fassen und bisweilen auch auf sog. “obiter dicta“
zu erstrecken. Dies erschwert (für Gesetzgeber, Rechtsanwender, Kommentatoren und
Kompilatoren) die unbedingt notwendige Erkenntnis dessen, welche die tragenden Entscheidungsgründe sind (und welche nicht); oft sind sie (nicht nur im sog. “Maßstabsteil“,
sondern) auch in der sog. “Subsumtion“ (der Anwendung der entwickelten Maßstäbe
auf den konkreten Fall) enthalten (und können deswegen leicht übersehen werden); man
könnte davon sprechen, dass das Verfassungsgericht das für den Gesetzgeber geltende
Gebot der Einfachheit von Gesetzen (BVerfGE 99, 280 [290]) selbst - im Hinblick auf
seine (tragenden) Entscheidungsgründe - bisweilen nicht beherzigt.
Damit soll hier aber nur verdeutlicht werden, dass das Kompilieren schwieriger
geworden ist, weshalb Fehlgriffe des Kompilators noch wahrscheinlicher geworden sind.
Brunn - Kapitel A.I.4.
Seite 8
aa) Zivil- und öffentliches Recht
Während für das Zivilrecht regelmäßig “nur“ die Kompetenznorm, (selten die Menschenwürde,) einzelne Grundrechte (insbesondere Art. 2 Abs. 1 GG, der Gleichheitsgrundsatz
des Art. 3 GG und Art. 6 GG), Art. 103 Abs. 1 GG sowie die Regeln des “Justizgewährungsanspruchs“ zu beachten sind, kennt das öffentliche Recht darüber hinaus “eigene“
Maßstäbe (wie vor allem Art. 19 Abs. 4 GG, mannigfaltige Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sowie - für das Sozialrecht - den Sozialstaatsgrundsatz u.U. in Verbindung
mit der Menschenwürde und - vor allem für das Steuerrecht - spezifische Regeln des Rückwirkungsverbots bzw. der Vertrauenstatbestände sowie des Gleichheitsgrundsatzes).
Einen “Höhepunkt“ an Schwierigkeiten (für Gesetzgeber, Rechtsanwender und Kommentatoren/Kompilatoren) stellt die aus dem Jahre 2016 stammende Entscheidung BVerfGE
141, 220 dar, betreffend vor allem heimliche Überwachungsmaßnahmen (zum Zweck vor
allem der Straftatenverhütung und -verfolgung), welche tief in der Privatsphäre (bis hinein in den Menschenwürdekern) eingreifen.
Sie unternimmt es, die bisherigen Erkenntnisse zu “bündeln“, welche vom Bundesverfassungsgericht vor allem im Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 2 Abs. 1 GG
(Persönlichkeitsrecht und Datenschutz), Art. 10 GG (Telekommunikationsüberwachung)
und Art. 13 GG (Wohnraumüberwachung) gewonnen worden sind; auffällig ist dabei
auch die Betonung des Rechtsstaatsprinzips (Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren
Sinne) und des Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver - sowohl vorheriger als auch insbesondere nachfolgender - Rechtsschutz), was für die Gesetzgeber eine Fülle von (schwierig
zu bewältigenden) Gesetzgebungsaufgaben hervorruft, welche nicht mit dem Argument
“abgetan“ werden dürfen, “Karlsruhe“ habe es doch so nicht meinen können.
bb) Straf- und Strafverfahrensrecht
Nahezu unübersehbar haben sich die verfassungsrechtlichen Maßstäbe im Straf- und
Strafverfahrensrecht fortentwickelt. Über bisher genannte zwingende Prüfungsmaßstäbe (insbesondere die Menschenwürde und Art. 2 Abs. 1 GG) hinaus wurden durch die
Rechtsprechung vor allem in den letzten Jahren die Bezüge zur Menschenrechtskonvention (EMRK und deren Auslegung durch den EGMR) hergestellt bzw. präzisiert und Art.
103 (Abs. 2 und Abs. 3) GG sowie Art. 104 GG (i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG) deutlicher
konkretisiert; schließlich hat sich für das Strafverfahren ein schwer zu überblickender
Komplex des fairen, rechtsstaatlichen Strafverfahrens entwickelt (manche einschlägige
Entscheidung liest sich geradezu wie ein Handbuch des verfassungsrechtlichen Straf- und
Strafverfahrensrechts), was keineswegs zu kritisieren ist, aber dazu führt, dass in der
Darstellung hier Redundanzen nahezu unvermeidlich sind.
4. Dank für die Grundlagen der Darstellung (BVerfGE 1 bis BVerfGE 141)
Dank ist zunächst denjenigen (bereits verstorbenen und noch lebenden) Mitarbeitern
des Bundesverfassungsgerichts geschuldet, welche für die Registerbände der (hier nahezu ausschließlich verwerteten) Bände 1 bis 141 der amtlichen Entscheidungssammlung
BVerfGE verantwortlich waren; ohne sie und die Sammlung “Nachschlagewerk der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts“ (NBVerfG) wäre der Versuch von vornherein
zum Scheitern verurteilt, aus dem riesigen “Ozean“ an bedeutenden Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts und deren entscheidungstragenden Aussagen die geeigneten
auszuwählen, die über Art. 94 Abs. 1 GG zumindest “Gesetzeskraft“ haben.
Brunn - Kapitel A.II.0.
Seite 9
Dank gilt auch den Mitarbeitern der Bibliothek des Bundesministeriums der Justiz und
Frau MinR Schade für deren Unterstützung meines Vorhabens.
Ein ganz besonderer Dank gebührt dem Richterkollegen Jochen Gielau ([email protected]),
der es unternommen hat, mein Manuskript in die Form zu bringen, die es ermöglicht,
es in das Internet zu “stellen“; sollte ein Verlag (trotz des Gesamtumfangs von ca. 800
Seiten) an einer Veröffentlichung in Buchform interessiert sein, könnte das ursprüngliche
Manuskript (ergänzt um Randnummern und ein Stichwortverzeichnis) auch hierfür ohne
Probleme “wiederverwendet“ werden.
Ohne Frau Brigitte Ganze (brigitte [email protected]), Berlin, und ihre Sorgfalt und
Geduld beim Schreiben und Korrigieren meiner Diktate hätte ich längst aufgegeben; ein
ganz herzlicher Dank gebührt ihr.
Gewidmet ist die Zusammenstellung Kurt Tucholsky, Georg Elser und Edward Snowden.
In memoriam Julius Brunn (1911-1975) und Janusz Brunn (1986-2007).
II. Aufgaben sowie Grundlagen und taugliche Mittel der Gesetzgebung bei
der Erzeugung neuen Bundesrechts (Einführung in allgemeine sowie
verfassungsbedingte Gesetzgebungsregeln)
1.
Die vom Bundestag wahrzunehmenden Aufgaben der Gesetzgebung
(Schaffung “wirksamer“ Gesetze) . . . . . . . . . . . . .
a)
Zweck der Gesetzgebung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
13
b)
Parlament als Aufgabenträger
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
13
c)
.
12
aa) Geschäftsordnung als Ausdruck der Geschäftsordnungsautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
bb) Normsetzung durch den Bundestag . . . . . . . . . . . . . .
14
(1) Demokratische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . .
14
(2) Regierungsvorlagen als heutige Realität . . . . . . . . . .
14
(3) Außerhalb der Normsetzung angesiedelte Parlamentsvorbehalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
14
Missbrauch der sowie Verpflichtung zur Gesetzgebung als Ausnahmen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
aa) “Missbräuchliche“ Gesetzgebung
. . . . . . . . . . . . . . .
15
(1) “Umsetzung“ der Geschäftsordnung durch Gesetz . . . .
15
(2) “Verdrängung“ der Exekutive aus ihren typischen Verantwortungsbereichen durch Gesetz . . . . . . . . . . . . . .
15
bb) Konkreter Verfassungsauftrag sowie Auswirkungen tatsächlicher Veränderungen auf gesetzgeberische Pflichten
(Schutzpflichten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
cc) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als “Verfassungsaufträge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
Brunn - Kapitel A.II.0.
2.
Rechtsetzung (Erzeugung und/oder Veränderung des Rechts) vermittels
an Sachverhalten anknüpfenden Rechtsfolgen-Bewirkungen . . . .
a) Mittel der (an Sachverhalten anknüpfenden) RechtsfolgenBewirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Statische und dynamische Verweisungen . . . . . . . . .
c)
3.
Seite 10
16
16
18
aa) Verweisungsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
bb) Regelfall der statischen Verweisung . . . . . . . . . . . . . .
18
cc) Dynamische Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Beispiele außergewöhnlicher Rechtsfolgen-Bewirkungen . . . .
18
18
aa) Art. 134 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
bb) Art. 16 a GG (Verfassungs- und einfach-rechtliche Feststellungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht) . . . . . . . . .
19
cc) Ungewöhnliche Verweisungen in der Verfassung . . . . . . .
Tatsachen- und Rechtsfragen bei der Zuordnung von Normen sowie deren
Rechtsfolgenbewirkungen auf die Zeit- und Sachebenen . . . . . .
a) Die tatsächlichen Grundlagen der neuen Regelung
. . . . .
20
21
aa) Verpflichtung zur Ausschöpfung aller zugänglichen (und “verlässlichen“) tatsächlichen Grundlagen . . . . . . . . . . . . .
21
bb) Die - zu ermittelnden und zu begründenden - tatsächlichen
Grundlagen von Prognose-Gesetzen . . . . . . . . . . . . . .
21
(1) Befugnisse des Gesetzgebers und Einschätzungsprärogative
(“Prognosespielraum“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
(1a)
(1b)
20
Differenzierte (Prognose-)Maßstäbe je nach dem
Gewicht der Schutzgüter . . . . . . . . . . . .
22
Ausreichende und unzureichende Begründungen
22
(2) Strenge Überprüfung der tatsächlichen Grundlagen
. . .
23
(3) Beobachtungspflicht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . .
23
cc) Normative Bewältigung von in der Praxis auftretenden typischen und atypischen Tatsachenermittlungs-Problemen in Vergangenheit und Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
(1) Hauptfälle schwieriger Sachverhaltsermittlung . . . . . .
23
(2) Gesetzliche Vorgaben für die Bewältigung tatsächlicher Ungewissheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
24
(3) Beispiele für sinnvolle (hilfreiche) Regelungen von vergangenheitsbezogenen tatsächlichen Ungewissheiten (insbesondere: Darlegungs- und Beweislasten) . . . . . . . . . . . .
24
dd) (Normative) Bewältigung von Tatsachenfragen auf der Zukunftsebene in der Rechtsanwendung . . . . . . . . . . . . .
25
(1) Normierung von behördlichen und gerichtlichen Prognoseentscheidungen sowie deren Korrektur . . . . . . . . . .
25
Brunn - Kapitel A.II.0.
(1a)
(1b)
b)
Seite 11
Prognosegrundlage, Prognoseerwartung und
entsprechende Kausalverknüpfungen als Kennzeichen einer Prognoseentscheidung . . . . . .
25
Hauptanwendungsfelder für schwierige Prognoseentscheidungen (und deren spätere “Korrektur“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
(2) Maßstäbe für die Gesetzesanwendung durch die Praxis .
Rechtliche Probleme bei der normativen Rechtsfolgenbewirkung (insbesondere auf der Ebene der Vergangenheit) . . . . . . .
26
aa) Die notwendige Unterscheidung zwischen “abgewickelten“ und
noch offenen Verhältnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
bb) Die notwendige Unterscheidung zwischen wirklicher und nur
scheinbarer “(Noch-)Nicht-Regelung“ . . . . . . . . . . . . .
27
(1) “Wirkliche“ Nicht-Regelung
. . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Gefahren einer nur scheinbaren Nicht-Regelung
c)
d)
e)
. . . . .
26
27
27
(3) Die “Überregelung“ durch unzulässige Normenwahl . . .
Pflicht zur Vermeidung paralleler Rechtsregime ohne zwingenden
Grund (Pflicht zur Einfügung von neuen Regelungen in bestehende
Kodifikationen) . . . . . . . . . . . . . . . . .
Begründungspflichten im Recht (Funktionen von Begründungen)
28
28
28
aa) “Selbstvergewisserung“ des Entscheiders als Funktion einer Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
(1) Der Einfluss “tragfähiger“ Begründungen . . . . . . . . .
29
(2) Unzulässige “nicht nachvollziehbare“ Schätzungen . . . .
29
bb) Überprüfungsmöglichkeit einer Entscheidung als Begründungsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
(1) Insbesondere: Begründungspflichten bei Anspruchsversagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
(2) Der Einfluss gelungener Begründungen auf gerichtliche Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der gesetzgeberische Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum .
30
30
aa) Regelfälle von Spielräumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30
(1) Neuregelungen von komplexen Sachverhalten bzw. von umfassenden Materien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
(2) Typisierungen und Grundrechtsausgleich namentlich im Zivilrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
bb) Verfassungsrechtliche Bindungen insbesondere im Grundrechtsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
31
cc) Insbesondere: Enger Spielraum in den Zusammenhängen des
Art. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
dd) Spielräume des Gesetzgebers und spätere Korrekturmöglichkeiten und -verpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
Brunn - Kapitel A.II.1.
(1) Veränderte (tatsächliche) Umstände . . . . . . . . . . . .
32
(2) Ungenügende Schutzpflicht-Maßnahmen . . . . . . . . .
Ausblick: “Maßstäbe - bzw. Grundsätze - Gesetze“ . . . . .
32
32
aa) Vorzüge aus Sicht des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . .
33
bb) Vorzüge aus Sicht der Rechtsanwender . . . . . . . . . . . .
Das “gelungene“ (reibungslos angewendete) Gesetz als Ideal . . . .
33
34
f)
4.
Seite 12
Ausgangsthesen:
Gesetzgebung schafft (sollte schaffen) die Voraussetzungen dafür, dass für jeden beliebigen Sachverhalt (Tatbestand) - sowohl auf der Zeit - als auch auf der Sachebene herausfindbar ist, (ob er überhaupt und ggf.) von welchem “Rechtsregime“ er tatbestandlich erfasst wird mit der Folge, dass von den Rechtsunterworfenen bzw. Rechtsanwendern
(mehr oder weniger eindeutig) bestimmbar ist, welche Rechtsfolgen entweder zwingend
(ius cogens; BVerfGE 112, 1 [27 f.] für Art. 25 GG) oder abdingbar (ius dispositivum)
eingetreten oder zu bewirken sind.
In scharfem Gegensatz zu der in der NS-Zeit üblichen Form des Regierungsgesetzes
(“Der Führer schafft das Recht“) ist - erstens - die Aufgabe der Gesetzgebung dem Bundestag vorbehalten und dienen - zweitens - die geschaffenen Gesetze nicht der “bloßen“
Machtausübung (auch durch Private), sondern vor allem der Befriedung (“Rechtsfrieden“).
Wenn die Gesetzgebung klare und befriedende (vgl. vor allem das rechtsstaatliche Gebot des Rechtsfriedens - B.III.1. (vgl. S. 123) - sowie die Friedlichkeitsvorbehalte in
Art. 8 Abs. 1 GG und Art. 9 Abs. 2 GG; vgl. auch BVerfGE 1, 351 [359] zur Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit: Entwicklung des Verfassungsrechts und Sicherung des
Rechtsfriedens für die Zukunft) Normen mit bestimmten (oder bestimmbaren) Rechtsfolgen für jeden (zunächst nur möglicherweise rechtsrelevanten) Sachverhalt(sausschnitt)
erzeugen soll, so bildet das Grundgesetz mit seiner Friedensordnung (selbstverständlich
nicht vorrangig oder gar ausschließlich) seit seinem Inkrafttreten (wohl mit Ablauf des
23. Mai 1949; BVerfGE 2, 237 [258] sowie BVerfGE 4, 331 [339]) einen - teils sehr präzisen (nachstehend C.II.), teils auslegungsbedürftigen (nachstehend A.III.2. (vgl. S. 47) ) Rahmen für diese Gesetzgebung mit der Folge, dass es ohne dessen zutreffendes Verständnis fast nicht ausbleiben kann, dass ein Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht
(als verfassungswidrig und damit oft nichtig) scheitert oder von den Rechtsunterworfenen
unzutreffend interpretiert werden kann (mit der Folge, dass Sachverhalte mit unzutreffenden Rechtsfolgen versehen werden).
1. Die vom Bundestag wahrzunehmenden Aufgaben der Gesetzgebung
(Schaffung “wirksamer“ Gesetze)
“Der Gesetzgeber (schuldet) von Verfassungs wegen grundsätzlich nur ein wirksames
Gesetz“ (BVerfGE 130, 263 [301]). So einleuchtend diese Aussage auch erscheinen mag,
so schwer fällt es zu bestimmen, was diese “geschuldete“ Wirksamkeit eines Gesetzes
ausmacht.
[1] Man wird insofern grob differenzieren dürfen zwischen - einerseits - “einfachrechtlichen“ Wirksamkeitskriterien, die meist auch ohne Berücksichtigung des Verfassungsrechts gelten (und “schon immer“ gegolten haben), und - andererseits verfassungsrechtlichen Vorgaben, wobei man letztere unterteilen kann in - erstens -
Brunn - Kapitel A.II.1.
Seite 13
formelle Anforderungen (BVerfGE 125, 260 [313] einerseits), wie die Einhaltung der
Regeln der Art. 76 ff. GG über den Gang eines Gesetzgebungsverfahrens sowie der Art.
70 ff. GG über die Kompetenzen des Gesetzgebers (nachfolgend C.), und - zweitens materielle Maßstäbe (a.a.O. [316] andererseits), denen ein Gesetz genügen muss, um
vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen zu können (nachfolgend D. E. und F.).
Wie sich aber bereits bei näherer Betrachtung der “einfachen“ Gesetzgebungsregeln
(nachfolgend 3. bis 4.) über beispielsweise die tatsächlichen Grundlagen der Gesetzgebung, der zu beachtenden Sach- und Zeitebenen für Gesetzgebung und die Beurteilungsund Entscheidungsspielräume des Gesetzgebers ergibt, überschneiden und überlagern sich
die Maßstäbe oft und letztlich kaum unterscheidbar.
[2] Eines der wichtigsten Verfassungsgebote im vorliegenden Zusammenhang dürfte
deswegen oft missachtet worden sein, weil es kaum in das Bewusstsein der Gesetzgeber
und Rechtsanwender gelangt ist: Gebot der Einfachheit einer Norm, welches aus dem
Rechtsstaatsgebot in der Form der Rechtssicherheit (nachfolgend B.III.2.b)cc) (vgl.
S. 126) ) abgeleitet worden ist (BVerfGE 99, 280 [290] freilich im Zusammenhang mit
zulässigen Typisierungen).
a) Zweck der Gesetzgebung
Parlamentarische Gesetzgebung soll im Rahmen der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung die grundlegenden und grundsätzlichen Entscheidungen des Lebens des
Gemeinwesens regeln (BVerfGE 45, 297 [331 f.]; grundlegend: BVerfGE 33, 125 [158
f.]; vgl. demgegenüber BVerfGE 1, 351 [359] sowie BVerfGE 6, 55 [72] zur Aufgabe der
Verfassungsrechtsprechung : Erschließung der verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm; Entfaltung der juristischen Wirkungskraft; vgl. auch BVerfGE 6, 222 [240]
“Fortbildung des Verfassungsrechts“).
Die Regelungskompetenz steht dem Bundestag zu:
b) Parlament als Aufgabenträger
Der Bundestag ist die Vertretung des Volkes, in der die Fragen der Staatsführung,
insbesondere der Gesetzgebung, in Rede und Gegenrede der einzelnen Abgeordneten zu
erörtern sind. Der Ausdruck “verhandeln“, der in Art. 42 GG verwendet ist, um die
Tätigkeit des Bundestages zu bezeichnen, hat diesen Sinn.
Dabei ist das Rederecht eng mit der Öffentlichkeitsfunktion des Parlaments verbunden.
Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente der parlamentarischen Demokratie. Das
im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender
Interessen und verbindet das rechtstechnische Gesetzgebungsverfahren mit einer substantiellen, auf die Kraft des Arguments gegründeten Willensbildung, die es den Abgeordneten ermöglicht, die Verantwortung für ihre Entscheidung zu übernehmen. Die Redefreiheit des Abgeordneten des Bundestages ist daher eine unverzichtbare Voraussetzung
für die Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgaben, die den Status als Abgeordneter
wesentlich mitbestimmt.
Brunn - Kapitel A.II.1.
Seite 14
aa) Geschäftsordnung als Ausdruck der Geschäftsordnungsautonomie
Die Aufstellung einer eigenen Geschäftsordnung ist für den Bundestag Ausdruck seiner
in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgten Geschäftsordnungsautonomie. Die Selbstorganisation des Bundestages ist zudem aus Gründen der organisatorischen Effektivität
notwendig, um der Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben gerecht werden zu können. Die Geschäftsordnung bestimmt die Bedingungen für die Wahrnehmung der Rechte
der Abgeordneten, die einander zugeordnet und aufeinander abgestimmt werden müssen,
so dass dem Parlament eine sachgerechte Erfüllung seiner Aufgaben - auch im Hinblick
auf Repräsentationsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit - ermöglicht wird (BVerfGE 136,
277 [312 f.]).
Auch im Übrigen ist die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens (etwa in Form von Anhörungen) Sache des Gesetzgebungsorgans Bundestag (BVerfGE 139, 148 [177 f.] freilich
für einen Landtag).
bb) Normsetzung durch den Bundestag
Im System des Grundgesetzes fällt dem Parlament als Legislative die verfassungsrechtliche Aufgabe der Normsetzung zu.
(1) Demokratische Legitimation
Nur das Parlament besitzt hierfür die demokratische Legitimation (BVerfGE 95, 1 [15
f.] sowie BVerfGE 139, 321 [362]; grundlegend: BVerfGE 34, 52 [59]. Deshalb trägt der
Gesetzgeber, der - wie dargelegt (A.I.1. (vgl. S. 2) ) - gemäß Art. 20 Abs. 3 (1. Alt) GG
“an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden (ist)“, darüber hinaus auch die politische
Verantwortung für alle Folgen seiner gesetzgeberischen Entscheidungen (BVerfGE 49, 89
[129 ff.]).
Daher macht auch die Tatsache, dass neben dem Parlament noch andere Organe am Gesetzgebungsverfahren beteiligt sind, sie nicht zu Mitträgern der Gesetzgebung (BVerfGE
4, 144 [152]).
(2) Regierungsvorlagen als heutige Realität
In der Realität wird freilich das Parlament weitaus häufiger mit Regierungs- und Bundesratsvorlagen konfrontiert, als dass es selbst initiativ wird. Das hängt wahrscheinlich
damit zusammen, dass das Parlament über keinen ausreichenden eigenen “Gesetzesvorbereitungsapparat“ verfügt.
Wohl auch damit hängt zusammen, dass sich die Regierungsfraktionen oft ihre Vorlagen
gewissermaßen durch die Bundesministerien - und deren Helfer - “schreiben lassen“, was
der Opposition nicht möglich ist, weil die Ministerien den Oppositionsfraktionen nicht
verpflichtet sind (und auch deshalb Oppositionsvorlagen so gut wie nie zu einem Gesetz
führen).
(3) Außerhalb der Normsetzung angesiedelte Parlamentsvorbehalte
Vom Bundesverfassungsgericht ist vornehmlich “aus dem Gesamtzusammenhang wehrverfassungsrechtlicher Vorschriften“ ein allgemeines Prinzip abgeleitet worden, wonach
jeder Einsatz bewaffneter Streitkräfte der Zustimmung des Bundestages bedarf (BVerfGE 140, 160 [187]). Insoweit kann es hier mit folgenden Leitsätzen - welche freilich
Brunn - Kapitel A.II.1.
Seite 15
nicht binden und bisweilen sogar den Gehalt eines Erkenntnisses ungenau bis unzutreffend wiedergeben - sein Bewenden haben (BVerfGE 140, 160):
[1] Der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt ist nicht auf Einsätze bewaffneter Streitkräfte innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit beschränkt,
sondern gilt allgemein für bewaffnete Einsätze deutscher Soldaten im Ausland und unabhängig davon, ob diese einen kriegerischen oder kriegsähnlichen Charakter haben.
[2] Bei Gefahr im Verzug ist die Bundesregierung ausnahmsweise berechtigt, den Einsatz bewaffneter Streitkräfte vorläufig allein zu beschließen. In diesem Fall muss sie das
Parlament umgehend mit dem fortdauernden Einsatz befassen und die Streitkräfte auf
Verlangen des Bundestages zurückrufen.
[3] Die Voraussetzungen dieser Eilentscheidungsbefugnis der Bundesregierung sind verfassungsgerichtlich voll überprüfbar.
[4] Ist ein von der Bundesregierung bei Gefahr im Verzug beschlossener Einsatz zum
frühestmöglichen Zeitpunkt einer nachträglichen Parlamentsbefassung bereits beendet
und eine rechtserhebliche parlamentarische Einflussnahme auf die konkrete Verwendung
der Streitkräfte deshalb nicht mehr möglich, verpflichtet der wehrverfassungsrechtliche
Parlamentsvorbehalt die Bundesregierung nicht, eine Entscheidung des Deutschen Bundestages über den Einsatz herbeizuführen. Die Bundesregierung muss den Bundestag
jedoch unverzüglich und qualifiziert über den Einsatz unterrichten.
c) Missbrauch der sowie Verpflichtung zur Gesetzgebung als Ausnahmen
Während der Vorwurf der missbräuchlichen Gesetzgebung zu den ganz selten erhobenen
(und bejahten) zu rechnen ist, kommt der Vorwurf der verfassungswidrigen Unterlassung
- zumindest seit der “Erfindung“ der Schutzpflicht - häufiger vor.
aa) “Missbräuchliche“ Gesetzgebung
Auf der einen Seite dürfte ein Missbrauch gesetzgeberischer Befugnisse selten sein, der
darin bestehen kann, dass die gesetzliche Regelung gänzlich überflüssig ist.
(1) “Umsetzung“ der Geschäftsordnung durch Gesetz
Ein solcher Missbrauch ließe sich nur dann feststellen, wenn sich für eine gesetzliche
Regelung kein sachlicher Grund finden ließe (BVerfGE 13, 230 [234 f.]), woran freilich
im Falle BVerfGE 70, 324 - mit den Gründen der abweichenden Meinungen BVerfGE 70,
324 [366, 376 ff.) sowie BVerfGE 70, 324 [380, 386 ff.) - zu denken war.
(2) “Verdrängung“ der Exekutive aus ihren typischen Verantwortungsbereichen durch
Gesetz
Der Vorwurf des Missbrauchs lässt sich womöglich auch erheben, wenn sich der Gesetzgeber die Wahrnehmung von Aufgaben (durch Gesetz) vorbehält, die nach dem Gewaltenteilungsgrundsatz der Verwaltung vorbehalten sind, etwa indem sich ein Landesgesetzgeber die Prüfung von Verleihungsvoraussetzungen eines verfassungsrechtlichen Anspruchs
(etwa eines Körperschaftsstatus) zur Aufgabe setzt:
Brunn - Kapitel A.II.2.
Seite 16
Die der Verleihung vorausliegende Prüfung kann nämlich regelmäßig nur entweder im
bejahenden oder im verneinenden Sinn erfolgen. Ein Entscheidungs- und Wertungsspielraum, der sich sonst regelmäßig aus der allgemeinen politischen Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers ableiten lässt, ist bei einer derart funktionalen Verwaltungstätigkeit nicht
gegeben. Es handelt sich insoweit nicht um eine gestaltende Tätigkeit, bei der der Gesetzgeber zwischen möglichen Alternativen (bei der Konkretisierung eines Grundrechts)
wählen könnte.
Bei einer solchen Prüfung der Verleihensvoraussetzungen handelt es sich mithin regelmäßig um eine hoheitliche Tätigkeit, die in den typischen Verantwortungsbereich der
Exekutive fällt, und damit funktional um Verwaltungshandeln. Mit dem formellen Gesetz, durch das der Körperschaftsstatus verliehen wird, wird materiell ein Verwaltungsakt
ersetzt (BVerfGE 139, 321 [367]).
bb) Konkreter Verfassungsauftrag sowie Auswirkungen tatsächlicher Veränderungen
auf gesetzgeberische Pflichten (Schutzpflichten)
In Betracht zu ziehen ist auf der anderen Seite ein Verfassungsauftrag zur konkreten Gesetzgebung vor allem im grundrechtsrelevanten Bereich (vgl. BVerfGE 53, 30 [57
f.]), insbesondere im Zusammenhang mit grundrechtlichen Schutzpflichten (vgl. BVerfGE
88, 203 [309 ff.]; dort [310] auch zu einer Verletzung des “Untermaßverbots“; vgl. noch
nachfolgend C.I.2. (vgl. S. 151) ).
Ein ausdrücklicher Gesetzgebungsauftrag der Verfassung liegt vor, wenn Inhalt und
Umfang der Pflicht im Wesentlichen umgrenzt sind (BVerfGE 139, 321 [346]).
Weil eine - zunächst unbedenkliche - Norm (etwa des Wahlrechts) infolge einer Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse verfassungswidrig werden kann, kann der Gesetzgeber zum Handeln verpflichtet sein, wenn die gewandelte Sachlage für ihn hinreichend
deutlich hervortritt (BVerfGE 88, 203 [309 ff.] sowie BVerfGE 95, 335 [405]; vgl. auch
BVerfGE 131, 316 [372 f.] sowie BVerfGE 135, 259 [287 f.]).
cc) Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts als “Verfassungsaufträge“
Oft ergibt sich eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Tätigkeit aus Entscheidungen des
Bundesverfassungsgerichts zu nichtigen oder mit der Verfassung unvereinbaren Bundesgesetzen (ausführlich nachfolgend A.III.4. (vgl. S. 62) ).
2. Rechtsetzung (Erzeugung und/oder Veränderung des Rechts) vermittels
an Sachverhalten anknüpfenden Rechtsfolgen-Bewirkungen
Rechtsetzung allgemein kann entweder (völlig) neues Recht schaffen (Kapitel A.) oder
bereits geschaffenes Recht (ersatzlos) aufheben, ersetzen oder verändern (nachfolgend
Kapitel B.).
a) Mittel der (an Sachverhalten anknüpfenden) Rechtsfolgen-Bewirkungen
Für all diese Rechtsetzungs-Akte außer der reinen Aufhebung gilt, dass eine für den
Rechtsverkehr und das Rechtsleben maßgebliche (bloße “Programmsätze“ bleiben hier
unerörtert) Rechtsetzung es - mit Hilfe von generell-abstrakten, bisweilen auch mit Einzelfallgesetzen (insbesondere Planungsgesetzen, BVerfGE 95, 1) - unternimmt (wobei
Brunn - Kapitel A.II.2.
Seite 17
zulässig auch zu den Mitteln der Tatsachen- und Rechtsvermutungen gegriffen werden
kann; BVerfGE 138, 136 [204] für sogar “unwiderlegliche Gefährdungsvermutung“),
• anknüpfend an vergangene, gegenwärtige oder zukünftige tatsächliche Gegebenheiten (Sachverhalte, Tatbestandsmerkmale; BVerfGE 122, 210 [240 ff.] für typisierende bzw. generalisierende Tatbestände im Steuerrecht)
• Rechtsfolgen (Rechts- bzw. Rechte- sowie Pflichtenbegründungen, -veränderungen
und das Erlöschen von Rechten und Pflichten) bzw. Rechtschancenbegründungen
und -veränderungen (BVerfGE 137, 108 [153] für kontingentierte Zulassungen) entweder unmittelbar (kraft Gesetzes) oder mittelbar (über einen umsetzenden Einzelakt) zu bewirken (BVerfGE 75, 108 [157] für die Auswahl der Sachverhalte, an
die der Gesetzgeber gleiche Rechtsfolgen anknüpft), die
• entweder (erst) nach dem Inkrafttreten des Gesetzes (mit Wirkung für die Zukunft,
ex nunc) oder (bereits) mit Wirkung auf den Zeitraum vor dem InkrafttretensZeitpunkt (mit Wirkung für die Vergangenheit, ex tunc) eintreten sollen (BT-Dr.
16/47, S. 34).
Dabei ist für das hiernach gesetzte Recht und die hierdurch ausgelösten “Rechtsfolgelagen“ zu unterscheiden zwischen
• dem maßgeblichen (nämlich Rechtsfolgen anordnenden) materiellen Recht (zu dem
insoweit auch das Verfahrensrecht gehört),
• dem (nur) “maßstäblichen“ Gesetzesrecht (welches noch nicht unbedingt Rechtsfolgen enthalten muss, sondern diese womöglich nur in tatbestandlicher Hinsicht
vorbereitet, wie dies im Finanzausgleichsrecht der Fall sein kann, wo oft erst das
Finanzausgleichsgesetz die konkreten Folgerungen aus den Geboten der Verfassung
und eines “Maßstäbegesetzes“ bestimmt; BVerfGE 101, 158 [216 f.] “drei aufeinander aufbauende Rechtserkenntnisquellen“) und
• dem (hier nur am Rande zu behandelnden) gesetzestechnischen Hilfsrecht
(Änderungs-, Einfügungs- und Aufhebungsbefehle etc., Inkraft- und Außerkrafttretensbestimmungen), hinsichtlich dessen Befehlen man bildlich von “Geburtshelfern“
oder “Totengräbern“ sprechen kann.
Was die Mittel solcher Rechtsfolgenbewirkungen angeht, so unterscheidet die
Bundesrecht-Setzung zwischen
• (formeller und materieller) Gesetzgebung und Erlass von Rechtsverordnungen
(C.III.1. (vgl. S. 163)) bzw. der Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen sowie
zwischen
• eigenständiger und in Bezug nehmender (verweisender; nachstehend b) sowie c)cc))
Rechtsfolgen-Anordnung, wobei bei letzterer - auch sogar hinsichtlich der Folgen
einer verfassungsgerichtlichen Aufhebung der Bezugsnorm (BVerfGE 28, 163 [172];
vgl. auch BVerfGE 139, 285 [299 ff.] für anderen Regelungszusammenhang einer
Norm) infolge fehlender “Betroffenheit“ der Ausgangsnorm von den verfassungswidrigen Merkmalen - unterschieden werden kann zwischen
• Rechtsgrundverweisungen ( alle tatbestandlichen Merkmale einer Bezugsnorm
müssen vorliegen, damit deren Rechtsfolgen auch in den von der Ausgangsnorm
ins Auge gefassten Fällen eintreten; Beispiel: § 951 BGB, vgl. BGHZ 55, 176 [177]),
• (bloßen) Rechtsfolgenverweisungen (die Rechtsfolgen der Bezugsnorm sollen auch
und gerade dann eintreten, wenn deren Tatbestandsmerkmale nicht vorliegen; Beispiel: § 21 i.V.m. § 49 StGB) und schließlich der
Brunn - Kapitel A.II.2.
Seite 18
• vollständigen “Einverleibung“ einer anderen (Teil-) Rechtsordnung durch “in den
gesetzgeberischen Willen aufnehmenden“ Akt (BVerfGE 70, 126 [129 f.]; Beispiel:
Die als Besatzungsrecht erlassene Höfeordnung, die durch Gesetzgebungsakte Bundesrecht geworden ist).
b) Statische und dynamische Verweisungen
Der Bundesgesetzgeber ist befugt, im Wege der Verweisung (neuerdings BVerfGE 138,
64 [95] zu einer “missglückten“ - verfassungskonformen - Auslegung einer Verweisungsnorm; dort [95] auch zu “generellen“ Verweisungen, welche - im Gegensatz zu “partiellen“
Verweisungen - eine Ausnahme von den in Bezug genommenen Normen regelmäßig ausschließen; dort [98 f.] auch zur Heranziehung von Gesetzesmaterialien) auch auf fremdes,
nicht von ihm formuliertes und in Kraft gesetztes Recht eines anderen Kompetenzbereichs
bzw. Gesetzgebers Bezug zu nehmen (vgl. auch vorstehend a) zu denkbaren verfassungsrechtlichen Folgen und zu Rechtsgrund- und Rechtsfolgenverweisungen, und nachstehend
c)cc) zu Verweisungen in der Verfassung).
aa) Verweisungsfolgen
Die Folge eines solchen Vorgehens ist regelmäßig, dass der Inhalt der fremden Norm im
Anwendungsbereich der bundesrechtlichen Verweisungsnorm zu Bundesrecht wird und als
(partielles) Bundesrecht anzuwenden ist (BVerfGE 47, 285 [310]; grundlegend: BVerfGE
26, 338 [368]).
Ohne dass dies ausdrücklich in der Entscheidung BVerfGE 139, 321 verlautbart worden
wäre, ist ihr zu entnehmen, dass eine Inbezugnahme einer nicht-verfassungsrechtlichen
Norm durch die Verfassung (hier: Art. 140 GG) zur Folge hat, dass diese in den “Verfassungsrang“ aufsteigt.
bb) Regelfall der statischen Verweisung
Verweist der Bundesgesetzgeber auf fremdes Recht, so kann es insbesondere unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten geboten sein, diese Bezugnahme als “statische Verweisung“
in dem Sinne auszulegen, dass lediglich die bei Verabschiedung der Verweisungsnorm
geltende Fassung des in Bezug genommenen Rechts in Geltung gesetzt wird.
cc) Dynamische Verweisungen
Trotz gewichtiger Bedenken sind aber auch dynamische Verweisungen nicht schlechthin
ausgeschlossen. Dynamische Verweisungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Bundesgesetz auf die fremde Vorschrift in ihrem jeweiligen Bestand verweist (BVerfGE 47,
285 [311 ff.]; grundlegend: BVerfGE 26, 338 [365 ff.]).
c) Beispiele außergewöhnlicher Rechtsfolgen-Bewirkungen
Wenn der Grundgesetzgeber bzw. der verfassungsändernde Gesetzgeber “ungewöhnliche“
Wege beschritten hat, dürfte der “einfache“ Gesetzgeber kein erhebliches Risiko eingehen,
wenn er Ähnliches unternimmt.
Brunn - Kapitel A.II.2.
Seite 19
aa) Art. 134 Abs. 1 GG
In Art. 134 Abs. 1 GG kann eine Vorschrift gesehen werden, die in dreifacher Hinsicht
exemplarisch verdeutlicht, welche gewählten Formen von Normsetzung (zwar alltäglich
sind, aber doch auch) auf eigentümliche Weise Sachverhalte mit Rechtsfolgen versehen:
• Zum einen wirkt sie - ohne Umsetzungsnotwendigkeit - unmittelbar (“kraft
Verfassungs-Gesetzes“) auf die Sach- und Rechtsverhältnisse ein (BVerwGE 111,
188 [192]); das Wort “grundsätzlich“ bezieht sich auf die - durch Gesetz i.S.v. Art.
134 Abs. 4 GG zu regelnden - Ausnahmen in Art. 134 Abs. 2 und Abs. 3 GG.
• Zum anderen regelt sie (bislang) “ungeregelte“ bzw. “nicht mehr (vollständig) geregelte“ Sachverhalte, weil zwar bis zur Kapitulation im Jahre 1945 die entsprechenden Sach- und Rechtsverhältnisse eindeutig geregelt waren , aber durch Besatzungsrecht manches obsolet geworden war, insbesondere die Folgen der in der
NS-Zeit erfolgten “Verreichlichung“ (zu Lasten der früheren Bundes-Staaten) zumindest teilweise rückgängig gemacht werden sollten bzw. mussten.
• Schließlich zeigt sie (in der Form einer zulässigen Alternative, etwa einer konkreten
- mit Blick auf das Inkrafttreten des Grundgesetzes (1949) - künftigen Wirksamkeit [“... wird am 1.1.1955 ...“]) unproblematische und problematische Fälle von
“prognostischen Regelungen“ (nachstehend 3.b)bb)) auf:
Treten nach dem Willen einer Norm Rechtsfolgen erst zukünftig (nach der Inkraftsetzung in Fällen des unmittelbaren Eintritts der Rechtsfolgen bzw. nach einem
normausführenden Akt) ein, so ist später eindeutig auszumachen, ob dann alle
tatbestandlichen Voraussetzungen vorliegen, während bei der oft problematischen
Variante der prognostischen Regelung die Rechtsfolgen (etwa Verpflichtungen bzw.
Vergünstigungen - wie in Art. 4 Abs. 3 GG oder Art. 16a GG - von Rechtsunterworfenen) bereits unmittelbar nach (in Sonderfällen sogar vor ) dem Inkrafttreten der Norm eintreten (können), während zu dieser Zeit tatsächliche Elemente
der Normerfüllung (etwa der Eintritt von für wahrscheinlich gehaltenen Gefahren für bedrohte Rechtsgüter) schlechterdings nicht gewiss sein können (“echte“
Prognoseentscheidungen) . Diesen notwendigen Ungewissheiten muss das Recht
sachgerecht Rechnung tragen.
bb) Art. 16 a GG (Verfassungs- und einfach-rechtliche Feststellungen in tatsächlicher
und rechtlicher Hinsicht)
Mit Blick auf den Aspekt der Verknüpfung von - einerseits - tatsächlichen Erkenntnissen
(in Vergangenheit und Zukunft) und - andererseits - mit den angeordneten Rechtsfolgen noch außergewöhnlicher (freilich auch kritikwürdiger) erscheint die im Jahre 1993
geschaffene Fassung des Art. 16 a GG mit seinen Absätzen 1 bis 5, wobei der außerordentlich “schöne“ und lapidare Absatz 1 demjenigen Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG entspricht,
welcher bereits in der Urfassung des Grundgesetzes enthalten war (im Einzelnen E.XVI.):
• Zum einen gewährt Art. 16 a Abs. 1 GG ( insoweit ähnlich Art. 4 Abs. 3 GG) einen
unmittelbaren verfassungsrechtlichen Anspruch (subjektives öffentliches Recht), an
den Gesetzgeber, Verwaltungen und Gerichte gebunden sind (BVerfGE 56, 216
[235]), auch wenn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur derjenige in den “Genuß des Asylrechts“ kommt, dem es - auf Antrag - in einem
rechtlich geregelten Prüfverfahren zuerkannt wird (BVerfGE 94, 166 [199 f.],
wobei er Ausländern vornehmlich im Ausland (Herkunftsstaat) angetane oder drohende Rechtsverletzungen - die an bestimmte (unverfügbare) Merkmale anknüpfen
Brunn - Kapitel A.II.3.
Seite 20
- zum Anlass für die Anspruchszuerkennung nimmt und
es dabei grundsätzlich nicht von entscheidender Bedeutung ist, ob die Verletzungen
bereits vor der Flucht erfolgt waren bzw. dort unmittelbar drohten (BVerfGE 83,
216 [230]) oder dort für die Zukunft jedenfalls (ernsthaft) zu besorgen sind,
so dass der unverfolgt Ausgereiste (nach einer erzwungenen Rückkehr) erstmals
verfolgt erneut flüchten müsste (BVerfGE 74, 51 [65] sowie BVerfGE 80, 315
[344]).
• Zum anderen ermächtigen die Vorschriften in Art. 16 a Abs. 2 bis 4 GG (über sichere
Dritt- und Herkunftsstaaten) den Gesetzgeber - vergleichbar den in Art. 80 GG vorgesehenen Ermächtigungen von Rechtsverordnungsgebern durch den Gesetzgeber -,
andere Staaten hinsichtlich ihrer Rechtsordnung, Rechtspraxis und ihrer allgemeinen politischen Verhältnisse (verbindlich für Behörden und Gerichte) zu bewerten
(BVerfGE 94, 115 [133]),
wobei neben - kraft Verfassungs- bzw. Gesetzesrechts - verbindlichen “Sicherstellungen“ bestimmter Verhältnisse (Abs. 2; BVerfGE 94, 49 [87 ff.])
auch gesetzliche Bestimmungen vorgesehen sind, welche - aufgrund eines
“Gewährleistet-Erscheinens“ - zu einer (widerleglichen) gesetzlichen Vermutung
führen (Abs. 3; BVerfGE 94, 115 [143 ff.]).
• Schließlich räumt Art. 16 a Abs. 5 GG von vornherein denkbare (tatsächliche und
rechtliche) Bedenken aus, welche im Hinblick auf völkerrechtliche Verträge zwischen Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften und mit dritten Staaten
vorzubringen sein könnten, welche zur Verteilung von Flüchtlingen zukünftig abgeschlossen werden könnten (und auch zum Teil abgeschlossen worden sind; BVerfGE
94, 49 [86]).
cc) Ungewöhnliche Verweisungen in der Verfassung
Die Verfassung selbst enthält Verweisungen (BVerfGE 138, 64 [95 ff.] für Verweisungen
im Bundesrecht; vgl. auch vorstehend a) sowie b)), die hinsichtlich ihrer Zulässigkeit bzw.
ihrer Klar- und Bestimmtheit zunächst Befremden auslösen:
• In Artikel 140 GG wird auf - jedenfalls als Verfassungsnormen nicht mehr aktuelle
(BVerfGE 94, 12 [48] “einfaches Reichsgesetz ohne Verfassungsrang“) - Artikel der
Weimarer Reichsverfassung von 1919 verwiesen (vgl. nachfolgend E.IV.1. (vgl. S.
645) zu den Folgen); wie jedoch bereits in der Entscheidung BVerfGE 8, 274 (302 f.)
erkannt worden ist; können Normsetzer regelmäßig unbedenklich sogar auf bereits
nicht mehr in Kraft befindliche andere Normen (anderer Normsetzer) verweisen.
• Auch in Artikel 44 Abs. 2 Satz 1 GG wird in Form einer dynamischen Verweisung
(vorstehend b)) auf eine “unterverfassungsrechtliche“ Prozessordnung verwiesen,
was diese in den Zusammenhängen des Art. 44 GG (wohl) in den Verfassungsrang
erhebt und Bestimmtheitsfragen aufwirft (nachfolgend D.V.3.a)aa)(4) (vgl. S. 339)
).
3. Tatsachen- und Rechtsfragen bei der Zuordnung von Normen sowie deren
Rechtsfolgenbewirkungen auf die Zeit- und Sachebenen
Sieht man zunächst einmal davon ab, dass der Bundesgesetzgeber, gleichgültig, ob er eine
eigene Vorlage schaffen will oder sich mit einer Bundesrats- oder Regierungsvorlage zu
Brunn - Kapitel A.II.3.
Seite 21
beschäftigen hat, selbstverständlich als Allererstes die Kompetenzfragen (nachfolgend C.)
zu bedenken hat, so muss der zweite Blick darauf gerichtet sein, den Gesetzgebungsbedarf
sowie - bejahendenfalls - die denkbaren Mittel zur Deckung dieses Bedarfs zu ermitteln.
Dabei stehen - neben der Beantwortung der sehr wichtigen Frage, ob durch Verfassungs-,
Gemeinschafts- oder zwingendes Völkerrecht ein konkreter Gesetzgebungsauftrag erteilt
ist - zunächst die tatsächlichen Gegebenheiten (das tatsächliche Umfeld des Vorhabens)
im Vordergrund, zumal diese (und die hieraus gezogenen gesetzgeberischen Konsequenzen) im Falle einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung des vollendeten Gesetzes oft zu
dessen Scheitern führen, weil sie oft nicht hinreichend “ausermittelt“ sind oder ihnen die
auf ihnen beruhende Begründung geradezu widerspricht:
a) Die tatsächlichen Grundlagen der neuen Regelung
Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass - neben u.U. schwierigen Rechtsfragen (nachfolgend b)) - Tatsachenfragen für den Gesetzgeber zum einen sich auftun können, wenn sein
Gesetz im Wesentlichen ohne Umsetzung durch Behörden und Gerichte auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einwirken soll (aa) und bb)), und zum anderen, wenn sein
Gesetz einer Umsetzung bedarf, um solche Einwirkungen hervorzurufen (cc) und dd)).
aa) Verpflichtung zur Ausschöpfung aller zugänglichen (und “verlässlichen“) tatsächlichen Grundlagen
Nach den bisherigen Erfahrungen sind vor allem (aber nicht nur) bei der Neuregelung von
Materien oft die tatsächlichen Hintergründe einer Regelung aus dem Blick verloren worden. Insoweit hat das Bundesverfassungsgericht insbesondere zu (grundrechtsrelevanten)
gesetzgeberischen Entscheidungen mit prognostischem Charakter (grundlegend BVerfGE
7, 377 [412] für Beurteilung zukünftiger hypothetischer Kausalverläufe; vgl. auch BVerfGE 115, 320 [360 f.] sowie BVerfGE 131, 268 [286 ff.]) vergleichsweise strenge Maßstäbe
entwickelt.
Als allgemeiner Grundsatz gilt: Der Gesetzgeber muss sich über die tatsächlichen Grundlagen aller seiner Abwägungen aufgrund verlässlicher Quellen ein eigenes Bild verschaffen (BVerfGE 86, 90 [112]; vgl. auch BVerfGE 106, 62 [152 f.]).
bb) Die - zu ermittelnden und zu begründenden - tatsächlichen Grundlagen von Prognose-Gesetzen
Ungewissheit über die Auswirkungen eines Gesetzes in einer ungewissen Zukunft kann
nicht die Befugnis des Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen, auch wenn dieses von großer Tragweite ist. Umgekehrt kann Ungewissheit nicht schon als solche ausreichen, einen (verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht zugänglichen) Prognosespielraum
des Gesetzgebers zu begründen. Prognosen enthalten stets ein Wahrscheinlichkeitsurteil
, dessen Grundlagen ausgewiesen werden können und müssen; diese sind einer Beurteilung
nicht entzogen.
(1) Befugnisse des Gesetzgebers und Einschätzungsprärogative (“Prognosespielraum“)
Im Einzelnen hängt die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers von Faktoren verschiedener Art ab, besonders von der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den
Brunn - Kapitel A.II.3.
Seite 22
Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden, und der Bedeutung der auf
dem Spiel stehenden Rechtsgüter .
(1a) Differenzierte (Prognose-)Maßstäbe je nach dem Gewicht der Schutzgüter
Demgemäß hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Beurteilung
von Prognosen des Gesetzgebers differenzierte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von der
Evidenzkontrolle über eine Vertretbarkeitskontrolle bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle reichen (BVerfGE 50, 290 [332 f.]; vgl. auch BVerfGE 88, 87 [97];
BVerfGE 106, 62 [150 ff.] sowie BVerfGE 134, 33 [83 ff., 86] wo - freilich mit Blick auf
das Bestimmtheitsgebot - eine äußerst intensive inhaltliche Kontrolle der psychiatrischen
Grundlagen stattfindet, welche vom Gesetzgeber einem Gesetz zugrunde gelegt worden
sind, das eine - weitere - Unterbringung eines Straftäters an die Bejahung einer “besonderen Gefährlichkeitsprognose“ anknüpft [“hohe Wahrscheinlichkeit“ von “erheblichen“
Beeinträchtigungen von “Leben, körperlicher Unversehrtheit, persönlicher Freiheit oder
der sexuellen Selbstbestimmung einer anderen Person“]).
Bei einem geringen Gewicht des gefährdeten (und zu schützenden) Rechtsgutes steigen die Anforderungen an die Prognosesicherheit sowohl hinsichtlich des Grads der Gefährdung als auch hinsichtlich ihrer Intensität (BVerfGE 113, 348 [386]; dort auch zur
Verpflichtung, die gefährdeten Schutzgüter und die gefährdenden Handlungen normativ
möglichst genau zu bestimmen, und [387] dazu, dass bei “offenen“ bzw. “weiten“ Umschreibungen der zu schützende Gemeinwohlbelang “überragend wichtig“ sein muss).
Sind Rechtsgüter von hohem Rang zu schützen (etwa vor drohenden schweren Delikten
gegen Leib und Leben), so darf - nur “in engen Grenzen“ (BVerfGE 134, 33 [92] freilich
für Abwägung im Einzelfall) - der Grad einer “Eintrittswahrscheinlichkeit“ herabgesetzt
werden (a.a.O., mit anderen Worten: Da sich das Gewicht eines Allgemeininteresses aus
zwei Elementen zusammensetzt - der Schwere der Rechtsgutverletzung einerseits und der
Eintrittswahrscheinlichkeit andererseits - kann “ein Weniger des einen in engen Grenzen
durch ein Mehr des anderen ausgeglichen werden“.).
(1b) Ausreichende und unzureichende Begründungen
Gerade dann, wenn sich hohe und höchste Rechtswerte bzw. -güter gegenüberstehen und
daher vom Gesetzgeber mit Hilfe einer prognostischen Bewertung in einen verfassungsgemäßen Ausgleich gebracht werden müssen, steht und fällt diese Bewertung oft - und fast
ohne Ausnahme - mit einer überzeugenden (zumindest nachvollziehbaren) Begründung
hierfür:
Die - zum Teil in der (Fach-)Öffentlichkeit gründlich missverstandene - Entscheidung
BVerfGE 135, 259 (Europawahlrecht) hat dem Bundesgesetzgeber (nicht etwa verwehrt,
Sperrklauseln im Allgemeinen und im Besonderen zu errichten, um dem hohen Rechtswert Funktionsfähigkeit der Volksvertretung - a.a.O. [286] - zur Geltung zu verhelfen,
sondern “lediglich“) aufgegeben (Leitsatz 2), eine von ihm befürwortete wesentliche
Veränderung der Verhältnisse (in Richtung zunehmender Funktionsbeeinträchtigungen)
“aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte“ bereits gegenwärtig (Erlass des Gesetzes) “verlässlich zu prognostizieren“; mit anderen Worten hat das Bundesverfassungsgericht - angesichts des “schwerwiegenden Eingriffs in die Grundsätze der
Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der politischen Parteien“ (Leitsatz 1) - eine
zumindest nachvollziehbare Begründung für diesen Eingriff in gewichtige demokratische
Brunn - Kapitel A.II.3.
Seite 23
Grundsätze (D.III.) gefordert, und in den Urteilsgründen (a.a.O. [228 ff.]) hat es im Einzelnen dargelegt, dass weder eine parlamentarische Anhörung von Sachverständigen noch
das verfassungsgerichtliche Verfahren selbst (insbesondere die mündliche Verhandlung)
insoweit verlässliche “Gesichtspunkte zutage gefördert“ hätten (a.a.O. [290 ff.]).
(2) Strenge Überprüfung der tatsächlichen Grundlagen
In tatsächlicher Hinsicht muss sich der Gesetzgeber - auch und gerade hier - an einer
sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientieren. Er
muss die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen ausgeschöpft haben, um die voraussichtlichen Auswirkungen seiner Regelung so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können
(BVerfGE 50, 290 [333 ff.]; vgl. auch BVerfGE 106, 62 [150 f.]).
Stets muss gewährleistet bleiben, dass Annahmen und Schlussfolgerungen einen konkret
umrissenen Ausgangspunkt im Tatsächlichen haben (BVerfGE 113, 348 [386]).
(3) Beobachtungspflicht des Gesetzgebers
Auch hier (ausführlicher nachfolgend e)) gilt, dass ein Gesetzgeber gehalten sein kann, die
weitere Entwicklung und insbesondere die Auswirkungen der Regelung zu beobachten,
um diese ggf. für die Zukunft zu korrigieren (grundlegend: BVerfGE 49, 89 [130, 132]; vgl.
auch BVerfGE 110, 177 [194] sowie BVerfGE 120, 82 [108] für Normen des Wahlrechts;
hierzu D.III.3. und D.III.4.).
Ganz besonders gilt dies für den schnellen (und für insbesondere den Grundrechtsschutz
riskanten) informationstechnischen Wandel, weswegen der Gesetzgeber die technischen
Entwicklungen aufmerksam beobachten und notfalls durch ergänzende Rechtssetzung
korrigierend eingreifen muss. Dies betrifft auch und gerade die Frage, ob die verfahrensrechtlichen Vorkehrungen angesichts zukünftiger Entwicklungen geeignet sind, den
Grundrechtsschutz effektiv zu sichern und etwa auch “unkoordinierte“ Ermittlungsmaßnahmen verschiedener Behörden verlässlich zu verhindern (BVerfGE 112, 304 [320
f.]).
cc) Normative Bewältigung von in der Praxis auftretenden typischen und atypischen
Tatsachenermittlungs-Problemen in Vergangenheit und Gegenwart
Während die juristische “Auslegungskunst“ (Methodenlehre) meist in hohem Ansehen
steht, wird sehr oft unterschätzt, dass gerechte Rechtsanwendung zum überwiegenden
Teil aus oft mühseliger Tatsachenermittlung und -bewertung besteht.
Insoweit mag die Entscheidung BVerfGE 139, 64 (zur Frage, ob Richterbezüge “evident
unangemessen“ sind) ein (freilich auch in Teilen abschreckendes) Beispiel bieten; ob der
Gesetzgeber etwa eines kleinen Landes überhaupt in der Lage ist, die “haarfeinen“ tatsächlichen Vorgaben des Gerichts zukünftig zu beachten (auch wenn dem Gesetzgeber
“Indizien“ und “Vermutungen“ an die Hand gegeben werden), darf mit einiger Berechtigung bezweifelt werden, zumal sich eine “evidente Unangemessenheit“ eigentlich ohne
großen Begründungs- und Erkenntnisaufwand erschließen müsste.
(1) Hauptfälle schwieriger Sachverhaltsermittlung
Sieht man zunächst von der unmittelbar nachfolgend angesprochenen Bewertung der
zukünftigen Tatsachenlage ab, welche oftmals bereits zu einschneidenden Rechtsfolgen
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(vgl. BVerfGE 130, 1 [47] dazu, dass u.U. sogar eine strafgerichtliche Verurteilung erfolgen
kann, wenn “nur“ die konkrete Gefahr eines Vermögensschadens vorliegt und daraus
i.S.v. § 263 StGB ein gegenwärtiger Vermögensschaden abgeleitet wird) führt, so sind es
- was die zumeist überschaubare Vergangenheit und Gegenwart (BVerfGE 106, 62 [150]
sowie BVerfGE 132, 39 [57]) anlangt - überwiegend lange zurückliegende Gegebenheiten
(etwa in der NS- bzw. Besatzungs- bzw. DDR-Zeit), innere Tatsachen (Motive, Absichten
etc.; BVerfGE 88, 203 [276]) sowie hypothetische Kausalverläufe (BVerfGE 7, 377 [412]
freilich für Gesetzgeber; dort auch zu Vermutungen), welche den Rechtsanwender zu
schwierigen Beurteilungen zwingen.
In allen Fällen von “Unklarheiten in der Bewertung von Tatsachen“ muss gelten, dass sie
regelmäßig nicht zu Lasten eines Grundrechtsträgers gehen dürfen (BVerfGE 45, 187
[238] freilich für das Handeln des Gesetzgebers und die Überprüfung durch das Verfassungsgericht).
(2) Gesetzliche Vorgaben für die Bewältigung tatsächlicher Ungewissheiten
Bereits der Gesetzgeber muss dem dadurch Rechnung tragen, dass er insoweit den Grad
einer geforderten Überzeugungsgewissheit flexibel gestaltet, etwa durch
• Vermutungsregeln (BVerfGE 103, 287 [297] für eine Regelung des Parteiengesetzes;
vgl. auch BVerfGE 138, 136 [204] für sogar “unwiderlegliche Gefährdungsvermutung“ sowie BVerfGE 139, 64 [120 f.] für widerlegliche bzw. erhärtbare Vermutung
für Unteralimentation) bzw.
• gesetzliche Regelungen über die Heranziehung des Anscheins- und Indizienbeweises (vgl. BVerfGE 63, 197 [206] sowie BVerfGE 83, 216 [235] und BVerfGE 88, 203
[276] zum Begriff des Indizes bzw. entsprechender Anhaltspunkte) im Einzelfall, was
vorwiegend im anwendbaren materiellen, aber auch im allgemeinen Prozessrecht geregelt werden kann, mit anderen Worten keine unerfüllbaren Anforderungen an die
Rechtsanwender richtet, welche diese zu floskelhaften Begründungen oft geradezu
zwingt.
(3) Beispiele für sinnvolle (hilfreiche) Regelungen von vergangenheitsbezogenen tatsächlichen Ungewissheiten (insbesondere: Darlegungs- und Beweislasten)
Beispielsweise könnte er - im BGB-AT oder Familienrecht - regeln, dass eine Schwangerschaft bei Abschluss eines Ehevertrages ein Indiz für eine “vertragliche Disparität“ sein
kann (BVerfGE 103, 89 [102 ff.]; vgl. auch BVerfGE 138, 136 [207] für Beteiligungsquorum
als Indiz für unternehmerische Einbindung sowie BVerfGE 139, 64 [114 f.] für Tarifabschlüsse als “wichtiges Indiz“ und [128 ff.] für Indiz für “evidente Unangemessenheit“
einer Alimentation).
Hiermit eng verbunden ist die - (wohl) aus dem Rechtsstaatsprinzip (Normenklarheit;
D.V.3.a) (vgl. S. 337) ) abzuleitende - Pflicht zur Beantwortung der in der Praxis alltäglich
auftauchenden Frage, wer in einem Parteienstreit (mit Klägern und Beklagten ) das Risiko
zu tragen hat, dass eine - für das Bestehen eines geltend gemachten Anspruchs erhebliche
- tatsächliche Behauptung bzw. Gegenbehauptung nicht so verifizier- bzw. falsifizierbar
ist, dass darauf die (nach der jeweiligen Gesetzesgrundlage) ausreichende Überzeugung
des Gerichts gegründet werden könnte.
Mit anderen Worten muss der Gesetzgeber deutlich zu erkennen geben (und darf sich
nicht mit Hinweisen auf angebliche “allgemeine Regeln des Beweisrechts“ begnügen),
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wie (in Anlehnung an den Titel einer Monographie von Berg) die Entscheidung des Gerichts “bei ungewissem Sachverhalt“ ausfallen muss; mit nochmals anderen Worten ist
bereits normativ die Frage zu klären, wer die Darlegungs-, Beweis- und Begründungslast
(BVerfGE 104, 87 [297] “Beweislastregel“ sowie BVerfGE 116, 327 [390 f.] für Verpflichtung eines Landes im Zusammenhang mit Art. 107 GG) trägt; dies ist - entgegen immer
wieder anzutreffender Auffassung - (revisionsrechtlich) derzeit eine Frage des materiellen Rechts, könnte aber vom Gesetzgeber in einer Prozessordnung auch einheitlich
als Verfahrensregelung normiert werden.
dd) (Normative) Bewältigung von Tatsachenfragen auf der Zukunftsebene in der
Rechtsanwendung
Während Verwaltungen und Gerichte hauptsächlich bisweilen äußerst schwierige Fragen
zu beurteilen haben, welche ihren Ursprung in nicht-zukünftigen Gegebenheiten haben,
ist der Gesetzgeber hinsichtlich einer zukünftigen Rechtsanwendungspraxis im Schwerpunkt gehalten, Prognosen “vorwegzunehmen“ bzw. anzustellen (und die Ergebnisse
überzeugend, zumindest nachvollziehbar zu begründen):
(1) Normierung von behördlichen und gerichtlichen Prognoseentscheidungen sowie
deren Korrektur
Er muss bedenken, dass seine Gesetze Verwaltungen und Gerichte oft auch zu äußerst
schwierigen Prognoseentscheidungen nötigen. Während nämlich bei “abgeschlossenen“
Sachverhalten (Sachverhalten, die sich ausschließlich in der Vergangenheit bzw. Gegenwart abspielen) eine tatsächliche Aufklärung bis hin zur absoluten Gewissheit zumindest
möglich ist und für Fragen hypothetischer Kausalität wenigstens ein tatsächlich abgelaufener Kausalverlauf als Anknüpfungspunkt und Vergleichsgrundlage zur Verfügung steht,
liegt bei Prognoseentscheidungen ein Teil der zur Normerfüllung (und damit zur Auslösung von Rechtsfolgen) notwendigen tatsächlichen Merkmale im letztlich unaufklärbaren
“Noch-Dunkel“ der Zukunft , und derjenige, der einen zukünftigen hypothetischen Kausalverlauf darzulegen hat, muss sogar gewissermaßen “mit zwei Unbekannten rechnen“.
(1a) Prognosegrundlage, Prognoseerwartung und entsprechende Kausalverknüpfungen als Kennzeichen einer Prognoseentscheidung
Das gilt auch dann, wenn - über die zutreffende Erfassung des anzuwendenden Rechts
hinaus - die sog. Prognosegrundlage ausreichend ausermittelt ist, für die Prognoseerwartung anerkannte Methoden angewendet werden und auch im Bereich der notwendigen Kausalverknüpfungen zwischen Prognosegrundlage und Prognoseerwartung keine
wesentliche Fehler geschehen; sieht man von wenigen nahezu feststehenden zukünftigen
Ereignissen (Sonnenauf- und -untergänge) ab, so kann letztlich niemand mit Gewissheit
vorhersagen, wie sich Gegebenheiten, insbesondere menschliche Verhaltensweisen, in Zukunft entwickeln und äußern werden, weshalb - wofür etwa die Entscheidung BVerfGE
134, 33 (92 ff.) über eine konkret durchzuführende Gefährlichkeitsprognose ein beredtes
Beispiel darstellt - ohne klare normative Vorgaben oft die entscheidungswesentliche
Begründung nahezu misslingen muss . Oft steht - schlagwortartig ausgedrückt - nur
fest, was nicht feststeht.
(1b) Hauptanwendungsfelder für schwierige Prognoseentscheidungen (und
deren spätere “Korrektur“)
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Deshalb muss bereits der Gesetzgeber prüfen, ob die gesetzlichen Maßstäbe und Mittel,
die er Rechtsanwendern an die Hand gibt, tauglich sind, diese schwierigen Prognoseentscheidungen treffen und überdies gut begründen zu können.
Darüber hinaus dürfte der Gesetzgeber sogar verfassungsrechtlich verpflichtet sein, Regeln im Wiederaufnahme-, Rücknahme- und Widerrufsverfahren vorzusehen, welche
dann ein erleichtertes Vorgehen gegen eine bestands- bzw. rechtskräftige Entscheidung
ermöglichen, wenn diese auf einer tatsächlich schwierigen Prognose beruhte und sich insoweit als “fehlgeschlagene“ Prognose erwiesen hat.
Denn wenn (sogar) das Verfassungsorgan Gesetzgeber bei “Fehlprognosen“ verfassungsrechtlich zur Gesetzeskorrektur verpflichtet sein kann / ist (BVerfGE 65, 1 [55 f.]), müssten die nach Art. 20 Abs. 3 (2. Alt.) GG an Gesetz und Recht gebundenen Behörden und
Gerichte erst recht von entsprechenden Fehlprognosen abrücken, auch wenn dies das einfache Recht (noch) nicht ausdrücklich bestimmt; das Interesse an (einem vermeintlichen)
“Rechtsfrieden“ müsste dann nachranging sein.
(2) Maßstäbe für die Gesetzesanwendung durch die Praxis
Hat der Gesetzgeber ein Gesetz geschaffen, welches etwa für die Bewältigung einer
konkreten Gefahr einen Maßstab vorgibt (Beispiel: Bestehen einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für ein schutzwürdiges Rechtsgut
eintreten wird), so dürfen sich Behörden und Gerichte zur Begründung einer Maßnahme
jedenfalls nicht auf vage Anhaltspunkte oder bloße Vermutungen ohne greifbaren, auf den
Einzelfall bezogenen Anlass stützen, sondern die Wahrscheinlichkeitsprognose muss sich
auf (nachprüfbare) Tatsachen beziehen (BVerfGE 115, 320 [364 f.]; dort auch zu einer
sog. konkreten “Dauergefahr“, etwa durch sog. “terroristische Schläfer“, für welche regelmäßig hinreichend fundierte konkrete Tatsachen erforderlich sind; vgl. auch BVerfGE
134, 33 [60 f., 63 ff.] für eine erforderliche “hochgradige Gefahr schwerster“ Straftaten.
b) Rechtliche Probleme bei der normativen Rechtsfolgenbewirkung
(insbesondere auf der Ebene der Vergangenheit)
Wirft die - regelmäßig gesetzliche Neuschöpfungen (welche deshalb im Kapitel A. im Vordergrund stehen, während den Gesetzesänderungen ein eigenes Kapitel B. gewidmet ist)
kennzeichnende - Rechtsfolgen-Bewirkung für den Zeitraum ab dem Inkrafttreten des Gesetzes regelmäßig keine besonderen (verfassungsrechtlichen) Probleme auf, gleichgültig
ob an vergangene (vgl. aber nachfolgend b) aa) zu speziellen Rechtsanwendungsproblemen
), gegenwärtige oder zukünftige tatbestandliche Gegebenheiten angeknüpft wird, erzeugt
schwierige (verfassungs-)rechtliche Probleme jeder Versuch, hinsichtlich von Rechtsfolgen
auf den Zeitraum vor dem Inkrafttreten des Gesetzes einzuwirken; und zwar gilt dies wiederum unabhängig davon, ob die Rechtsfolgen-Bewirkung an vergangene, gegenwärtige
oder gar zukünftige Gegebenheiten anknüpft.
Denn damit ergibt sich unausweichlich die Frage, ob etwa unzulässig auf eine bestehende
(bereits durch das alte Recht geschaffene) “ Rechtsfolgenlage “ eingewirkt wird (hierzu
nachfolgend B.III.).
aa) Die notwendige Unterscheidung zwischen “abgewickelten“ und noch offenen Verhältnissen
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Insoweit muss unterschieden werden zwischen - einerseits - “abgewickelten“ Sachverhalten (nämlich solchen, die in tatsächlicher Hinsicht vollständig abgeschlossen waren und
sind und deswegen einer abschließenden Regelung zugänglich waren , welche regelmäßig einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand schafft) und - andererseits - “noch
andauernden“ Sach- bzw. Rechtsverhältnissen (beispielsweise Dauerrechtsverhältnissen,
wie Kindschaftsverhältnissen, Ehen und Mieten, deren Begründung zwar abgeschlossen ist, aber deren Entwicklung tatsächlichen und/oder rechtlichen Veränderungen noch
leichter zugänglich ist); letztere begründen regelmäßig keine unüberwindlichen Vertrauenstatbestände (hierzu ausführlich nachfolgend B.III.1.b) (vgl. S. 123) ). Mit anderen
Worten:
Zwar wird die rechtliche Beurteilung eines einen Status begründenden Vorgangs - wie
etwa der einer Eheschließung - durch eine spätere Änderung der Rechtslage nicht berührt
(BVerfGE 29, 166 [175 f.]), aber der Gesetzgeber darf - vorbehaltlich eines besonders
schutzwürdigen Vertrauens - den Status in seinen Auswirkungen für die Gegenwart und
die Zukunft regelmäßig neu (ändern) bewerten.
bb) Die notwendige Unterscheidung zwischen wirklicher und nur scheinbarer
“(Noch-)Nicht-Regelung“
Wie etwa der Fall BVerwGE 99, 276 (Global-Entschädigung durch zwischenstaatliche
Vereinbarung) zeigt, hängt die zutreffende Lösung eines Streitfalles oft (allein)entscheidend davon ab, ob ein Sachverhalt schon (einmal) geregelt war bzw. immer
noch ist (im angesprochenen Fall durch eine Vereinbarung zwischen der DDR und
Schweden) oder eben gerade nicht. Dies hat zuerst der Gesetzgeber zu bewerten und
entscheiden:
(1) “Wirkliche“ Nicht-Regelung
Regelmäßig - wie gerade angedeutet - unbedenklich ist es, wenn der Gesetzgeber einen in
der Vergangenheit liegenden oder für die Zukunft erwarteten Sachverhalt (mag er im vorstehenden Verständnis abgeschlossen gewesen sein oder noch andauern oder sogar noch
nicht einmal begonnen haben) erstmals gesetzlich regelt; insoweit konnte regelmäßig
noch kein Vertrauenstatbestand ausgelöst werden, wie er für bestehende und Gültigkeit
beanspruchende gesetzliche Regelungen typisch ist (BVerfGE 103, 271 [287]; vgl. auch
BVerfGE 109, 96 [121 f.]).
(2) Gefahren einer nur scheinbaren Nicht-Regelung
Höchste Sorgfalt muss aber walten bei der Beantwortung der Frage, ob ein Sachverhalt
wirklich noch nicht (abstrakt oder konkret) geregelt ist, weil eine falsche Beantwortung mit der Gefahr - erstens - der “Überregelung“ (ähnlich einer versehentlichen Doppelbelichtung bei der traditionellen Fotografie) oder - zweitens - der “Regelungslücke“
(Nicht-Regelung; D.VI.3.c) (vgl. S. 362) zur zulässigen bzw. unzulässigen Lückenfüllung
) verbunden ist:
Nur ohne vorherige Regelung eines solchen Sachverhalts darf ein Normsetzer den “ungeregelten“ Sachverhalt “unbefangen regeln“, und Entsprechendes gilt deshalb auch dann,
wenn etwa zwischen natürlichen Personen im Streit ist, ob eine vertragliche Vereinbarung zustande gekommen ist und alle Rechtsfolgen abschließend geregelt sind, oder
wenn etwa zwischen Staaten im Streit ist, ob eine Kriegsfolgefrage (Reparationen) bereits (abschließend) völker(vertrags)rechtlich geregelt war oder noch einer abschließenden
Regelung harrt.
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Es versteht sich zwar von selbst, dass auch “Überregelungen“ nicht von vornherein unzulässig sind (Kapitel B.), aber immer muss bei solchen - mögen sie bewusst oder unbewusst
erfolgen - Regelungs-Konstellationen auch die Folgefrage zutreffend beantwortet werden,
ob der hierfür gewählte Normentyp oder die Art der vertraglichen Neugestaltung überhaupt tauglich ist, das angestrebte Ziel - etwa einer Verdrängung der alten Regelung
- mit Wirkung ex nunc oder sogar ex tunc (zulässig) zu erreichen:
(3) Die “Überregelung“ durch unzulässige Normenwahl
Der Fall BVerfGE 70, 324 ist dadurch gekennzeichnet, dass das Parlament sich der Frage hätte widmen müssen, ob der bereits durch die - in eigener Autonomie geschaffene Geschäftsordnung (abstrakt) geregelte Fall der Besetzung bestimmter Parlamentsausschüsse mit (fraktionsabhängigen) Abgeordneten aus verfassungsrechtlicher Sicht wirklich noch einer anderslautenden gesetzlichen Regelung zugänglich war, und diese Frage hätte (sogar abgesehen davon, dass der damals verwirklichten gesetzlichen Regelung
“unlautere Motive“ zugrunde lagen, weil bestimmte Fraktionen bzw. deren Abgeordnete
durch die gesetzliche Regelung und die daraus folgende Möglichkeit der Mehrheitswahl
“ausgeschaltet“ werden sollten und konnten) wegen der Spezialität der Geschäftsordnung in parlamentsinternen Fragen (eigentlich) verneint werden müssen.
c) Pflicht zur Vermeidung paralleler Rechtsregime ohne zwingenden Grund
(Pflicht zur Einfügung von neuen Regelungen in bestehende
Kodifikationen)
Oft lässt sich zwar (zu Recht) feststellen, dass eine Materie (“als solche“) tatsächlich noch
nicht geregelt war bzw. ist, aber auch, dass das gültige Recht bereits Regelungen enthält,
die der neu zu regelnden - was insbesondere Kompetenzen sowie die Sach- und/oder
Zeitebene betrifft - benachbart sind; insoweit mag an das ursprüngliche Verhältnis
zwischen dem traditionellen Bürgerlichen Gesetzbuch und dem damals zu kodifizierenden
Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen (im Zivilrecht) zu denken sein.
Insoweit hat der Gesetzgeber zu bedenken, dass es eine Teilanforderung des Grundsatzes
der Einfachheit einer Norm (wohl abzuleiten aus den Rechtsstaatsgeboten der Rechtssicherheit - B.III.2.b (vgl. S. 124) ) - sowie Rechtsklarheit (D.V.3.a) (vgl. S. 337) ) sein
kann , im Interesse der Rechtsanwender bzw. -unterworfenen zu vermeiden (und deshalb
vorrangig eine Einfügung in das bestehende Regelwerk zu erwägen bzw. vorzunehmen),
dass (Teil-)Materien (auch zeitlich) parallel zu existierenden (Gesamt-)Kodifikationen
anzuwenden sind.
Letzteres kann nämlich (sogar für Rechtskundige) erhebliche Schwierigkeiten hervorrufen,
wenn es darum geht, sich für ein Rechtsbegehren bzw. eine -verteidigung die in Betracht
zu ziehenden Rechtsgrundlagen “zusammensuchen“ zu müssen (und auf Spezialität bzw.
Parallelität untersuchen zu müssen). Mit anderen Worten muss gewährleistet sein, dass
ein Rechtsstreit nicht von vornherein dadurch in eine “Schieflage“ gerät, dass erfahrungsgemäß die wirtschaftlich stärkere Partei aufgrund erwerbbaren “Insiderwissens“ über die
Möglichkeit verfügt, die richtigen prozesstaktischen Schritte zu unternehmen.
d) Begründungspflichten im Recht (Funktionen von Begründungen)
Nicht zufällig erfolgte im Vorstehenden die häufige Erwähnung des Begriffs “Begründung“. Die Erfahrung im (tatsächlichen wie im) Rechtsleben lehrt nämlich, dass - erstens
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- eine gute (gelungene) Begründung für einen schlechten (misslungenen) Akt (Gesetz,
Verwaltungsakt, Urteil) sehr schwer fällt, während - zweitens - eine gute Begründung für
einen guten Akt sich oft von selbst ergibt. Deshalb lässt sich geradezu von einer (tatsächlichen wie rechtlichen) Vermutung (hierzu in anderen Zusammenhängen BVerfGE 139,
64 [120 f.]) sprechen, dass ein schlechter Akt durch eine schlechte Begründung indiziert
wird (und umgekehrt eine gute Begründung einen guten Akt indiziert).
In verfassungsrechtlicher Hinsicht spricht das Bundesverfassungsgericht insoweit von prozeduralen Sicherungen (BVerfGE 130, 263 [301]) bzw. Anforderungen an den Gesetzgeber, welche insbesondere Begründungspflichten einschließen (BVerfGE 139, 64 [126 f.] für
Alimentation und Landesgesetzgeber).
Freilich schreibt das Grundgesetz nicht grundsätzlich vor, was, wie und wann genau im
Gesetzgebungsverfahren zu begründen - und zu berechnen - ist; entscheidend ist, dass
im Ergebnis die Anforderungen der Verfassung nicht verfehlt werden (BVerfGE 139,
148 [180]).
aa) “Selbstvergewisserung“ des Entscheiders als Funktion einer Begründung
Die Funktion einer - erforderlichen überzeugenden (BVerfGE 135, 48 [88]) - Begründung im Rechtsleben ist es vor allem, eine gewisse Gewähr dafür zu geben, dass der
Entscheidende seine Entscheidung aufgrund verlässlicher Tatsachenfeststellung , ausgewogener Tatsachenwürdigung und sorgfältiger rechtlicher Prüfung trifft (BVerfGE 94,
166 [210 f.]; vgl. auch BVerfGE 94, 166 [223, 237 f.] abweichende Meinung).
(1) Der Einfluss “tragfähiger“ Begründungen
Entscheidend ist meist, ob der Gesetzgeber seine Entscheidungen (an konkreten Gegebenheiten ausrichtet und ) “tragfähig begründet“ (BVerfGE 137, 34 [73] sogar für
Existenzminimum).
Wie “hinnahmebereit“ das Bundesverfassungsgericht bisweilen ist, zeigt der Fall BVerfGE
137, 350 (381), wo sogar “Verwerfungen“ innerhalb eines Steuertatbestandes als “aus
Vereinfachungsgründen gleichheitsrechtlich noch tragbar“ beurteilt worden sind.
Ähnliches gilt (vielleicht) für die Entscheidung BVerfGE 109, 279 (317 ff.), wo zur “Rettung“ des neu geschaffenen Art. 13 Abs. 3 GG Materialien und Einzeläußerungen herangezogen worden sind.
(2) Unzulässige “nicht nachvollziehbare“ Schätzungen
Demgegenüber reichen - soweit jedenfalls Grundrechtspositionen betroffen sind - regelmäßig “schlicht gegriffene Zahlen“ sowie “Schätzungen ins Blaue hinein“ nicht aus; insofern
müssen namentlich Berechnungen regelmäßig “nachvollziehbar“ sein und “sachlich differenziert tragfähig“ begründet sein (BVerfGE 137, 34 [75] freilich für Existenzminimum).
bb) Überprüfungsmöglichkeit einer Entscheidung als Begründungsfolge
Um den Entscheidungsbetroffenen überhaupt eine realistische Möglichkeit zu belassen,
die Entscheidung zu überprüfen bzw. überprüfen zu lassen, ist es unerlässlich, sie so
zu begründen, dass sie taugliche Grundlage für eine Billigung bzw. einen Entschluss zur
Beschreitung des Rechtsweges sowie einer (gerichtlichen) Überprüfung ist. Dies gilt sogar
im - hier nur als Beispiel aus einer anderen Verfassungsmaterie dienenden und deshalb
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nicht näher darzustellenden - Verhältnis des Parlaments zur Regierung (D.VI.2. (vgl.
S. 354) ):
(1) Insbesondere: Begründungspflichten bei Anspruchsversagungen
Aus der grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Pflicht der Bundesregierung, Informationsansprüche des Deutschen Bundestages zu erfüllen, folgt, dass sie die Gründe darlegen
muss, aus denen sie die erbetenen Auskünfte verweigert.
Denn der Bundestag kann seine Aufgabe der parlamentarischen Kontrolle des Regierungshandelns nur dann effektiv wahrnehmen, wenn er anhand einer der jeweiligen
Problemlage angemessenen ausführlichen Begründung beurteilen und entscheiden kann,
ob er die Verweigerung der Antwort akzeptiert oder welche weiteren Schritte er unternimmt, sein Auskunftsverlangen ganz oder zumindest teilweise durchzusetzen. Hierzu
muss er Abwägungen betroffener Belange, die zur Versagung von Auskünften geführt
haben, auf ihre Plausibilität und Nachvollziehbarkeit überprüfen können.
Eine Begründung der Antwortverweigerung ist daher nur dann entbehrlich, wenn die
Geheimhaltungsbedürftigkeit evident ist (BVerfGE 137, 185 [244]).
(2) Der Einfluss gelungener Begründungen auf gerichtliche Entscheidungen
Es kommt hinzu, dass gelungene Begründungen eine (oft) unentbehrliche Grundlage für (verfassungs-)gerichtliche Prüfungen sind, welche den Gesetzgeber schon oft vor
Fehldeutungen seiner Gesetze bewahrt haben (BVerfGE 138, 64 [98 f.] für einen durch
Gesetzesmaterialien eindeutigen Gesetzeswillen).
Hierauf wird vor allem im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsgebot noch zurückzukommen sein.
e) Der gesetzgeberische Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum
Der Bundesgesetzgeber (hatte und) hat zwar - bei den vorstehend angesprochenen Fragen und allgemein - nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts regelmäßig
einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum (beispielhaft BVerfGE 136, 9 [28] für
“weiten Gestaltungsspielraum“ bei der den Ländern vorbehaltenen Ordnung des Rundfunkwesens; es gibt - ebensowenig wie es die “einzig richtige“ Behörden- oder Gerichtsentscheidung gibt - nicht das “eine“ sachgerechte (insbesondere verfassungsgemäße)
Gesetz.
Fast immer - und keineswegs nur in den häufig beurteilten Zusammenhängen des Art. 3
Abs. 1 GG - steht einer (gebilligten) sachgerechten Nutzung eines Spielraums die (missbilligte) willkürliche Regelung gegenüber (beispielhaft BVerfGE 122, 151 [179] für Stichtagsregelung).
aa) Regelfälle von Spielräumen
In nahezu allen Entscheidungen, die das Handeln eines Gesetzgebers beurteilen, ist
die Rede von (mehr oder weniger engen bzw. weiten) Spielräumen (Gestaltungs-,
Einschätzungs-, Prognosespielräumen u.s.f.).
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(1) Neuregelungen von komplexen Sachverhalten bzw. von umfassenden Materien
Insbesondere bei der Neuregelung eines komplexen Sachverhalts gebührt dem Gesetzgeber ein zeitlicher Anpassungsspielraum; will er von seiner Regelungsbefugnis Gebrauch
machen, so darf er sich zunächst mit einer grob typisierenden Regelung begnügen, um
diese nach hinreichender Sammlung von weiteren Erfahrungen allmählich durch eine differenzierte zu ersetzen (BVerfGE 54, 1 [37] sowie BVerfGE 132, 39 [57]).
Unternimmt es der Gesetzgeber, eine ganze Materie umfassend zu regeln, so ist er auch
nicht gehalten, eine solche komplexe Reform nur in einem Zuge oder gar nicht zu bewerkstelligen. Vielmehr muss es grundsätzlich möglich sein, eine solche Reform in mehreren
Stufen zu verwirklichen, um den Regelungsaufwand und die organisatorischen und finanziellen Folgen jeweils zu begrenzen und zunächst in einem Teilbereich Erfahrungen
zu sammeln, die bei den weiteren Schritten berücksichtigt werden können (BVerfGE 85,
80 [91]).
(2) Typisierungen und Grundrechtsausgleich namentlich im Zivilrecht
Namentlich im Bereich des Zivilrechts (allgemein hierzu und zur - unzulässigen - Rechtsfortbildung BVerfGE 138, 377 [390 ff.]) muss der Gesetzgeber typisieren (E.III.1.e) (vgl.
S. 602) ) und kann nicht allen Einzelfallgestaltungen Rechnung tragen.
Es ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn er dem Bedürfnis, Besonderheiten
des Einzelfalles zu berücksichtigen, dadurch Rechnung trägt, dass er eine Regelung als
dispositives Recht (zum [zwingenden] ius cogens BVerfGE 112, 1 [27 f.] für Völkerrecht)
ausgestaltet, es im Übrigen aber der Rechtsprechung überlasst, nach Treu und Glauben
rechtsmissbräuchlichen Umsetzungsabsichten des vom Gesetzgeber vorgegebenen Interessensausgleichs unter Berücksichtigung von Bedeutung und Tragweite der Grundrechte
entgegen zu treten (BVerfGE 67, 329 [347]).
Nur ausnahmsweise lassen sich aus den Grundrechten konkrete Regelungspflichten des
Privatrechtsgesetzgebers ableiten. Bei der Ausgestaltung privater Rechtsbeziehungen
kommen dem Gesetzgeber grundsätzlich weite Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume zu; sie bestehen vor allem dort, wo es um die Berücksichtigung widerstreitender Grundrechte geht (BVerfGE 141, 186 [205]; für “gleichberechtigte“ Grundrechtsträger [Kind und vermeintlicher Vater]; ob dies auch bei deutlichen “Ungleichgewichten“ gilt, lässt sich bezweifeln, zumal die Rechtsprechung deutlich “väterfreundlicher“
ist; a.a.O. [206 f.]).
bb) Verfassungsrechtliche Bindungen insbesondere im Grundrechtsbereich
Der Gesetzgeber ist freilich durch Art. 20 Abs. 3 (1. Alt.) GG zum einen an das Bundesverfassungsrecht sowie die Menschenrechtskonvention (nachfolgend A.III.2.d) (vgl. S. 52)
) und das Gemeinschaftsrecht (nachfolgend A.III.3.a) (vgl. S. 57) ) gebunden und kann
zum anderen an das Völkerrecht (nachfolgend A.II.3.b) (vgl. S. 26) ) gebunden sein; was
die Bindungen an das Grundgesetz anbelangt, so stehen die Kompetenzen (nachfolgend
C.), die Menschenwürde und die Menschenrechte (nachfolgend E.I.), die Grundrechte
(nachfolgend E.II. bis XVI.), Art. 20 GG (nachfolgend D.) sowie Art. 103 GG und Art.
104 GG (nachfolgend F.) im Vordergrund.
Dies kann im Einzelfall den Spielraum des Gesetzgebers verengen (BVerfGE 88, 5 [12])
und nahezu (BVerfGE 88, 203 [251 ff.]) “auf Null reduzieren“.
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cc) Insbesondere: Enger Spielraum in den Zusammenhängen des Art. 3 GG
Insbesondere kann dies gelten, wenn sich der Gesetzgeber im Schutzbereich des Art. 3
GG (mit allen seinen Absätzen) bewegt; zwar darf der Gesetzgeber regelmäßig generalisieren (BVerfGE 11, 245 [254] und typisieren (BVerfGE 17, 1 [23]; vgl. BVerfGE 111,
115 [137] sowie BVerfGE 132, 39 [57] zur Bedeutung), aber der gesetzgeberische Spielraum für Typisierungen ist umso enger, je dichter die verfassungsrechtlichen Vorgaben
(innerhalb und außerhalb) des Art. 3 Abs. 1 GG sind; er endet dort, wo die speziellen
Diskriminierungsverbote des Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG betroffen sind.
“Mildere“ Maßstäbe gelten freilich im Bereich der steuerlichen Gleichheit (E.III.1.h) (vgl.
S. 609) ).
dd) Spielräume des Gesetzgebers und spätere Korrekturmöglichkeiten und -verpflichtungen
Anlass zu verfassungsrechtlichen Beanstandungen nach - entsprechend den vorstehenden
Darlegungen unternommenen - Neuregelungen kann insbesondere dann bestehen, wenn
der Gesetzgeber eine Überprüfung und fortschreitende Differenzierung eines Regelungskomplexes trotz ausreichenden Erfahrungsmaterials für eine sachgerechte Lösung unterlässt (BVerfGE 33, 171 [189 f.]). Insbesondere kann dies für unterlassene Regelungen
gelten, die schwerwiegende Grundrechtsbeeinträchtigungen, wie langfristige Freiheitsentziehungen, ausgleichen könnten (vgl. BVerfGE 45, 187 [252] für bedingte Aussetzung der
Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafe).
(1) Veränderte (tatsächliche) Umstände
Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung getroffen, deren Grundlage durch neue, im Zeitpunkt des Gesetzeserlasses noch nicht abzusehende Entwicklungen entscheidend in Frage
gestellt wird, kann er von Verfassungs wegen gehalten sein zu überprüfen, ob die ursprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Umständen aufrecht zu erhalten
ist (BVerfGE 49, 89 [130 ff.]).
(2) Ungenügende Schutzpflicht-Maßnahmen
Stellt sich namentlich heraus, dass ein Gesetz ein von der Verfassung gefordertes Maß an
Schutz nicht zu gewährleisten vermag, so ist der Gesetzgeber regelmäßig verpflichtet,
durch Änderungen oder Ergänzungen der bestehenden Vorschriften auf die Beseitigung
der Mängel und die Sicherstellung eines dem Untermaßverbot genügenden Schutzes
hinzuwirken (BVerfGE 88, 203 [309 ff.]).
f) Ausblick: “Maßstäbe - bzw. Grundsätze - Gesetze“
Sollten die - hier angerissenen oder zugrunde gelegten - Annahmen zutreffend sein, dass
• die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Auslegung der Verfassung
(zwar keine ein für allemal gültigen - gewissermaßen “ehernen“ - zwingend bindenden Regeln hervorgebracht hat und bringt, aber) zumindest äußerst nützliche
maßstabsbildende Regeln (auch) für die Erzeugung, Auslegung und Anwendung des
“einfachen“ Rechts kreiert hat,
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• zudem - ergänzend - die Rechtsprechung der EG-Gerichtshöfe zur Menschenrechtskonvention und zum Gemeinschaftsrecht sowie die Rechtsprechung der Internationalen Gerichtshöfe zum Völkerrecht Rechtssätze hervorgebracht hat, welche gewissermaßen zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht angesiedelt sind und
bei der Anwendung und Auslegung des einfachen Rechts kaum mit guten Gründen
vernachlässigt werden können) und
• der Rechtsanwender in Vergangenheit und Gegenwart durch das einfache Gesetzesrecht oft im Stich gelassen worden ist, was das Verständnis der vorgenannten
Maßstäbe für die “Alltagsanwendung“ bedeutet,
so könnte sich aus der für das Finanzverfassungsrecht entwickelten Idee des “MaßstäbeGesetzes“ (BVerfGE 116, 327 [329 ff.]) bzw. des Grundsätze-Gesetzes eine allgemeine
Erscheinungsform des Rechts ergeben, die zwar (selbstverständlich) keinen Verfassungsanspruch erheben darf, aber gewissermaßen als “Mittler“ zwischen den Rechtsregimen
dienen kann:
aa) Vorzüge aus Sicht des Gesetzgebers
Mit einer solchen Gesetzesform würde sich der Gesetzgeber gewissermaßen für die Zukunft selbst binden, er müsste aber noch keine zwingenden Rechtsfolgen bestimmen und
könnte in solchen Gesetzeswerken gewissermaßen konkretes Recht “ankündigen“, was zugleich das Vertrauen der Rechtsunterworfenen dahingehend vermindern könnte, dass das
bisherige Recht unverändert bestehen bleibt.
bb) Vorzüge aus Sicht der Rechtsanwender
Eine allgemeine Maßstabsgesetzgebung durch den einfachen Gesetzgeber, die vor allem
das Verfassungsrecht (etwa die “lapidare“ Fassung des Art. 2 GG; E.II.) “mit Leben
erfüllt“, dürfte zwar die Verwaltung und die Rechtsprechung bei der Anwendung und
Auslegung der jeweils konkreten Ausführungsgesetze im Sinne der Gesetzesbindung des
Art. 20 GG (D.V.3.d) (vgl. S. 343) ) nicht binden, wäre aber
• immer vom einfachen Gesetzesrecht “einholbar“, wenn sich das Maßstäbegesetz als
unzulänglich oder gar ungenügend erweisen sollte, und
• würde den Rechtsanwendern die schwierige Aufgabe erleichtern, sich bei der Anwendung und Auslegung der Regeln des Bundesrechts zwischen einfachem Recht,
übergeordnetem Gemeinschafts- bzw. Völkerrecht und zwingendem oder gar “verfassungsfestem“ Verfassungsrecht “hindurchfinden“ zu müssen.
Bedenkt man, dass nach wie vor erstinstanzliche Einzelrichter (und in der Arbeitsgerichtsbarkeit sogar zweitinstanzlich tätige Vorsitzende mit lediglich fachkundigen Laienrichtern) Erledigungszahlen von jährlich bis zu über 500 Verfahren zu bewältigen haben,
so würden entsprechende Maßstabsgesetze solche Aufgaben wesentlich erleichtern.
Zu denken könnte dabei sein an Maßstabsgesetze zur Beurteilung tatsächlicher Zweifelsfragen im Verfahrensrecht, zum Justizgewährungsanspruch, zur Strafzumessung, zur
Anwendung des Gemeinschafts- und Völkerrechts, zum Umweltrecht, zum Planungsrecht,
zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht, zur Gesetzgebung und schließlich womöglich sogar zur Umsetzung bzw. Konkretisierung des Verfassungsrechts.
Brunn - Kapitel A.III.0.
Seite 34
4. Das “gelungene“ (reibungslos angewendete) Gesetz als Ideal
Abschließend lässt sich sagen, dass ein “wirksames“, ein “gutes Gesetz“ sich vor allem
daran erweist, dass es (obgleich massenhaft angewendet, was seinen Bedarf anzeigt) so gut
wie nie in den Entscheidungsregistern des Verfassungsgerichts und der obersten Gerichtshöfe des Bundes auftaucht (was seine Klar- und Widerspruchsfreiheit erweist); fragwürdig
ist vor diesem Hintergrund der (oft in Gesetzesbegründungen auftauchende) Satz, eine
bestimmte Frage zu beantworten werde der Rechtsprechung überlassen.
III. Verfassungsrechtliche Bindungen und Prüfgesichtspunkte (insbesondere
“Verfassungsauslegung“) bei der Erarbeitung einer Gesetzesvorlage des
Bundesrechts
1.
Die Primärbindung des Gesetzgebers an die “verfassungsmäßige Ordnung“
(Art. 20 Abs. 3, 1. Alt. GG) . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Gewisse“ Bindungen . . . . . . . . . . . . . . .
42
42
aa) Bindungen durch die Grundrechte (und durch die Staatszielbestimmungen in Art. 20 a GG?) . . . . . . . . . . . . . . .
42
(1) Umsetzungsauftrag des Art. 20 a GG . . . . . . . . . . .
43
(2) Ziel des Umweltschutzes und einzelne Schutzgüter . . . .
43
(2a)
b)
c)
Biologische Vielfalt und Sorge für bedrohte Tierund Pflanzenarten . . . . . . . . . . . . . . . .
43
(2b)
Tierschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
(2c)
Schutz vor denkbaren Gefahren der Gentechnik
43
bb) Bindungen durch die Kompetenzordnung . . . . . . . . . . .
43
cc) Bindungen an die Grundsätze in Art. 20 GG sowie an die
Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
44
dd) Bindungen an die Art. 76 ff. GG
“Ungewisse“ Bindungen . . . . .
. . . . . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . .
44
44
aa) Identität der “verfassungsmäßigen“ Ordnungen? . . . . . . .
44
bb) Bedeutung des Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG? . . . . . . . . . .
44
cc) Bindungen an Menschenrechtskonvention, Gemeinschaftsrecht
und Völkerrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
dd) Bindungen an die Geschäftsordnung des Bundestages?
45
. . .
ee) Bindungen an einfachrechtliche Aussagen des Verfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Insbesondere: (Ungewisse) Bindungen von Gerichten und Behörden
sowie des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Verfassungsinterpretationen
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
aa) Bindung des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Interpretationen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
(1) Ausgangsfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
45
46
Brunn - Kapitel A.III.0.
Seite 35
(2) “Erweiterung“ der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . .
bb) Beantwortungsversuch
2.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
(2) Aufgabenüberschreitung des Verfassungsgerichts . . . . .
47
aa) Grundsatz der “inneren Harmonie“ der Verfassung
bb) Funktionsbedingte Auslegung als Durchbrechung
47
48
48
. . . . .
49
. . . . . .
49
(1) Beispielsfälle von Begriffen mit unterschiedlicher Bedeutung
(insbesondere “verfassungsmäßige Ordnung“) . . . . . . .
49
(2) Sonderfall der Übernahme von Begriffen aus der WRV
.
49
(3) Problematischer Begriff des “Strafrechts“ . . . . . . . . .
50
cc) Insbesondere: Auslegung des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Regelfall der nicht ausschlaggebenden Bedeutung
. . . .
(2) Sachdienliche Heranziehung der Entstehungsgeschichte im
Einzelfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verbot der isolierten Auslegung . . . . . . . . . . . .
aa) Spannungsverhältnis zwischen zwei Bestimmungen
. . . . .
bb) Vorrang der speziellen Norm vor der allgemeinen Norm als
auch im Verfassungsrecht gültiges allgemeines Prinzip . . . .
c)
d)
e)
46
(1) “Vorklärung“ durch die Entscheidung BVerfGE 77, 84
(104) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Problem der “blockierten“ Fortbildung des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Allgemeingültige Regeln für die Auslegung von Verfassungsbestimmungen
a) Aufgabe der Verfassungsauslegung und Einheit der Verfassung als
vornehmstes Interpretationsprinzip . . . . . . . . . . .
b)
46
cc) Die Auslegung von Regel-Ausnahme-Bestimmungen
Bedeutungswandel einer Norm . . . . . . . . .
Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit
. . . . .
Menschenrechtskonvention sowie deren Interpretation als
Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . .
. . .
. .
. .
Hilfe
. .
. .
.
.
zur
.
aa) Allgemeine Bedeutung der Menschenrechtskonvention . . . .
(1) “Rang“ der Konvention (“Auslegungshilfe“)
50
50
50
50
51
51
51
51
52
52
52
. . . . . . .
52
(2) Geltendmachung einer Verletzung . . . . . . . . . . . . .
52
(2a)
(2b)
Geltendmachung gegenüber dem Verfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Konventionsfreundliche Auslegung und entsprechende EGMR-Rechtsprechung . . . . . . . . .
53
bb) Spezielle Artikel der Menschenrechtskonvention
. . . . . . .
53
(1) Art. 3 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
Brunn - Kapitel A.III.0.
3.
Seite 36
(2) Art. 5 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53
(3) Art. 6 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
(3a)
Faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
(3b)
Unschuldsvermutung
. . . . . . . . . . . . . .
55
(4) Art. 7 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
(5) Art. 8 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
(6) Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
(7) Art. 10 EMRK
56
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(8) Art. 14 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verfassungs-Bindungen des Gesetzgebers im Zusammenhang
Gemeinschafts- bzw. Unions- und Völkerrecht . . . . . . . .
a) Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht (Art. 23 GG i.V.m. Art. 24
sowie Art. 59 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . .
. .
mit
.
GG
.
aa) Primäres Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht . . . . . . . . . .
56
57
57
(1) Allgemeine und unmittelbare Geltung durch Zustimmungsgesetze (Art. 59 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
57
(2) Anwendungsvorrang
57
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht
. . . . . . . . . . . . . . . .
58
(1) Problematik der nicht durch nationales Recht umgesetzten
Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
58
(2) Auslegung anhand der Vertragsziele . . . . . . . . . . . .
58
cc) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
. . . . . . .
dd) (Verfassungsgerichtlicher) Rechtsschutz des Bürgers gegen Unionsrecht umsetzendes nationales Recht . . . . . . . . . . . .
58
58
(1) “Zurückhaltung“ des Verfassungsgerichts als Grundsatz .
59
(2) Ausnahmen bei Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und
Kompetenz- bzw. Verstoß gegen eine europäische Grundrechtsverbürgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
ee) Die verfassungsgerichtliche Prüfung (insbesondere im Normenkontrollverfahren) von (auch “umgesetztem“) sekundärem
Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
59
(1) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
56
(2) Ausnahme des Gemeinschafts-/Unionsrechts mit Umsetzungsspielraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Völker(vertrags-)recht als bindendes (meist nicht mehr fremdes)
Recht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Art. 25 Abs. 1 GG (Allgemeines Völkerrecht)
59
60
60
. . . . . . . .
60
(1) Völkergewohnheitsrecht als Hauptgruppe . . . . . . . . .
60
(2) Einzelne Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
Brunn - Kapitel A.III.0.
4.
Seite 37
bb) “Schlichtes“ Völkervertragsrecht . . . . . . . . . . . . . . . .
61
(1) Völkerrechtliche Verträge . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
(2) Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 Satz 1GG) als “Rechtsanwendungsbefehl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
61
(3) Veränderungsfähigkeit früherer Zustimmungsakte
62
. . . .
(4) Verfassungsverletzungen bei bindenden Verträgen . . . .
Sonderfall der verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers als Folge von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen über Bundesgesetze .
a) Unvereinbarkeit und Nichtigkeit von Gesetzen sowie Folgenbewältigung (§§ 78 f. BVerfGG) . . . . . . . . . . . . . .
63
aa) Der gebotene Respekt des Verfassungsgerichts vor dem Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
(1) Der Ausgleich zwischen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und dessen Verfassungsbindung . . . . . . . . . . .
64
(2) Vereinbarkeitserklärungen
64
. . . . . . . . . . . . . . . . .
62
62
bb) Schwerpunkte für Unvereinbarkeitserklärungen sowie Nebenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
(1) Die in Betracht zu ziehenden Fallgruppen einer Unvereinbarkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
(1a)
Gleichheitsverstöße
. . . . . . . . . . . . . . .
65
(1b)
Weitere denkbare Fälle . . . . . . . . . . . . .
66
(1c)
Nichtigkeit eines (auch) begünstigenden Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Zeitliche (vergangenheitsbezogene) Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
Unvereinbarkeiten bei aufhebenden Gesetzen
(“Aufleben“ früheren Rechts) . . . . . . . . . .
67
(2) Weitergeltungsanordnungen (meist zu den Zwecken der Verhinderung eines rechtlichen Vakuums sowie von Unsicherheiten über die Rechtslage) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
(1d)
(1e)
(2a)
Haushaltswirtschaftlich bedeutsame Steuernormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
(2b)
(Weitere) Sonderkonstellationen . . . . . . . .
67
(2c)
Schlagwortartige Zusammenfassung (Abwägungsergebnis) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
(3) Insbesondere: Dauer der Weitergeltung . . . . . . . . . .
(3a)
(3b)
68
Kriterien für eine Zubilligung von Übergangsfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Absehen von einer Fristsetzung bei absehbarer
“Heilung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
68
Brunn - Kapitel A.III.0.
(4)
Seite 38
Vollstreckungsanordnungen und Übergangsregelungen
(hauptsächlich gestützt auf § 35 BVerfGG) . . . . . . . .
(4a)
69
Nebenentscheidungen zur Verwirklichung des gefundenen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Absehen von Nebenentscheidungen bei Absehbarkeit von alsbaldigen “Heilungen“ . . . . . .
69
(5) Erstreckungen von Unvereinbarerklärungen auf andere Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
(4b)
(5a)
Erstreckung auf bereits aufgehobene Gesetze .
70
(5b)
Erstreckung auf inhaltsgleiche Bestimmungen
anderer Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
cc) Die Folgen einer Unvereinbarerklärung für den Gesetzgeber
70
(1) Pflicht zur rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
(2) Ausnahmen
70
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Spezielle Ausnahmefälle
(3a)
(3b)
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Steuerrecht (haushaltswirtschaftlich bedeutsame Vorschriften) . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
Beamtenrecht (Alimentation) . . . . . . . . . .
71
dd) Nichtig- bzw. Unvereinbarkeitserklärung und spezielle Folgen
(insbesondere “strukturbedingte normative Regelungsdefizite“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
(1) Die grundlegende Unterscheidung zwischen inhaltlicher Unvereinbarkeit der Norm mit dem Grundgesetz und einem
(“bloßen“ oder “evidenten“) Mangel im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
(1a)
“Bloßer“ Mangel im Gesetzgebungsverfahren .
72
(1b)
Verordnung und Nichterfüllung gesetzlicher
Pflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
(2) Nichtigerklärungen von Ausschlussnormen als (ausnahmsweise) zulässige Ausnahme vom Verbot der Teilnichtigerklärungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
(2a)
Beispielsfälle für den Grundsatz . . . . . . . .
73
(2b)
Beispielsfälle für die Ausnahme (insbesondere Nichtigkeit von Begünstigungen und
Ausschlussnormen) . . . . . . . . . . . . . . . .
73
(3) Folgen einer Nichtigerklärung
. . . . . . . . . . . . . . .
73
(3a)
Entfallen einer Sperrwirkung nach Art. 72 GG
73
(3b)
Nichtigkeit einer Bezugsnorm und Auswirkungen auf die verweisende Norm (Ausgangsnorm)
74
Brunn - Kapitel A.III.0.
(3c)
Seite 39
Prüfpflichten für Behörden und Gerichte . . .
ee) Wirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
auf unanfechtbare behördliche und gerichtliche Akte (§ 79
BVerfGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
ff)
b)
74
(1) Wiederaufnahme bei Strafurteilen (§ 79 Abs. 1 BVerfGG)
74
(2) Unberührtheit von nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen (§ 79 Abs. 2 BVerfGG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
(3) Normen, deren Rechtswirkungen ohne Zwischenschaltung
von Behörden oder Gerichten eintreten . . . . . . . . . .
75
(4) Sonderfälle (Rentenrecht, Beamtenrecht) . . . . . . . . .
75
(5) Privatrechtliche Rechtsbeziehungen . . . . . . . . . . . .
76
(6) Insbesondere: Vollstreckungsverbote (§ 79 Abs. 2 Sätze 2
und 3 BVerfGG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
Schlagwortartige Zusammenfassung der Folgen von Nichtigbzw. Unvereinbarkeitserklärungen im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
(1) Verbot der Anwendung verfassungswidriger Normen
. .
77
(2) Einfluss des § 79 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
(3) “Heilungs- bzw. Abhilfepflichten“ des Gesetzgebers
. . .
77
.
77
Die Bindung nach Art. 94 GG i.V.m. § 31 BVerfGG .
aa)
74
.
.
.
Sachentscheidungen über Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit
(Nichtigkeit) als Auslöser von Bindungen . . . . . . . . . . .
77
(1) Tenor und Bindung an Gründe
78
(2)
. . . . . . . . . . . . . .
Beanstandende Entscheidungen und gesetzgeberische
Hauptaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
(2a)
Beseitigungspflichten (bzw. Heilungsoptionen)
78
(2b)
“Wiederholungsverbote“
. . . . . . . . . . . .
78
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
(1) Tenorbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
(2) Prozesshindernisse als denkbare Folgen einer Rechtskraft
79
(3) Ausnahmemöglichkeit der Berufung auf veränderte Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
bb) Rechtskraft
cc) Bindungswirkung (Gesetzeskraft) . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Tenortragende Entscheidungsgründe
. . . . . . . . . . .
80
. . . . . . . . . . . . . .
80
Erfordernis der besonderen Gründe . . . . . .
80
(2) Verbot der Normwiederholung?
(2a)
79
Brunn - Kapitel A.III.0.
(2b)
c)
Seite 40
“Missachtung“ einer ergangenen Entscheidung
des Verfassungsgerichts als Verstoß gegen
verfassungsrechtliche Rücksichtnahmepflichten
(Organtreue) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
(3) Verbot der inhaltsähnlichen Norm? . . . . . . . . . . . .
81
(4) Bindungen früher unbeteiligter Beteiligter? . . . . . . . .
81
(5) “Gesetzeskraft“ (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG) . . . . . .
Anhang: Überblick über die gebräuchlichsten (statistisch häufigsten)
Formen der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts . . . . .
81
aa) Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) . . . . . . .
82
(1) Funktion der Verfassungsbeschwerde (Vorrang des individuellen Rechtsschutzes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
82
(1a)
Gegenstand) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
(1b)
Verfahrenserledigungen . . . . . . . . . . . . .
82
(1c)
Rechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . .
82
(2) Beschwerdebefugnis (Betroffenheit) als für alle Verfassungsbeschwerden geltende Zulässigkeitsvoraussetzung . . . . .
82
(2a)
Selbstbetroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . .
83
(2b)
Gegenwärtige Betroffenheit . . . . . . . . . . .
83
(2c)
Unmittelbare Betroffenheit . . . . . . . . . . .
83
(2d)
Betroffenheit durch “Vorauswahlen“ . . . . . .
84
(3) Fristwahrung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
(3a)
Allgemeines zur Fristberechnung . . . . . . . .
84
(3b)
Monatsfrist und Möglichkeit der Wiedereinsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
Monatsfrist und (offensichtlich) unzulässiger
vorgängiger Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . .
85
(Zulässige) Begründungsergänzung (und unzulässige Erweiterung des Gegenstandes) . . . . .
85
Begründung bei gerichtlichen Entscheidungen
mit verschiedenen (tragenden) Gründen . . . .
85
(4) Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
(3c)
(3d)
(3e)
(4a)
Grundsatz (Unzulässigkeit, Erfordernis der Tenorbeschwer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
(5) “Erschöpfung“ des Rechtswegs (Subsidiarität) . . . . . .
86
(4b)
(5a)
Begründungserfordernisse sowie Subsidiaritätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
Brunn - Kapitel A.III.0.
(5b)
Seite 41
Gegenvorstellung (und gesetzlich geregelte Gehörsrüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
87
(5c)
Unzulässiger Rechtsbehelf . . . . . . . . . . . .
88
(5d)
Ausnahme bei “Unzumutbarkeit“ der Rechtswegerschöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
(6) Die innerhalb einer Jahresfrist zu erhebende Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsnormen . . . . . . . . . . . . . .
88
(6a)
Unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung . . . . .
88
(6b)
Darlegung einer möglichen Betroffenheit . . . .
89
(6c)
Sonderfall des Angriffs auf eine Verfassungsnorm
und das ausfüllende Gesetz . . . . . . . . . . .
89
bb) Vorlage durch ein Fachgericht (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG)
(1) Darlegung der Entscheidungserheblichkeit
89
. . . . . . . .
(2) Darlegung der (verfassungsrechtlichen) Vorlagegründe
90
.
90
(3) “Vorentscheidung“ des Verfassungsgerichts und Vorlage .
90
(4) Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichts . . . . . . . . .
90
cc) Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG . . . . .
91
(1) Parteifähigkeit (§§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG)
. . . . . . . .
91
(1a)
Fraktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(1b)
Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(2) Taugliche Antragsgegenstände . . . . . . . . . . . . . . .
91
(3) Antragsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(4) Frist (von sechs Monaten)
. . . . . . . . . . . . . . . . .
91
(5) (Entfallenes) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . .
92
dd) Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG)
. . .
(1) Antragsberechtigung (Art. 93 Abs.1 Nr. 2 i.V.m. § 76 Abs.
1 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1a)
(1b)
92
92
Die unterschiedlichen Voraussetzungen und
Möglichkeiten von § 76 Nr. 1 BVerfGG einerseits und § 76 Nr. 2 BVerfGG andererseits . .
92
Antragsberechtigung im Falle einer Zustimmung
im Bundesrat . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
(2) Begründungspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
(3) Antrag und Prüfungsumfang . . . . . . . . . . . . . . . .
93
(4) Objektives Klarstellungsinteresse (Indizierung und Ausnahmen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
ee) Bund-Länder-Streit i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG
. . . . .
94
Brunn - Kapitel A.III.1.
Seite 42
ff) Allgemeiner Prüfungsmaßstab bei Anträgen auf Erlass einer
einstweiligen Anordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
(1) Folgenabwägung (bei “offenem“ Ausgang des Hauptsacheverfahrens) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
(2) Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes als seltene Ausnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
Das Grundgesetz ist als ranghöchstes innerstaatliches Recht nicht nur Maßstab für die
Gültigkeit von Rechtsnormen aus innerstaatlicher Rechtsquelle; jede dieser Rechtsnormen ist im Einklang mit dem Grundgesetz auszulegen. Sie empfängt daraus im Rahmen
ihres Wortlauts gegebenenfalls einen ergänzenden Sinn oder ist, wenn die übrigen Voraussetzungen hierfür erfüllt sind, im Einklang mit dem Grundgesetz fortzubilden. Denn
das Grundgesetz ist Teil der Gesamtrechtsordnung, die als Sinnganzes verstanden werden
muss und jeglicher Auslegung innerstaatlichen Rechts zugrunde zu legen ist (BVerfGE
75, 201 [218 f.]).
1. Die Primärbindung des Gesetzgebers an die “verfassungsmäßige
Ordnung“ (Art. 20 Abs. 3, 1. Alt. GG)
Wie bereits eingangs (A. vor I. und A.I.2.a) (vgl. S. 3) ) angedeutet, sieht es einfacher aus
als es ist, zu bestimmen, worin im einzelnen diese verfassungsrechtliche Norm(en)bindung
besteht (welche Verstöße des Gesetzgebers in Betracht zu ziehen sind; vgl. ausführlicher
nachfolgend A.III.1.c)bb) (vgl. S. 46) und A.III.4.b)cc) (vgl. S. 79) sowie E.I.3.b)bb) (vgl.
S. 485) ).
a) “Gewisse“ Bindungen
Soweit Art. 20 Abs. 3 (1. Alt.) GG den Gesetzgeber an die “verfassungsmäßige Ordnung“
bindet, erschließt sich der Umfang dieser Ordnung nur durch eine ordnungsgemäße Verfassungsinterpretation (vgl. zu Einzelheiten der Verfassungsinterpretation nachfolgend
2.), wobei freilich eine Unterscheidung danach zulässig erscheint, ob eine Bindung gewissermaßen “auf der Hand liegt“ oder nicht:
aa) Bindungen durch die Grundrechte (und durch die Staatszielbestimmungen in Art.
20 a GG?)
Gewiss ist - erstens -, dass (über die selbstverständliche Bindung an Art. 1 Abs. 1
GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG - Menschenwürde - hinaus) wegen Art. 1 Abs. 3 GG
(nachfolgend E.I.3. (vgl. S. 480) ) die “nachfolgenden Grundrechte“ den Gesetzgeber
binden (BVerfGE 7, 377 [410] “Dem Verfassungsgericht ist der Schutz der Grundrechte
gegenüber dem Gesetzgeber übertragen.“).
Schon nicht mehr so gewiss ist, ob es gewissermaßen die Grundrechte “als solche“ sind,
welche den Gesetzgeber binden, oder die Grundrechte in der Auslegung, wie sie durch
das Bundesverfassungsgericht interpretiert worden sind (ausführlich nachfolgend c)bb)
sowie E.I.3.b)bb) (vgl. S. 485) ), weil durchaus in Frage zu stellen ist, dass die in Art. 94
Abs. 1 GG vorgesehene “Gesetzeskraft“ dem Gesetzgeber von vornherein eine andere
Interpretation als die durch das Bundesverfassungsgericht gefundene verbietet.
Brunn - Kapitel A.III.1.
Seite 43
Seit einer Grundgesetzergänzung des Jahres 1994 stellt sich die Frage, ob Art. 20 a GG
den Gesetzgeber (zur Kompetenz C.VII.11. (vgl. S. 218) ) überhaupt bzw. in ähnlicher
Weise wie die Grundrechte bindet oder nicht:
(1) Umsetzungsauftrag des Art. 20 a GG
Art. 20 a GG verpflichtet den Gesetzgeber, den in Art. 20 a GG enthaltenen Auftrag
bei der Rechtsetzung umzusetzen und geeignete Umweltschutzvorschriften zu erlassen.
Dabei ist der Gesetzgeber zwar auf dem Nachhaltigkeitsprinzip verpflichtet, ihm steht
aber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 118, 79 [110]).
(2) Ziel des Umweltschutzes und einzelne Schutzgüter
Das Ziel des Umweltschutzes ist ein Sachgrund, dessen Legitimität sich u.a. aus dem
in Art. 20 a GG enthaltenen Auftrag ergibt, in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Dieser Auftrag kann sowohl
Gefahrenabwehr gebieten als auch Risikovorsorge legitimieren (BVerfGE 137, 350 [368
f.]).
(2a) Biologische Vielfalt und Sorge für bedrohte Tier- und Pflanzenarten
Zu den von Art. 20 a GG geschützten Umweltgütern gehören auch die Erhaltung der
biologischen Vielfalt und die Sicherung eines artgerechten Lebens bedrohter Tier- und
Pflanzenarten (BVerfGE 128, 1 [37]).
(2b) Tierschutz
Als Belang von Verfassungsrang ist der Tierschutz, nicht anders als der in Art. 20
a GG zum Staatsziel erhobene Umweltschutz, im Rahmen von Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen und kann geeignet sein, ein Zurücksetzen anderer Belange von
verfassungsrechtlichem Gewicht - wie etwa die Einschränkung von Grundrechten - zu
rechtfertigen. Er setzt sich aber andererseits gegen konkurrierende Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht nicht notwendigerweise durch (BVerfGE 127, 293 [328]).
(2c) Schutz vor denkbaren Gefahren der Gentechnik
Angesichts eines noch nicht endgültig geklärten Erkenntnisstandes der Wissenschaft bei
der Beurteilung der langfristigen Folgen eines Einsatzes von Gentechnik trifft den Gesetzgeber eine besondere Sorgfaltspflicht , bei der er den in Art. 20 a GG enthaltenen
Auftrag zu beachten hat, auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen (BVerfGE 128, 1 [37]).
bb) Bindungen durch die Kompetenzordnung
Gewiss ist - zweitens - auch, dass die Kompetenzordnung (nachfolgend Kapitel C.) der
Art. 70 ff. GG (i.V.m. Art. 30 GG) den Gesetzgeber bindet (BVerfGE 125, 260 [313] formelle Anforderungen), denn wenn nach Art. 20 Abs. 1 GG die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat ist und die Länder mit Gewissheit zur (eigenen) Gesetzgebung
berufen sind, kann schlechterdings nicht angenommen werden, dass der Bundesgesetzgeber insoweit nicht gebunden sein könnte; auch hier kann freilich in Frage zu stellen sein,
Brunn - Kapitel A.III.1.
Seite 44
ob der Gesetzgeber (gewissermaßen für alle Zeiten) an eine - von ihm als misslungen angesehene - Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (etwa zum kompetenzmäßigen
Begriff “Strafrecht“, hierzu nachfolgend C.VII.1.b) (vgl. S. 206) ) gebunden ist, oder ob
er es wagen darf, mit guten Gründen einen erneuten Versuch zu wagen.
cc) Bindungen an die Grundsätze in Art. 20 GG sowie an die Verfahrensgrundrechte
Aus Art. 20 Abs. 1 GG folgt - drittens - mit Gewissheit, dass (auch und gerade) der
Gesetzgeber an die Gebote des Demokratie- (nachfolgend D.III.) und des Sozialstaatsprinzips (nachfolgend D.IV.) gebunden ist, und aus Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG folgt viertens -, dass er mit Gewissheit an das Gewaltenteilungsprinzip (nachfolgend D.VI.)
gebunden ist.
Das Rechtsstaatsprinzip (nachfolgend D.V.), das sich vor allem (aber nicht nur) in den
sog. Verfahrensgrundrechten und sonstigen Verbürgungen der Art. 19 Abs. 4 GG, Art.
103 GG und Art. 104 GG (nachfolgend Kapitel F.) ausdrückt, ist - fünftens - ebenso
gewiss vom Gesetzgeber zu beachten, wobei sich freilich auch hier sich immer die vorbezeichnete Frage stellt, ob das Bundesverfassungsgericht durch seine Maßstabsbildungen,
d.h. die entscheidungstragenden Festlegungen von Umfang und Grenzen von Verfassungsbestimmungen, gewissermaßen mit “Verfassungskraft“ den Gesetzgeber bindet, wodurch
- so lässt sich argumentieren - das Bundesverfassungsgericht die Rolle eines verfassungschaffenden und -verändernden Gesetzgebers einnehmen würde.
dd) Bindungen an die Art. 76 ff. GG
Schließlich dürfte - sechstens - schlechterdings nicht zu verneinen sein, dass - wie die
verfassungsgerichtliche Prüfung etwa in der Entscheidung BVerfGE 125, 260 (313) erweist
- der Gesetzgeber an die “Verfahrensregeln“ der Art. 76 ff. GG gebunden ist (hierzu
nachfolgend C.II.).
b) “Ungewisse“ Bindungen
Die nachfolgend aufgeworfenen Fragen lassen sich jedenfalls nicht so eindeutig beantworten wie die gerade aufgeworfenen:
aa) Identität der “verfassungsmäßigen“ Ordnungen?
Schon nicht mehr gewiss ist, ob sich die verfassungsmäßige Ordnung des Art. 20 Abs. 3
GG womöglich mit derjenigen des Art. 2 Abs. 1 GG (in der tradierten und im wesentlichen unbestrittenen Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, E.II.2.b) (vgl. S. 523) )
deckt bzw. warum sich gerade nicht deckt (vgl. nachfolgend 2.a)bb)(1)), weil dann der
Gesetzgeber an seine eigene (frühere) Gesetzgebung gebunden wäre, was schlechterdings
ausgeschlossen erscheint.
bb) Bedeutung des Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG?
Mit der vorstehenden Frage hängt zusammen, was das Grundgesetz meint, wenn es bestimmt, dass ein Bundesgesetz regeln darf, in welchen Fällen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts “Gesetzeskraft“ haben (hierzu ausführlich nachfolgend 4.).
Brunn - Kapitel A.III.1.
Seite 45
cc) Bindungen an Menschenrechtskonvention, Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht?
Nicht völlig gewiss ist, ob der Gesetzgeber auch an die Menschenrechtskonvention
(BVerfGE 138, 296 [155 ff.] für Art. 9 und Art. 14 EMRK und deren Auslegung durch
den EGMR; freilich für Auslegung durch Gerichte), das Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht
und das Völkerrecht gebunden ist; aus einer Zusammenschau des Art. 1 Abs. 2 GG (E. I.
2.), der Art. 23 bis 25 GG sowie des Art. 59 Abs. 2 GG dürfte sich freilich zwanglos eine
grundsätzlich (vollständig) bejahende Beantwortung der Frage ergeben (vgl. BVerfGE
141, 220 [341] zur Einbindung in die internationale Gemeinschaft und zur Ausrichtung
auf internationale Zusammenarbeit; ausführlich nachfolgend A.III.2.d) (vgl. S. 52) und
A.III.3. (vgl. S. 56) ).
dd) Bindungen an die Geschäftsordnung des Bundestages?
Gleichfalls zumindest nicht gewiss ist, dass der Gesetzgeber nicht an die Geschäftsordnung des Parlaments (Art. 40 GG) gebunden ist, soweit diese die Zusammensetzung
etwa eines Ausschusses (etwa einer parlamentarischen Kontrollkommission) regelt, und
deshalb ohne weiteres zum Mittel der Gesetzgebung greifen darf, um eine von der Mehrheit “unerwünschte“ Mitwirkung (in Ausschüssen) von Parlamentariern zu verhindern,
die zu Minderheitsfraktionen gehören.
Zwar darf - obgleich “die Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip keine Feststellung der
Wahrheit ist“ (BVerfGE 70, 324 [366, 369]) abweichende Meinung) - das Mehrheitsprinzip
(Art. 42 Abs. 2 GG) regelmäßig unbedenklich zum Zuge kommen, wenn das Parlament
als Gesetzgeber agiert, aber es ist gerade die Frage, ob das Parlament durch Gesetz
(also regelmäßig durch Regelungen mit Außenwirkungen im gesamten Rechtsverkehr) eine
bestehende, auf der Parlamentsautonomie beruhende Geschäftsordnung, die die “inneren“
Angelegenheiten des Parlaments regelt (BVerfGE 130, 318 [348 ff.] sowie BVerfGE 131,
152 [213 f.]) und auch und gerade dem Minderheitenschutz dient, “aushebeln“ darf, wie
dies entschieden worden ist (BVerfGE 70, 324 [Ls. 6 und 361]; demgegenüber BVerfGE
70, 324 [380, 386 ff.] abweichende Meinung).
Ob entsprechende Fragen sich auch im Zusammenhang des (neuen) Art. 45 d GG ergeben,
ist eine offene Frage.
ee) Bindungen an einfachrechtliche Aussagen des Verfassungsgerichts
Eher ungewiss ist auch, ob und inwieweit der Gesetzgeber (über die angerissene Frage der
Bindung des Gesetzgebers an die Auslegung des Verfassungsrechts durch das Verfassungsgericht hinaus) an - freilich meist sehr zurückhaltend formulierte - verfassungsgerichtliche Aussagen zum “einfachen“ Gesetzesrecht gebunden ist; bei entscheidungstragenden
Aussagen dürfte diese Frage wegen Art. 94 Abs. 1 Satz 1 GG i.V.m. § 31 BVerfGG
meist zu bejahen sein (nachfolgend 4. b)).
c) Insbesondere: (Ungewisse) Bindungen von Gerichten und Behörden sowie
des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Verfassungsinterpretationen
Was zunächst die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichts angeht, Behörden und Gerichte zur verfassungsentsprechenden Auslegung und Anwendung des Rechts anzuhalten
und sie insoweit hinsichtlich bereits ergangener verfassungsgerichtlicher Auslegung des
Verfassungsrechts zu binden, so ist diese im Wesentlichen geklärt:
Brunn - Kapitel A.III.1.
Seite 46
[1] Das Bundesverfassungsgericht hält die Gerichte dazu an, “die jeweils einschlägigen
Grundrechte interpretationsleitend zu berücksichtigen, damit deren wertsetzende Bedeutung auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt“ (BVerfGE 115, 51 [66 f.]), und
es (beanstandet nicht nur Verfehlungen verfassungsrechtlicher Vorgaben bei EinzelfallSubsumtionen, sondern) “setzt über den Einzelfall hinausreichende Maßstäbe, an welche
die ... Gerichte bei ihrer künftigen Rechtsprechung in gleichgelagerten Fällen ... gebunden
sind“ (a.a.O. [67]; dort auch zum Ausschluss verfassungswidriger Interpretationsmöglichkeiten).
[2] Dies gilt gegenüber dem Gesetzgeber so zumindest nicht uneingeschränkt (vgl. u.a.
nachfolgend A.III.4.b)cc) (vgl. S. 79) ):
aa) Bindung des Gesetzgebers an verfassungsgerichtliche Interpretationen?
Sieht man von einigen wenigen Bestimmungen ab, welche im Hinblick auf ihre Bindungswirkung (meist “inter partes“) verhältnismäßig einfach zu interpretieren sind
(nachfolgend bb) sowie ausführlich nachfolgend 4.), so fällt es äußerst schwer, die Frage zu beantworten, ob insbesondere der Gesetzgeber einer “allgemeinen Bindung“ an
ausnahmslos alle (entscheidungstragenden) Verfassungsinterpretationen des Verfassungsgerichts gebunden ist, bis dieses neu interpretiert.
(1) Ausgangsfrage
Ob eine vorliegende verfassungsgerichtliche Interpretation einer Verfassungsbestimmung
zwingend zur verfassungsmäßigen Ordnung i.S.v. Art. 20 Abs. 3 (1. Alt.) GG mit der
Folge gehört, dass sie den Gesetzgeber - welcher an die Verfassung “schlechthin“ gebunden
ist (BVerfGE 6, 32 [38]) - bindet, ist - wie bereits mehrfach angedeutet (A.I.2.a) (vgl.
S. 3) und A.III.1. (vgl. S. 42) ) - zumindest keine (aus dem Wortlaut des Grundgesetzes)
leicht zu beantwortende Frage (vgl. auch nachstehend E.I.3.b)bb) (vgl. S. 485) ).
(2) “Erweiterung“ der Fragestellung
Man kann die Frage sogar noch “zuspitzend“ erweitern, indem man unterteilt zwischen
vorliegender - erstens - “konkreter“ (auf eine bestimmte Norm bezogener) und - zweitens “abstrakter“ (im Sinne der Methodenlehre), nämlich normübergreifender (hierzu A.III.2.
(vgl. S. 47) ) verfassungsgerichtlicher Auslegung der Verfassung.
In beiden Fällen dürfte freilich die Beantwortung - vorbehaltlich einer “Missachtung“
des Verfassungsgerichts durch den Gesetzgeber (BVerfGE 135, 259 [281 f.]; dort auch zu
einem Verstoß gegen den Grundsatz der Organtreue) - gleichlautend sein:
bb) Beantwortungsversuch
Wenn das Bundesverfassungsgericht - sieht man von der materiellen Rechtskraft ab, die
“denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien“ erfordert (BVerfGE 104, 151
[196]) - sich selbst von den “Fesseln“ früherer Rechtsprechung befreien darf (BVerfGE 4,
31 [38 f.]; dort auch zum Unterschied zur Rechtskraft , deren Umfang sich ausschließlich nach dem Tenor bemisst; vgl. auch BVerfGE 20, 56 [86 f.]), spricht manches dafür,
dass der Gesetzgeber (zwar mit Gewissheit nicht immer wieder, aber doch zumindest
bei - einmaliger oder wiederholter - höchst umstrittener Interpretation) den möglichst
gut begründeten Versuch unternehmen darf, bei Gelegenheit der Schaffung eines anderen Gesetzes oder einer anderen Einzelnorm (bei einem lediglich wiederholten Gesetz
Brunn - Kapitel A.III.2.
Seite 47
bzw. einer bloß wiederholenden Einzelnorm dürfte regelmäßig - BVerfGE 96, 260 [263]
- Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG i.V.m. § 31 BVerfGG einschlägig sein) eine vorliegende verfassungsgerichtliche Interpretation in Frage zu stellen (vgl. den Rechtsgedanken in der
Entscheidung BVerfGE 39, 169 [181 ff.] zu Art. 100 Abs. 1 GG), freilich mit dem Risiko,
dass dieser Versuch scheitert und der Gesetzgeber (erneut) vor einem “Trümmerhaufen“
steht (keinesfalls ausreichend dürfte insoweit die Motivation sein, “das Verfassungsgericht
habe es doch so nicht meinen können“).
(1) “Vorklärung“ durch die Entscheidung BVerfGE 77, 84 (104)
Eine diese Fragen abschließende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts steht soweit ersichtlich - noch aus (vgl. aber BVerfGE 77, 84 [104] mit der verhältnismäßig
eindeutigen Aussage, dass Gesetze “an der Verfassung selbst und nicht an verfassungsgerichtlichen Präjudizien zu messen“ sind); mit Gewissheit gilt daher zunächst “nur“, dass
sich die Bindung des Gesetzgebers nicht in der Verpflichtung erschöpft, bei Erlass eines
Gesetzes die verfassungsrechtlichen Grenzen einzuhalten, sondern auch die Verantwortung dafür umfasst, dass die Gesetze in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz bleiben
(BVerfGE 88, 203 [310]).
(2) Aufgabenüberschreitung des Verfassungsgerichts
In die gleiche Richtung weist die Beantwortung der Frage, ob eine derart bindende Verfassungsinterpretation nicht zu einem “Rollentausch“ zwischen dem verfassungschaffenden
bzw. -verändernden Gesetzgeber und dem Verfassungsgericht führt , weil - zumindest
bis in den Gesetzgebungsorganen die für Verfassungsänderungen notwendigen Quoren
zustande gekommen sind - letzteres über seine ihm zustehende Rolle als Verfassungsinterpret hinaus in diejenige des insoweit herrschenden Verfassungsorgans (nämlich des
verfassungsändernden Gesetzgebers) “hineinwüchse“.
Im Extremfall könnte dies sogar dazu führen, dass - jedenfalls bis zu einem “Einschreiten“ des verfassungsändernden Gesetzgebers - das Verfassungsgericht i.S.v. Art. 79 Abs.
3 GG verfassungswidriges Verfassungsrecht erzeugte.
(3) Problem der “blockierten“ Fortbildung des Verfassungsrechts
Am überzeugendsten dürfte es sein, die Ausgangsfrage folgendermaßen zu beantworten:
Wenn es - erstens - richtig ist, dass das Verfassungsgericht eine - an sich zulässige - Korrektur der eigenen Rechtsprechung nicht aus eigener Initiative vornehmen darf (BVerfGE
77, 84 [104]), und - zweitens - eine der Hauptaufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit die
“Fortbildung des Verfassungsrechts“ ist (BVerfGE 6, 222 [240]), so kann es weder im
Interesse der Verfassung (“als solcher“) noch des Verfassungsgerichts selbst liegen, dass
eine gewissermaßen “überfällige“ Fortbildung des Verfassungsrechts dadurch - womöglich
über Jahre und Jahrzehnte - “blockiert“ sein kann, dass sich kein Streitverfahren auftut,
welches Gelegenheit zu entsprechender Fortentwicklung böte.
Damit wäre auch der Gesetzgeber dauerhaft blockiert, wenn ihm die Möglichkeit des “Anzweifelns“ vorhandener Verfassungsinterpretation durch “abweichende“
Gesetzgebung von vornherein verwehrt wäre.
Vor diesem Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung gilt (gewissermaßen “vor die verfassungsrechtliche Klammer gezogen“):
Brunn - Kapitel A.III.2.
Seite 48
2. Allgemeingültige Regeln für die Auslegung von Verfassungsbestimmungen
Auch bei der Ermittlung des vom Verfassungsrecht gesteckten Rahmens für die parlamentarische Gesetzgebung kann es - jedenfalls dann, wenn zu einer Verfassungsnorm noch
keinerlei einschlägige Rechtsprechung des Verfassungsgerichts vorhanden ist - nicht ausbleiben, dass Zweifel über Zweck und Inhalt von Verfassungsnormen - seien es die meist
einfach zu verstehenden Verfahrens- und Kompetenznormen, seien es die gerade wegen
ihres “lapidaren“ Wortlauts meist schwer zu interpretierenden Grundrechts- oder sonstigen materiellen Normen - entstehen, die nur durch eine - bisweilen äußerst schwierige Verfassungsauslegung (vgl. B.II.2. (vgl. S. 113) zur “gewöhnlichen“ Gesetzesauslegung)
behoben werden können.
[1] Ein nur vordergründig gut gangbarer Weg besteht darin, die zweifelhafte Verfassungsbestimmung durch den (einfachen) Gesetzgeber “interpretieren“ zu lassen, wie es
jahrzehntelang im Recht der Kriegsdienstverweigerung unternommen worden ist, indem
- freilich mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts - die von der Verfassung (Art. 4
Abs. 3 GG) vorausgesetzte Gewissensentscheidung durch einfaches Recht deutlich eingegrenzt worden ist.
Solange sich nämlich durch Auslegung die Reichweite einer Verfassungsbestimmung, insbesondere eines Grundrechts, unmittelbar erschließen lässt, bleibt kein Raum für eine
konstitutive Regelung durch den einfachen Gesetzgeber. Ihm ist eine “authentische Interpretation“ der Verfassung verwehrt. Versucht ein Gesetz, den Gehalt einer Verfassungsbestimmung mit eigenen Worten verdeutlichend zu umschreiben, so geschieht dies
auf die Gefahr, dass dieser Interpretationsversuch mit der Verfassung in Widerspruch
gerät (BVerfGE 12, 45 [53]).
Deshalb lässt sich beispielsweise auch die Antwort auf die Frage, wie die Worte “Das Nähere regelt ein Gesetz“ zu interpretieren sind, nur daraus entnehmen, was die Verfassung
selbst bereits über die Materie bestimmt und was sie zur näheren Regelung offen gelassen
hat (BVerfGE 15, 126 [138]).
[2] Regelmäßig wird freilich dem Bundesgesetzgeber ein “nicht unerheblicher Spielraum“
bei der Ausgestaltung des Vollzugs einer Aufgabe eingeräumt (BVerfGE 137, 108 [173]).
a) Aufgabe der Verfassungsauslegung und Einheit der Verfassung als
vornehmstes Interpretationsprinzip
Aufgabe der Verfassungsauslegung (und -rechtsprechung) ist es, die verschiedenen Funktionen einer Verfassungsnorm zu “erschließen“. Dabei ist derjenigen Auslegung der Vorzug zu geben, die die “juristische Wirkungskraft der betreffenden Norm am stärksten
entfaltet“ (BVerfGE 6, 55 [72]; vgl. auch BVerfGE 6, 222 [240] “Fortbildung des Verfassungsrechts“).
[1] Materienübergreifend - und über Kompetenzfragen hinaus - gilt allgemein, dass für
die Auslegung einer Verfassungsnorm “über das gängige Wortverständnis hinaus ... das
rechtliche und historische Umfeld sowie die Zielrichtung ... von Bedeutung“ sind (BVerfGE 138, 261 [275] für eine Verfassungsänderung). Mit anderen Worten:
[2] Die Grenzen einer Auslegung von Verfassungsnormen liegen (auch für durch Verfassungsänderungen geschaffene Normen) dort, wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszule-
Brunn - Kapitel A.III.2.
Seite 49
genden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen
Punkt verfehlt würde (BVerfGE 109, 279 [316 f.]; dort [316] auch zur Interpretation von
Grundrechtsschranken : Berücksichtigung anderer Grundrechtsnormen und des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes).
aa) Grundsatz der “inneren Harmonie“ der Verfassung
Vornehmstes Interpretationsprinzip ist die Einheit der Verfassung als eines logischteleologischen Sinngebildes, weil das Wesen der Verfassung darin besteht, eine einheitliche
Ordnung des politischen und gesellschaftlichen Lebens der staatlichen Gemeinschaft
zu sein (BVerfGE 19, 206 [220]; vgl. auch BVerfGE 6, 309 [361] “innere Harmonie des
Verfassungswerks“).
Insbesondere aus den - nachfolgend (Kapitel C.) behandelten - Kompetenzvorschriften
der Verfassung folgt eine grundsätzliche Anerkennung und Billigung des darin behandelten Gegenstandes durch die Verfassung selbst, und dessen Verfassungsmäßigkeit könnte
nicht aufgrund anderer Verfassungsbestimmungen grundsätzlich in Frage gestellt werden
(BVerfGE 53, 30 [56]).
bb) Funktionsbedingte Auslegung als Durchbrechung
Trotz der - vorstehend erwähnten - “Einheit der Verfassung“ muss ein im Grundgesetz
mehrmals verwendeter Begriff nicht überall denselben Inhalt haben. Auch hier hängt die
Auslegung vielmehr von der Funktion ab, die der Begriff innerhalb der jeweiligen Norm
zu erfüllen hat (BVerfGE 6, 32 [38]):
(1) Beispielsfälle von Begriffen mit unterschiedlicher Bedeutung (insbesondere “verfassungsmäßige Ordnung“)
So hat etwa das Wort “Bundesgesetz“ (oder auch “Gesetz“) im Grundgesetz nicht überall
dieselbe Bedeutung. Welche Bedeutung das Wort hat, ist jeweils aus dem Zusammenhang,
in dem es verwendet wird, aus dem Zusammenhang der Vorschrift mit anderen Bestimmungen der Verfassung sowie aus ihrem Sinn und Zweck zu ermitteln (BVerfGE 24, 184
[195 f.]). Auch der Art. 19 Abs. 4 GG zugrunde liegende Begriff “Gericht“ hat hier und in
Art. 100 Abs. 1 GG verschiedene Bedeutungen, weil beide Normen verschiedenen Zielen
dienen (BVerfGE 6, 55 [63]).
Während die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG die verfassungsmäßige Rechtsordnung ist, d. h. die Gesamtheit der Normen, die formell und materiell
der Verfassung gemäß sind (BVerfGE 6, 32 [38]), kann es in anderen Zusammenhängen wie etwa bei Art. 9 GG und möglicherweise (höchstwahrscheinlich) bei der Bindung des
Art. 20 Abs. 3 (1. Alt.) GG (vorstehend A.III.1.c)bb) (vgl. S. 46) ) - geboten sein, den
Begriff “verfassungsmäßige Ordnung“ auf gewisse elementare Grundsätze der Verfassung
zu beschränken (a. a. O.).
(2) Sonderfall der Übernahme von Begriffen aus der WRV
Soweit freilich das Grundgesetz Materien aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen hat, darf - allerdings nicht ausnahmslos, wie das Richterrecht zeigt - angenommen
werden, dass diese in demselben Sinne zu verstehen sind, wie dies in der Weimarer Reichsverfassung der Fall war (BVerfGE 67, 299 [320]; grundlegend: BVerfGE 3, 407 [415]).
Brunn - Kapitel A.III.2.
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(3) Problematischer Begriff des “Strafrechts“
Wie die jüngere Rechtsprechung (etwa BVerfGE 134, 33 [50 ff. sowie 80 ff.]) erweist, ist
es bisweilen zumindest unglücklich, wenn etwa der Begriff “Strafrecht“ im Kompetenzteil
(Art. 74 GG) anders als im Zusammenhang der Verbürgungen des Art. 103 Abs. 2 und
Abs. 3 GG zu verstehen sein soll, zumal dann, wenn damit auch noch eine (zumindest
nicht ohne weiteres vereinbare) Auslegung einer EMRK-Bestimmung durch den EGMR
in Übereinstimmung gebracht werden muss.
cc) Insbesondere: Auslegung des Grundgesetzes unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte
Nicht eindeutig ist die Bedeutung der historischen Auslegung.
(1) Regelfall der nicht ausschlaggebenden Bedeutung
Während für den Regelfall vertreten worden ist, dass die Gesetzesgeschichte für die Auslegung der einzelnen Bestimmungen des Grundgesetzes ausschlaggebende Bedeutung in
der Regel nicht zukommen könne (BVerfGE 111, 54 [91] ; grundlegend: BVerfGE 6, 389
[431]), ist demgegenüber auch schon die Sachdienlichkeit und Nützlichkeit dieser Methode
betont worden:
(2) Sachdienliche Heranziehung der Entstehungsgeschichte im Einzelfall
Zum Verständnis eines Gesetzes die Entstehungsgeschichte heranzuziehen, könne sachdienlich und nach den Grundsätzen der allgemeinen Rechtslehre jedenfalls bei neueren
Vorschriften unbedenklich sein, für deren Auslegung sich feste Grundsätze noch nicht
hätten bilden können (BVerfGE 62, 1 [45] ; grundlegend: BVerfGE 1, 117 [127] “Der
Sinn dieser Bestimmung des Grundgesetzes ist dunkel.“), und insbesondere bei “lapidarer Sprachgestalt“ einer Bestimmung könne der Blick auf das rechtliche und historische
Umfeld der Entstehung der Norm sowie auf ihre Zielrichtung erforderlich sein, wie sie
sich in den Beratungen darstellte und wie sie schließlich im Normzusammenhang ihren
Ausdruck gefunden habe (BVerfGE 79, 127 [143 f.]).
In jüngerer Zeit lässt sich eine Tendenz feststellen, der Entstehungsgeschichte insbesondere bei (noch nicht lange zurückliegenden) Verfassungsänderungen größere Bedeutung
zuzumessen (vgl. etwa BVerfGE 138, 261 [275 ff.] für Föderalismusreform).
b) Verbot der isolierten Auslegung
Eine einzelne Verfassungsbestimmung kann - ähnlich wie bei der (damit nicht zu verwechselnden) Zuordnung von Gesetzesmaterien zu Kompetenznormen, wo die einzelnen
Vorschriften eines Gesetzes nicht isoliert betrachtet werden dürfen (BVerfGE 138, 261
[274]) - nach dem Vorstehenden in aller Regel nicht isoliert betrachtet und allein aus sich
heraus ausgelegt werden.
Aus dem Gesamtinhalt der Verfassung ergeben sich gewisse verfassungsrechtliche Grundsätze und Grundentscheidungen, denen die einzelnen Verfassungsbestimmungen untergeordnet sind. Diese sind deshalb so auszulegen, dass sie mit den elementaren Verfassungsgrundsätzen und Grundentscheidungen des Verfassungsgesetzgebers vereinbar
sind (BVerfGE 1, 14 [32 f.]; ähnlich neuerdings BVerfGE 141, 1 [33]).
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aa) Spannungsverhältnis zwischen zwei Bestimmungen
Sind zwei Verfassungsnormen nur schwer in Einklang zu bringen, so hat sich ihre Auslegung mit dem zwischen ihnen bestehenden Spannungsverhältnis auseinanderzusetzen; die
Lösung kann nur so erfolgen, dass ermittelt wird, welches Prinzip bei der Entscheidung
einer konkreten Frage jeweils das höhere Gewicht hat (BVerfGE 73, 40 [97]; grundlegend:
BVerfGE 2, 1 [72 f.]).
Das Bundesverfassungsgericht hatte sich - soweit ersichtlich - noch nicht mit dem (eher
theoretischen) Fall zu befassen, wonach “perplexes Verfassungsrecht“ in dem Sinne vorliegt, dass zwei Bestimmungen eindeutig miteinander im Widerspruch stehen, weil der
gleiche Sachverhalt mit unterschiedlichen Rechtsfolgen verbunden wird; man wird die
Lösung nicht im “verfassungswidrigen Verfassungsrecht“ suchen können, sondern nur etwa darin, dass “neues“ Verfassungsrecht, welches mit “altem“ - möglicherweise bereits
vom Verfassungsgericht geprüftem und nicht beanstandetem, jedenfalls nicht ausdrücklich aufgehobenem - Verfassungsrecht nicht in Einklang zu bringen ist, als zu berichtigendes offensichtliches Versehen zu behandeln ist (Umkehr der ohnehin zweifelhaften
“Regel“, wonach jüngeres immer älteres Recht verdrängt).
bb) Vorrang der speziellen Norm vor der allgemeinen Norm als auch im Verfassungsrecht gültiges allgemeines Prinzip
Eine generelle Norm tritt regelmäßig zurück, sofern für die Beurteilung eines Sachverhalts eine spezielle Norm zur Verfügung steht (BVerfGE 13, 290 [296]). Der Vorrang einer
Spezialnorm trifft immer zu, wenn die spezielle Norm nur als Ausformung der allgemeinen
Norm erscheint, so dass in jener notwendig diese mitbetroffen ist.
Anders liegt es, wenn der Sinngehalt der “besonderen“ Norm zunächst von der “allgemeinen“ Norm unabhängig ist, also jede eine spezifische Bedeutung hat, so dass eine Verletzung der “speziellen“ Norm ohne gleichzeitige Verletzung der “allgemeinen“
Norm denkbar ist. Daraus kann folgen, dass eine allgemeine Norm - ausnahmsweise - den
primären Maßstab für die verfassungsrechtliche Prüfung abgibt, wenn ihr spezifischer
Schutzgedanke zu der zu beurteilenden Frage die stärkere Affinität hat (BVerfGE 13,
290 [296, 298]).
cc) Die Auslegung von Regel-Ausnahme-Bestimmungen
Bei solchen Bestimmungen, die - wie etwa bei Art. 33 Abs. 4 GG (D.VII.3.) - eine von
vornherein durch Ausnahmen durchbrechbare Regel aufstellen, (darf nicht etwa die
immer wieder zu vernehmende “Regel“, die dadurch nicht richtiger wird, herangezogen
werden, wonach Ausnahmebestimmungen “eng“ auszulegen seien, sondern) ist die Heranziehbarkeit meist daran geknüpft, dass die Abweichungsmöglichkeit einer “Rechtfertigung
durch einen spezifischen, dem Sinn der Ausnahmemöglichkeit entsprechenden Ausnahmegrund[es]“ bedarf (BVerfGE 130, 76 [114 f.]), was auch für die Auslegung “einfachen
Rechts“ (B.II.2. (vgl. S. 113) ) gilt.
Im Übrigen kennt die Verfassung sogar “spezifische Ausnahmevorschriften von ihrerseits
abschließenden Spezialregelungen“ (BVerfGE 137, 108 [174 ff.] für Art. 91 e Abs. 2 GG).
c) Bedeutungswandel einer Norm
Auch eine Verfassungsbestimmung kann einen Bedeutungswandel erfahren, wenn in ihrem
Bereich neue, nicht vorausgesehene Tatbestände auftauchen oder bekannte Tatbestände
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durch ihre Einordnung in den Gesamtablauf einer Entwicklung in neuer Beziehung oder
Bedeutung erscheinen (BVerfGE 2, 380 [401]).
d) Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit
Obgleich dieser Grundsatz “Verfassungsrang“ hat, beinhaltet er keine Pflicht zur uneingeschränkten Befolgung aller völkerrechtlichen Normen; er kann aber als “Auslegungshilfe“ für die Grundrechte, die rechtsstaatlichen Grundsätze der Verfassung und das einfache
Recht dienen (BVerfGE 141, 1 [28 ff., 29]; dort [30 ff.] auch ausführlich zu Art. 59 Abs.
2 GG).
e) Menschenrechtskonvention sowie deren Interpretation als Hilfe zur
Auslegung
Bei der Auslegung des Grundgesetzes, insbesondere bei der Auslegung der Grundrechte
(vgl. E.I.2. (vgl. S. 479) zu Art. 1 Abs. 2 GG), sind auch Inhalt und Entwicklungsstand
der Europäischen Menschenrechtskonvention in Betracht zu ziehen (BVerfGE 138, 296
[355 ff.] für Art. 9 und Art. 14 EMRK und deren Interpretation durch den EGMR), sofern
dies nicht zu einer Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem
Grundgesetz führt.
aa) Allgemeine Bedeutung der Menschenrechtskonvention
Im Einzelnen gilt insoweit: Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle nur im Range eines Bundesgesetzes (BVerfGE 111, 307 [317]). Die Konvention überlässt den Vertragsparteien, in
welcher Weise sie ihrer Pflicht zur Beachtung der Vertragsvorschriften genügen (a. a. O.
[316]).
(1) “Rang“ der Konvention (“Auslegungshilfe“)
Zwar steht die Konvention innerstaatlich im Rang unter dem Grundgesetz, aber da (auch)
die Bestimmungen des Grundgesetzes völkerrechtsfreundlich auszulegen sind, sind der
Konventionstext und die entsprechende Rechtsprechung des Gerichtshofs auf der Ebene
des Verfassungsrechts geeignet, als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und
Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundgesetzes des Grundgesetzes zu
dienen (BVerfGE 128, 326 [367 f.] sowie BVerfGE 134, 33 [60 ff.]; grundlegend BVerfGE
74, 358 [370]; vgl. auch BVerfGE 138, 296 [355 f.] für Art. 31 GG und Vorrang gegenüber
Landesrecht).
Dabei werden die Wertungen der EMRK im Sinne eines “möglichst schonenden Einpassens“ in das vorhandene (dogmatisch ausdifferenzierende) nationale Rechtssystem aufgenommen (BVerfGE 137, 273 [321]; dort auch zu Grenzen sowie “Rezeptionshemmnissen“
bei sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen).
(2) Geltendmachung einer Verletzung
In einem Kammerbeschluss (2 BvR 209/14 [41]) ist die einschlägige Rechtsprechung wie
folgt zusammengefasst worden:
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Zwar kann ein Beschwerdeführer vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar
die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Rechts
mit der Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 [128]; BVerfGE 111, 307
[317] sowie BVerfGE 128, 326 [367]).
(2a) Geltendmachung gegenüber dem Verfassungsgericht
Er kann jedoch, gestützt auf das einschlägige Grundrecht, in einem Verfahren vor dem
Bundesverfassungsgericht zum einen geltend machen, die Fachgerichte hätten eine Entscheidung des Gerichtshofs missachtet oder nicht berücksichtigt (vgl. BVerfGE 111, 307
[329 f.]; vgl. auch BVerfGE 128, 326 [368]).
Denn zur Bindung an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) gehört auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und
der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung (vgl. BVerfGE 111, 307 [323]).
Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch
deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische “Vollstreckung“ können deshalb
gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen (vgl. BVerfGE
111, 307 [323 f.]).
(2b)
Konventionsfreundliche
Rechtsprechung
Auslegung
und
entsprechende
EGMR-
Im Rahmen der konventionsfreundlichen Auslegung des Grundgesetzes ist zum anderen
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auf der Ebene des
Verfassungsrechts möglichst schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte
nationale Rechtssystem einzupassen (vgl. BVerfGE 111, 307 [327] sowie BVerfGE 128,
326 [371]).
Die Möglichkeiten einer konventionsfreundlichen Auslegung enden dort, wo diese nach
den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung nicht mehr vertretbar erscheint (vgl.
BVerfGE 111, 307 [329] sowie BVerfGE 128, 326 [371]).
bb) Spezielle Artikel der Menschenrechtskonvention
Hier werden nur (und auch nur partiell) solche Bestimmungen (und deren Interpretation
durch die Gerichtshöfe) erwähnt, welche das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung (zustimmend) angesprochen hat:
(1) Art. 3 EMRK
Der Begriff “unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung“ erfasst
staatliche Maßnahmen, die nicht notwendig zugleich politische Verfolgung im Sinne des
Flüchtlingsrechts sind. Die Folter wird vom Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung erfasst (BVerfGE 94, 115 [136 f.]).
(2) Art. 5 EMRK
Artikel 5 Abs. 1 EMRK enthält eine abschließende Auflistung zulässiger Gründe für eine
Freiheitsentziehung (BVerfGE 128, 326 [394]; vgl. auch BVerfGE 133, 40 [56] sowie BVerfGE 134, 33 [60]). Eine “rechtmäßige Freiheitsentziehung nach Verurteilung“ (Artikel 5
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Abs. 1 Satz 2 Buchstabe a) setzt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs voraus, dass
ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung besteht; die Anordnung der Freiheitsentziehung muss jeweils eine Schuldfeststellung enthalten (BVerfGE 128, 326 [394 ff.]; vgl. auch BVerfGE 133, 40 [57]).
Nach Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c) EMRK ist eine Freiheitsentziehung zur Vorführung “vor die zuständige Gerichtsbehörde“ zu rechtfertigen, “wenn begründeter Anlass
zur der Annahme besteht, dass sie notwendig ist, die Person an der Begehung einer
Straftat zu hindern“. Dieser Haftgrund bietet lediglich ein Mittel zur Verhütung einer
konkreten und spezifischen Straftat und steht unter formellen Voraussetzungen. Die Existenz von Artikel 5 Abs. 1 Satz 2 Buchstabe c) bestätigt auf der Wertungsebene, dass
die Europäische Menschenrechtskonvention eine präventive Freiheitsentziehung zulässt,
wenn eine Gefahr konkret und spezifisch genug ist (BVerfGE 128, 326 [396] vgl. auch
BVerfGE 131, 268 [305]).
Für das Tatbestandsmerkmal der psychischen Störung (“unsound mind“) muss es sich
um eine zuverlässig nachgewiesene psychische Störung handeln, die eine zwangsweise
Unterbringung erfordert und fortdauert. Wenngleich eine abschließende Definition des
Begriffs der zuverlässig nachgewiesenen psychischen Störung nicht existiert, stellt jedenfalls lediglich sozial abweichendes Verhalten keine Störung im Sinne dieser Vorschrift dar.
Demgegenüber können eine dissoziale Persönlichkeitsstörung oder eine Psychopathie darunter fallen. Bei der Beurteilung der Frage, ob das Erfordernis der psychischen Störung
und ihrer Fortdauer erfüllt ist, besitzen die Mitgliedstaaten zudem einen Beurteilungsspielraum. Gesetzliche Regelungen des betreffenden Anordnungs- oder Überprüfungsverfahrens müssen die Feststellung einer psychischen Störung im Sinne einer ausdrücklichen
Tatbestandsvoraussetzung vorsehen (BVerfGE 128, 326 [396 f.]; vgl. auch BVerfGE 134,
33 [69 ff.]; dort [71 ff.] auch dazu, dass der durch das Therapieunterbringungsgesetz eingeschlagene “dritte Weg“ mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. e EMRK vereinbar ist).
Das Tatbestandsmerkmal der rechtmäßigen Freiheitsentziehung (“lawfulness“) dient der
Vermeidung von Willkür und verlangt insbesondere die Vorhersehbarkeit der Freiheitsentziehung (BVerfGE 134, 33 [72 ff., 78 ff.]. Allerdings geht es bei diesen Voraussetzungen
nicht um eine in der Vergangenheit liegende Handlung, sondern um einen gegenwärtigen
Zustand (BVerfGE 128, 326 [398]). Wegen der Notwendigkeit eines Zusammenhangs zwischen dem Zweck der Freiheitsentziehung und der Einrichtung, in der der Betreffende
untergebracht ist, ist vorausgesetzt, dass der Betroffene an einem Ort und unter Umständen untergebracht ist, die der Tatsache Rechnung tragen, dass er (auch) aufgrund
einer psychischen Störung untergebracht ist (BVerfGE 134, 33 [72 f.]).
(3) Art. 6 EMRK
Art. 6 EMRK mit seinen Hauptprinzipien “Faires Verfahren“ und “Unschuldsvermutung“
dürfte zu den in der hiesigen Rechtsordnung am meisten akzeptierten EMRK-Artikeln
zählen (vgl. etwa BVerfGE 140, 317 [362 ff.] zur Gefahr einer unmenschlichen Behandlung
als Folge einer Auslieferung):
(3a) Faires Verfahren
Was das “heikle“ Thema der (rechtswidrigen) Tatprovokation anbelangt, so nimmt der
EGMR im Hinblick auf die Bejahung einer Verletzung der Grundsätze über das faire
Verfahren (Art. 6 Abs. 1 Satz 2 EMRK) einen anderen Standpunkt (zusammenfassend 2
BvR 209/14 [42 f.]) ein als das Bundesverfassungsgericht (a.a.O.). Im Übrigen gilt:
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Die Verwertbarkeit rechtswidrig erlangter Beweise ist an den Maßstäben des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK zu messen. Ob ein Verfahren fair war, ist
nach Prüfung der Gesamtumstände zu entscheiden. In diesem Rahmen findet Berücksichtigung, welches Gewicht der Verstoß gegen innerstaatliches Recht oder gegen ein
Konventionsrecht hat.
Dies gilt auch für die Verwertung von Beweismitteln, die unter Verletzung von Art. 8
EMRK gewonnen worden sind (BVerfGE 130, 1 [30]).
(3b) Unschuldsvermutung
Die Unschuldsvermutung ist durch Art. 6 Abs. 2 EMRK in das positive Recht der Bundesrepublik eingeführt worden.
Sie schließt es aus, auch bei noch so dringendem Tatverdacht gegen einen Beschuldigten Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung einer Freiheitsstrafe gleichkommen
(BVerfGE 133, 1 [31]).
(4) Art. 7 EMRK
Der EGMR legt den Begriff der Strafe (Art. 7 Abs. 1 EMRK) autonom aus, d.h. unabhängig von der Klassifikation einer Maßnahme nach innerstaatlichen Recht.
Ausgangspunkt der Beurteilung ist demnach, ob die in Rede stehende Maßnahme infolge
einer oder im Anschluss an eine Verurteilung wegen einer Straftat verhängt wird, was
bereits dazu geführt hat, dass der EGMR etwa die Maßregel der Sicherungsverwahrung
(vor allem wegen des Bezugs zur Anlasstat, aber auch wegen der Art und Weise der
Vollstreckung) als Strafe qualifiziert hat, zumal sie in einem strafrechtlichen Verfahren
angeordnet wird und - bezogen auf die Dauer der Freiheitsentziehung - einen der
schwersten Eingriffe darstellt (BVerfGE 134, 33 [67 f.], was allerdings keine Anpassung
an den Strafbegriff in Art. 103 Abs. 2 GG, sondern nur eine deutlichere Konturierung
des Abstandsgebots verlangen soll).
(5) Art. 8 EMRK
In Übereinstimmung mit dem verfassungsrechtlich verbürgten Persönlichkeitsschutz stellt
auch der von Artikel 8 Abs. 1 EMRK dem privaten Leben des Einzelnen gewährte Schutz
auf die Summe der persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen ab,
die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind. Bei der Bestimmung der
Reichweite dieses Schutzes ist der situationsbezogene Umfang der berechtigten Privatheitserwartungen des Einzelnen zu berücksichtigen.
Die Gewährleistung des Artikel 8 Abs. 1 EMRK kann auch einen (gesetzlichen) Anspruch
auf Schutz durch die staatlichen Gerichte vor Veröffentlichung von Bildnissen des Betreffenden aus seinem Alltagsleben einschließen, über dessen Reichweite im konkreten Fall
unter Berücksichtigung der von Artikel 10 EMRK gewährleisteten Äußerungsfreiheit und
ihrer in Artikel 10 Abs. 2 EMRK geregelten Schranken im Wege einer Abwägung zu
entscheiden ist (BVerfGE 120, 180 [201]).
Das Recht auf Achtung des Privatlebens schließt das Recht auf Identität ein, zu dem
auch das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung gehört (BVerfGE 141, 186 [218
f.]).
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(6) Art. 9 EMRK
Art. 9 Abs. 1 EMRK schützt neben der individuellen Religionsfreiheit auch ihre korporative Seite. Da die Kirchen- und Religionsgemeinschaften traditionell in der Form
organisierter Strukturen existieren, deren autonomer Bestand für die Vielfalt in einer demokratischen Gesellschaft unverzichtbar ist und die Glaubensfreiheit in ihrem Kerngehalt
berührt, muss Art. 9 Abs. 1 EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte im Lichte des Art. 11 Abs. 1 EMRK ausgelegt werden.
Unter diesem Blickwinkel bedingt die Glaubensfreiheit des Einzelnen auch den Schutz der
rechtlich verfassten Kirchen und Religionsgemeinschaften vor ungerechtfertigten staatlichen Eingriffen im Hinblick sowohl auf religiöse als auch auf organisatorische Fragen.
Ohne diesen Schutz der Organisation nach Maßgabe des religiösen Selbstverständnisses
durch die Konvention wäre auch die effektive Wahrnehmung der individuellen Religionsfreiheit beeinträchtigt (BVerfGE 137, 273 [321]; vgl. auch BVerfGE 138, 296 [356 f.] für
Art. 9 Abs. 2 EMRK und Schutz der negativen Religionsfreiheit Dritter).
(7) Art. 10 EMRK
Die Tätigkeit der Presse ist von der in Artikel 10 Abs. 1 Satz 1 EMRK gewährleisteten
Äußerungsfreiheit sowie den von Artikel 10 Abs. 1 Satz 2 EMRK gewährleisteten Freiheiten der Übermittlung und des Empfangs von Informationen und Meinungen umfasst.
Der Schutz des Artikel 10 Abs. 1 EMRK schließt insbesondere die Veröffentlichung von
Fotoaufnahmen zur Bebilderung einer Medienberichterstattung ein (BVerfGE 120, 180
[202 f.]).
Nach der Auslegung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verpflichtet Art.
10 EMRK die Konventionsstaaten, durch gesetzliche Ausgestaltung die Vielfalt im Rundfunk zu gewährleisten und diese Pflicht insbesondere nicht dadurch zu unterwandern,
dass eine gewichtige ökonomische oder politische Gruppe oder der Staat eine dominante Position über eine Rundfunkanstalt oder innerhalb einer Rundfunkanstalt einnehmen
kann und hierdurch Druck auf die Veranstalter ausüben kann (BVerfGE 136, 9 [36]).
(8) Art. 14 EMRK
Ein Verbot religiöser Symbole, das sich nicht direkt gegen eine bestimmte Religionszugehörigkeit richtet, kann auch im Lichte des Diskriminierungsverbots von Art. 14
EMRK aus denjenigen Gründen unbedenklich sein, aus denen auch ein (darin liegender)
Eingriff in Art. 9 EMRK gerechtfertigt sein kann, etwa weil die Regelung alle religiösen
Bekundungen gleichermaßen trifft (BVerfGE 138, 296 [357]).
3. Verfassungs-Bindungen des Gesetzgebers im Zusammenhang mit
Gemeinschafts- bzw. Unions- und Völkerrecht
Das Grundgesetz bindet die Bundesrepublik Deutschland mit der Präambel, Art. 1 Abs.
2 GG, Art. 9 Abs. 2 GG, Art. 16 Abs. 2 GG, Art. 23 bis Art. 26 GG und Art. 59 Abs. 2
GG in die internationale Gemeinschaft ein und hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf internationale Zusammenarbeit ausgerichtet. Hierzu gehört ein Umgang
mit anderen Staaten auch dann, wenn deren Rechtsordnungen und -anschauungen nicht
vollständig mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Dies zielt
auch darauf, die zwischenstaatlichen Beziehungen im gegenseitigen Interesse wie auch
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die außenpolitische Handlungsfreiheit der Bundesregierung zu erhalten (BVerfGE 141,
220 [341]).
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich folglich immer wieder
Aussagen des Inhalts, dass - erstens - der Gesetzgeber einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu beachten hat (BVerfGE 126, 286 [301 f.]; vgl. auch BVerfGE 116, 271 [314]
für Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts “in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts“ sowie BVerfGE 129, 78 [99 f.]) und - zweitens nationales Recht (sogar u.U. Verfassungsrecht) “ völkerrechtsfreundlich “ auszulegen
sein kann (BVerfGE 128, 326 [366 ff.]), was im Ergebnis zweifelsfrei eine - freilich nicht
absolute - verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzgebers bereits bei der Schaffung neuen Rechts (und der Veränderung bestehenden Rechts) bedeuten kann . Deshalb die
wichtigsten Aussagen zu diesen Rechtsquellen (speziell zur EMRK vorstehend 2. d)):
a) Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht (Art. 23 GG i.V.m. Art. 24 GG sowie
Art. 59 Abs. 2 GG)
Das Recht der Europäischen Gemeinschaft, deren Mitglied die Bundesrepublik Deutschland ist, ist nicht als fremdes Recht zu qualifizieren (BVerfGE 45, 142 [169]). Es ist
deshalb teils unmittelbar, teils mittelbar anzuwenden.
In letzter Zeit hat sich die Frage in den Vordergrund (der verfassungsgerichtlichen Befassung) geschoben, inwieweit Art. 23 GG (i.V.m. Art. 24 GG) die Übertragung von
Hoheitsrechten erlaubt und wo verfassungsrechtliche Grenzen zu ziehen sein könnten
(nachfolgend C.III.3. (vgl. S. 171) ).
aa) Primäres Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts finden sich zwar - soweit ersichtlich
- keine Aussagen, was im Einzelnen das primäre (und sekundäre) EU-Recht ausmacht
(dies dürfte Aufgabe der Gerichtshöfe sein), aber solche zu den innerstaatlichen Folgen
einer zutreffenden Qualifizierung:
(1) Allgemeine und unmittelbare Geltung durch Zustimmungsgesetze (Art. 59 Abs. 2
GG)
Was zunächst das primäre Gemeinschaftsrecht anbelangt, so gilt es für den Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland kraft des Rechtsanwendungsbefehls, den die Zustimmungsgesetze gem. Art. 59 Abs. 2 GG den Gemeinschaftsverträgen erteilt haben,
allgemein und unmittelbar (a.a.O.).
Auch im Übrigen kommt “Rechtsakten“ das Gemeinschaftsrecht für den Fall eines Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht ein Anwendungsvorrang zu.
(2) Anwendungsvorrang
Dieser Anwendungsvorrang gegenüber (späterem wie früherem) nationalem Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der
durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen i.V.m. Art. 24 Abs. 1 GG
der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (BVerfGE 75, 223 [244];
vgl. auch BVerfGE 85, 191 [204]; BVerfGE 123, 267 [400] sowie BVerfGE 126, 286 [301
f.]; dort auch zu Art. 23 Abs. 1 GG sowie zu nationalem Recht , welches “jenseits
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des Anwendungsbereichs einschlägigen Unionsrechts“ einen Regelungsbereich behalten
kann).
bb) Sekundäres Gemeinschaftsrecht
War niemals ernsthaft streitig, dass Rechtsverordnungen des Gemeinschaftsrechts eine
“unmittelbare“ Geltung anhaftet, so hat das Bundesverfassungsgericht auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als mit Verfassungsrecht vereinbar beurteilt,
wonach eine “unmittelbare“ Rechtswirkung anderer Rechtsakte, vor allem von Richtlinien (vgl. als Beispiel einer Heranziehung einer Richtlinie für die verfassungsrechtliche
Überprüfung einer Landesnorm BVerfGE 139, 19 [50 ff.]), keineswegs ausgeschlossen sei.
(1) Problematik der nicht durch nationales Recht umgesetzten Akte
Namentlich gilt dies, wenn Richtlinien noch nicht durch nationales Recht umgesetzt worden sind; in diesen Fällen können sich auch Bürger unter Umständen gegenüber dem
eigenen Mitgliedstaat auf die Richtlinie “berufen“, und der Staat kann ihnen gegenüber
die Nichterfüllung der Richtlinie nicht entgegenhalten (BVerfGE 75, 223 [237 ff., 240 ff.]).
(2) Auslegung anhand der Vertragsziele
Insoweit gilt übergreifend, dass es zulässig ist, vorhandene Kompetenzen der Gemeinschaft im Lichte und im Einklang mit den Vertragszielen auszulegen und zu konkretisieren
(a.a.O. [242]).
cc) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
Bei dieser Auslegung ist auch immer zu berücksichtigen, wie der Gerichtshof das primäre
und sekundäre Gemeinschaftsrecht interpretiert und fortgebildet hat (BVerfGE 126, 286
[305 f.]; vgl. auch BVerfGE 135, 155 [230 ff.] für gerichtliche Vorlagepflichten und damit
in Zusammenhang stehende Ermittlungs- und Prüfpflichten).
Wo Grenzen einer solchen Auslegung und Rechtsfortbildung zu ziehen sein könnten, ist
bisher im Einzelnen unerörtert geblieben; eine Grenze ist mit Sicherheit erreicht, wenn
von dem Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt, abgewichen wird, weil das
Schuldprinzip zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG (hierzu: BVerfGE 109, 279 [310] und
BVerfGE 123, 267 [341, 344]; hier: D. I.; vgl. auch BVerfGE 135, 317 [386] für Vorgänge,
welche demokratische Grundsätze berühren, die Art. 79 Abs. 3 GG auch dem Zugriff
des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht) unverfügbaren Verfassungsidentität
gehört, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist (BVerfGE 123, 267 [413]; vgl. auch BVerfGE 140, 317 [362 ff.] freilich im
Zusammenhang mit Auslieferungen).
dd) (Verfassungsgerichtlicher) Rechtsschutz des Bürgers gegen Unionsrecht umsetzendes nationales Recht
Sehr schwierig ist es, die Frage zu beantworten, wie ein Bürger mit Aussicht auf Erfolg die
Verfassungswidrigkeit von nationalem Recht geltend machen kann, welches Unionsrecht
umsetzt:
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(1) “Zurückhaltung“ des Verfassungsgerichts als Grundsatz
Das Bundesverfassungsgericht übt seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von
Gemeinschafts- oder nunmehr Unionsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher
Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch
genommen wird, grundsätzlich nicht aus (vgl. auch nachfolgend ee)) und überprüft dieses
Recht nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäischen
Gemeinschaften (bzw. heute die Europäische Union), insbesondere die Rechtsprechung
des Europäischen Gerichtshofs, einen wirksamen Schutz der Grundrechte generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte
generell verbürgt (BVerfGE 73, 339 [387] sowie BVerfGE 102, 147 [162 f.]).
Diese Grundsätze gelten auch für innerstaatliche Rechtsvorschriften, die zwingende
Vorgaben einer Richtlinie in deutsches Recht umsetzen. Verfassungsbeschwerden, die
sich gegen die Anwendung von in diesem Sinne verbindlichem Recht der Europäischen
Union richten, sind grundsätzlich unzulässig (BVerfGE 118, 79 [95] sowie BVerfGE 121,
1 [15]).
(2) Ausnahmen bei Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und Kompetenz- bzw. Verstoß gegen eine europäische Grundrechtsverbürgung
Beschwerdeführer können sich auf die Grundrechte des Grundgesetzes jedoch insoweit berufen, als der Gesetzgeber bei der Umsetzung von Unionsrecht Gestaltungsfreiheit (vgl.
auch nachfolgend ee) für Normenkontrollverfahren) hat, das heißt durch das Unionsrecht
nicht determiniert ist (BVerfGE 121, 1 [15]).
Darüber hinaus können Verfassungsbeschwerden aber auch insoweit zulässig sein, als die
angegriffenen Vorschriften auf Richtlinienbestimmungen beruhen, die einen zwingenden
Inhalt haben.
Das kann dann der Fall sein, wenn Beschwerdeführer geltend machen, dass es einer Richtlinie an einer gemeinschafts- bzw. unionsrechtlichen Kompetenzgrundlage fehle oder sie
gegen europäische Grundrechtsverbürgungen verstoße.
Jedenfalls dann, wenn sie dies nicht vor den Fachgerichten geltend machen konnten,
können sie eine Vorlage an den Europäischen Gerichtshof mit dem Ziel erstreben, dass
dieser die Richtlinie für nichtig erkläre - und damit eine uneingeschränkte verfassungsrechtliche Prüfung des Umsetzungsgesetzes ermögliche - (BVerfGE 125, 260 [306 f.] für
Speicherungspflichten).
ee) Die verfassungsgerichtliche Prüfung (insbesondere im Normenkontrollverfahren)
von (auch “umgesetztem“) sekundärem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht
Das Bundesverfassungsgericht ist grundsätzlich gehindert, über die Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht zu entscheiden, weil es sich hierbei nicht um Akte deutscher Staatsgewalt handelt.
(1) Grundsatz
Über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht in Deutschland, das von
deutschen Hoheitsträgern als Rechtsgrundlage in Anspruch genommen wird, übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit nicht mehr aus und überprüft dieses Recht
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mithin nicht am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die Europäischen
Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt
der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz jeweils als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu erachten ist, zumal den
Wesensgehalt der jeweiligen Grundrechte generell verbürgt.
Dies gilt für gemeinschaftsrechtliche Verordnungen und Richtlinien, aber auch für innerstaatliche Rechtsvorschriften, die eine Richtlinie in deutsches Recht umsetzen, soweit
das Gemeinschaftsrecht keinen Umsetzungsspielraum lässt.
(2) Ausnahme des Gemeinschafts-/Unionsrechts mit Umsetzungsspielraum
Anders ist es aber, wenn das (umsetzende) nationale Recht auf Gemeinschafts/Unionsrecht beruht, welches einen Umsetzungsspielraum lässt (BVerfGE 122, 1
[20 f.] für ein Gesetz, welches von einer Option zur Regionalisierung Gebrauch gemacht hat; dort [21] auch - nicht entscheidungstragend - zu denkbaren Folgen einer
Unvereinbarkeitsentscheidung).
b) Völker(vertrags-)recht als bindendes (meist nicht mehr fremdes) Recht
Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht (etwa BVerfGE 132, 134 [161 f.] zum “Existenzminimum“) zum Ausdruck gebracht, dass der (einfache) Gesetzgeber (über verfassungsrechtliche Verpflichtungen hinaus) durch “Vorgaben verpflichtet“ sein kann, welche
sich (neben Recht der EU) aus völkerrechtlichen Verpflichtungen - wie etwa dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (vom 19. Dezember
1966) sowie dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes (vom 20. November 1989)
- ergeben.
Für den Gesetzgeber ist wichtig, dass - erstens - (auch) der Einzelne zunehmend als
Subjekt des Völkerrechts angesehen werden kann (BVerfGE 94, 315 [329 ff.]) und - zweitens - allgemein bei der “Gestaltung der innerstaatlichen Rechtsordnung“ die in Art. 25
GG angesprochenen Regeln zu beachten sind (BVerfGE 75, 1 [18 f.] sowie BVerfGE 109,
13 [26]).
aa) Art. 25 Abs. 1 GG (Allgemeines Völkerrecht)
Art. 25 GG betrifft das allgemeine Völkerrecht, nicht das Völkervertragsrecht - nachfolgend bb) - (BVerfGE 100, 266 [269]; vgl. auch BVerfGE 117, 141 [149]).
Seine Existenz und Tragweite muss (regelmäßig erst) festgestellt werden (BVerfGE
23, 288 [317]; vgl. auch BVerfGE 118, 124 [134]).
Allgemeine Völkerrechtsregeln werden Bestandteil des Bundesrechts nur mit ihrem jeweiligen Inhalt und in ihrer jeweiligen Tragweite (BVerfGE 18, 441 [448]; vgl. auch BVerfGE
41, 126 [160]).
(1) Völkergewohnheitsrecht als Hauptgruppe
Es handelt sich um (vorwiegend universell geltendes) Völkergewohnheitsrecht - ergänzt durch anerkannte allgemeine Rechtsgrundsätze, wie etwa “pacta sunt servanda“ -
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(BVerfGE 31, 145 [178]; beispielhaft BVerfGE 109, 13 [27 f.] “an zwei Voraussetzungen geknüpft“; vgl. auch BVerfGE 118, 244 [271] “völkergewohnheitsrechtliches Gewaltverbot“
sowie BVerfGE 118, 124 [139] für Berücksichtigung von Entscheidungen von internationalen Schiedsgerichten).
(2) Einzelne Fallgruppen
In jüngerer Zeit hat sich das Bundesverfassungsgericht u.a. mit einer Auslieferung eines
mit “List“ in den ersuchten Staat gelockten Ausländers (BVerfGE 109, 13), mit der
“Staatenimmunität“ (BVerfGE 117, 141 [150 ff.]), der “Berufung auf Staatsnotstand“
(BVerfGE 118, 124 [135 ff.]) sowie dem völkergewohnheitsrechtlichen “Austritt aus einem
Vertrag“ (BVerfGE 132, 195 [286]) befasst.
bb) “Schlichtes“ Völkervertragsrecht
Während mithin Art. 25 GG sogar dazu führen kann, dass die Bundesrepublik Deutschland - in Form von Gesetzgeber, Exekutive und Rechtsprechung - (die Völkerrechtsordnung nicht nur zu respektieren hat, sondern sogar) verpflichtet ist, auf ihrem Territorium die Unversehrtheit der elementaren Grundsätze des Völkerrechts zu garantieren
und bei Völkerrechtsverletzungen (durch Dritte) “einen Zustand näher am Völkerrecht
herbeizuführen“ (BVerfGE 112, 1 [24]), was auch bewirken kann, dass sie verpflichtet
ist, bestimmte Handlungen - wie etwa Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit
und Kriegsverbrechen - unter Strafe zu stellen (BVerfGE 123, 267 [409]), genießen vertragliche Vereinbarungen, auch wenn sie objektives Recht setzen, diese Vorrangstellung
nicht (BVerfGE 6, 309 [363]; vgl. auch BVerfGE 41, 88 [120 f.]).
(1) Völkerrechtliche Verträge
Völkerrechtliche Verträge (ausführlich BVerfGE 141, 1 [15 ff.] Rang eines einfachen
Bundesgesetzes; im Falle ihrer Verfassungswidrigkeit binden sie nicht ) sind alle
Übereinkünfte zwischen zwei oder mehr Völkerrechtsubjekten, durch welche die zwischen
ihnen bestehende Rechtslage verändert werden soll. Auch Übereinkünfte zur Änderung
bestehender Verträge gehören dazu (BVerfGE 104, 151 [200]; dort auch zu Formfragen
sowie zu Indizien für und gegen den Vertragscharakter; vgl. zu bloßen “Abmachungen“
BVerfGE 68, 1 [84 f.]).
Bei offener Auslegung muss “im Lichte des nationalen Verfassungsrechts“ ausgelegt werden (BVerfGE 99, 145 [158]; dort auch zur Heranziehung allgemeiner Regeln des Völkerrechts). Die Regel des Vorbehalts der “clausula rebus sic stantibus“ kann im Völkerrecht
eine Rolle spielen (BVerfGE 34, 216 [230]).
(2) Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 Satz 1GG) als “Rechtsanwendungsbefehl“
Das Völkervertragsrecht ist zwar auf der einen Seite innerstaatlich nicht unmittelbar,
d.h. ohne Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG (hierzu grundlegend: BVerfGE 1,
396 [410 f.]; vgl. auch BVerfGE 104, 151 [209] sowie BVerfGE 118, 244 [259 f.]; dort auch
zu wesentlichen Abweichungen), als geltendes Recht zu behandeln und - wie auch das
Völkergewohnheitsrecht (vgl. Art. 25 GG, hierzu vorstehend aa) - nicht mit dem Rang
des Verfassungsrechts ausgestattet (BVerfGE 111, 307 [318]).
Aber auf der anderen Seite - weil nicht anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber, sofern er
das nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen abweichen will - sind
Brunn - Kapitel A.III.4.
Seite 62
Gesetze im Einklang mit völkerrechtlichen Verpflichtungen (zu gestalten,) auszulegen
und anzuwenden, auch und gerade wenn sie später erlassen worden sind als ein solcher
Vertrag (BVerfGE 74, 358 [370]; einschränkend aber BVerfGE 112, 1 [25]).
Ein Zustimmungsgesetz erteilt - ähnlich wie Art. 25 Satz 1 GG (BVerfGE 46, 342 [363])
- einen “Rechtsanwendungsbefehl“ (BVerfGE 111, 307 [316 f.] sowie BVerfGE 118, 244
[259]; zur verfassungskonformen Auslegung des Völkerrechts grundlegend: BVerfGE 36,
1 [14]); soweit der Vertrag transformierbares Recht enthält, erlangt dieses die Qualität
innerstaatlichen Rechts durch das Zustimmungsgesetz (BVerfGE 42, 263 [284]).
(3) Veränderungsfähigkeit früherer Zustimmungsakte
Entgegen einer beachtlichen Mindermeinung lässt es die Verfassung zu, dass ein späterer
Gesetzgeber - innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen - Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber (Zustimmungsgesetze zu völkerrechtlichen Verträgen) revidiert;
insoweit gilt (auch hier) der Grundsatz lex posterior derogat legi priori (BVerfGE 141, 1
[15 ff, 20]; dort [26 ff.] auch ausführlich zum “ungeschriebenen“ Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes).
(4) Verfassungsverletzungen bei bindenden Verträgen
Schwierig ist der Fall zu lösen, dass ein Vertragsgesetz die Verfassung verletzt, aber der
Vertrag bindet; der verfassungswidrige Zustand muss - soweit möglich - “beseitigt“ werden
(BVerfGE 45, 83 [96 f.]; vgl. auch BVerfGE 84, 90 [113] für Verfassungsbeschwerde gegen
das Vertragsgesetz).
4. Sonderfall der verfassungsrechtlichen Bindungen des Gesetzgebers als
Folge von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen über Bundesgesetze
Die statistisch am häufigsten auftretenden Fälle von konkreten “Verfassungsaufträgen“
zur Gesetzgebung dürften, nachdem die Aufträge des Urgrundgesetzes (1949) “abgearbeitet“ sein dürften (vgl. etwa BVerfGE 119, 394 [409] für Art. 134 Abs. 3 und 4
GG), nach Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts auftreten, welche Normen des
Bundesrechts (zumindest zum Teil) beanstanden, wobei freilich selbst bei (noch) unbeanstandeten Normen aus den Gründen des Erkenntnisses (bzw. einer abweichenden
Meinung) möglicherweise gefolgert werden kann, dass es für den Bundesgesetzgeber zumindest nützlich sein könnte, vorsorglich künftigen Beanstandungen durch Gesetzesverbesserungen vorzubeugen (“Ankündigungsrechtsprechung“; vgl. beispielhaft BVerfGE
138, 64 für Aufhebung eines fachgerichtlichen Urteils wegen Verletzung von Art. 101
Abs. 1 Satz 2 GG i.V.m. Art. 100 Abs. 1 GG [unterlassene Vorlage] infolge missglückter
verfassungskonformer Auslegung [86 ff.] und ausdrückliches Offenhalten der Frage der
Verfassungswidrigkeit einer Norm des Bundesrechts [101]).
Was die Folgen von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (für den Gesetzgeber
und die Rechtsunterworfenen) anbelangt, so ist der Gesetzgeber gut beraten, sehr präzise
zu unterscheiden zwischen den unmittelbaren und den mittelbaren Folgen; während
die erstgenannten gewissermaßen “Sofortreaktionen“ des Gesetzgebers (und der Rechtsanwender) erfordern (nachfolgend a) ff)) schlagwortartig zu den Folgen), wirken sich die
“mittelbaren“ Folgen oft erst sehr viel später aus, nämlich dann, wenn ein ähnliches Gesetzesvorhaben (wie das auf dem Prüfstand gestanden habende) in Angriff genommen
werden soll (Stichworte: “Normwiederholungen“ und “inhaltsähnliche“ Gesetze).
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In der Folge werden daher - überblicksartig - erstens denkbare Aussprüche des Bundesverfassungsgerichts - nachfolgend a) - sowie zweitens deren “Bindungen“ - nachfolgend
b) - dargestellt:
a) Unvereinbarkeit und Nichtigkeit von Gesetzen sowie Folgenbewältigung
(§§ 78 f. BVerfGG)
[1] Zwar ist grundsätzlich ein gegen die Verfassung verstoßendes Gesetz - entsprechend
den Darlegungen unter nachfolgend dd) - für nichtig zu erklären (BVerfGE 8, 1 [19 f.];
vgl. auch BVerfGE 113, 1 [25]). Aber das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG)
bestimmt als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit nicht ausnahmslos die Nichtigkeit
der Norm, sondern es lässt auch eine bloße Verfassungswidrigerklärung zu (§ 31 Abs. 2,
§ 79 Abs. 1 BVerfGG; BVerfGE 87, 153 [177 f.]).
[2] Das Letztere ist vor allem dann geboten, wenn durch eine Nichtigerklärung ein Zustand geschaffen würde, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als die
verfassungswidrige Regelung:
Neben den Grundrechten werden vor allem das Rechts- und das Sozialstaatsprinzip als
verfassungsrechtliche Gründe anerkannt, welche die befristete Weitergeltung einer nicht
verfassungskonformen Regelung rechtfertigen können. Das kommt insbesondere dann in
Betracht, wenn mit der Nichtigerklärung der angegriffenen Regelung ein rechtliches Vakuum aufträte und sowohl bei den Behörden als auch bei den Rechtsunterworfenen Unsicherheit über die Rechtslage entstünde.
Die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Rechtslage mit dem Grundgesetz darf auch
nicht dazu führen, dass der Verwaltung zeitweilig die Erfüllung verfassungsrechtlicher
Pflichtaufgaben mangels hinreichender gesetzlicher Grundlage unmöglich gemacht wird
(BVerfGE 137, 108 [171 f.]).
[3] Außerdem ist eine bloße Unvereinbarkeitserklärung angezeigt, wenn der Gesetzgeber
mehrere Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen (BVerfGE 87,
153 [177 f.] ; vgl. auch BVerfGE 132, 134 [173 f.]).
Dies trifft nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (ausführlich
nachfolgend bb)(1a)) insbesondere dann zu, wenn die Norm wegen eines Gleichheitsverstoßes (E.III.1.) verfassungsrechtlich beanstandet wird, der auf verschiedene Weise
geheilt werden kann (grundlegend: BVerfGE 22, 349 [361 f.]; vgl. auch BVerfGE 133, 377
[423 f.]).
[4] Es verbleibt dann bei einer bloßen Beanstandung der Verfassungswidrigkeit ohne den
Ausspruch der Nichtigkeit.
Die Unvereinbarkeitserklärung kann das Bundesverfassungsgericht dabei zugleich mit der
Anordnung einer befristeten Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung verbinden.
Dies kommt in Betracht, wenn die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm
dem Schutz überragender Güter des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und
eine Abwägung mit den betroffenen Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist.
Für die Übergangszeit kann das Bundesverfassungsgericht vorläufige Anordnungen
treffen, um die Befugnisse der Behörden bis zur Herstellung eines verfassungsmäßigen
Zustandes durch den Gesetzgeber auf das zu reduzieren, was nach Maßgabe dieser Abwägung geboten ist (BVerfGE 141, 220 [351]; dort [351 ff.] zu einer ca. zweijährigen Fort-
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geltung und [352] zu - sehr detaillierten - einschränkenden Maßgaben zur Fortgeltung).
aa) Der gebotene Respekt des Verfassungsgerichts vor dem Gesetzgeber
Der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht sehr häufig von der bloßen Unvereinbarkeitserklärung Gebrauch macht (weshalb sie hier auch als erste Möglichkeit dargestellt
wird), liegt letztlich in dem Respekt des Bundesverfassungsgerichts vor dem Verfassungsorgan Bundesgesetzgeber (vgl. BVerfGE 35, 193 [199] “Oberste Verfassungsorgane haben
von Verfassungs wegen aufeinander Rücksicht zu nehmen.“) begründet:
Durch mehrere Vorschriften des Grundgesetzes (insbesondere durch Art. 20 Abs. 2 Satz
2 GG, Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 100 Abs. 1 GG) wahrt die Verfassung die “Autorität“
des Gesetzesgebers:
Gesetze , die unter der Herrschaft des Grundgesetzes erlassen worden sind, sollen (solange nicht das Bundesverfassungsgericht ihre Nichtigkeit oder Unwirksamkeit allgemeinverbindlich festgestellt hat) befolgt werden; insbesondere Fachgerichte dürfen sich nicht
über den Willen des Gesetzgebers hinwegsetzen, indem sie seinem Gesetz die Anerkennung versagen.
Zudem soll es über die Gültigkeit von Gesetzen keine einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen geben (BVerfGE 138, 64 [90 f.]; dort [90] auch zum “Verwerfungsmonopol“ des Verfassungsgerichts und dort [91] auch zu “Rechtsunsicherheit“ und “Rechtszersplitterung“).
(1) Der Ausgleich zwischen der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers und dessen Verfassungsbindung
Zwar lässt sich nicht behaupten, dass das Bundesverfassungsgericht immer in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers dadurch eingreift, dass es unmittelbar durch seine
Entscheidung eine neue Rechtslage in einem bestimmten Sinne schafft (BVerfGE 87,
114 [135 f.]), aber für alle Fälle einer (tenormäßig) verfassungsrechtlichen Beanstandung,
sei es eine Nichtigerklärung, sei es nur eine Unvereinbarkeitserklärung, gilt, dass das Verfassungsgericht die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers (zumindest berührt, meistens)
beeinträchtigt, denn die Folgen einer solchen Erklärung (vgl. nachstehend cc) und dd))
sind zumindest die, dass die betreffende Norm in der Regel (durch Behörden und Gerichte) nicht mehr angewendet werden darf.
Die Verfassungsbindung des Gesetzgebers und die Forderung nach Verfassungsmäßigkeit des einfachen Rechts stehen - unbeschadet des verfassungsgerichtlichen Respekts gleichwohl nicht unter einem generellen Vorbehalt des Möglichen.
Grundsätzlich, soweit keine besonderen, schwerwiegenden Gründe entgegenstehen, sind
deshalb die zeitlichen und sachlichen Grenzen der Möglichkeiten verfassungsmäßigen
gesetzgeberischen Handelns allenfalls im Rahmen differenzierender Bestimmung der
Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit des Gesetzes zu berücksichtigen (BVerfGE 105,
73 [132]).
(2) Vereinbarkeitserklärungen
Die den Gesetzgeber “schonendste“ Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist und
bleibt freilich die Vereinbarkeitserklärung mit der Verfassung; ist die Vereinbarkeitserklärung lediglich auf bestimmte Artikel des Grundgesetzes bezogen, so lässt sich gut
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vertreten, dass im Übrigen ohne wesentliche Bindungen in künftigen Verfahren “neu“
entschieden werden kann.
Allgemein gilt für die Gültigkeitserklärung, dass das Bundesverfassungsgericht ihre Gültigkeit positiv feststellen muss, wenn eine Rechtsvorschrift mit dem Grundgesetz nicht
unvereinbar ist, soweit dies angängig ist, was regelmäßig der Fall ist, wenn es sich um
Bundesrecht handelt (grundlegend: BVerfGE 1, 14 [64]; vgl. auch BVerfGE 95, 1 [15]
sowie BVerfGE 95, 243 [248]).
Erklärt das Bundesverfassungsgericht eine Norm des Bundesrechts für vereinbar mit der
Verfassung, so hat dies (neben der Gewissheit für den Gesetzgeber) auch die Folge, dass
etwa ein (nicht) vorlegendes Fachgericht i.S.d. § 31 Abs. 2 BVerfGG hieran gebunden wäre
und in seinem abschließenden Erkenntnis von der Gültigkeit der Norm ausgehen müsste
(BVerfGE 138, 64 [101] für eine unzulässig unterbliebene Vorlage).
bb) Schwerpunkte für Unvereinbarkeitserklärungen sowie Nebenentscheidungen
Wie bereits angedeutet, haben sich in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
im Hinblick auf die Unvereinbarkeitserklärung folgende Schwerpunkte herausgebildet:
Erstens: die in Betracht zu ziehenden Fallgruppen - nachstehend (1) -;
zweitens: die Weitergeltungsanordnungen - nachstehend (2) sowie (3) -;
drittens: die Vollstreckungsanordnungen und Übergangsregelungen - nachstehend (4) -;
viertens: die Erstreckung von Unvereinbarkeitserklärungen auf andere Normen - nachstehend (5) -; fünftens: die Folgen für den Gesetzgeber - nachstehend cc) -.
(1) Die in Betracht zu ziehenden Fallgruppen einer Unvereinbarkeitserklärung
Wie bereits angedeutet (vorstehend a)), ist eine Haupt-Fallgruppe der Unvereinbarkeitserklärung die Feststellung eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz, weil dann der Gesetzgeber in der Regel die Möglichkeit hat, auf verschiedene Weise den Verstoß zu beseitigen (BVerfGE 139, 19 [63]; dort [63 f.] auch zu einer unzureichenden bzw. fehlenden
Ermächtigungsnorm für eine Verordnung).
(1a) Gleichheitsverstöße
Beruht die Verfassungswidrigkeit ausschließlich auf einem solchen Verstoß, so gilt inzwischen nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geradezu ein
umgekehrtes Regel-Ausnahme-Verhältnis: Regelfolge ist die Unvereinbarkeit, während
Nichtigkeit die Ausnahme darstellt (BVerfGE 110, 94 [138]; dort [138 f.] auch zur
ausnahmsweisen Nichtigerklärung; hierzu auch BVerfGE 104, 74 [91 f.] Sonderfall einer
Pflicht zur Einbeziehung einer bisher ausgeschlossenen Personengruppe).
Stellt das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarkeit einer Norm mit Art. 3 Abs. 1
GG fest, folgt daraus in der Regel die Verpflichtung des Gesetzgebers , rückwirkend,
bezogen auf den in der gerichtlichen Feststellung genannten Zeitpunkt, die Rechtslage
verfassungsgemäß umzugestalten. Hierzu kann das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber eine Frist setzen. Gerichte und Verwaltungsbehörden dürfen die Norm im
Umfang der festgestellten Unvereinbarkeit nicht mehr anwenden , laufende Verfahren
sind auszusetzen.
Brunn - Kapitel A.III.4.
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Im Interesse einer verlässlichen Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung hat das Bundesverfassungsgericht allerdings wiederholt die weitere Anwendbarkeit
verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklärt und dem Gesetzgeber eine Frist
eingeräumt, um binnen angemessener Zeit verfassungsgemäße Regelungen zu erlassen
(BVerfGE 138, 136 [250 f.] sowie BVerfGE 139, 64 [147 f.]).
(1b) Weitere denkbare Fälle
Im Übrigen sind Unvereinbarkeitserklärungen in Betracht gezogen worden,
• wenn der verfassungswidrige Teil einer Norm nicht klar abgrenzbar ist (BVerfGE
92, 158 [186]),
• wenn die Norm verfassungsrechtlich beanstandet wird, weil sie nicht ergänzend
grundrechtliche Schutzpflichten normiert (BVerfGE 114, 1 [70 f.]),
• wenn zwar Normen erlassen worden sind, die einem verfassungsrechtlichen Schutzauftrag dienen, aber deren Nichtigerklärung wegen dadurch entstehender Schutzlücken zu einem noch verfassungsferneren Zustand führen würde (BVerfGE 127,
293 [333 f.]; vgl. aber auch BVerfGE 133, 241 [260 f.] die Schutzlücke ist - nicht durch
das einfache Recht, sondern - durch die Verfassung selbst bedingt, was zur Folge
hat, dass das Bundesverfassungsgericht nicht befugt ist, eine von der Verfassung
vorgegebene Rechtslage als verfassungsfern zu qualifizieren),
• wenn die Verfassungswidrigkeit der Norm nicht in deren Regelungsgehalt, sondern
im Unterlassen einer Übergangsbestimmung liegt (BVerfGE 107, 150 [185]).
(1c) Nichtigkeit eines (auch) begünstigenden Gesetzes
Einen sehr typischen Anwendungsfall einer Unvereinbarkeitserklärung stellt die Konstellation dar, dass für eine Begünstigung eine gesetzliche Grundlage vorhanden sein muss
und infolge dessen eine Nichtigkeitserklärung dem zu Begünstigenden die gesetzliche
Grundlage entziehen würde, so dass er noch schlechter als bisher stünde. Dies kann u.a.
bei Besoldungsregelungen im Beamten- und Richterrecht der Fall sein (BVerfGE 139, 64
[147]).
Da Art. 33 Abs. 5 GG (D.VII.2.c) (vgl. S. 401) ) verlangt, dass generelle gesetzliche
Besoldungsregelungen überhaupt vorhanden sind, würde durch eine Nichtigerklärung ein
Zustand herbeigeführt werden, welcher der verfassungsmäßigen Ordnung noch weniger
entsprechen würde, wenn die Verfassungswidrigkeit darin liegt, dass die bisherige Besoldungsregelung unzulänglich geworden ist; das Bundesverfassungsgericht ist in solchen
Fällen auf die Feststellung beschränkt, dass der Gesetzgeber durch das Unterlassen einer Besoldungsänderung das Recht des/der Beamten verletzt hat (BVerfGE 8, 1 [19 f.];
vgl. auch BVerfGE 130, 263 [312]; vgl. zum verwandten und schwierigen Problem der
nichtigen Rechtsverordnung nachstehend C.III.1.c)bb) (vgl. S. 171) ).
(1d) Zeitliche (vergangenheitsbezogene) Einschränkungen
Einen Unterfall einer solchen Unvereinbarkeitserklärung kann es darstellen, dass die aus
Anlass eines Ausgangsverfahrens getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht ausreichen, um die Unvereinbarkeit einer Bestimmung bereits mit Wirkung von einem bestimmten Zeitpunkt anzugeben; so kann sich das Bundesverfassungsgericht darauf beschränken
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auszusprechen, dass die Bestimmung jedenfalls vom Zeitpunkt der Klageerhebung an
nicht mit der Verfassung vereinbar ist (BVerfGE 21, 292 [305]).
(1e) Unvereinbarkeiten bei aufhebenden Gesetzen (“Aufleben“ früheren
Rechts)
Weil jedenfalls die Nichtigerklärung einer gesetzlichen Vorschrift, welche eine frühere
gesetzliche Regelung aufhebt, die “unangenehme“ Folge hat, dass die alte Vorschrift wieder auflebt (BVerfGE 102, 197 [208] fragwürdig; vgl. indessen BVerfGE 131, 316 [376]
dazu, dass ein solches Wiederaufleben ausscheidet, wenn das Bundesverfassungsgericht
die früheren Vorschriften in wesentlichen Teilen ebenfalls für verfassungswidrig - und
womöglich nur für eine Übergangsfrist für weiter anwendbar - erklärt hatte), kann das
Bundesverfassungsgericht die Wiederauflebens-Folgen dadurch umgehen, dass es eine mit
einer Unvereinbarkeitserklärung verbundene Weitergeltungsanordnung erlässt:
(2) Weitergeltungsanordnungen (meist zu den Zwecken der Verhinderung eines rechtlichen Vakuums sowie von Unsicherheiten über die Rechtslage)
Ausnahmsweise sind verfassungswidrige Vorschriften (vollständig oder teilweise) weiter anzuwenden, wenn die Besonderheit der für verfassungswidrig erklärten Norm es
aus verfassungsrechtlichen Gründen, insbesondere aus solchen der Rechtssicherheit
(B.III.2.b)cc) (vgl. S. 126) ),notwendig macht, die verfassungswidrige Vorschrift als Regelung für die Übergangszeit fortbestehen zu lassen, damit in dieser Zeit nicht ein Zustand
besteht, der von der verfassungsmäßigen Ordnung noch weiter entfernt ist als der bisherige (vgl. bereits a)).
Meist muss nämlich dem Gesetzgeber ausreichend Zeit zur Verfügung stehen, um eine
Neuregelung zu schaffen, die oft umfangreiche und zeitraubende Vorarbeiten erfordert,
und für die Übergangszeit muss deshalb verhindert werden, dass ein rechtliches Vakuum
entsteht und bei den Betroffenen wie bei den Behörden und Gerichten Unsicherheit über
die Rechtslage herrscht (BVerfGE 61, 319 [356]; vgl. auch BVerfGE 132, 372 [394]).
(2a) Haushaltswirtschaftlich bedeutsame Steuernormen
Einen typischen Anwendungsfall hierfür stellen haushaltswirtschaftlich bedeutsame steuerrechtliche Normen dar; für sie hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung und eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend schon abgeschlossenen Veranlagung die weitere
Anwendbarkeit verfassungswidriger Normen für gerechtfertigt erklärt (BVerfGE 105, 73
[134]; vgl. auch BVerfGE 125, 175 [258]; vgl. indessen auch BVerfGE 122, 210 [246]
“Pendlerpauschale“ und vergleichsweise kurzer Anwendungszeitraum, umstrittene Verfassungsmäßigkeit).
(2b) (Weitere) Sonderkonstellationen
Einen sehr schwer zu bewältigenden Sonderfall stellt es dar, wenn der Bundesgesetzgeber
fälschlich von seiner Nicht-Kompetenz ausgeht und deshalb (nach einer entsprechenden
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts) Zeit benötigt, um schwierigste Abwägungsentscheidungen für ein nunmehr zu erlassendes Bundesgesetz zu treffen (BVerfGE 109,
190 [237 f.] sowie die abweichende Meinung BVerfGE 109, 190 [244, 253] für “rechtsgrundlose“ weitere Inhaftierung).
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Schließlich kann es in Ausnahmefällen geboten sein, für eine Übergangszeit die Ausdehnung einer gleichheitswidrigen steuerlichen Begünstigungsnorm auch auf benachteiligte
Gruppen anzuordnen; jedenfalls in den Fällen, in denen die mit einer Unvereinbarerklärung verbundenen Unsicherheiten für die Betroffenen gravierende Auswirkungen haben,
die Ausdehnung der steuerlichen Begünstigung durch den Gesetzgeber sehr wahrscheinlich ist und die fiskalischen Auswirkungen überschaubar sind, kommt die weitere Anwendbarkeit der gleichheitswidrigen Begünstigungsnorm unter gleichzeitiger Ausdehnung der
Begünstigung für eine Übergangszeit in Betracht (BVerfGE 121, 108 [133]).
(2c) Schlagwortartige Zusammenfassung (Abwägungsergebnis)
Schlagwortartig kommt nach allem die bloße Unvereinbarerklärung, verbunden mit der
Anordnung befristeter Fortgeltung der verfassungswidrigen Regelung, in Betracht, wenn
die sofortige Ungültigkeit der zu beanstandenden Norm dem Schutz überragender Güter
des Gemeinwohls die Grundlage entziehen würde und eine Abwägung mit den betroffenen
Grundrechten ergibt, dass der Eingriff für eine Übergangszeit hinzunehmen ist (BVerfGE
109, 190 [235 f.]; vgl. indessen auch die beachtlichen Gründe der abweichenden Meinung
BVerfGE 109, 190 [244 f.]; vgl. auch BVerfGE 119, 331 [382 f.] sowie BVerfGE 128, 282
[322]).
(3) Insbesondere: Dauer der Weitergeltung
Ist bereits eine Weitergeltungsanordnung als solche meist nicht unproblematisch, so kann
es zusätzlich Probleme bereiten, die Dauer der Übergangsregelung zu bestimmen bzw.
beschränken. Weil der Gesetzgeber meist durch die konkret getroffenen Anordnungen
des Bundesverfassungsgerichts nicht im Unklaren sein kann, was seine Anstrengungen
für eine Neuregelung anbelangt, hier nur die Grundsätze:
(3a) Kriterien für eine Zubilligung von Übergangsfristen
Bei der Zubilligung von Übergangsfristen ist nach der Schwere des Eingriffs zu differenzieren; je tiefergreifend etwa eine Verwaltungsmaßnahme Grundrechte der Betroffenen
berührt, desto strengere Anforderungen sind an die Einräumung von Übergangsfristen
und die innerhalb dieser Fristen unerlässlichen Maßnahmen zu stellen; ist der Eingriff
weniger schwerwiegend, kann eine großzügigere Anerkennung von Übergangsfristen in
Betracht kommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat verschiedentlich darauf abgestellt, dass eine gesetzliche
Regelung jedenfalls bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode erfolgen müsse; eine
Übergangsfrist kann nicht mehr länger anerkannt werden, wenn der Gesetzgeber eine
Neuregelung ungebührlich verzögert (BVerfGE 51, 268 [287 ff.]; vgl. auch BVerfGE 91,
186 [207] “schonender Übergang“).
Das “schärfste Schwert“ ist die bundesverfassungsgerichtliche Festlegung eines Zeitpunktes, zu dem eine Vorschrift in ihre endgültige Nichtigkeit umschlägt (BVerfGE 130, 240
[262]).
(3b) Absehen von einer Fristsetzung bei absehbarer “Heilung“
Bisweilen sieht das Bundesverfassungsgericht indessen auch davon ab, dem Gesetzgeber
eine Frist für eine vorzunehmende Neuregelung zu setzen, zumal dann, wenn die Bundesregierung im Verfahren erklärt hat, dass es schon Vorüberlegungen für eine gesetzliche
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Neuregelung gebe (BVerfGE 127, 132 [165]; dort [163 f.] zu dem Sonderfall einer Anordnung weiterer Anwendbarkeit einer Norm, die auch vom EGMR für unvereinbar mit der
EMRK erklärt worden war); in dem erwähnten Fall hat das Bundesverfassungsgericht
das Unterlassen einer Fristsetzung auch und gerade damit begründet, dass gleichzeitig
mit der Weitergeltungsanordnung eine Übergangsregelung getroffen worden ist, wobei
regelmäßig eine Lösung gewählt wird, die der gesetzlichen Regelung nicht vorgreift und
sie nicht erschwert (a.a.O. [164]):
(4) Vollstreckungsanordnungen und Übergangsregelungen (hauptsächlich gestützt auf
§ 35 BVerfGG)
Weil auch insoweit der Bundesgesetzgeber den jeweiligen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in aller Regel sehr konkret entnehmen kann, wie viel Zeit ihm bleibt,
eine verfassungsgemäße Regelung zu treffen, auch hier nur die Grundsätze:
(4a) Nebenentscheidungen zur Verwirklichung des gefundenen Rechts
Neben der Verwerfung einer Norm (Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit) und gegebenenfalls
der Anordnung weiterer Anwendbarkeit werden auch “Anordnungen“ getroffen, die erforderlich sind, um verfahrensabschließenden Sachentscheidungen Geltung zu verschaffen.
Es handelt sich dabei um den “Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, um
solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts notwendig sind“ (BVerfGE 68, 132 [140]); mit anderen Worten
sind Übergangsregelungen und Rechtsfolgenanordnungen die Nebenentscheidungen ,
die ergehen, um der Sachentscheidung Geltung zu verschaffen und das vom Bundesverfassungsgericht gefundene Recht zu verwirklichen; sie wirken nur in den Grenzen des
jeweiligen Tenors und der ihn tragenden Entscheidungsgründe (BVerfGE 112, 268
[277]).
Einen Beispielsfall für eine Anordnung einer Abhilfemöglichkeit stellt die Plenarentscheidung BVerfGE 107, 395 (418) dar; insoweit ist für den Fall des nicht rechtzeitigen Ergehens einer erforderlichen gesetzlichen Regelung eine Abhilfemöglichkeit angeordnet worden.
(4b) Absehen von Nebenentscheidungen bei Absehbarkeit von alsbaldigen
“Heilungen“
Auch insoweit ist es schon vorgekommen, dass das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich davon abgesehen hat, durch Erlass einer Anordnung selbst die rechtlichen Grundlagen (hier für die Durchführung von Wahlen) bereitzustellen (BVerfGE 82, 322 [352]
mit der Begründung, dass Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung in der mündlichen Verhandlung erklärt hätten, sie seien bei Ergehen einer die Verfassungswidrigkeit
der streitbefangenen Vorschriften feststellenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts willens und in der Lage, rechtzeitig die erforderlichen Änderungen vorzunehmen).
(5) Erstreckungen von Unvereinbarerklärungen auf andere Normen
Im Regelfall kann der Gesetzgeber aus dem Tenor der normverwerfenden Entscheidung entnehmen, hinsichtlich welcher Bestimmungen dringender Nachbesserungsbedarf
besteht. In Sonderfällen ist es auch schon vorgekommen, dass das Bundesverfassungsgericht (über die konkret angegriffene Norm hinaus) auch noch die Unvereinbarkeit anderer
Bestimmungen ausgesprochen hat:
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(5a) Erstreckung auf bereits aufgehobene Gesetze
Beispielsweise hinsichtlich einer inzwischen bereits aufgehobenen Gesetzesvorschrift hat
es sich nicht darauf beschränkt, die Feststellung der Verfassungswidrigkeit nur hierauf zu
erstrecken, sondern auch auf die nicht zur Prüfung gestellte gleichlautende Vorschrift in
einer neuen, gültigen Fassung des Gesetzes (BVerfGE 28, 324 [363]; vgl. auch BVerfGE
127, 293 [333] sowie BVerfGE 129, 49 [75 f.]; vgl. auch BVerfGE 109, 279 [347] wonach
der Überprüfung und Bewertung “auch die nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde
erfolgten Gesetzesänderungen“ unterliegen).
(5b) Erstreckung auf inhaltsgleiche Bestimmungen anderer Gesetze
Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht seine Unvereinbarerklärung auch schon
erstreckt auf inhaltsgleiche Bestimmungen anderer Gesetze: Nach § 78 Satz 2 BVerfGG,
der im Verfahren der Verfassungsbeschwerde entsprechend anwendbar ist, ist im Interesse
der Rechtsklarheit (D.V.3.a)bb) (vgl. S. 340) ) eine Fülle solcher anderer Bestimmungen
für unvereinbar mit der Verfassung erklärt worden (BVerfGE 94, 241 [265 f.]; vgl. auch
BVerfGE 99, 202 [216] sowie BVerfGE 104, 126 [150] für Nachfolgevorschriften).
cc) Die Folgen einer Unvereinbarerklärung für den Gesetzgeber
Vor diesem Hintergrund gilt hinsichtlich der Folgen für den Gesetzgeber Folgendes:
(1) Pflicht zur rückwirkenden Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes
Weil - wie bereits vorstehend (bb) (1)) dargestellt - die Wirkung einer Unvereinbarerklärung regelmäßig ist, dass ab dem Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die betreffende Regelung nicht (mehr) angewendet werden darf (BVerfGE
105, 73 [134]), ist in der Folge einer solchen Entscheidung der Gesetzgeber grundsätzlich
berechtigt und verpflichtet , den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen, und zwar
(soweit nicht eine Weitergeltungsanordnung - vorstehend (2) - ausgesprochen worden ist)
rückwirkend für den gesamten Zeitraum, auf den sich die Unvereinbarerklärung bezieht
(BVerfGE 110, 94 [138]; vgl. auch BVerfGE 129, 49 [76] sowie BVerfGE 131, 239 [265]).
Eine solche vom Gesetzgeber zu treffende (rückwirkende) Regelung ist zunächst und vor
allem für alle noch nicht bestandskräftigen Entscheidungen zu treffen (BVerfGE 120, 125
[167]).
(2) Ausnahmen
Allgemein können Ausnahmen von der (Pflicht zur) rückwirkenden Umgestaltung der
Rechtslage nach zugelassen werden, wenn die Verfassungsrechtslage bisher nicht hinreichend geklärt gewesen und dem Gesetzgeber aus diesem Grund eine angemessene
Frist zur Schaffung einer Neuregelung zu gewähren ist (BVerfGE 131, 239 [265 f.]; vgl.
auch BVerfGE 133, 377 [423 f.]; vgl. indessen BVerfGE 132, 179 [193 f.] dazu, dass allein
das Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts, dass ein Gesetz gegen Bestimmungen des
Grundgesetzes verstößt, nicht ohne weiteres eine zuvor ungeklärte Verfassungsrechtslage
zu indizieren vermag).
(3) Spezielle Ausnahmefälle
Weitere Ausnahmen von dieser Pflicht sind insbesondere auf den Gebieten des Steuerrechts und der Beamtenbesoldung in Erwägung gezogen worden:
Brunn - Kapitel A.III.4.
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(3a) Steuerrecht (haushaltswirtschaftlich bedeutsame Vorschriften)
Von dem Grundsatz der Verpflichtung des Gesetzgebers zur rückwirkenden Umgestaltung
der verfassungswidrigen Rechtslage können im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung bei haushaltswirtschaftlich bedeutsamen Normen Ausnahmen zugelassen
werden (BVerfGE 125, 175 [258]; vgl. auch BVerfGE 132, 179 [193] sowie BVerfGE 133,
377 [423]).
Im Übrigen sind im Regelfall die Folgen einer Entscheidung, mit der das Bundesverfassungsgericht eine steuerliche Begünstigungsnorm wegen Verletzung des Gleichheitssatzes
für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hat, vom Steuerpflichtigen hinzunehmen.
Derjenige, der zur Gruppe der gleichheitswidrig Begünstigten gehört, muss nach einer
solchen Entscheidung damit rechnen , dass der Gesetzgeber die gleichheitswidrige Steuerbegünstigung aufhebt und den Begünstigten - wie die anderen auch - der Regelbesteuerung unterwirft (BVerfGE 121, 108 [132]). Hiervon kann aber in Ausnahmefällen
abgewichen werden (a.a.O. [132 f.]).
(3b) Beamtenrecht (Alimentation)
Im Bereich der Beamtenalimentation ist zu berücksichtigen, dass die im Beamtenverhältnis bestehende Pflicht zu gegenseitiger Rücksichtnahme zwischen Beamten und
Dienstherren (D.VII.2.c) (vgl. S. 401) ) sowie der Umstand, dass die Alimentation des
Beamten der Sache nach die Befriedigung eines gegenwärtigen Bedarfs aus gegenwärtig
zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln darstellt, dagegen sprechen, den Dienstherrn
ohne jede Einschränkung in Bezug auf den Kreis der betroffenen Beamten zu rückwirkenden Erhöhungen der Besoldung zu verpflichten; deshalb darf sich die rückwirkende
Heilung von Verfassungsverstößen auf diejenigen Beamten beschränken, welche den ihnen von Verfassungs wegen zustehenden Alimentationsanspruch zeitnah, also während
des jeweils laufenden Haushaltsjahres, gerichtlich geltend gemacht haben, ohne dass über
ihren Anspruch schon abschließend entschieden worden ist (BVerfGE 131, 239 [266]).
Auch insoweit lässt sich konstatieren, dass - bei Lichte besehen - die Folgen einer Unvereinbarerklärung sich nicht wesentlich von den Folgen einer Nichtigerklärung unterscheiden:
dd) Nichtig- bzw. Unvereinbarkeitserklärung und spezielle Folgen (insbesondere “strukturbedingte normative Regelungsdefizite“)
Normen sind (nur) nichtig, wenn ein grober Mangel im Gesetzgebungsverfahren vorliegt, wenn sie inhaltlich mit übergeordnetem Recht unvereinbar sind oder wenn eine
inkompetente Stelle sie erlassen hat (BVerfGE 31, 47 [53]).
Eine gesetzliche Regelung hingegen, die nach ihren Voraussetzungen und Folgen zwar
der Verfassung entspricht, gegen die aber in der Rechtsanwendungspraxis in erheblichem Umfang verstoßen wird, verletzt nur dann auch selbst das Grundgesetz, wenn die
verfassungswidrige Praxis auf die Vorschrift selbst zurückzuführen, mithin Ausdruck eines strukturbedingt zu dieser Praxis führenden normativen Regelungsdefizits ist. Solch
ein gesetzliches Regelungskonzept ist nicht dann bereits strukturell defizitär, wenn
die massenweisen Verstöße auf interessengeleitete Missverständnisse und Bestrebungen
hindeuten, die gesetzliche Regelung wegen ihrer - als unpraktisch empfundenen - Schutzmechanismen zu umgehen .
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Hiervon unberührt ist die in solchen Fällen bestehende Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht des Gesetzgebers, bei deren Unterbleiben - ex nunc - ein verfassungswidriger
Zustand eintreten würde (BVerfGE 133, 168 [233 ff.]).
(1) Die grundlegende Unterscheidung zwischen inhaltlicher Unvereinbarkeit der Norm
mit dem Grundgesetz und einem (“bloßen“ oder “evidenten“) Mangel im Gesetzgebungsverfahren
Ein inhaltlicher Fehler (mit der Folge der Nichtigkeit) liegt dann vor, wenn ein Gesetz inhaltlich den Rahmen überschreitet, den eine kompetenzbegründende Norm dem
Gegenstand gesetzt hat, über den “legiferiert“ worden ist; dabei dürfte man mit der Annahme nicht fehl gehen, dass sich die “kompetenzbegründenden“ Normen nicht auf die
Regeln der Art. 70 ff. GG (nachfolgend Kapitel C.) beschränken, sondern den gesamten
verfassungsmäßigen Rahmen des Gesetzgebers abdecken.
(1a) “Bloßer“ Mangel im Gesetzgebungsverfahren
Ein (“bloßer“) Mangel im Gesetzgebungsverfahren muss nicht immer zur Nichtigkeit des
Gesetzes führen, sondern nur dann, wenn er evident ist (Rücksicht auf die Rechtssicherheit); der Umstand, dass das Bundesverfassungsgericht - soweit ersichtlich - eine genauere
Definition eines solchen bloßen Mangels im Gesetzgebungsverfahren unterlassen hat, wird
dadurch erträglicher, dass mit einer Klarstellung der Rechtslage durch eine Entscheidung
des Verfassungsgerichts ein verfassungsrechtlicher Mangel im Gesetzgebungsverfahren für
die Zukunft evident (geworden) ist, wenn etwa der verfassungsrechtliche Mangel auf einer bisherigen entsprechenden Staatspraxis oder darauf beruhte, dass bisher ungeklärte
Rechtsfragen stets offengelassen wurden (grundlegend: BVerfGE 34, 9 [25 f.]; vgl. auch
BVerfGE 91, 148 [175]; BVerfGE 120, 56 [79 f.] sowie BVerfGE 125, 104 [132]).
(1b) Verordnung und Nichterfüllung gesetzlicher Pflichten
Sollte es um die Beantwortung der Frage gehen, ob ein Verstoß gegen Anhörungs- und
Beteiligungspflichten, welche der Gesetzgeber für das Verfahren des Erlasses von Rechtsverordnungen vorgesehen hat, zur Ungültigkeit der Verordnung führt, so ist immer zu
berücksichtigen, ob der Verstoß zugleich einen Verfassungsverstoß darstellt, weil dies
das Gewicht des Verfahrensfehlers erhöht und dagegen spricht, dass er ohne Folgen für
die Gültigkeit der Norm bleibt (BVerfGE 127, 293 [332 f.]).
(2) Nichtigerklärungen von Ausschlussnormen als (ausnahmsweise) zulässige Ausnahme vom Verbot der Teilnichtigerklärungen
Auszugehen ist von dem Grundsatz , dass eine Teilnichtigerklärung mit Rücksicht auf
die weite Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers bei der Ausgestaltung von Tatbeständen
ausscheidet (BVerfGE 132, 334 [359] für Gebührensätze und Anteile hiervon). Namentlich gilt dies, wenn ein Gesetz in seinem Kernbestand als verfassungswidrig erkannt
worden ist; dann muss es als Ganzes beseitigt werden, weil anderenfalls die innere Ausgewogenheit des Systems so gestört werden würde, dass geradezu von einer Verfälschung
der gesetzgeberischen Idee gesprochen werden müsste (BVerfGE 10, 200 [220]; vgl. auch
BVerfGE 22, 134 [152] für Vertragsgesetze sowie BVerfGE 61, 149 [206 f.]).
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(2a) Beispielsfälle für den Grundsatz
Vor diesem Hintergrund ist in jüngerer Zeit in der Entscheidung BVerfGE 111, 226 (273)
die Nichtigerklärung eines gesamten Gesetzes bei einheitlichem gesetzgeberischen Reformkonzept erfolgt (vgl. indessen auch die beachtlichen Gründe der abweichenden Meinung BVerfGE 111, 226 [274, 285]).
Ähnliches ist mit Blick auf Rechtsklarheit und Rechtssicherheit in der Entscheidung
BVerfGE 113, 273 (315 f.) entschieden worden (vgl. auch insoweit die beiden abweichenden Meinungen BVerfGE 113, 273 [327, 338] sowie BVerfGE 113, 273 [339, 347]).
Ausnahmen von dem Grundsatz hat das Verfassungsgericht nicht häufig zugelassen:
(2b) Beispielsfälle für die Ausnahme (insbesondere Nichtigkeit von Begünstigungen und Ausschlussnormen)
[1] Es ist zwar nicht möglich, eine Norm insoweit für nichtig zu erklären, als sie etwas nicht anordnet (BVerfGE 18, 288 [301] sowie BVerfGE 23, 1 [11]), aber es besteht
bisweilen die Möglichkeit, einen Verfassungsverstoß dadurch zu beseitigen, dass eine Ausschlussvorschrift oder einschränkende Satzteile oder Worte für nichtig erklärt werden was die Folge hat, dass eine Vergünstigung nunmehr auch der zunächst ausgeschlossenen
Gruppe zugutekommt - (BVerfGE 22, 349 [360]; vgl. indessen auch zu Fällen, die eine
solche Nichtigerklärung von Ausnahmevorschriften nicht ermöglichen: BVerfGE 43, 58
[74] sowie BVerfGE 131, 239 [264 f.]).
[2] Dieses Vorgehen ist meist dann möglich, wenn der Gesetzgeber bei Kenntnis der Verfassungswidrigkeit seiner Regelung ohnehin die Einschränkung hätte streichen müssen ,
eine dementsprechende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts also nicht als Eingriff in den der Legislative vorbehaltenen Bereich gewertet werden kann (BVerfGE 21,
329 [337 f.]; vgl. auch BVerfGE 22, 163 [174 f.] sowie BVerfGE 27, 220 [230 f.]).
[3] Freilich muss sich eine entsprechende Prüfung und Beurteilung auch mit der Frage
befassen, ob der Gesetzgeber die gesetzliche Regelung im Übrigen auch ohne den verfassungswidrigen Teil aufrecht erhalten hätte (BVerfGE 88, 203 [333]).
(3) Folgen einer Nichtigerklärung
Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass ein nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassenes Gesetz wegen Widerspruchs mit dem Grundgesetz nichtig ist, so ist wie bereits angesprochen (a) aa) (1)) - dieses Gesetz grundsätzlich von Anfang an (ex
tunc) rechtsunwirksam (grundlegend: BVerfGE 1, 14 [37]; vgl. auch BVerfGE 132, 334
[359]).
Sollte es sich - was inzwischen höchst selten der Fall sein dürfte - um nachkonstitutionell
gewordenes Recht (Art. 123 ff. GG) handeln, ist die Nichtigkeit von dem Zeitpunkt
an festzustellen, an dem es nachkonstitutionelles Recht geworden ist (BVerfGE 14, 174
[190]).
(3a) Entfallen einer Sperrwirkung nach Art. 72 GG
Wirkt die Feststellung der Nichtigkeit - wie im Regelfall - im Einzelfall ex tunc, so kann
ein solches für nichtig erklärtes Bundesgesetz nicht die Sperrwirkung nach Art. 72 GG
auslösen (BVerfGE 7, 377 [387]).
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(3b) Nichtigkeit einer Bezugsnorm und Auswirkungen auf die verweisende
Norm (Ausgangsnorm)
Der Umstand allein, dass eine Norm auf eine Norm verweist, die später für nichtig erklärt
wird, führt nicht ohne weiteres dazu, dass jene Norm auch nichtig ist; maßgebend ist
vielmehr, ob die verweisende Norm einen Regelungsgehalt hat, der nicht von den die
Verfassungswidrigkeit auslösenden Tatbestandsmerkmalen der nichtigen Norm betroffen
ist (BVerfGE 28, 163 [172]).
(3c) Prüfpflichten für Behörden und Gerichte
Bisweilen verbindet das Bundesverfassungsgericht eine Nichtigerklärung mit (nicht nur
einer Übergangsregelung bzw. Anordnung, sondern) einer Prüfpflicht für Behörden und
Gerichte, ob womöglich die Folgen der Nichtigerklärung wegen betätigten Vertrauens
(B.III.4.b) (vgl. S. 134) ) abzumildern sind (BVerfGE 73, 40 [102] für nachträglich in
Wegfall geratene Steuervorteile; vgl. auch BVerfGE 82, 126 [155] für Pflicht der Gerichte, ausgesetzte Verfahren fortzuführen, wenn der Gesetzgeber unzumutbar lang untätig
bleibt; ähnlich dürfte es sich bei einer “Untätigkeit“ eines Verordnungsgebers verhalten).
ee) Wirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf unanfechtbare
behördliche und gerichtliche Akte (§ 79 BVerfGG)
Bei der gesetzlichen Regelung der Frage, welche Wirkungen die Nichtigerklärung einer
Rechtsnorm für die nicht mehr anfechtbaren Hoheitsakte hat, die auf der nachträglich
für nichtig erklärten Norm beruhen, treten notwendig zwei Grundsätze in Widerstreit,
nämlich die Forderung nach Rechtssicherheit (B.III.2.b.cc) (vgl. S. 126) ), wozu auch die
Rechtsbeständigkeit rechtskräftiger Entscheidungen gehört (BVerfGE 2, 380 [403]), und
die Forderung nach Gerechtigkeit im Einzelfall.
In § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG - nachstehend (2) - hat der Gesetzgeber die Rechtssicherheit höher bewertet. Das Grundgesetz hat er hierdurch zwar nicht verletzt, weil sowohl
der Grundsatz der Rechtssicherheit wie das Prinzip der Gerechtigkeit im Einzelfall Verfassungsrang haben (grundlegend: BVerfGE 7, 194 [195 ff.]; vgl. auch BVerfGE 115, 51
[63]), aber er wäre - entgegen fragwürdiger Andeutungen in der Entscheidung BVerfGE
72, 302 (328) - weder durch die Verfassung noch durch entsprechende Rechtsprechung
gehindert, “bürgerfreundlicheres“ Recht zu schaffen.
(1) Wiederaufnahme bei Strafurteilen (§ 79 Abs. 1 BVerfGG)
§ 79 Abs. 1 BVerfGG liegt der Rechtsgedanke zugrunde, dass niemand gezwungen sein
soll, den Makel einer Strafe auf sich lasten zu lassen, die auf einem verfassungswidrigen
Strafgesetz beruht (grundlegend: BVerfGE 12, 338 [340]; vgl. auch BVerfGE 115, 51
[63]). Gleichwohl führt die Nichtigerklärung einer Norm nicht schon allein deswegen zur
Unwirksamkeit aller auf ihr beruhender Strafurteile (BVerfGE 15, 303 [307 f.]).
Ob es heutzutage noch richtig ist, dass nicht auch Strafurteile betroffen seien, die auf
nichtigen Normen des Gerichtsverfassungs- oder des Verfahrensrechts beruhen (BVerfGE
11, 263 [265]), ist zu bezweifeln; gerade auf dem Gebiet des Strafrechts ist in den letzten
Jahren zunehmend ins Bewusstsein gerückt, dass ein “gerechtes“ Strafurteil ebenso sehr
auf gültigem Verfahrensrecht beruhen muss wie auf gültigem materiellen Strafrecht (vgl.
im Einzelnen F.VIII.).
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Ebenso lässt sich heute bezweifeln, dass - erstens - die in § 79 Abs. 1 BVerfGG für
rechtskräftige Strafurteile zugelassene Wiederaufnahme kein Vollstreckungsverbot beinhaltet (BVerfGE 15, 309 [312] sowie BVerfGE 16, 246 [250]) und - zweitens - keine
nochmalige Bestrafung i.S.v. Art. 103 Abs. 3 GG (F.VII.) vorliegt, wenn nur die (materiell verfassungswidrige) nichtige durch eine (verfassungsgemäße) gültige Rechtsgrundlage
eines Strafurteils ersetzt wird (BVerfGE 15, 303 [308]).
(2) Unberührtheit von nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen (§ 79 Abs. 2
BVerfGG)
Aus § 79 Abs. 2 BVerfGG folgt der allgemeine Rechtsgedanke, dass unanfechtbar gewordene verfassungswidrige Akte der öffentlichen Gewalt nicht rückwirkend aufgehoben
und die in der Vergangenheit von ihnen ausgegangenen nachteiligen Wirkungen nicht
beseitigt werden, dass aber für die Zukunft die aus einer zwangsweisen Durchsetzung
der verfassungswidrigen Entscheidung sich ergebenden Folgen abgewendet werden sollen
(BVerfGE 20, 230 [236]; vgl. auch BVerfGE 115, 51 [63]).
Hierbei handelt es sich freilich nicht um einen “ehernen“ Grundsatz; es wäre dem Gesetzgeber nämlich unbenommen, die Wirkung einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit auch auf bereits bestandskräftige Hoheitsakte zu
erstrecken, er ist jedoch von Verfassungs wegen nicht hierzu verpflichtet (BVerfGE 100,
138 [195]; vgl. auch BVerfGE 132, 72 [99]).
(3) Normen, deren Rechtswirkungen ohne Zwischenschaltung von Behörden oder Gerichten eintreten
Ähnlich verhält es sich mit den Möglichkeiten des Gesetzgebers, soweit es um die Wirkungen einer verfassungswidrigen Norm geht, welche ohne Zwischenschaltung einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts eintreten, für welche § 79 Abs. 2 BVerfGG nicht (auch
nicht entsprechend) gilt; soweit der Gesetzgeber im Interesse der Rechtssicherheit und
des Rechtsfriedens Auswirkungen einer festgestellten Verfassungswidrigkeit einzuschränken gedenken sollte, müsste er aber (wohl) den vorstehend beschriebenen Rechtsgedanken
beachten (BVerfGE 37, 217 [263]).
Ist eine dem Staat geschuldete Leistung fällig geworden und bereits erfüllt worden, ohne
dass ein behördliches Verfahren im vorstehenden Verständnis “zwischengeschaltet“ worden war, ist der Staat nicht vor entsprechenden Rückforderungen durch § 79 Abs. 2
Satz 1 BVerfGG geschützt (BVerfGE 108, 1 [33]; dort auch dazu, dass der Gesetzgeber
ohne weiteres einen solchen selbständigen Rechtsgrund für die Gebührenforderung hätte
festlegen können; vgl. auch BVerfGE 132, 334 [359]).
(4) Sonderfälle (Rentenrecht, Beamtenrecht)
Nur mit Vertrauensgesichtspunkten (B.III.2.b)ee) (vgl. S. 129) ) lässt sich die (im Ergebnis sicherlich zutreffende) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts begründen,
wonach bestandskräftige Rentenbescheide , die auf einer später für nichtig erklärten
Norm beruhen, von der Nichtigerklärung für die Zeit vor Bekanntgabe der Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts unberührt bleiben (BVerfGE 100, 138 [195]); schwierig ist
die Beantwortung der Frage, was für die Zeit danach gilt (vgl. für Beamtenversorgung
BVerfGE 117, 372 [391]).
Ähnlich verhält es sich mit verfassungsrechtlich gebotenen Beamten-Besoldungskorrekturen;
eine solche braucht sich grundsätzlich nur auf denjenigen Zeitraum zu erstrecken, der mit
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dem Haushaltsjahr beginnt, in dem die Verfassungswidrigkeit der bisherigen Regelung
verfassungsgerichtlich festgestellt worden ist (BVerfGE 81, 363 [384 f.]; vgl. auch
BVerfGE 131, 239 [266]).
(5) Privatrechtliche Rechtsbeziehungen
Was schließlich privatrechtliche Rechtsbeziehungen angeht, welche auf Rechtsnormen
gründen, die später vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden, so gilt für die
vollständig abgewickelten Beziehungen (B.III.3.c) (vgl. S. 131)), dass wegen der unabsehbaren Folgen für den Rechtsverkehr dem Gedanken der Rechtssicherheit der Vorrang
gebührt vor der Berücksichtigung der Einzelfallgerechtigkeit (BVerfGE 32, 387 [390]; vgl.
auch BVerfGE 97, 35 [48] sowie BVerfGE 98, 365 [402 f.]).
Bei noch nicht abgewickelten Rechtsbeziehungen muss indessen das Recht grundsätzlich
für Anpassungen offen sein (BVerfGE 98, 365 [403] für denkbare Pflicht des Gesetzgebers, Neuberechnungen bestimmter Versorgungsrenten für die Zukunft vorzunehmen),
zumindest dann, wenn die Rechtsfolgen der unveränderten Rechtsbeziehung für eine
Partei nicht schwerwiegend bis unzumutbar sind.
Ähnliches müsste gelten, wenn die Folgen von in der Vergangenheit erfüllten Ansprüchen
in Gegenwart und Zukunft fortbestehen und schwerwiegend sind (zu denken ist dabei
insbesondere an das Unterhalts- und Kindschaftsrecht).
(6) Insbesondere: Vollstreckungsverbote (§ 79 Abs. 2 Sätze 2 und 3 BVerfGG)
Über den Wortlaut des § 79 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG (“für nichtig erklärte“ Norm) hinaus
geht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass auch das
Vollstreckungsverbot analog anzuwenden ist, wenn das Gericht sich darauf beschränkt
hat, die Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz festzustellen (BVerfGE 115,
51 [65]).
Darüber hinaus macht es - wie im Rahmen des § 79 Abs. 1 BVerfGG - auch im Anwendungsbereich des § 79 Abs. 2 BVerfGG sachlich keinen wesentlichen Unterschied, ob eine
nicht mehr anfechtbare Entscheidung im Sinne dieser Regelung auf der verfassungswidrigen Auslegung einer Rechtsnorm oder auf einer verfassungswidrigen Vorschrift beruht
(a.a.O. [65 f.]; vgl. auch die abweichende Meinung BVerfGE 115, 51 [72, 74 ff.]).
Die soeben dargestellten Fallgruppen betreffen zwar in erster Linie die Gerichte; wie im
übrigen Bereich der §§ 78 und 79 BVerfGG (sowie im Rahmen des § 31 BVerfGG) auch,
hat aber auch der Gesetzgeber zu prüfen, ob er berechtigt ist (was er meist ist), die
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in das materielle Recht durch entsprechende Normen “einzufügen“. Hierfür bestünde angesichts einer Fülle neuerer einschlägiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ein ernst zu nehmender Bedarf.
ff) Schlagwortartige Zusammenfassung der Folgen von Nichtig- bzw. Unvereinbarkeitserklärungen im Hinblick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Vor diesem Hintergrund lassen sich die angerissenen Fragen, die die unmittelbaren Folgen
von Nichtigkeits- bzw. Unvereinbarkeitserklärungen betreffen, schlagwortartig wie folgt
beantworten:
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(1) Verbot der Anwendung verfassungswidriger Normen
Stellt das Bundesverfassungsgericht - in welcher Form auch immer - die Verfassungswidrigkeit einer Norm fest, so darf diese Norm vom Zeitpunkt der Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts an in dem sich aus dem Tenor der Entscheidung ergebenden
Ausmaß nicht mehr angewendet werden (BVerfGE 37, 217 [262 f.]; vgl. auch BVerfGE
93, 386 [402]).
(2) Einfluss des § 79 BVerfGG
Um zu verhindern, dass diese Wirkung ex tunc zu Rechtsunsicherheit und zu schwer
erträglichen Folgen für die Betroffenen führt, hat § 79 BVerfGG für den Regelfall die Konsequenzen solcher verfassungsgerichtlichen Entscheidungen für die in der Vergangenheit
entstandenen Rechtsverhältnisse wesentlich eingeschränkt (a.a.O.).
In Fällen, in denen diese Norm nicht eingreift, weil die Rechtswirkungen der verfassungswidrigen Norm ohne Zwischenschaltung einer Verwaltungsbehörde oder eines Gerichts (d.h. ohne eine rechtskräftige oder unanfechtbare Entscheidung i.S.d. § 79 Abs.
2 BVerfGG eingetreten sind), wird der Gesetzgeber eine besondere Regelung treffen
müssen. Soweit er darin im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens die
Auswirkungen der festgestellten Verfassungswidrigkeit einschränkt , wird er jedenfalls
den allgemeinen Rechtsgedanken des § 79 Abs. 2 BVerfGG zu beachten haben, wonach
für die Zukunft die sich aus der Durchsetzung nicht mehr anfechtbarer Akte ergebenden
Folgen abgewendet werden sollen (a.a.O.).
(3) “Heilungs- bzw. Abhilfepflichten“ des Gesetzgebers
Allgemein darf der Gesetzgeber - auch für die Vergangenheit - eine mit der Verfassung
unvereinbare Rechtslage nicht fortbestehen lassen. Grundsätzlich ist eine zeitlich umfassende Heilung eines vom Bundesverfassungsgericht festgestellten Verfassungsverstoßes
geboten (BVerfGE 81, 363 [384] zu Ausnahmen).
Abhilfe (“Heilung“) kann freilich dann nicht verlangt werden, wenn diese praktisch nicht
mehr durchführbar ist oder den Betroffenen keinen Nutzen mehr bringen kann oder wenn
sie nur unter unverhältnismäßiger Beeinträchtigung anderer schutzwürdiger Belange
möglich wäre (BVerfGE 87, 114 [137]; vgl. auch BVerfGE 94, 241 [266]).
b) Die Bindung nach Art. 94 GG i.V.m. § 31 BVerfGG
Bereits in der Plenarentscheidung BVerfGE 2, 79 (86 f.) hat das Verfassungsgericht davon gesprochen, dass seinen Feststellungen über die (Un-)Gültigkeit eines Gesetzes eine
“rechtssatzähnliche Kraft beigelegt“ wird. Vollständig geklärt sind jedoch die damit
zusammenhängenden Fragen bis heute nicht (vgl. etwa BVerfGE 139, 64 [147 f.]).
aa) Sachentscheidungen über Vereinbarkeit/Unvereinbarkeit (Nichtigkeit) als Auslöser
von Bindungen
Ist durch eine Sachentscheidung (BVerfGE 78, 320 [328] zum Unterschied zur Prozessentscheidung ) über die Vereinbarkeit (BVerfGE 85, 117 [121] für Vereinbarkeit nach
den Gründen) - welche für den Bundesgesetzgeber regelmäßig nur die Folge hat, dass
er sich bestätigt fühlen darf - oder Unvereinbarkeit mit der Verfassung bzw. Nichtigkeit
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(BVerfGE 37, 217 [262 f.]; vgl. auch BVerfGE 93, 386 [402]) einer Bundesrechtsnorm befunden worden, so kommen - für Verfahrensbeteiligte (also u.U. auch für den Gesetzgeber)
- sowohl eine Rechtskraft (BVerfGE 128, 326 [364 f.]) als auch eine Bindungswirkung
bzw. “Gesetzeskraft“ (grundlegend: BVerfGE 1, 14 [64] sowie BVerfGE 1, 89 [90]; vgl.
auch BVerfGE 85, 117 [121]; vgl. demgegenüber BVerfGE 115, 97 [108] für Bindungen der
Gerichte und daraus womöglich folgende Verstöße gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art.
20 Abs. 3 GG bzw. Art. 19 Abs. 4 GG; vgl. auch BVerfGE 40, 88 [94] für Unzulässigkeit
einer verfassungskonformen Auslegung) als Bindungen bzw. “Prozesshindernisse“ im
weitesten Sinne in Betracht.
(1) Tenor und Bindung an Gründe
Vornehmlich hinsichtlich letzterer ist in letzter Zeit zunehmend erörtert worden, ob
(nicht nur die Aussagen im Tenor, sondern) womöglich auch die “tragenden Entscheidungsgründe“ den Umfang der Bindung beeinflussen bzw. bestimmen können (BVerfGE
115, 97 [109 f.]).
(2) Beanstandende Entscheidungen und gesetzgeberische Hauptaufgaben
Sieht man hier zunächst von der Vereinbarkeitsentscheidung ab, so können beanstandende Entscheidungen für den Gesetzgeber im Wesentlichen zwei Hauptpflichten bzw.
-lasten auslösen:
(2a) Beseitigungspflichten (bzw. Heilungsoptionen)
Der Gesetzgeber kann - erstens - verpflichtet sein, die mit der Verfassung nicht vereinbare
Rechtslage - für die Vergangenheit oder für die Zukunft - zu beseitigen (BVerfGE 81, 363
[384] - möglicherweise nur begrenzte - “Heilung“ sowie BVerfGE 87, 114 [137] “Abhilfe“;
vgl. auch BVerfGE 94, 241 [266]).
Insoweit ist der Gesetzgeber zumindest gut beraten, die in den Entscheidungsgründen enthaltenen Maßstäbe und Anleitungen gründlichst zu befolgen, will er nicht zu gewärtigen
haben, dass seine “Heilungsanstrengungen“ erneut nicht die Billigung des Bundesverfassungsgerichts finden.
(2b) “Wiederholungsverbote“
Der Gesetzgeber kann aber auch - zweitens - daran (rechtlich bzw. faktisch) gehindert
sein, ein gleiches (BVerfGE 69, 112 [115 f.]) sowie (BVerfGE 96, 260 [263]; vgl. auch
BVerfGE 102, 122 [141 f.]) oder ähnliches (BVerfGE 77, 84 [103] Gesetz zu erlassen.
In der Folge wird es unternommen, die wesentlichen Unterschiede zwischen einer in Betracht zu ziehenden Rechtskraft und einer “bloßen“ Bindungswirkung (Gesetzeskraft)
darzustellen:
bb) Rechtskraft
Gleich denen anderer Gerichte kann auch den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Rechtskraftwirkung zukommen, welche allein schon deswegen von der Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG zu unterscheiden ist, weil letztere nicht für das
Bundesverfassungsgericht besteht (BVerfGE 20, 56 [86 f.]; vgl. auch BVerfGE 104, 151
[196]).
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(1) Tenorbindung
Diese bezieht sich nur auf die Entscheidungsformel (Tenor), nicht auch auf die in den
Entscheidungsgründen enthaltenen Urteilselemente, wenn auch die Entscheidungsgründe
zur Ermittlung des Sinnes der Urteilsformel herangezogen werden können (grundlegend:
BVerfGE 4, 31 [38 f.]; vgl. auch BVerfGE 33, 199 [203]; dort auch zu Darlegungspflichten
vorlegender Gerichte und zur - zulässigen und notwendigen - Berufung auf veränderte
Umstände nach dem Ergehen der früheren Entscheidung).
Im späteren Prozess bindet die Rechtskraft das Bundesverfassungsgericht nur dann, wenn
es sich um denselben Streitgegenstand zwischen denselben Parteien handelt; die Gleichheit wesentlicher Rechtsfragen genügt nicht (BVerfGE 4, 31 [39]; vgl. auch BVerfGE 86,
148 [211] für verschiedene Verfahrensgegenstände).
(2) Prozesshindernisse als denkbare Folgen einer Rechtskraft
Was die Folgen einer eingetretenen Rechtskraft anbelangt, so stellt sie im Falle einer
Vereinbarkeitserklärung (im Tenor) im Hinblick auf eine erneute Überprüfung grundsätzlich ein Prozesshindernis dar (BVerfGE 128, 326 [364 f.]; vgl. auch BVerfGE 131,
316 [333]).
Im Falle einer stattgebenden Entscheidung stellen Nichtigkeit und Unvereinbarkeit eines Gesetzes regelmäßig auch ein “Hindernis“ - freilich für Gesetzgeber im Sinne eines
“Wiederholungsverbots“ - dar, weil der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts für und
gegen alle wirkt (BVerfGE 69, 92 [103]; dort [104] auch zur Frage der Gültigkeit bzw.
Ungültigkeit von mehreren Tatbestände enthaltenden Rechtsvorschriften).
(3) Ausnahmemöglichkeit der Berufung auf veränderte Verhältnisse
Was denkbare Ausnahmen von den vorbezeichneten Grundsätzen angeht, so ist es in
den “einfach-rechtlichen“ Prozessarten allgemein anerkannt, dass eine Berufung auf eine
Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht von vornherein durch die Rechtskraft
gehindert wird, was im Ansatz auch für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
gilt (BVerfGE 33, 199 [204]; vgl. auch BVerfGE 120, 1 [23] zu “erhöhten Anforderungen“
bei wiederholten Vorlagen sowie BVerfGE 128, 326 [365] “rechtserhebliche Änderungen
der Sach- und Rechtslage“; dort auch dazu, dass Entscheidungen des EGMR, welche
neue Aspekte für die Auslegung des Grundgesetzes enthalten, zu einer Überwindung der
Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können).
In jedem Fall müssen sowohl Angreifer als auch Verteidiger der früheren Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts in einem neuen Verfahren darlegen, welche eingetretenen
bzw. nicht eingetretenen Veränderungen nach ihrer Auffassung die erneute verfassungsgerichtliche Prüfung entweder veranlassen oder gerade nicht veranlassen (BVerfGE 65,
179 [181]; vgl. auch BVerfGE 94, 315 [323]).
Bei Lichte besehen unterscheiden sich diese Voraussetzungen und Folgen der Rechtskraft
nicht so wesentlich von denjenigen der Bindungswirkung (Gesetzeskraft):
cc) Bindungswirkung (Gesetzeskraft)
Gegenstand der Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG ist die konkrete Entscheidung; das ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts über die streitgegenständliche
Frage (BVerfGE 104, 151 [197]; dort auch zu den Begriffen “Entscheidungsformel“ sowie
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“Entscheidungssatz“ und dazu, dass auch Teile von Verfassungsorganen gebunden sein
können).
Wie bereits angedeutet (A.III.1.c) (vgl. S. 45) ; dort [A.III.1.c)bb) (vgl. S. 46) ] auch
zur mehrfach angerissenen Frage, ob der Gesetzgeber an die Verfassung “als solche“ oder
die Verfassung in der Auslegung durch das Verfassungsgericht gebunden ist), besteht die
Bindungswirkung nicht für das Bundesverfassungsgericht selbst (BVerfGE 82, 198 [205]
keine Bindung an die Entscheidungen und “die dort entwickelten verfassungsrechtlichen
Grundsätze“) und kommt es in Betracht, die Bindungswirkung auch an den tragenden
Gründen von Entscheidungen zu orientieren.
(1) Tenortragende Entscheidungsgründe
Tenortragende Entscheidungsgründe sind jene Rechtssätze , die nicht hinweg gedacht
werden können, ohne dass das konkrete Entscheidungsergebnis nach dem in der Entscheidung zum Ausdruck gekommenen Gedankengang entfällt, und nicht tragend sind
demgegenüber bei Gelegenheit der Entscheidung gemachte Rechtsausführungen, welche
außerhalb des Begründungszusammenhanges stehen (BVerfGE 115, 97 [110]; verneint für
“Halbteilungsgrundsatz“ als Belastungsobergrenze).
(2) Verbot der Normwiederholung?
Während - was die Folgen einer eingetretenen Bindungswirkung anbelangt - in der früheren Rechtsprechung noch ziemlich eindeutig von einem Verbot einer bloßen Normwiederholung ausgegangen worden ist (BVerfGE 69, 112 [115 f.]), dürften inzwischen
(BVerfGE 98, 265 [320 f.] kein “absolutes Normwiederholungsverbot“) insoweit ähnliche
Grundsätze gelten wie für die inhaltsähnliche Neuregelung.
(2a) Erfordernis der besonderen Gründe
Ähnlich wie bei der Rechtskraft (vorstehend bb)) verlangen allerdings Normwiederholungen (und inhaltsähnliche Regelungen) besondere Gründe, die sich vor allem aus einer wesentlichen Änderung der für die verfassungsrechtliche Beurteilung maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse oder der ihr zugrunde liegenden Anschauung ergeben
können. Fehlen aber solche Gründe, ist das Bundesverfassungsgericht nicht gehalten,
die bereits entschiedenen verfassungsrechtlichen Fragen erneut zu erörtern (BVerfGE 96,
260 [263]; vgl. auch BVerfGE 98, 265 [320 f.] dazu, dass regelmäßig einem Gesetzgeber
die Einschätzung von Gefahren und die Beurteilung wirksamer Mittel zu ihrer Abwehr
vom Bundesverfassungsgericht nicht vorgegeben werden können, sowie BVerfGE 102, 122
[141 f.]).
(2b) “Missachtung“ einer ergangenen Entscheidung des Verfassungsgerichts als Verstoß gegen verfassungsrechtliche Rücksichtnahmepflichten
(Organtreue)
Darüber hinaus kann zwar ein Verstoß gegen die verfassungsrechtliche Rücksichtnahmepflicht (Grundsatz der Organtreue ) erblickt werden, wenn der Gesetzgeber die
Grenzen der legislativen Gestaltungsfreiheit dadurch überschreitet, dass er eine frühere
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bewusst missachtet bzw. sich über eine
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts und ihre tragenden Gründe ohne nähere
Auseinandersetzung “hinwegsetzt“ (BVerfGE 135, 259 [281 f.] für veränderte tatsächliche
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Verhältnisse im Wahlrecht), aber für gewöhnlich ist eine solche Vorgehensweise nicht zu
erwarten (und sie ist - soweit ersichtlich - in der Vergangenheit auch noch nicht vorgekommen).
(3) Verbot der inhaltsähnlichen Norm?
Die Bindungswirkung normverwerfender verfassungsgerichtlicher Entscheidungen hindert den Gesetzgeber zwar nicht , eine inhaltsähnliche Neuregelung zu beschließen
(BVerfGE 77, 84 [103 ff.]), wobei der Gesetzgeber aber die vom Bundesverfassungsgericht
festgestellten Gründe der Verfassungswidrigkeit des ursprünglichen Gesetzes (selbstverständlich) nicht übergehen darf (BVerfGE 96, 260 [263]; vgl. auch BVerfGE 102, 122
[141 f.] für Normwiederholung, die nachvollziehbar begründet worden ist).
Zur Begründung hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 77, 84 [104] darauf abgestellt, dass - zum einen - eine einfachgesetzliche Bindung den Gesetzgeber (selbstverständlich) nicht binden kann und - zum anderen - das Bundesverfassungsgericht Akte der
gesetzgebenden Gewalt “an der Verfassung selbst und nicht an verfassungsgerichtlichen
Präjudizien zu messen hat“ (und seine Rechtsprechung nicht aus eigener Initiative korrigieren kann); dies lässt aber immer noch die Fragen offen, ob die “Verfassung selbst“
womöglich hinsichtlich der präjudizierten Fragen identisch ist mit der “Verfassung im
Lichte der verfassungsrechtlichen Auslegung“, weil die gleiche Entscheidung auch von
der Pflicht des Bundesverfassungsgerichts “zur rechtsverbindlichen Auslegung der Verfassung“ ausgeht (vgl. auch BVerfGE 69, 112 [117] “letztverbindliche Auslegung“ sowie
BVerfGE 85, 117 [121] “geklärte Rechtslage“).
(4) Bindungen früher unbeteiligter Beteiligter?
Alle bisher dargelegten Grundsätze dürften (ausnahmslos) auch zutreffen, wenn es darum geht, dass ein Beteiligter am früheren Verfahren nicht teilgenommen hatte (Wirkung
für und gegen alle); in der Entscheidung BVerfGE 8, 122 (141) beispielsweise ist entschieden worden, dass eine am früheren Verfahren nicht beteiligte Landesregierung an
die tragenden Gründe der getroffenen Entscheidung ebenso gebunden sein kann wie die
beteiligte Landesregierung (vgl. aber BVerfGE 69, 112 [117] dazu, dass etwa ein Landesverfassungsgericht nicht an Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts zur Vereinbarkeit einer Landesrechtsnorm mit dem Grundgesetz oder mit Bundesrecht gebunden
ist, sondern die Landesrechtsnorm unter dem Gesichtspunkt der Vereinbarkeit mit der
Landesverfassung prüfen und evtl. für nichtig erklären kann).
(5) “Gesetzeskraft“ (§ 31 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG)
Was speziell den - in Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG “angelegten“ und - in § 31 Abs. 2 Satz 2
BVerfGG bezeichneten Begriff der Gesetzeskraft anbelangt, so tritt eine solche nur ein,
wenn das überprüfte Gesetz im Entscheidungssatz für mit dem Grundgesetz vereinbar
oder unvereinbar oder für nichtig erklärt worden ist.
Wird hingegen im Tenor nur ausgesprochen, dass ein Antrag zurückgewiesen wird (enthält
er also keine ausdrückliche Vereinbarkeitserklärung), so erwächst die Entscheidung
regelmäßig nicht in Gesetzeskraft (BVerfGE 85, 117 [121]).
Brunn - Kapitel A.III.4.
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c) Anhang: Überblick über die gebräuchlichsten (statistisch häufigsten)
Formen der Anrufung des Bundesverfassungsgerichts
Die nachfolgend abgehandelten Formen einer Anrufung bergen eine Fülle von “Klippen“,
an denen sie trotz materieller Begründetheit scheitern können; hier nur das Allernotwendigste:
aa) Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a)
Unübersehbar ist die einschlägige Rechtsprechung zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen
einer Verfassungsbeschwerde; hier nur einige Grundsätze zu den Stichworten Beschwerdebefugnis (Betroffenheit), Fristenwahrung und Subsidiarität (Erschöpfung des Rechtswegs):
(1) Funktion der Verfassungsbeschwerde (Vorrang des individuellen Rechtsschutzes)
Neben der Funktion, das objektive Verfassungsrecht zu wahren, auszulegen und fortzubilden, dient die Verfassungsbeschwerde primär dem individuellen Rechtsschutz für die
Durchsetzung der in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG genannten Rechte.
(1a) Gegenstand)
Der Gegenstand des Verfassungsbeschwerdeverfahrens bestimmt sich folglich, ausgehend
von der subjektiven Beschwer, nach der behaupteten Verletzung eines der in Art. 93 Abs.
1 Nr. 4 a GG genannten Rechte.
(1b) Verfahrenserledigungen
Auch nach Erhebung der Verfassungsbeschwerde steht es deshalb dem Beschwerdeführer
grundsätzlich frei, seinen Antrag zurückzunehmen oder seine Verfassungsbeschwerde in
der Hauptsache für erledigt zu erklären. Beide Erklärungen haben zur Folge, dass ds
Beschwerdebegehren nicht mehr zur Entscheidung steht (BVerfGE 126, 1 [17]; dort [17 f.]
auch zur Dispositionsfreiheit eines Beschwerdeführers, zum Grundsatz der Subsidiarität,
zur fachgerichtlichen Anhörungsrüge und zur Möglichkeit der Auslegung der Rüge einer
Gehörsverletzung als Rüge des unzureichenden Rechtsschutzes, Art. 19 Abs. 4 GG).
(1c) Rechtsnachfolge
Eine Rechtsnachfolge im Verfassungsbeschwerdeverfahren kommt grundsätzlich nicht
in Betracht, weil diese Verfahrensart regelmäßig der Durchsetzung höchstpersönlicher
Rechte dient. Ausnahmen sind im Hinblick auf solche Rügen zugelassen worden, die der
Rechtsnachfolger im eigenen Interesse geltend machen kann (BVerfGE 109, 279 [304]).
(2) Beschwerdebefugnis (Betroffenheit) als für alle Verfassungsbeschwerden geltende
Zulässigkeitsvoraussetzung
Um beschwerdebefugt zu sein, muss ein Beschwerdeführer behaupten können, selbst
, gegenwärtig und unmittelbar in einem seiner Grundrechte oder einem der diesen
gleichgestellten Rechte (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) verletzt zu sein. Diese Formel wurde ursprünglich (seit BVerfGE 1, 97 [101 f.]) für Verfassungsbeschwerden unmittelbar gegen
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Gesetze entwickelt, ist aber auch bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen anzuwenden.
Bei Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen liegt die Trias des eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenseins des Beschwerdeführers regelmäßig
vor. Daher bedarf es in der Regel keiner näheren Prüfung dieser Voraussetzung, weil sie in
dieser Konstellation regelmäßig keinen besonderen Erkenntnisgewinn erbringt. Ein Rückgriff auf die Betroffenheitstrias ist jedoch in Sonderfällen angezeigt, etwa wenn sich die
Beschwer aus anderen Umständen als dem für den Beschwerdeführer eigentlich günstigen
Tenor ergeben soll.
(2a) Selbstbetroffenheit
Selbstbetroffenheit liegt vor, wenn der Beschwerdeführer Adressat der Norm, des betreffenden Urteils oder ausnahmsweise auch eines Einzelakts ist.
(2b) Gegenwärtige Betroffenheit
Gegenwärtige Betroffenheit ist das Abgrenzungskriterium gegenüber zukünftigen Beeinträchtigungen. Gefordert ist eine “aktuelle“ Betroffenheit. Sie liegt vor, wenn der Beschwerdeführer schon oder noch von dem angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt betroffen
ist. Maßgeblich ist der Zeitpunkt, in dem die Verfassungsbeschwerde erhoben wird.
Gegenwärtigkeit in diesem Sinne ist gegeben, wenn eine angegriffene Vorschrift auf die
Rechtsstellung des Beschwerdeführers aktuell und nicht nur potentiell einwirkt, wenn das
Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später
nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn klar abzusehen ist, dass und
wie der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird.
Allein die vage Aussicht, dass der Beschwerdeführer irgendwann einmal in der Zukunft
von der beanstandeten Gesetzesvorschrift betroffen sein könnte, genügt hingegen nicht.
Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche
Entscheidungen.
(2c) Unmittelbare Betroffenheit
Unmittelbarkeit setzt voraus, dass die Einwirkung auf die Rechtsstellung des Betroffenen
nicht erst vermittels eines weiteren Akts bewirkt werden darf oder vom Ergehen eines
solchen Akts abhängig ist. Soweit das Bundesverfassungsgericht dazu Grundsätze anhand
von Verfassungsbeschwerden gegen Rechtsnormen entwickelt hat, gelten diese auch für
Verfassungsbeschwerden gegen gerichtliche Entscheidungen.
[1] Eine Vorschrift muss - ohne dass es eines weiteren Vollzugsaktes bedarf - in den
Rechtskreis des Beschwerdeführers dergestalt einwirken, dass etwa konkrete Rechtspositionen unmittelbar kraft Gesetzes zu einem dort festgelegten Zeitpunkt erlöschen oder
eine zeitlich oder inhaltlich genau bestimmte Verpflichtung begründet wird, die bereits
spürbare Rechtsfolgen mit sich bringt. Damit scheitert eine Verfassungsbeschwerde regelmäßig, wenn es noch einer Umsetzung des “Gesetzesbefehls“ durch Gesetz, Verordnung,
Satzung oder einen Vollzugsakt der Exekutive bedarf.
[2] Das Erfordernis der Unmittelbarkeit dient auch dazu, dem Bundesverfassungsgericht
die Fallanschauung der Fachgerichte zu vermitteln. Die Unmittelbarkeit der Betroffenheit
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ist damit auch eine Frage der Zumutbarkeit der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Verfahrens , innerhalb dessen die Verfassungsmäßigkeit einer Norm inzident
geprüft werden kann.
[3] Die Unmittelbarkeit ist zu verneinen , wenn eine Rechtsnorm nur eine Ermächtigung
für ein Tätigwerden der öffentlichen Gewalt darstellt, das seinerseits die Rechtsstellung
des Adressaten schmälert oder faktisch seine Grundrechte beeinträchtigt. Es muss gerade
die angefochtene Norm und nicht eine andere Maßnahme des Staates oder eines Dritten
sein, die die Betroffenheit des Beschwerdeführers bewirkt.
[4] Dass ein Vollzugsakt erforderlich ist, um für einzelne Adressaten der Norm individuell
bestimmte Rechtsfolgen eintreten zu lassen, ist lediglich Anzeichen für ein denkbares
Fehlen der unmittelbaren Grundrechtsbetroffenheit. Ob es ausschlaggebend ist, bedarf
in jedem Fall der Überprüfung anhand des Verfassungsprozessrechts.
Insbesondere wenn die angegriffene Norm keinen Auslegungs- und Entscheidungsspielraum lässt, kann ausnahmsweise ein Rechtsschutzbedürfnis für die unmittelbare Anfechtung des Gesetzes bereits vor Erlass des Vollziehungsaktes zu bejahen sein. Dies ist der
Fall, wenn das Gesetz den Betroffenen schon vorher zu entscheidenden Dispositionen veranlasst, die er nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen oder korrigieren
könnte. Auch wenn eine Rechtsnorm, obwohl sie vollzugsbedürftig ist, unabhängig davon
schon die Rechtsposition des Betroffenen nachteilig verändert, kann die Unmittelbarkeit
zu bejahen sein (BVerfGE 140, 42 [57 ff.]).
(2d) Betroffenheit durch “Vorauswahlen“
Eine unmittelbare Betroffenheit kann auch vorliegen bei einer einer gerichtlichen Entscheidung (Bestellung zum Insolvenzverwalter) vorausliegenden Verweigerung einer Aufnahme in die Vorauswahlliste (BVerfGE 141, 121 [128 f.]).
(3) Fristwahrung
Im Wesentlichen hat ein Beschwerdeführer zwei Fristen zu beachten, nämlich - erstens
(unmittelbar nachfolgend) - eine Monatsfrist gegen verfahrensabschließende Gerichtsentscheidungen und - zweitens (nachfolgend (6)) - eine Jahresfrist gegen Normen (Gesetze
und Rechtsverordnungen):
(3a) Allgemeines zur Fristberechnung
Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass für die Berechnung von Fristen auch im Bereich des öffentlichen Rechts die §§ 187 ff. BGB herangezogen werden können und dass
nach diesen Vorschriften auch die in § 93 BVerfGG bestimmten Fristen zu berechnen sind
(BVerfGE 102, 254 [295]; dort auch zu einer konkreten Berechnung einer Jahresfrist).
(3b) Monatsfrist und Möglichkeit der Wiedereinsetzung
Die einmonatige Frist zur Einlegung und Begründung einer Verfassungsbeschwerde beginnt gemäß § 93 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 BVerfGG mit der - der Form nach im jeweils
einschlägigen Verfahrensrecht geregelten - Bekanntgabe der Entscheidung, die mit der
Verfassungsbeschwerde angegriffen wird.
Ist der Beschwerdeführer - wie im Regelfall nach § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG - gehalten,
vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde den Rechtsweg zu erschöpfen, so wird der Lauf
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der Monatsfrist mit der Bekanntgabe der nach der jeweiligen Verfahrensordnung letztinstanzlichen Entscheidung in Gang gesetzt. Muss der Beschwerdeführer aus Gründen der
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde über die Erschöpfung des Rechtswegs hinaus
von einer Möglichkeit zur Beseitigung der von ihm gerügten Grundrechtsverletzung Gebrauch machen, dann ist erst die Entscheidung über diesen Rechtsbehelf für den Beginn
der Monatsfrist maßgebend.
Dagegen hindert die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs den Ablauf
der Monatsfrist nicht (BVerfGE 122, 190 [197]; dort [198 f.] auch zur Frage, inwieweit
eine Gehörsrüge zum Fachgericht zu dem Rechtsweg zu rechnen ist, welcher zum Zweck
der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zu “erschöpfen“ ist; nachfolgend (5)).
(3c) Monatsfrist und (offensichtlich) unzulässiger vorgängiger Rechtsbehelf
Die Einlegung eines offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfs ist - wie bereits erwähnt für die Monatsfrist aus § 93 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG ohne Bedeutung, weshalb die hierauf
ergangene gerichtliche Entscheidung die Frist nicht erneut in Lauf setzt (BVerfGE 122,
190 [199]; dort [199 f.] auch ausführlich zur Frage, inwieweit eine Gegenvorstellung aus
verfassungsrechtlichen Gründen statthaft bzw. unstatthaft ist).
(3d) (Zulässige) Begründungsergänzung (und unzulässige Erweiterung des
Gegenstandes)
Bei Rügen handelt es sich oft nicht lediglich um eine nach Ablauf der Beschwerdefrist
erfolgte Ergänzung des Vortrags in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht, sondern um eine
nach Fristablauf unzulässige Erweiterung des Verfahrensgegenstands. Nach § 92 BVerfGG
bedarf es der genauen Bezeichnung des Hoheitsakts, der mit der Verfassungsbeschwerde
angegriffen werden soll.
Bei Rechtsnormen reicht es daher regelmäßig nicht aus, das gesamte Gesetz zum Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde zu machen. Notwendig ist vielmehr die exakte
Bezeichnung der einzelnen mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen Bestimmungen
(BVerfGE 109, 279 [305]; ähnlich ist es bei mehreren belastenden Gerichtsentscheidungen).
(3e) Begründung bei gerichtlichen Entscheidungen mit verschiedenen (tragenden) Gründen
Werden mehrere gerichtliche Entscheidungen, die auf verschiedenen Gründen beruhen,
mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen, bedarf es der fristgerechten Auseinandersetzung mit jeder einzelnen Entscheidung (BVerfGE 128, 90 [99]).
(4) Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden gegen Entscheidungsgründe
In einer Entscheidung ist die - auch aus dem gewöhnlichen Verfahrensrecht bekannte Problematik der Beschwer durch Gründe einer gerichtlichen Entscheidung und Zulässigkeit einer hiergegen gerichteten Verfassungsbeschwerde wie folgt zusammengefasst
worden (BVerfGE 140, 42 [54 ff.] für Rechtsprechung des BAG zu kirchlichem Arbeitsrecht; dort [56 ff.] auch zu weiteren denkbaren Ausnahmefällen im Strafprozess):
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(4a) Grundsatz (Unzulässigkeit, Erfordernis der Tenorbeschwer)
Richtet sich eine Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Entscheidungen, kann sich die
Beschwer in aller Regel nur aus dem Tenor der Entscheidung ergeben; er allein bestimmt
verbindlich, welche Rechtsfolgen aufgrund des festgestellten Sachverhalts eintreten.
Erforderlich ist eine Beschwer im Rechtssinne ; eine faktische Beschwer allein genügt
nicht. Rechtsausführungen sowie nachteilige oder als nachteilig empfundene Ausführungen in den Gründen einer Entscheidung allein begründen keine Beschwer. Dieser im
Verfahrensrecht allgemein anerkannte Rechtsgrundsatz gilt auch für das Verfahren der
Verfassungsbeschwerde, da sie in erster Linie dem Rechtsschutz des Einzelnen gegenüber
der Staatsgewalt dient. Deshalb kann eine Verfassungsbeschwerde nicht darauf gestützt
werden, dass ein Gericht lediglich in den Gründen seiner Entscheidung eine Rechtsauffassung vertreten hat, die der Beschwerdeführer für grundrechtswidrig erachtet.
(4b) Ausnahmen
Analog zur Rechtsprechung zu faktischen Grundrechtseingriffen hat das Bundesverfassungsgericht in eng begrenzten Ausnahmefällen Verfassungsbeschwerden gegen die allein in den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung liegende Belastung für möglich
gehalten.
Bei strafprozessualen Einstellungsentscheidungen können Schuldzuweisungen oder feststellungen in den Gründen einen selbständigen Grundrechtsverstoß bedeuten, wenn
durch diese dem Beschuldigten strafrechtliche Schuld attestiert wird, obwohl das Verfahren eingestellt, also dem Tatverdacht nicht weiter nachgegangen worden ist und das
gesetzlich vorgeschriebene Verfahren zum Nachweis der Schuld nicht stattgefunden hat.
Denn ein derartiger richterlicher Spruch zur Schuldfrage hat Gewicht, auch wenn er dem
Betroffenen im Rechtsverkehr nicht vorgehalten werden darf.
Auch freisprechende Urteile können durch die Art ihrer Begründung Grundrechte verletzen, wenn die Entscheidungsgründe - für sich genommen - den Angeklagten so belasten, dass eine erhebliche, ihm nicht zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich
geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird.
Soweit das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf ehrverletzende Äußerungen eine
Grundrechtsverletzung durch die Gründe einer gerichtlichen Entscheidung in Erwägung
gezogen hat, kam es in der Entscheidung letztlich nicht darauf an (BVerfGE 15, 283 [286
f.]).
(5) “Erschöpfung“ des Rechtswegs (Subsidiarität)
Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist jede gesetzlich normierte Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts.
(5a) Begründungserfordernisse sowie Subsidiaritätsgrundsatz
Nach § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG mus sich die Verfassungsbeschwerde mit dem
zugrundeliegenden einfachen Recht sowie mit der verfassungsrechtlichen Beurteilung des
Sachverhalts auseinandersetzen und hinreichend substantiiert darlegen, dass eine Grundrechtsverletzung möglich erscheint. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine
gerichtliche Entscheidung, bedarf es in der Regel einer ins Einzelne gehenden argumentativen Auseinandersetzung mit ihr und ihrer Begründung. Dabei ist auch darzulegen,
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inwieweit das jeweils bezeichnete Grundrecht verletzt sein und mit welchen verfassungsrechtlichen Anforderungen die angegriffene Maßnahme kollidieren soll. Soweit das Bundesverfassungsgericht für bestimmte Fragen bereits verfassungsrechtliche Maßstäbe entwickelt hat, muss anhand dieser Maßstäbe dargelegt werden, inwieweit Grundrechte durch
die angegriffenen Maßnahmen verletzt werden.
[1] Der aus § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG abgeleitete Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde fordert, dass ein Beschwerdeführer - über das Gebot der Erschöpfung
des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus - alle ihm zur Verfügung stehenden prozessualen
Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung
zu erwirken oder eine Grundrechtsverletzung zu verhindern.
[2] Dem Bundesverfassungsgericht soll vor seiner Entscheidung unter anderem ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung der Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden.
Deswegen ist dem Subsidiaritätsgrundsatz auch nicht genügt, wenn im Instanzenzug ein
Mangel nicht nachgeprüft werden konnte, weil er nicht oder nicht in ordnungsgemäßer
Form gerügt worden war. Zwar resultiert daraus keine allgemeine Pflicht, verfassungsrechtliche Erwägungen und Bedenken schon in das fachgerichtliche Verfahren einzuführen. Dies lässt aber die Obliegenheit der Parteien unberührt, die für die Entscheidung maßgeblichen Tatsachen bereits im Ausgangsverfahren vollständig vorzutragen;
ein grundsätzlich neuer Tatsachenvortrag ist im Verfahren der Verfassungsbeschwerde
ausgeschlossen. Hat der Beschwerdeführer die Tatsachen dort nicht vollständig vorgebracht, hat er nicht alles ihm Zumutbare getan, um eine fachgerichtliche Entscheidung
zu seinem Gunsten herbeizuführen (BVerfGE 140, 229 [232 f.]).
(5b) Gegenvorstellung (und gesetzlich geregelte Gehörsrüge)
Die Gegenvorstellung war (und ist wohl immer noch) kein gesetzlich geregelter Rechtsbehelf. Mit der Gegenvorstellung wendet sich der Betroffene nämlich außerhalb der einschlägigen Verfahrensordnung und außerhalb förmlicher Verfahrensrechte an das Gericht mit
dem Ziel der Überprüfung seiner Entscheidung. Die Gerichte sind bei der sachlichen Entscheidung über eine Gegenvorstellung von der Beachtung der einschlägigen gesetzlichen
Regelungen namentlich des Verfahrensrechts nicht befreit.
So ist es ausgeschlossen, gesetzlich geregelte Bindungen des Gerichts an seine eigenen
Entscheidungen, wie insbesondere die Innenbindung während des laufenden Verfahrens
nach § 318 ZPO, ohne gegenläufige gesetzliche Grundlage zu übergehen. Vor allem aber
ist dann, wenn ein Gericht auf eine Gegenvorstellung an seiner eigenen, von ihm selbst als
fehlerhaft erkannten Entscheidung nicht festhalten will, zu beachten, dass die Lösung des
hier zu Tage tretenden Konflikts zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit
in erster Linie dem Gesetzgeber übertragen ist. Auch insoweit können sich die Gerichte
mithin nicht von der maßgeblichen gesetzlichen Regelung lösen.
Dies gilt insbesondere für gerichtliche Entscheidungen, die ungeachtet etwaiger Rechtsfehler nach dem jeweiligen Verfahrensrecht in Rechtskraft erwachsen und deshalb weder
mit ordentlichen Rechtsbehelfen angegriffen noch vom erkennenden Gericht selbst abgeändert werden können. Die Bindung der Gerichte ist hier von besonderer Bedeutung, weil
der materiellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen auch wesentliche rechtsstaatliche Funktionen zukommen, indem sie Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zwischen den
Beteiligten herstellt (BVerfGE 122, 190 [203]; dort (204 f.] auch zur denkbaren Wiedereinsetzung trotz “eigentlicher“ Fristversäumnis).
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Für eine gesetzlich vorgesehene Gehörsrüge dürften teilweise andere Maßstäbe gelten
(a.a.O. [198 f.]).
(5c) Unzulässiger Rechtsbehelf
Zwar ist eine Verfassungsbeschwerde mangels ordnungsgemäßer Rechtswegerschöpfung
in der Regel unzulässig, wenn ein an sich gegebenes Rechtsmittel mangels Nutzung der
verfahrensrechtlichen Möglichkeiten erfolglos bleibt. Es ist verfassungsrechtlich dabei insbesondere unbedenklich, die Beschreitung des Rechtswegs von der Erfüllung bestimmter
formaler Voraussetzungen abhängig zu machen.
Da aber ein Beschwerdeführer wegen der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch
dann verpflichtet ist, von einem Rechtsbehelf Gebrauch zu machen, wenn dessen Zulässigkeit im konkreten Fall unterschiedlich beurteilt werden kann, können ihm keine Nachteile
daraus erwachsen, wenn sich ein solcher Rechtsbehelf später als unzulässig erweist.
Anders liegen die Dinge nur bei einem offensichtlich unzulässigen oder nicht ordnungsgemäß genutzten Rechtsbehelf (BVerfGE 128, 90 [99 f.]).
(5d) Ausnahme bei “Unzumutbarkeit“ der Rechtswegerschöpfung
Eine Ausnahme vom Subsidiaritätsgrundsatz ist dann gerechtfertigt, wenn es dem Beschwerdeführer im konkreten Fall unzumutbar ist, vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde eine andere an sich gegebene Möglichkeit zur Beseitigung der geltend gemachten
Grundrechtsverletzung nutzen zu sollen (BVerfGE 110, 177 [189] für Spätaussiedler betreffende Verteilungsentscheidungen; dort [188] auch zum Rechtsschutzbedürfnis wegen
fortdauernder Belastung trotz vermeintlicher Erledigung; vgl. auch BVerfGE 122, 190
[201]; dort [200 f.] auch zum Verhältnis der Verfassungsbeschwerde zu einer landesverfassungsrechtlichen Möglichkeit; “grundsätzlich getrennte Verfassungsbereiche“).
(6) Die innerhalb einer Jahresfrist zu erhebende Verfassungsbeschwerde gegen Rechtsnormen
Nicht minder schwierig kann - trotz “größerer Bedenkzeit“ - eine Verfassungsbeschwerde
sein, die unmittelbar gegen eine Rechtsnorm gerichtet ist, weil insoweit das Erfordernis
der unmittelbaren Betroffenheit (sog. Beschwerdebefugnis) gilt:
Die Beschwerdebefugnis setzt, wenn eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein
Gesetz erhoben wird, voraus, dass der Beschwerdeführer durch die angegriffene Norm
selbst, gegenwärtig und unmittelbar in Grundrechten betroffen ist (BVerfGE 109, 279
[305]; vgl. bereits BVerfGE 102, 254 [296]; dort auch zu Substantiierungserfordernissen).
Ein “Unterlassen“ eines Gesetzgebers kann Gegenstand der Verfassungsbeschwerde sein,
wenn sich die Beschwerde auf einen ausdrücklichen Auftrag des Grundgesetzes berufen
kann, der Inhalt und Umfang der Gesetzgebungspflicht im Wesentlichen umgrenzt hat
(BVerfGE 139, 321 [346]).
(6a) Unmittelbare Rechtsbeeinträchtigung
Grundsätzlich ist - wie bereits unter (2) dargelegt - die Voraussetzung einer unmittelbaren Rechtsbeeinträchtigung, dass ein Akt der Rechtsanwendung zwischen die abstrakte
gesetzliche Regelung und die Rechtssphäre der Beschwerdeführer tritt. Ein Beschwerdeführer, der das Gesetz selbst angreift, muss deshalb geltend machen können, gerade
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durch die angegriffene Rechtsnorm und nicht erst durch ihren Vollzug in seinen Rechten
verletzt zu sein.
Setzt das Gesetz zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen staatlichen Praxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Stelle beeinflussten Vollziehungsakt voraus, muss der Beschwerdeführer grundsätzlich zunächst
diesen Akt angreifen und den gegen ihn eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor er die
Verfassungsbeschwerde erhebt.
Die Verfassungsbeschwerde kann sich jedoch ausnahmsweise unmittelbar gegen ein vollziehungsbedürftiges Gesetz richten, wenn der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht beschreiten kann, weil es ihn nicht gibt oder weil er keine Kenntnis von der Maßnahme
erlangt. In solchen Fällen steht ihm die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das
Gesetz ebenso zu wie in jenen Fällen, in denen die grundrechtliche Beschwer ohne vermittelnden Vollzugsakt durch das Gesetz selbst eintritt (BVerfGE 109, 279 [306 f.]; dort
[307] auch dazu, dass auch eine gesetzlich vorgesehene nachträgliche Benachrichtigungspflicht der Zulässigkeit nicht entgegenstehen muss).
Trotz Nichtbeschreiten des fachgerichtlichen Rechtswegs kann dem Grundsatz der Subsidiarität genügt sein, wenn spezifisch verfassungsrechtliche Voraussetzungen in Rede
stehen, die keine verbesserte Entscheidungsgrundlage durch eine vorausgegangene fachgerichtliche Prüfung erwarten lassen (BVerfGE 139, 321 [347]).
(6b) Darlegung einer möglichen Betroffenheit
Die Möglichkeit der eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit ist grundsätzlich erfüllt,
wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die
auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten
berührt wird.
Der geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit wird davon beeinflusst, welche Möglichkeit
der Beschwerdeführer hat, seine Betroffenheit darzulegen. So ist bedeutsam, ob die Maßnahme auf einen tatbestandlich eng umgrenzten Personenkreis zielt oder ob sie eine große
Streubreite hat und Dritte auch zufällig erfassen kann.
Darlegungen, durch die sich der Beschwerdeführer selbst einer Straftat bezichtigen müsste, dürfen zum Beleg der eigenen gegenwärtigen Betroffenheit nicht verlangt werden
(BVerfGE 109, 279 [307 f.]; dort [308] auch dazu, dass praktisch jedermann Objekt einer
akustischen Wohnraumüberwachung werden kann).
(6c) Sonderfall des Angriffs auf eine Verfassungsnorm und das ausfüllende
Gesetz
Greift ein Beschwerdeführer zugleich eine Grundgesetzänderung und ein entsprechendes grundrechtsausfüllendes Gesetz an, so sind Einwendungen gegen die Grundgesetzänderung (gestützt womöglich auf Art. 79 Abs. 3 GG) unter Umständen nicht als selbständige Rügen anzusehen, deren Unzulässigkeit gesondert festzustellen wäre, sondern
als Anregung zur inzidenten Nachprüfung der Zulässigkeit der Verfassungsänderung, soweit sie für die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Vorschriften von Bedeutung ist
(BVerfGE 109, 279 [306]).
bb) Vorlage durch ein Fachgericht (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG)
Brunn - Kapitel A.III.4.
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Eine Vorlage gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG (sog. “konkrete Normenkontrolle“; vgl.
zum Prüfungsmaßstab BVerfGE 126, 369 [388]) ist nur zulässig, wenn das vorgelegte
Gesetz für das von dem vorlegenden Gericht zu entscheidende Verfahren entscheidungserheblich ist. Die Erheblichkeit kann entfallen sein, wenn die Norm außer Kraft getreten
ist und für das Ausgangsverfahren (und womöglich auch nicht für andere Verfahren)
bedeutungslos geworden ist (BVerfGE 141, 143 [163]).
(1) Darlegung der Entscheidungserheblichkeit
Das ist die zur Prüfung gestellte Norm nur, wenn es für die Endentscheidung auf den
Bestand der Regelung ankommt. Nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG in Verbindung mit §
80 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG muss das vorlegende Gericht daher darlegen, inwiefern seine
Entscheidung von der Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Norm abhängt. Dazu muss
der Vorlagebeschluss mit hinreichender Deutlichkeit erkennen lassen, dass das vorlegende
Gericht im Falle der Gültigkeit der in Frage gestellten Vorschrift zu einem anderen Ergebnis käme als im Falle ihrer Ungültigkeit und wie das Gericht dieses Ergebnis begründen
würde.
Für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist
dabei grundsätzlich die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts maßgebend, sofern
diese nicht offensichtlich unhaltbar ist (BVerfGE 139, 1 [14 f.]; dort [16 ff.] im Übrigen
ausführlich zu Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft);
das vorlegende Gericht muss nicht auf jede denkbare Rechtsauffassung eingehen (BVerfGE 141, 1 [13 f.]).
(2) Darlegung der (verfassungsrechtlichen) Vorlagegründe
Für eine zulässige Vorlage muss das Fachgericht ferner deutlich machen, mit welchem
verfassungsrechtlichen Grundsatz die zur Prüfung gestellte Regelung seiner Ansicht nach
nicht vereinbar ist und aus welchen Gründen es zu dieser Auffassung gelangt. Hierzu bedarf es eingehender, Rechtsprechung und Schrifttum einbeziehender Darlegungen (BVerfGE 138, 136 [171 f.]; dort [175] auch zur - bejahten - Erheblichkeit für die Fälle einer
Aussetzung des Ausgangsverfahrens nach der Entscheidung bzw. einer begrenzten Weitergeltung des beanstandeten Rechts; vgl. auch BVerfGE 138, 64 [92 f.] zum Vorrang
einer - zulässigen - verfassungskonformen Auslegung vor einer Vorlage).
(3) “Vorentscheidung“ des Verfassungsgerichts und Vorlage
Hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise die Unvereinbarkeit einer Norm mit Art.
3 Abs. 1 GG festgestellt (und deren Weitergeltung für einen bestimmten Zeitraum angeordnet), so steht dies einer Vorlage (auch im Hinblick auf den Weitergeltungszeitraum)
nicht entgegen, sofern die Norm in einem anderen Regelungszusammenhang steht
(BVerfGE 139, 285 [299 ff.]; dort [297 ff.] auch zu Präzisierungen und Erweiterungen von
Vorlagen; “Befriedungsfunktion“ der Normenkontrollentscheidung).
(4) Prüfungsbefugnis des Verfassungsgerichts
Ist eine Richtervorlage zumindest unter einem Aspekt zulässig, prüft das Bundesverfassungsgericht die vorgelegte Norm unter allen in Betracht kommenden Gesichtspunkten
(BVerfGE 141, 1 [14 f.]).
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cc) Organstreitverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG
Bei diesem Verfahren handelt es sich um ein “kontradiktorisches“. Es dient maßgeblich der
gegenseitigen Abgrenzung der Kompetenzen von Verfassungsorganen oder ihren Teilen
in einem Verfassungsrechtsverhältnis, nicht der davon losgelösten Kontrolle der objektiven Verfassungsmäßigkeit eines bestimmten Organhandelns. Der Organstreit ist keine
objektive Beanstandungsklage (BVerfGE 140, 1 [21]).
(1) Parteifähigkeit (§§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG)
Verhältnismäßig häufig wird inzwischen - außer von Parteien (nachstehend (1b)) - von
Fraktionen (meist der Minderheit) eine Organstreitigkeit eingeleitet, die sich meist zulässig - gegen die Bundesregierung richtet.
(1a) Fraktionen
Regelmäßig ist eine Fraktion berechtigt, sowohl eigene Rechte als auch Rechte des Deutschen Bundestages im Wege der Prozessstandschaft geltend zu machen. Dies ist Ausdruck der Kontrollfunktion des Parlaments und zugleich ein Instrument des Minderheitenschutzes (BVerfGE 139, 194 [220] sowie BVerfGE 140, 160 [185]).
(1b) Parteien
Auch eine politische Partei gemäß Art. 21 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 2 Abs. 1
PartG kann andere Beteiligte im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG sein. Als solche ist
sie berechtigt, im Weg des Organstreits diejenigen Rechte geltend zu machen, die sich
aus dem besonderen verfassungsrechtlichen Status einer politischen Partei ergeben. Dazu
zählt auch das Recht auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb gem. Art. 21 Abs.
1 GG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 GG (BVerfGE 140, 1 [23]).
(2) Taugliche Antragsgegenstände
Tauglicher Antragsgegenstand kann sowohl ein Handeln als auch ein Unterlassen sein,
welche als verletzende Maßnahme(n) konkret bezeichnet (§ 64 BVerfGG) werden müssen;
die Maßnahmen müssen immer “rechtserheblich“ sein (BVerfGE 139, 194 [220 f.] für
Antworten auf parlamentarische Anfragen sowie BVerfGE 140, 1 [21] für Verletzung der
Chancengleichheit einer nicht im Bundestag vertretenen Partei).
(3) Antragsbefugnis
Grundvoraussetzung für die Antragsbefugnis (eines “Beteiligten mit eigenen Rechten“
i.S. von Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG) ist ein den Antragsteller und den Antragsgegner “umschließendes Verfassungsrechtsverhältnis“ (BVerfGE 139, 194 [221 f.] für parlamentarische
Anfragen; vgl. auch BVerfGE 140, 1 [22] “mögliche“ Rechtsverletzung).
(4) Frist (von sechs Monaten)
Ein Antrag muss gemäß § 64 Abs. 3 BVerfGG binnen sechs Monaten gestellt werden,
nachdem die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung dem Antragsteller bekannt geworden ist. Mit dieser Ausschlussfrist sollen im Organstreitverfahren angreifbare Rechtsverletzungen nach einer bestimmten Zeit im Interesse der Rechtssicherheit außer Streit
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gestellt werden. Richtet sich der Antrag gegen den Erlass eines Gesetzes, beginnt die
Sechs-Monats-Frist mit der Verkündung des Gesetzes zu laufen. Richtet sich das Organstreitverfahren gegen ein (auch fortdauerndes) Unterlassen des Antragsgegners, wird die
Frist spätestens dadurch in Lauf gesetzt, dass sich der Antragsgegner erkennbar eindeutig
weigert, in der Weise tätig zu werden, die der Antragsteller zur Wahrung der Rechte aus
seinem verfassungsrechtlichen Status für erforderlich hält (BVerfGE 140, 1 [22]).
(5) (Entfallenes) Rechtsschutzbedürfnis
Das Rechtsschutzbedürfnis eines Antragstellers kann entfallen (etwa infolge eines Ausscheidens aus dem Bundestag). Gleichwohl kann dann ein Bedürfnis bestehen, dass das
Verfassungsgericht die verfassungsrechtlich problematischen Grundlagen klärt (BVerfGE
139, 239 [244 f.]).
Nicht unbedingt entfallen sein muss ein Rechtsschutzbedürfnis etwa einer Bundestagsfraktion durch den Ablauf einer Legislaturperiode (BVerfGE 139, 194 [223] für erneute
Mitgliedschaft im Bundestag; dort auch zur Ausnahme der “nicht wiederholbaren Verhältnisse“ der abgelaufenen Legislaturperiode).
Im Organstreit entfällt ein Rechtsschutzbedürfnis grundsätzlich nicht deshalb, weil eine
beanstandete Rechtsverletzung abgeschlossen ist (BVerfGE 140, 160 [185 f.]).
dd) Abstrakte Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG)
Normenverwerfende Entscheidungen aufgrund eines Normenkontrollantrags (vgl. hierzu
auch vorstehend A.III.3.a)aa) (vgl. S. 57) für “umgesetztes“ Unionsrecht) sind häufig
erfolgt aus Gründen formellen (etwa Gesetzgebungskompetenz) oder materiellen Verfassungsrechts; zulässig waren die Anträge meist.
Gleichwohl werden hier kursorisch einige Zulässigkeitsfragen angesprochen:
(1) Antragsberechtigung (Art. 93 Abs.1 Nr. 2 i.V.m. § 76 Abs. 1 BVerfGG
§ 76 BVerfGG umschreibt die Voraussetzungen, unter denen die Durchführung eines
Verfahrens der abstrakten Normenkontrolle beantragt werden kann, und unterscheidet
dabei hinsichtlich der sachlichen Voraussetzungen der Antragsbefugnis entsprechend dem
Antragsziel danach, ob eine Normenverwerfung beantragt ist (Nr. 1) oder ob die Vereinbarkeit der zur Überprüfung gestellten Vorschrift mit dem Grundgesetz oder sonstigem
Bundesrecht bestätigt werden soll (Nr. 2).
(1a) Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten von § 76 Nr.
1 BVerfGG einerseits und § 76 Nr. 2 BVerfGG andererseits
Diese vom Gesetzgeber auf der Grundlage des Art. 94 Abs. 2 Satz 1 GG getroffene
Regelung ist mit Verfassungsrecht vereinbar; sie konkretisiert Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG.
Das Bundesverfassungsgericht entscheidet, wie es bereits mehrfach festgestellt hat, im
Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG nur, wenn
und solange ein “besonderes objektives Interesse“ an der Klarstellung der Geltung der
zur verfassungsrechtlichen Prüfung gestellten Norm gegeben ist.
Ein solches Interesse liegt bei einem Antrag auf Normenverwerfung gemäß § 76 Nr. 1
BVerfGG schon dann vor, wenn ein - als Organ oder Organteil auf die Bundesverfassung
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in besonderer Weise verpflichteter - Antragsteller von der Unvereinbarkeit der Norm mit
höherrangigem Bundesrecht überzeugt ist.
Demgegenüber kann ein besonderer Anlass für die in § 76 Nr. 2 BVerfGG geregelte Bestätigung einer Norm, von deren Verfassungsmäßigkeit in der Regel auszugehen ist, erst
dann bestehen, wenn diese Norm von den dafür zuständigen Stellen wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht nicht angewandt, nicht vollzogen
oder in sonst relevanter Weise missachtet und ihre Geltung damit in einer ihre praktische
Wirksamkeit beeinträchtigenden Weise in Frage gestellt wird.
Die im Falle des § 76 Nr. 2 BVerfGG durch Nichtanwendung der Norm bewirkte - ein
objektives Klärungsinteresse begründende - Rechtsunsicherheit kann vom Bundesverfassungsgericht nur dann mit verbindlicher Wirkung (§ 31 BVerfGG) behoben werden,
wenn die Geltung der Norm ausschließlich darum in Frage gestellt wird, weil sie mit
dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht unvereinbar sei. Nur insoweit steht dem
Bundesverfassungsgericht, das Garant der Bundesverfassung und einer den Vorrang des
Bundesrechts wahrenden Normenordnung ist, ein Prüfungsmaßstab zur Verfügung. Wird
die Norm aber zusätzlich aus anderen Gründen nicht angewandt, etwa weil sie als Rechtsverordnung auch von einer landesrechtlichen Ermächtigungsgrundlage nicht gedeckt sei,
so kann das Bundesverfassungsgericht die zur Frage der Geltung der Norm bestehende
Rechtsunsicherheit insgesamt nicht verbindlich ausräumen. Hieraus folgt, dass das besondere objektive Interesse an der Feststellung der Gültigkeit einer Norm gemäß § 76 Nr.
2 BVerfGG nur dann gegeben ist, wenn gerade die Unvereinbarkeit der Norm mit dem
Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht für deren Nichtanwendung entscheidungserheblich war. Nur dann kann das Bundesverfassungsgericht hierzu Rechtssicherheit schaffen
(BVerfGE 96, 133 [137 f.]).
(1b) Antragsberechtigung im Falle einer Zustimmung im Bundesrat
Die Frage, ob eine Zustimmung im Bundesrat die Antragsberechtigung eines Bundeslandes entfallen lässt, ist geklärt:
Der objektive Charakter des abstrakten Normenkontrollverfahrens macht die Antragsbefugten zu Garanten einer verfassungsgemäßen Rechtsordnung. Deshalb müssen sie sich
nicht schon im Normenentstehungsverfahren bei ihrer Stimmabgabe im Bundesrat schlüssig sein, ob sie später eine abstrakte Normenkontrolle herbeiführen wollen (BVerfGE 122,
1 [17]).
(2) Begründungspflicht
Ein Normenkontrollantrag ist gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG zu begründen. Hierzu ist substantiiert darzutun, aus welchen rechtlichen Erwägungen die angegriffene
Norm mit welcher höherrangigen Norm für unvereinbar gehalten wird (BVerfGE 128, 1
[32]; dort auch dazu, dass eine nicht in den Antrag einbezogene Norm gleichwohl Prüfungsgegenstand sein kann, wenn ihre Verfassungswidrigkeit auf eine zulässig angegriffene
Bestimmung “ausstrahlt“ oder sie notwendiger Bestandteil einer Gesamtregelung ist).
(3) Antrag und Prüfungsumfang
Der Prüfungsumfang bestimmt sich im Normenkontrollverfahren nach dem gestellten
Antrag; dieser kann auslegungsbedürftig sein (BVerfGE 122, 1 [18 f.] für eine Umfangsbegrenzung trotz in der Antragsschrift unterbliebener Beschränkung; vgl. auch BVerfGE
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119, 394 [408 f.]; dort [409] auch dazu, dass die Überzeugung eines Antragstellers von der
Unvereinbarkeit einer Norm derjenigen von der Nichtigkeit gleichzustellen sein kann).
(4) Objektives Klarstellungsinteresse (Indizierung und Ausnahmen)
Das objektive Klarstellungsinteresse wird im Falle des Normverwerfungsantrags nach §
76 Nr. 1 BVerfGG durch die Antragstellung und einen Antragsgrund indiziert.
Dies gilt grundsätzlich auch dann, wenn die zum Prüfungsgegenstand erhobene Norm
außer Kraft getreten oder auf andere Wiese gegenstandslos geworden ist.
Nur wenn von der als verfassungswidrig gerügten Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Rechtswirkungen ausgehen, ist das objektive Klarstellungsinteresse zu verneinen.
Dies könnte auch dann der Fall sein, wenn eine Norm dem Bundesverfassungsgericht
zur Prüfung unterbreitet wird, die offensichtlich und in jeder Hinsicht gegenstandslos
und damit obsolet geworden ist (BVerfGE 119, 394 [410]; vgl. auch BVerfGE 127, 293
[319]; dort [318 f.] auch zur Prüfung - als “Vorfrage“ - einer einfachgesetzlichen Norm als
Grundlage für eine zur Prüfung gestellte Rechtsverordnung).
ee) Bund-Länder-Streit i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG
Nach § 93 Abs. 1 Nr. 3 GG, § 13 Nr. 7 BVerfGG entscheidet das Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten über Rechte und Pflichten des Bundes und der
Länder, insbesondere bei der Ausführung von Bundesrecht durch die Länder und bei der
Ausübung der Bundesaufsicht.
Die Zulässigkeit eines Bund-Länder-Streits nach den genannten Vorschriften setzt eine
Maßnahme oder Unterlassung voraus, die innerhalb eines Bund und Land umspannenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses eine verfassungsrechtliche Rechtsposition
des Landes verletzen oder unmittelbar gefährden kann (BVerfGE 109, 1 [5]; dort [6 ff.]
auch zu Kriterien für die Bestimmung eines Bund und Land umschließenden materiellen Verfassungsrechtsverhältnisses, [10] zu einer äußerst schwierigen Fristwahrung in
Verfahren mit unklarer Zuständigkeit entweder eines obersten Bundesgerichts oder des
Bundesverfassungsgerichts und [12] zu einer Ausschlussfrist).
ff) Allgemeiner Prüfungsmaßstab bei Anträgen auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
Bei der Entscheidung über eine begehrte einstweilige Anordnung haben die Gründe, die
für die Verfassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsaktes vorgetragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung oder der in der Hauptsache gestellte Antrag erwiese sich als von vornherein
unzulässig oder offensichtlich unbegründet.
(1) Folgenabwägung (bei “offenem“ Ausgang des Hauptsacheverfahrens)
Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens muss das Bundesverfassungsgericht im
Rahmen einer Folgenabwägung die Nachteile abwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber
den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre (BVerfGE 140, 99
[106]; dort [107] auch speziell zu beantragten Außervollzugsetzungen von Gesetzen).
Brunn - Kapitel A.III.4.
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(2) Aussetzung des Vollzugs eines Gesetzes als seltene Ausnahme
Wegen der meist weittragenden Folgen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfassungsrechtlichen Verfahren auslöst, gilt für die Beurteilung der Voraussetzungen des
§ 32 Abs. 1 BVerfGG ein strenger Maßstab. Soll der Vollzug eines Gesetzes ausgesetzt
werden, erhöht sich diese Hürde noch, denn das Bundesverfassungsgericht darf von seiner Befugnis, den Vollzug eines Gesetzes auszusetzen, nur mit größter Zurückhaltung
Gebrauch machen, weil dies einen erheblichen Eingriff in die originäre Zuständigkeit des
Gesetzgebers darstellt.
Müssen die für eine vorläufige Regelung sprechende Gründe schon im Regelfall so schwer
wiegen, dass sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung unabdingbar machen, so müssen sie im Fall der begehrten Außervollzugsetzung eines Gesetzes darüber hinaus besonderes Gewicht haben. Insoweit ist von entscheidender Bedeutung, ob die Nachteile
irreversibel oder nur sehr erschwert revidierbar sind, um das Aussetzungsinteresse durchschlagen zu lassen (BVerfGE 140, 211 [219 f.] im Zusammenhang mit Art. 9 GG; dort
[224] auch zu einstweiligen Anordnungen “von Amts wegen“ - ohne Antrag -).
Brunn - Kapitel B.I.0.
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B. Die Veränderung bestehenden Bundesrechts und die damit
verbundenen verfassungsrechtlich bedeutsamen Risiken
I. Einführende Darlegungen in die Problematik der Aufhebung und
Änderung vorhandenen Rechts
1.
Die Zusammenhänge zwischen vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen tatsächlichen Sachverhalten und den sie regelnden (früheren, bestehenden und geplanten) Normen (“anhaftendes Recht“) . . . . . .
a) “Anhaftendes“ Recht . . . . . . . . . . . . . . .
98
98
aa) Abgeschlossene Rechtsverhältnisse (“abgewickelte“ Sachverhalte) und “offene“ Rechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . .
99
b)
bb) “Recht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Folgen von “Anhaftungen“ (“Geregeltsein“) . . . . . . . .
aa) Umfang der “Regelung“
2.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Folgen einer ex nunc- (bzw. ex tunc-)Aufhebung
(Ersatzlose) Aufhebungen
. . . . . . . . . . .
a) Prüfung der Aufhebungsfähigkeit und -bedürftigkeit .
b) Aufhebungsmodalitäten und -besonderheiten . . .
c)
. .
.
.
.
. . .
. .
. .
. .
. .
.
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99
99
100
100
100
100
101
aa) Endgültiges Erlöschen einer Norm mit dem Inkrafttreten
der Aufhebungsvorschrift (keine Möglichkeit der “Wiederbelebung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
(1) “Verlängerungen“ auslaufenden bzw. ausgelaufenen Rechts
und “Pauschalaufhebungen“ . . . . . . . . . . . . . . . .
101
(2) Folgen einer Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
101
bb) Einfluss des Rechtsstaatsprinzips auf bestimmte Aufhebungen
102
(1) Aufhebungen ex nunc (mit Wirkung für die Zukunft) und
u.U. Pflicht zur Schaffung von Übergangsregelungen . . .
102
(2) Aufhebungen ex tunc (mit Wirkung für die Vergangenheit)
102
(3) Ex tunc-Aufhebungen von NS-Unrecht
. . . . . . . . . .
102
cc) Aufhebung “als Bundesrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
Folgen von (ersatzlosen) Aufhebungen
. . . . . . . . .
103
103
aa) “Nachwirkungen“ aufgehobenen Rechts . . . . . . . . . . . .
103
(1) Grundsatz des fortdauernden “Geregeltseins und -bleibens“
103
(2) Fortwirken aufgehobenen Rechts durch Wiederaufgreifensverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
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(3) Fortwirken aufgehobenen Übergangsrechts . . . . . . . .
3.
bb) Aufhebungen strafrechtlicher Normen zwischen Tat und Aburteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Abänderungen von Bundesrecht und Hauptgefahren . . . . . . .
a) Unpräzise Festlegungen der zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) (Unbewusste) “Regelungslücken“ bzw. “sich überschneidende Rechtsregime“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
Bewusste Entwertungen von Rechtspositionen (Rückwirkung) . .
d) Fehlerhafte “Klarstellungen“ . . . . . . . . . . . . .
e)
Verfehlung des Ziel klarer, bestimmter, berechenbarer und “verlässlicher“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Wörter “aufheben“ und/oder “ändern“ kennzeichnen (im Gegensatz zur Tätigkeit
der Gerichte) grundsätzlich eine Tätigkeit des Gesetzgebers (BVerfGE 15, 337 [346]).
Entscheidet das Bundesverfassungsgericht , dass eine Norm nichtig bzw. mit der Verfassung unvereinbar ist (vorstehend A.III.4. (vgl. S. 62) ), so bedeutet das zwar in der
Regel, dass die Norm (von Anfang an) rechtsunwirksam ist (grundlegend: BVerfGE 1,
14 [37]; vgl. auch BVerfGE 132, 334 [359]), was der Sache nach auch eine Aufhebung
(ex tunc) ist; bei Handlungen des Gesetzgebers kann aber durchaus Anderes gelten
(beispielsweise kann eine Aufhebung zulässig nur dann sein, wenn sie ex nunc - mit
Wirkung nur für die Zukunft - erfolgt).
1. Die Zusammenhänge zwischen vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen tatsächlichen Sachverhalten und den sie regelnden (früheren,
bestehenden und geplanten) Normen (“anhaftendes Recht“)
Während die - inzwischen statistisch die absolute Ausnahme darstellende - erstmalige
Regelung einer Materie, wie in den vorstehenden Ausführungen dargelegt (A.II.1. (vgl.
S. 12) bis 4.), eher Probleme im Hinblick auf die (ab den Verkündungs- bzw. Inkrafttretenszeitpunkten) zu gestaltende Gegenwart und Zukunft aufwirft und die erstmalige
Regelung abgeschlossener oder noch offener tatsächlicher Sachverhalte regelmäßig unproblematisch ist, weil für gewöhnlich keine Rechtspositionen beeinträchtigt werden können, welche verfassungsrechtlich “aufrechterhaltungsbedürftig“ (BVerfGE 30, 367 [386 f.]
sowie BVerfGE 126, 369 [391 f.] für Grundsatz der Aufrechterhaltung materieller und
BVerfGE 87, 48 [63 f.] für Aufrechterhaltung verfahrensrechtlicher Positionen; vgl. auch
BT-Dr. 16/47, S. 39 f. sowie BT-Dr. 16/5051, S. 24) sind, ist dies bei der - statistisch
eindeutig dominierenden - Aufhebung und Veränderung bereits bestehenden Rechts regelmäßig eher umgekehrt.
Der Gesetzgeber muss viel Sorgfalt auf die Beantwortung der Frage verwenden, ob er mit
seinen Gesetzesänderungen nicht etwa “nur“ i.S.v. Art. 19 Abs. 1 GG Grundrechte für
die Zukunft einschränkt, sondern darüber hinaus - bewusst oder unbewusst - aufgrund
des alten Rechts entstandene schutzwürdige Rechtspositionen unzulässig beeinträchtigt.
Hierbei mag die Idee des an Sachverhalten “anhaftenden Rechts“ hilfreich sein:
a) “Anhaftendes“ Recht
Bei der exakten Überprüfung und Beurteilung von vorliegenden - früheren bzw. gegenwärtigen - Regelungen (abgeschlossener Sachverhalte oder Rechtsverhältnisse) geht es vorran-
Brunn - Kapitel B.I.1.
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gig darum, herauszufinden und zu bestimmen, welches (früher oder aktuell) gültige Recht
- gleichgültig, ob materielles, (spezielles oder allgemeines) Verfahrens-, Dauer- oder Übergangsrecht - mit welchen Rechtsfolgen diesen tatsächlichen Verhältnissen (immer noch)
regelnd “anhaftet“ (BT-Dr. 16/5051, S. 24 r. Sp., unter Anlehnung an Klein/Barbey,
1964), und zwar gleichgültig, ob die Rechtsfolgen durch den Gesetzgeber unmittelbar
bewirkt, vertraglich herbeigeführt, behördlich verfügt oder gerichtlich zugesprochen bzw.
gestaltet worden sind, gleichgültig zunächst auch, ob die Rechtsfolgen (einzelne oder
mehrere oder alle Regelungsadressaten) belasten oder begünstigen.
aa) Abgeschlossene Rechtsverhältnisse (“abgewickelte“ Sachverhalte) und “offene“
Rechtsverhältnisse
Nur eingeschränkt “anhaftend“ ist Recht, wenn nicht von “abgeschlossenen“ Rechtsverhältnissen bzw. “abgewickelten“ Sachverhalten oder Tatbeständen (BVerfGE 126, 369
[391] die Rede sein kann, sondern lediglich von (noch) “offenen“, nicht endgültig geregelten Rechtsverhältnissen, was vor allem bei sog. Dauerrechtsverhältnissen der Fall sein
dürfte:
Zwar wird man eine nach dem damals gültigen Recht geschlossene Ehe als “abgeschlossenen“ tatsächlichen wie rechtlichen Vorgang bewerten müssen (mit der Folge, dass sie als
solche auch vom Gesetzgeber regelmäßig nicht mehr in Frage gestellt werden darf), womit aber nicht verbunden sein muss, dass der Gesetzgeber auch auf das Dauerverhältnis
Ehe nicht mehr einwirken dürfte; insoweit wird maßgeblich sein, ob Betroffene zulässig
ein Vertrauen auf den Fortbestand auch von gesetzlichen Begleitfolgen entwickeln durften
(vgl. zur sog. echten und unechten Rückbewirkung nachfolgend B.III.4. (vgl. S. 131) und
B.III.5. (vgl. S. 134) ).
bb) “Recht“
Unter “Recht“ in diesem Verständnis kann dabei - über die traditionellen Rechtsquellen
(Verfassung, Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen) hinaus - auch (wie unter A.III.3.
(vgl. S. 56) dargelegt) umzusetzendes oder unmittelbar verbindliches (primäres oder sekundäres) Gemeinschaftsrecht verstanden werden.
Untergesetzliche Regelwerke oder Verwaltungsvorschriften können nur dann “Recht“ darstellen, wenn durch eine entsprechende gesetzliche Verweisung auf sie etwa die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe erfolgt ist oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden
gesetzlichen Grundlage beruht (BVerfGE 129, 1 [21 f.]).
b) Folgen von “Anhaftungen“ (“Geregeltsein“)
Im Falle solcher “Anhaftungen“ ist es zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, dass
Neuregelungen erfolgen, sei es ex tunc (von Anfang an), sei es ex nunc (nur mit Wirkung
für die Zukunft), und es ist auch schon in seltenen Fällen vorgekommen, dass der Gesetzgeber in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise rückwirkend in eine Vielzahl bereits
abschließend geregelter Sachverhalte oder Rechtsverhältnisse eingegriffen und Neuregelungen vorgenommen hat (etwa BVerfGE 72, 302 [318 ff.] für rückwirkende Heilungen),
wodurch ein Vertrauen in den Fortbestand solcher “Anhaftungen“ hat zerstört werden
können, aber regelmäßig ist dieses Vertrauen durch die Verfassung, allgemeine Bestandsbzw. Rechtskraftregelungen oder Rechtsgrundsätze dauerhaft geschützt.
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Seite 100
aa) Umfang der “Regelung“
Aus den “Anhaftungen“ des Rechts an den Sachverhalten ergeben sich nicht nur die
eingetretenen unmittelbaren Rechtsfolgen (Ansprüche sind entstanden; Dauerrechtsverhältnisse, wie beispielsweise Ehen, sind begründet oder - ex tunc oder ex nunc - beendet
worden; Belastungen sind auferlegt worden; Verbindlichkeiten sind begründet worden),
sondern auch weitere Folgen für den Fall eines Streits über das Ob und Wie des “Geregeltseins“.
So ist regelmäßig unmittelbar der regelnden Norm zu entnehmen (sollte durch Auslegung
entnehmbar sein), wann etwa eine hierauf gestützte Verfügung hinreichend bestimmt ist,
wer im Streitfall die Darlegungs- und Beweislast tragen muss und auf welchen Zeitpunkt bzw. welche Zeiträume bei der tatsächlichen wie rechtlichen Bewertung abzustellen
ist, wenn hierfür mehrere in Betracht kommen; revisionsrechtlich handelt es sich hierbei
regelmäßig um Rechts- und nicht um Tatsachen-bzw. Verfahrensfragen.
bb) Folgen einer ex nunc- (bzw. ex tunc-)Aufhebung
Die “Anhaftungen“ sind im Regelfall so beständig, dass sie sogar eine spätere ex nuncAufhebung der Rechtsgrundlage überdauern; die zum Zeitpunkt der - kraft Gesetzes
erfolgten, verfügten oder vertraglich geschaffenen - Regelung hierfür maßgebliche gültige
Norm war, ist und bleibt Rechtsgrundlage für das geschaffene Rechtsverhältnis (im
Einzelnen nachfolgend c)).
Auch in der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird dies dadurch
“anerkannt“, dass es eine Prüfung bereits außer Kraft getretener Normen davon abhängig
macht, ob von ihnen “noch Rechtswirkungen ausgehen“, die entscheidungserheblich sein
können (BVerfGE 130, 1 [42]).
Anders kann es sich verhalten, wenn es zulässig unternommen wird, durch eine Aufhebung ex tunc (von Anfang an) eine Ablösung der Rechtsfolgen von den (geregelten)
Sachverhalten vorzunehmen.
2. (Ersatzlose) Aufhebungen
Einmal verkündete und in Kraft gesetzte Rechtsvorschriften gehören - vorbehaltlich
des (sehr seltenen) Sonderfalls eines evidenten Obsoletgewordenseins (nachfolgend
B.II.1.b)aa) (vgl. S. 109) sowie B.II.1.c)aa)(3) (vgl. S. 110) ) - so lange zum geltenden
Bundesrecht, bis sie förmlich außer Kraft gesetzt bzw. aufgehoben worden sind.
a) Prüfung der Aufhebungsfähigkeit und -bedürftigkeit
Einmal gesetztes Recht ist aber praktisch nur so lange als geltendes Recht erhaltungsbedürftig, wie es (noch) zur Bewertung von neuen oder noch nicht (gänzlich) abgeschlossenen Sachverhalten und der damit verbundenen rechtlichen Verhältnisse geeignet und
erforderlich ist, und sei es auch nur in wenigen Fällen (BT-Dr. 16/47, S. 34).
Überholte und inhaltsleere Vorschriften sollten daher regelmäßig aus dem Bestand des
geltenden Rechts entfernt werden, schon um dem Eindruck vorzubeugen, dass sie für die
Bewertung heutiger bzw. zukünftiger Sachverhalte noch maßgeblich wären.
Bereits nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 und Nr. 6 des Gesetzes über die Sammlung des Bundesrechts
vom 10. Juli 1958 (BGBl. I, S. 437) war für die Aufnahme bzw. Nichtaufnahme von
Brunn - Kapitel B.I.2.
Seite 101
Vorschriften in die Sammlung des Bundesrechts (BGBl. III) maßgeblich, ob und inwieweit
Vorschriften oder Teile von Vorschriften
• “einen überholten Tatbestand oder ein überholtes Rechtsverhältnis voraussetzen“
oder
• “vollzogen sind“.
b) Aufhebungsmodalitäten und -besonderheiten
Regelmäßig erlischt eine Vorschrift mit dem Inkrafttreten des Außerkrafttretensbefehls,
was u.a. zur Folge hat, dass danach diese Bestimmung - als solche - nicht “wiederbelebt“
werden kann.
aa) Endgültiges Erlöschen einer Norm mit dem Inkrafttreten der Aufhebungsvorschrift
(keine Möglichkeit der “Wiederbelebung“)
Ein alter Rechtszustand kann - zwar regelmäßig nicht durch den Gesetzgeber, womöglich
(nachfolgend (2)) aber durch eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE
102, 197 [208] sowie BVerfGE 104, 126 [150] fragwürdig; vgl. aber die Einschränkung in
BVerfGE 131, 316 [376]) - nicht vermittels einer Aufhebung eines bereits vollzogenen
Aufhebungsbefehls wieder hergestellt werden.
Anders kann es sein bei zeitlich verzögerten oder bedingten Aufhebungsbefehlen, die
regelmäßig zulässig sind.
(1) “Verlängerungen“ auslaufenden bzw. ausgelaufenen Rechts und “Pauschalaufhebungen“
Greift ein späterer Gesetzgeber eine bereits außer Kraft gesetzte Regelung gleichwohl
wieder auf, so kann dies äußerstenfalls bedeuten, dass eine wortgleiche neue Regelung
geschaffen wird, wobei dies meist in Form einer Verweisung (BVerfGE 47, 285 [311 ff.])
geschieht.
Mit anderen Worten hat die “Verlängerung“ einer bereits außer Kraft getretenen Regelung die Schaffung einer inhaltsgleichen neuen Regelung zur Folge (BVerfGE 8, 274
[Leitsatz 1]). Diese neue Regelung beansprucht Geltung regelmäßig erst ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des Verlängerungsbefehls; der Umstand allein, dass das vom
Gesetzgeber in Bezug genommene Recht - für sich gesehen - bereits außer Kraft ist, bedingt aber unter der Voraussetzung, dass die Inbezugnahme zu einer insgesamt klaren
Regelung führt, keine Ungültigkeit des neu geschaffenen Rechts (a.a.O. [302 ff.]).
Gültiges Recht kann auch dadurch aufgehoben werden, dass der Gesetzgeber eine positive, allgemeine Rechtsnorm setzt, aus deren Inhalt sich das Außerkrafttreten entgegenstehenden Rechts von selbst ergibt (grundlegend: BVerfGE 3, 225 [243]; vgl. indessen auch
die Problematik in BVerfGE 119, 394 [411 f.]; hierzu nachfolgend II.1.c)aa)(1)).
(2) Folgen einer Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht
Was dem Gesetzgeber nicht möglich ist, nämlich eine außer Kraft getretene Vorschrift
“wiederzubeleben“, ist dem Bundesverfassungsgericht möglich: Wird eine Norm für nichtig erklärt, welche eine frühere Norm aufgehoben hatte, so lebt letztere wieder auf
(BVerfGE 102, 197 [208] sowie BVerfGE 104, 126 [150]).
Brunn - Kapitel B.I.2.
Seite 102
Anders ist es aber jedenfalls dann, wenn dadurch (erneut) ein verfassungswidriger
Rechtszustand eintreten würde (BVerfGE 131, 316 [376]); dann dürfte keine andere Möglichkeit verbleiben als diejenige, dass das Bundesverfassungsgericht (mit Wirkung ex
tunc) Übergangsrecht (in Form einer - je nach Ausgangslage womöglich begrenzten “Weitergeltungsanordnung“) setzt und den Gesetzgeber auffordert, den Zustand baldestmöglich zu beseitigen, wozu dieser dann berechtigt und verpflichtet ist (BVerfGE 110, 94
[138], allerdings für Unvereinbarkeitserklärung; vgl. auch BVerfGE 132, 179 [193 f.]).
bb) Einfluss des Rechtsstaatsprinzips auf bestimmte Aufhebungen
Neben dem Rechtsstaatsprinzip dürfte bisweilen auch der Vertrauensgrundsatz (auf geschaffenes Recht und dessen Gültigkeit) im Zusammenhang mit problematischen Aufhebungen in Betracht zu ziehen sein.
(1) Aufhebungen ex nunc (mit Wirkung für die Zukunft) und u.U. Pflicht zur Schaffung
von Übergangsregelungen
Wegen des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (nachfolgend D.V.3.e)
(vgl. S. 345) ) kann es vorkommen, dass der Gesetzgeber bei der Aufhebung von Normen,
die etwa subjektive Rechte vermitteln, angemessene Übergangsregelungen treffen muss,
weil es sich hierbei um die Aufhebung oder Modifizierung geschützter Rechtspositionen
handeln kann (grundlegend: BVerfGE 21, 173 [183]; vgl. auch BVerfGE 43, 242 [288 f.]
sowie BVerfGE 75, 40 [72]; nachfolgend 7. c) zur “vorzeitigen“ Aufhebung einer solchen
Übergangsregelung).
(2) Aufhebungen ex tunc (mit Wirkung für die Vergangenheit)
Noch problematischer kann es sein, wenn der Gesetzgeber (etwa, weil er zur Auffassung
gelangt ist, dass es sich um verfassungswidriges Gesetzesrecht handelt) eine Vorschrift
nicht nur mit Wirkung ex nunc (mit Wirkung für die Zukunft), sondern sogar mit Wirkung ex tunc (von Anfang an) aufhebt. In solchen Fällen kann das schutzwürdige Vertrauen der Betroffenen (vgl. nachfolgend B.III.6. (vgl. S. 137) und B.III.7. (vgl. S. 144)
) so bedeutend sein, dass es zumindest einer übergangslosen ersatzlosen Aufhebung
entgegen steht.
(3) Ex tunc-Aufhebungen von NS-Unrecht
Dieser Grundsatz dürfte indessen kaum zum Zuge kommen, wenn der Gesetzgeber auf
den Gedanken kommen sollte, mit Wirkung ex tunc rechtsstaatswidriges NS-Recht aufzuheben (vgl. nachstehend B.II.1.a)aa) (vgl. S. 108) ); insoweit dürfte der Einwand den die Bundesregierung regelmäßig gegenüber entsprechenden Anregungen vorgebracht
hat -, bei dem betreffenden Recht handele es sich um längst nicht mehr gültiges, weil es
entweder nicht in das BGBl. III aufgenommen oder durch Besatzungs- oder nachkonstitutionelles Recht (mit Wirkung für die Zukunft) aufgehoben wurde, nicht sehr stichhaltig sein, weil zwar eine “derogierende Norm nicht derogierbar ist“ (Kelsen), aber nichts
von Bedeutung dagegen spricht, den bisherigen Außerkrafttretenszeitpunkt von Normen
nochmals “vorzuverlegen“, weil nämlich bis zum bisherigen Außerkrafttretenszeitpunkt
zumindest ein Anschein einer gültigen Norm vorgelegen hat, welcher indessen in den
genannten Fällen meist keinen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand hat begründen
können. Dies gilt auch und gerade dann, wenn es nicht zu einer Überprüfung durch das
Bundesverfassungsgericht (Art. 126 GG) gekommen ist.
Brunn - Kapitel B.I.2.
Seite 103
cc) Aufhebung “als Bundesrecht“
Ist der Bundesgesetzgeber in berechtigtem Zweifel, ob bundesrechtliche Normen entweder
bei ihrem Erlass kompetenzgerecht erlassen worden sind bzw. ob inzwischen noch eine
Bundeskompetenz besteht, so darf er - unabhängig von speziellem Übergangsrecht im
Grundgesetz (nachfolgend C.VI.4. (vgl. S. 201) ) - auch zu dem Mittel der Aufhebung
der Norm “als Bundesrecht“ greifen. Dadurch ist jeglicher Anschein, es könne sich immer
noch um Bundesrecht handeln, zum einen beseitigt, und zum anderen schützt diese Vorgehensweise möglicherweise entstandenes Landesrecht (BT-Dr. 16/5051 [S. 25 f. sowie
S. 27]).
c) Folgen von (ersatzlosen) Aufhebungen
Bisweilen herrscht selbst bei erfahrenen Juristen die Annahme vor, nicht nur eine Aufhebung ex tunc (von Anfang an) stelle die durch die Rechtsgrundlage ausgelösten Rechtsfolgen in Frage, sondern diese Wirkung trete auch bei Aufhebungen ex nunc (mit
Wirkung für die Zukunft) ein (vgl. bereits vorstehend b)bb)).
Dies ist zumeist eine verhängnisvolle Fehleinschätzung:
aa) “Nachwirkungen“ aufgehobenen Rechts
Mit Wirkung für die Zukunft ersatzlos aufgehobenes bzw. außer Anwendung gesetztes
Recht, sei es Dauer- oder Übergangsrecht, sei es materielles oder Verfahrensrecht, bleibt
auch ohne jeweils gesondert ausgesprochenen Gesetzesbefehl über das jeweilige Datum
seines Außerkrafttretens hinaus für alle Fälle, Rechtsverhältnisse und Verfahren, welche
von ihm tatbestandlich erfasst worden sind, anzuwendendes Recht (BT-Dr. 16/5051, S.
23 f.).
(1) Grundsatz des fortdauernden “Geregeltseins und -bleibens“
Dies liegt darin begründet, dass die tatbestandlich erfassten Sachverhalte durch die zu
diesem Zeitpunkt hierfür angeordneten Rechtsfolgen - vorbehaltlich einer späteren, ausdrücklich gegenläufigen Gesetzesbestimmung - abschließend geregelt sind und bleiben.
Denn das Vertrauen darauf, “dass die mit abgeschlossenen Tatbeständen verknüpften
gesetzlichen Rechtsfolgen anerkannt bleiben“, ist von der Verfassung grundsätzlich geschützt (BVerfGE 63, 215 [223 f.]).
Anders kann es nur dann sein, wenn von einer abschließenden Regelung noch nicht zu
sprechen ist (BT-Dr. 16/5051, S. 24).
(2) Fortwirken aufgehobenen Rechts durch Wiederaufgreifensverfahren
Die vorstehenden Erwägungen können auch zutreffen in dem eher theoretischen Fall,
dass zwar ein an sich beendetes Verfahren wiederaufzunehmen bzw. -greifen ist, aber die
frühere Rechtsgrundlage inzwischen durch Aufhebungen entfallen ist.
Das alte Recht bleibt die für das neue Verfahren maßgebliche Rechtsgrundlage, es sei
denn, der Aufhebungsbefehl reicht ausdrücklich in die Zeit zurück, die vor dem
Ergriffenwerden des Sachverhaltes durch das (danach neue) alte Recht lag; dann liegt
sogar eine ausfüllungsbedürftige Lücke vor (denkbare Alternativen: fortwirkendes UraltRecht oder neues).
Brunn - Kapitel B.I.3.
Seite 104
(3) Fortwirken aufgehobenen Übergangsrechts
Auch spezielles Übergangsrecht regelt im vorstehenden Verständnis die tatbestandlich
erfassten Übergangsfälle “abschließend“ und bleibt daher auf die erfassten Übergangsfälle
so lange anwendbar, wie es nicht durch anders lautendes Recht in rückwirkender Weise
abgeändert wird (a.a.O. [S. 24]).
Deshalb träfe eine Annahme nicht zu, an die Stelle des ersatzlos aufgehobenen Übergangsrechts trete infolge dessen Außerkrafttretens auch für die bereits erfassten und damit abschließend geregelten Übergangsfälle das allgemeine (normale) Verfahrensrecht mit
der Folge, dass die erfassten Übergangsfälle nunmehr nach diesem (oder gar nach dem
früheren) Recht zu Ende zu führen seien.
bb) Aufhebungen strafrechtlicher Normen zwischen Tat und Aburteilung
Was speziell Aufhebungen von strafrechtlichen Normen anbelangt, so hat zwar eine (ersatzlose) Aufhebung eines Strafgesetzes zwischen Begehung und Aburteilung einer Straftat regelmäßig zur Folge, dass sie dem Täter als “äußerste Milderung“ i.S.v. § 2 Abs. 3
StGB zugutekommt.
Dies ist aber keine Frage zwingenden Verfassungsrechts, namentlich nicht des Rückwirkungsverbots, und deshalb kann der Gesetzgeber auf geeignete Weise (ausdrücklich oder
hinreichend deutlich der Sache nach) festlegen, dass einer Aufhebung eines Strafgesetzes zwar die selbstverständliche Bedeutung zu entnehmen ist, zukünftige Taten dürften
nach dem Außerkrafttreten des Gesetzes hiernach nicht mehr geahndet werden, wohl
aber dürften zuvor beendete Taten auch nach dessen Aufhebung gemäß dem zur Tatzeit
geltenden Strafgesetz bestraft werden (BT-Dr. 16/5051, S. 24).
3. Abänderungen von Bundesrecht und Hauptgefahren
Die Sorgfalt und Genauigkeit, zu der das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (2008, 3.
Auflage) auf den Seiten 147 ff. bei Änderungsgesetzen rät, hat viele berechtigte Gründe;
der wichtigste ist wohl, dass es bei Änderungsgesetzen am schwierigsten ist, vornehmlich
die Rechtsanwender in den Stand zu versetzen, unmittelbar aus dem Gesetzestext (Gebot
der - wohl aus dem Verfassungsgebot der Rechtssicherheit abzuleitenden - Einfachheit
: BVerfGE 99, 280 [290]) oder zumindest durch einfache Auslegung zu ermitteln, welches
(altes oder neues) Recht welchem (einmaligen oder dauerhaften) Sachverhalt “anhaftet“
(vorstehend 1. a)).
a) Unpräzise Festlegungen der zeitlichen und sachlichen
Anwendungsbereiche
Mit anderen Worten fällt es oft schwer, den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich
eines neuen Gesetzes (nachstehend B.III.3. (vgl. S. 129) ) so - zum einen - miteinander
und - zum anderen - mit diesen beiden Anwendungsbereichen des alten , abzulösenden
Rechts abzustimmen, dass gewissermaßen für jeden Tag in der Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft feststeht bzw. leicht ermittelt werden kann, welches (früheres oder jetziges)
gültiges Recht welche (kurzfristig oder unbestimmt lange andauernden, “abgewickelten“
oder noch andauernden) Sachverhalte mit welchen zulässigen Rechtsfolgen mit der Konsequenz regelt, dass sich für einen zu bewertenden bzw. zu beurteilenden Einzelfall die
Rechtsfolgen gewissermaßen wie von selbst ergeben. Diesem Ziel können viele Hindernisse
entgegenstehen:
Brunn - Kapitel B.I.3.
Seite 105
b) (Unbewusste) “Regelungslücken“ bzw. “sich überschneidende
Rechtsregime“
So kann durch Ungenauigkeit bei einem Änderungsgesetz sowohl der Fall eintreten, dass
für bestimmte Sachverhalte Regelungslücken auftreten, als auch derjenige, dass sich zwei
(oder gar noch mehr) “Rechtsregime“ für bestimmte Zeiträume überschneiden (überlagern), was beides zu schwierigen Anwendungsfragen führen kann.
Ähnlich verhält es sich, wenn versehentlich der zeitliche Anwendungsbereich für (einen
Teil) von dem vorgesehenen sachlichen Anwendungsbereich erfasste Sachverhalte (Tatbestände) zu vorzeitig mit der Folge festgelegt wird, dass nach altem Recht zulässig
erworbene (verfahrens- wie materiellrechtliche) Rechtspositionen in Frage gestellt werden
(oder zumindest erscheinen).
c) Bewusste Entwertungen von Rechtspositionen (Rückwirkung)
Noch verhängnisvoller kann es sich auswirken, wenn solche Entwertungen von erworbenen
Rechtspositionen bewusst und unzweideutig geschehen, weil dann zwangsläufig die Frage
auftaucht, ob es sich um - vielleicht gerade noch verfassungsgemäße - “unechte“ oder
- womöglich sogar ausnahmsweise verfassungsrechtlich zulässige - “echte“ (retroaktive)
Rückwirkungen handelt (hierzu ausführlich nachfolgend B.III.4. (vgl. S. 131) ); denn bei
“bewusster“ Gesetzgebung kann der Rechtsanwender das Gesetz nicht dahin auslegen
(nachfolgend B.II.2. (vgl. S. 113) ), dass der Gesetzgeber mit Sicherheit eine den Einzelnen
möglichst schonende Belastung erzielen wollte.
d) Fehlerhafte “Klarstellungen“
Schwierige Anwendungsprobleme können weiterhin Gesetzesänderungen hervorrufen, welche vom gesetzgeberischen Bemühen getragen sind, frühere Versäumnisse oder Ungenauigkeiten (seien es zu weit oder zu eng gefasste Tatbestände, seien es unklare Rechtsfolgen,
seien es aufgetretene enttäuschte Erwartungen im Prognosebereich) zu korrigieren, indem
“Klarstellungen“ vorgenommen werden, welche nicht die Zukunft (zeitlicher Anwendungsbereich nach dem In-Kraft-Treten) betreffen, sondern vielmehr bereits die Anwendung
und Auslegung des “alten“ Rechts beeinflussen sollen.
Besonders kritisch zu bewerten sind solche Versuche dann, wenn sogar die höchstrichterliche Rechtsprechung darauf erkannt hatte, dass das früher gültige Recht (schlechterdings)
nicht so auszulegen war, wie es vom Gesetzgeber “an sich“ gedacht war; aber auch dann
erweist sich ein Versuch einer “authentischen Interpretation“ früheren Rechts durch den
neuen Gesetzgeber erfahrungsgemäß als problematisch, wenn eine höchstrichterliche Klärung noch nicht erfolgt war und die Auslegung “nur“ umstritten bzw. verworren war
(hierzu ausführlich nachfolgend B.III.6.b)bb) (vgl. S. 141) ).
e) Verfehlung des Ziel klarer, bestimmter, berechenbarer und “verlässlicher“
Normen
Bei allen diesen Konstellationen muss nämlich bedacht werden, dass - erstens - aus dem
Rechtsstaatsprinzip folgt, dass Gesetze verfassungsgemäß, insbesondere (klar - möglichst
einfach - und bestimmt sowie) berechenbar und verlässlich sein müssen (BVerfGE 132,
Brunn - Kapitel B.II.0.
Seite 106
302 [317]), und - zweitens - der Einzelne darauf vertrauen darf, dass von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in einer bestimmten Richtung ausgelegtes Recht für die Vergangenheit in dieser Richtung erhalten bleiben muss (grundlegend: BVerfGE 18, 429 [436
ff.]; vgl. auch BVerfGE 135, 1 [21 ff.] und den Sonderfall - zulässige rückwirkende Heilung
von Rechtsgeschäften - BVerfGE 72, 302 [321 ff.]).
II. Die Sichtung und Auslegung des vorhandenen Rechts
1.
“Vorhandenes“ Recht (neben dem materiellen nachkonstitutionellen
Recht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Gültiges vorkonstitutionelles Recht . . . . . . . . . . .
aa) Fragwürdiges vorkonstitutionelles Recht
b)
. . . . . . . . . . .
108
bb) In den Willen des Gesetzgebers “aufgenommenes“ Recht . .
Gewohnheits- und obsoletes Recht . . . . . . . . . . .
108
109
aa) “Derogierendes“ Gewohnheitsrecht (obsoletes Recht)
c)
. . . .
109
bb) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aufgehobenes bzw. “ausgelaufenes“ bzw. “auslaufendes“ (befristetes)
altes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
109
aa) Zulässige gesetzgeberische Handlungen und Unterlassungen
109
(1) “Übergreifende“ Aufhebungsnormen
. . . . . . . . . . .
(2) Befristetes Recht und “Verlängerungen“
109
109
. . . . . . . . .
110
(3) Aufhebungen obsoleten Rechts . . . . . . . . . . . . . . .
110
(4) Aufhebungen aufgehobener Gesetze . . . . . . . . . . . .
110
(4a)
(4b)
d)
108
108
“Nochmalige“, auf einen früheren Zeitpunkt bezogene Aufhebungen . . . . . . . . . . . . . . .
110
Folgen solcher nochmaligen Aufhebungen (etwa
von NS-Unrecht) . . . . . . . . . . . . . . . . .
110
bb) Nichtigerklärungen von Aufhebungsnormen durch das Bundesverfassungsgericht und Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gesetzestechnisches “Hilfsrecht“ sowie (meist materielles) Übergangsbzw. Überleitungsrecht . . . . . . . . . . . . . . .
aa) In- und Außerkrafttretensbefehle
. . . . . . . . . . . . . . .
(1) Vollzogene verändernde Gesetzesbefehle
110
111
111
. . . . . . . . .
111
(2) Vollzogene Inkrafttretensbefehle . . . . . . . . . . . . . .
111
bb) Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften als zumeist materielle Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
(1) “Spielraum“ des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . .
112
(2) Aufhebungen früherer Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
112
(3) Setzung neuen Übergangsrechts . . . . . . . . . . . . . .
112
(4) Geeignete Orte für Übergangsvorschriften
113
. . . . . . . .
Brunn - Kapitel B.II.0.
2.
Seite 107
Die Auslegung des “vorhandenen“ (gültigen) Bundesrechts . . . .
a) Grundsatz der Auslegung “mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114
aa) Parallelen (und Unterschiede) der Gesetzesauslegung zur Verfassungsauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
114
(1) Auslegung auch bei “Zweifeln“ . . . . . . . . . . . . . . .
114
(2) Bedeutungswandel
114
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Auslegung von verfassungsrechtliche Ansprüche “nachzeichnenden“ Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
(4) Deklaratorische “Klarstellung“ einer Rechtslage
115
. . . . .
bb) Objektivierter Wille des Gesetzgebers als maßgebliches Auslegungskriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
115
(1) Insbesondere: Wortlaut der Norm . . . . . . . . . . . . .
115
(2) Insbesondere: systematische Auslegung . . . . . . . . . .
116
(3) Insbesondere: teleologische Reduktion . . . . . . . . . . .
116
(4) Insbesondere: historische Methode . . . . . . . . . . . . .
116
(5) Meist unbeachtliche “Meinungen“ im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
116
(6) Berichtigung eines “technischen Versehens“ . . . . . . .
Verfassungskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . .
117
117
aa) Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
117
bb) Gebotensein einer verfassungskonformen Auslegung . . . . .
117
cc) Grenzen
117
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Die Voraussetzung der “Wiedererkennbarkeit“ der Norm
durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
d)
113
(2) Widerspruch zum Wortlaut und erkennbaren
len . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gebot gemeinschaftskonformer Auslegung . . . .
Gebot völkerrechtskonformer Auslegung . . . . .
Gesetzeswil. . . . . . .
. . . .
. . . .
118
118
118
118
[1] Die wichtigste (und wohl schwierigste) Aufgabe des Bundesgesetzgebers bei der Veränderung von Recht ist zunächst die Sichtung (nachfolgend 1.) und Auslegung des
vorhandenen Rechts (nachfolgend 2.). Denn ohne ein zutreffendes Verständnis vom gültigen Normenbestand lässt sich eine befriedigende und befriedende neue Rechtsetzung
schlechterdings nicht bewerkstelligen.
[2] Was das derzeit gültige Bundesrecht angeht, so muss es nicht nur ermittelt (gesichtet), sondern nötigenfalls auch ausgelegt werden. Zwar ist - wie nachstehend (2.) noch
zu präzisieren ist - die Auslegung von Gesetzesrecht zuallererst Aufgabe der Dritten
Gewalt (vgl. zu den Grenzen richterlicher Auslegung BVerfGE 133, 168 [205], zu der
Rechtsfortbildung durch Auslegung sowie deren Grenzen BVerfGE 111, 54 [82]) sowie
zur Lückenfüllung als richterliche Aufgabe BVerfGE 3, 225 [242 f.]); vgl. auch BVerfGE 82, 6 [12]), indessen bleibt dem Gesetzgeber , der bestehendes Recht verändern will
Brunn - Kapitel B.II.1.
Seite 108
(oder gar muss, weil das Recht in verfassungswidriger Weise unbestimmt, unklar oder gar
“verworren“ ist), oft - mangels vorliegender höchstrichterlicher Auslegung von Normen nichts anderes übrig, als selbst die (“objektive“) Bedeutung der von ihm selbst geschaffenen Normen zu ermitteln, um darauf Aufhebungen bzw. Veränderungen zu gründen.
1. “Vorhandenes“ Recht (neben dem materiellen nachkonstitutionellen
Recht)
Durch das Bundesgesetzblatt III ist gewährleistet, dass es kein vorkonstitutionelles Recht
(vgl. BVerfGE 11, 126 [129]) mehr gibt, welches unbemerkt noch im Bundesrechtsbestand zu beachten wäre.
a) Gültiges vorkonstitutionelles Recht
Was zunächst das vorkonstitutionelle Recht, welches nach den Art. 123 ff. GG in Bundesrecht überführt und später weder aufgehoben worden noch durch Nichtaufnahme in
das Bundesgesetzblatt III erloschen ist, anlangt, so muss es zwar von den Wertvorstellungen des Grundgesetzes her ausgelegt werden (BVerfGE 19, 1 [8]), ob es aber formell
ordnungsgemäß zustande gekommen ist, beurteilt sich nach den staatsrechtlichen Verhältnissen zur Zeit seiner Entstehung. Noch nicht einmal der Umstand, dass es als sog.
Regierungsgesetz erlassen ist, steht seiner Wirksamkeit von vornherein entgegen (BVerfGE 10, 354 [360 f.]).
aa) Fragwürdiges vorkonstitutionelles Recht
Freilich kann nationalsozialistischen Rechtsvorschriften die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, dass der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte,
Unrecht statt Recht sprechen würde (BVerfGE 23, 98 [106] sowie BVerfGE 95, 96 [134
f.]). Indessen kann auch hier zutreffen, dass trotz Nichtigkeit einzelner Bestimmungen
andere Bestimmungen der gleichen Rechtsmaterie gültig bleiben (BVerfGE 7, 29 [37]).
Deshalb könnte sich auch die Notwendigkeit ergeben, mit Wirkung für die Vergangenheit (ex tunc) ehemaliges Reichsrecht (insbesondere als von Anfang an nichtiges, weil
rechtsstaatswidriges NS-Recht; vgl. BVerfGE 23, 98 [106]; vgl. aber auch BVerfGE 21,
292 [295 f.] für 1945 gegenstandslos gewordenes “typisches national-sozialistisches Recht“)
aufzuheben, um auf dieses gestützten Maßnahmen und Rechtsgeschäften die “causa“, also
den Rechtsgrund zu entziehen (vorstehend B.I.2.b)bb)(3) (vgl. S. 102) sowie nachstehend
B.II.1.c)aa)(4) (vgl. S. 110) ).
bb) In den Willen des Gesetzgebers “aufgenommenes“ Recht
Lässt sich feststellen, dass der nachkonstitutionelle Gesetzgeber vorkonstitutionelles
Recht (vorkonstitutionelle Gesetze bzw. gesetzesvertretende Verordnungen) oder Besatzungsrecht - wie etwa die Höfeordnung - in seinen Willen aufgenommen hat, so hat dies
Bedeutung nur für die Frage der Zulässigkeit einer Normenkontrolle nach Art. 100 Abs.
1 Satz 1 GG (BVerfGE 12, 341 [353]).
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b) Gewohnheits- und obsoletes Recht
Was sodann das Gewohnheitsrecht anbelangt, so ist Gewohnheitsrecht das Recht, das
nicht durch förmliche Setzung, sondern durch längere tatsächliche Übung entstanden ist,
die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine sein muss, und von den
beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird (BVerfGE 22,
114 [121] zu vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht; vgl. auch BVerfGE 122, 248 [269]
für die Möglichkeit der Entstehung durch ständige Rechtsprechung).
aa) “Derogierendes“ Gewohnheitsrecht (obsoletes Recht)
Wenn von “derogierendem“ Gewohnheitsrecht die Rede ist, so ist damit obsolet gewordenes - und damit ohne Aufhebung außer Kraft getretenes - Recht gemeint; Voraussetzung
hierfür ist eine lang dauernde Nichtanwendung einer Rechtsnorm und die gemeinsame
Rechtsüberzeugung, dass sie außer Kraft getreten sei (BVerfGE 9, 213 [221]).
bb) Einzelfragen
Gewohnheitsrecht kann sich freilich in kodifizierten Materien, sei es Verfahrens-, sei es
materielles Recht, so gut wie nie bilden (BVerfGE 9, 109 [117]). Vollends ausgeschlossen
erscheint eine gewohnheitsrechtliche Beschränkung von Freiheitsrechten (BVerfGE 32, 54
[75]).
Mit Gewohnheitsrecht darf auch eine ständige Rechtsprechung nicht unbesehen gleichgesetzt werden (BVerfGE 122, 248 [269]); freilich kann sich in Einzelfällen ein schutzwürdiges Vertrauen hierauf entwickeln.
c) Aufgehobenes bzw. “ausgelaufenes“ bzw. “auslaufendes“ (befristetes)
altes Recht
Bisweilen kann es unklar sein, ob wirksam in Kraft gesetztes altes Recht noch gilt, etwa
ob es bereits wirksam aufgehoben, wegen seiner Befristung oder gar als “obsolet gewordenes“ Recht (vorstehend b) aa)) ohne förmliche Aufhebung außer Kraft getreten ist. Was
zunächst Aufhebungen durch den Gesetzgeber anbelangt, so gilt Folgendes:
aa) Zulässige gesetzgeberische Handlungen und Unterlassungen
Das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (3. Aufl., S. 161 ff.) empfiehlt (zu Recht), aufzuhebendes Recht (Normen, Gesetze) sehr genau zu bezeichnen, was indessen schon öfter
nicht beherzigt worden ist.
(1) “Übergreifende“ Aufhebungsnormen
Gültiges Recht kann auch dadurch aufgehoben werden (worden sein), dass der Gesetzgeber eine positive, allgemeingefasste Rechtsnorm setzt, aus deren Inhalt sich das Außerkrafttreten entgegenstehenden Rechts von selbst ergibt (BVerfGE 3, 225 [243]).
Der Rechtsklarheit (D.V.3.a) (vgl. S. 337) ) dürfte es jedoch regelmäßig dienlicher sein,
das aufzuhebende Recht konkret zu benennen, wie die Entscheidung BVerfGE 119, 394
belegen dürfte (weil sogar das Land Berlin nicht in der Lage war, eine “versteckte“, nämlich in einer pauschalen “Geltungsbestimmung“ verborgene, Aufhebung einer früheren nur Berlin betreffenden - Sperrnorm zu registrieren; vgl. bereits vorstehend I.2.b)aa)(1)).
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(2) Befristetes Recht und “Verlängerungen“
Was sodann befristete Gesetze angeht, so ist ein befristetes Gesetz mit dem Ablauf der
im Gesetz vorgesehenen Frist außer Kraft getreten. Ein solches Gesetz kann “als solches“
nicht mehr “wiederbelebt“ werden, hingegen kann bis zum Ablauf der Frist das alte Recht
“verlängert werden“:
Verlängert der Gesetzgeber die Geltungsdauer eines befristeten Gesetzes rechtzeitig, so
ist dies dem Erlass eines neuen Gesetzes mit dem Inhalt des befristeten Gesetzes gleich
zu erachten (BVerfGE 8, 274 [302 ff.]); ist ein Gesetz wegen Ablaufs der Geltungsfrist
bereits außer Kraft getreten, hat die Verlängerung der Geltungsdauer die Bedeutung,
dass das Gesetz mit identischem Inhalt erneut in Geltung gesetzt wird (a. a. O.)
(3) Aufhebungen obsoleten Rechts
Was obsoletes Recht (BVerfGE 9, 213 [221]) anbelangt, so sollte es der Gesetzgeber aus
Gründen der Rechtsklarheit auch förmlich (zumindest mit Wirkung ex nunc, besser noch
mit Wirkung von dem Zeitpunkt an, an dem spätestens aus gültigem obsoletes Recht
geworden ist) aufheben.
(4) Aufhebungen aufgehobener Gesetze
Wie anderenorts bereits angedeutet (vorstehend B.I.2.b)bb)(3) (vgl. S. 102) sowie
B.II.1.a)aa) (vgl. S. 108) ), kann es (wohl) auch zulässig sein, bereits ex nunc
aufgehobenes Recht “nochmals“ unter der Voraussetzung aufzuheben, dass der Außerkrafttretensbefehl einen früheren Zeitpunkt als den bereits bestimmten festlegt.
(4a) “Nochmalige“, auf einen früheren Zeitpunkt bezogene Aufhebungen
Beispiel: Ist NS-“Recht“ bereits mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes (oder später
durch Nichtaufnahme in das BGBl. III) außer Kraft getreten, so spricht nichts dagegen,
dass es der nachkonstitutionelle Gesetzgeber (beispielsweise) mit Wirkung ex tunc (von
Anfang an) aufhebt, wodurch die durch das “Recht“ ausgelösten Rechtsfolgen in Frage
gestellt werden.
(4b) Folgen solcher nochmaligen Aufhebungen (etwa von NS-Unrecht)
Ob die früher ausgelösten Rechtsfolgen (etwa Eigentumsübergänge aufgrund rassistischer
Gesetze) tatsächlich rückabzuwickeln sein würden, dürfte dann im Wesentlichen davon
abhängen, ob ein Vertrauen auf den Fortbestand der Rechtsfolgen (des geschaffenen
“Rechtszustands“) schutzwürdig ist. Dies würde maßgeblich vom Grad des legislatorisch
gesetzten Unrechts abhängen.
Insoweit gilt allgemein, dass ein “Vertrauen“ in den Fortbestand unredlich erworbener
Rechte grundsätzlich nicht schutzwürdig ist (BVerfGE 101, 239 [266]); die Unredlichkeit
im Einzelfall hängt selbstverständlich auch von der zugrundeliegenden Rechtsgrundlage
ab.
bb) Nichtigerklärungen von Aufhebungsnormen durch das Bundesverfassungsgericht
und Folgen
Wie bereits dargestellt (vorstehend B.I.2.b)aa)(2) (vgl. S. 101) ), kann nach der (fragwürdigen) Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 102, 197 [208] sowie
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BVerfGE 104, 126 [150]; einschränkend BVerfGE 131, 316 [376]) der Fall eintreten, dass
nach einer Nichtig- bzw. Unvereinbarkeitserklärung einer Aufhebungsvorschrift (nicht etwa insoweit ein “Vakuum“ entsteht, sondern) unvermittelt der alte (aufgehobene) Rechtzustand “wiederauflebt“.
Besser wäre es, wenn das Bundesverfassungsgericht diese Frage vermittels (begrenzter)
Weiteranwendbarkeits- bzw. Übergangsregelungen (ausführlich A.III.4.a)bb) (vgl. S. 65) )
beantwortete, weil so dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers (der schließlich seinen
Aufhebungswillen deutlich verlautbart hatte) noch am ehesten entsprochen würde.
d) Gesetzestechnisches “Hilfsrecht“ sowie (meist materielles) Übergangsbzw. Überleitungsrecht
Vor dem Hintergrund der vorstehend dargelegten Gegebenheiten ist - unabhängig von
einzusetzenden Mitteln der Rechtsetzung und von Überlegungen darüber, ob durch neues Recht womöglich unzulässig in bestehende Rechtspositionen eingegriffen wird - bei
allen Aufhebungen bzw. Ersetzungen oder Veränderungen von altem Recht zunächst zu
bestimmen, ob sich das aufzuhebende bzw. zu verändernde Recht als materielles darstellt oder (nur) als gesetzestechnisches Hilfsrecht , welches regelmäßig sogleich nach
der Erfüllung der entsprechenden Befehle außer Kraft gesetzt werden könnte (und damit
“vollzogen“ ist).
aa) In- und Außerkrafttretensbefehle
Lediglich “Hilfsrecht“ stellen meist die folgenden Befehle dar:
(1) Vollzogene verändernde Gesetzesbefehle
Das liegt vor allem bei früheren Einfügungs-, Abänderungs- oder Aufhebungsbefehlen
vor, die dadurch vollzogen worden sind, dass eine hierdurch angestoßene materielle
Rechtsänderung im Stammgesetz vollends durchgeführt worden ist. Mit dem Inkrafttreten eines solchen Gesetzes ist der Einfügungs-, Abänderungs- oder Aufhebungsbefehl mit
der Folge erfüllt worden, dass seither das materielle Recht die intendierte neue Fassung
aufweist.
Unzutreffend wäre deshalb eine Annahme, eine Aufhebung eines solchen Befehls berge
die Gefahr, dass damit auch gewissermaßen versehentlich das geschaffene materielle Recht
außer Wirksamkeit gesetzt werden könnte.
(2) Vollzogene Inkrafttretensbefehle
Eine ähnlich eingeschränkte Bedeutung wie die vorgenannten Veränderungsbefehle weisen regelmäßig auch Inkrafttretens-Vorschriften auf; auch sie erschöpfen sich in ihrer
gewissermaßen eindimensionalen Funktion der Bestimmung des Wirksamwerdens der materiellen gesetzlichen Neuschöpfungen; ihnen ist regelmäßig keine darüber hinausgehende Wirkung zuzusprechen. Insbesondere hängt der Bestand der materiellen gesetzlichen
Neuschöpfungen (wohl) nicht dergestalt vom Bestand der Inkrafttretensnorm ab, dass
mit deren Aufhebung das geschaffene materielle Recht entfiele; vielmehr müsste dieses
förmlich außer Kraft gesetzt werden.
Freilich ließe sich auch mit guten Gründen vertreten, dass in Fällen der Nichtigkeit von
Inkrafttretensbefehlen eine gesetzgeberische Heilung notwendig und zulässig ist.
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bb) Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften als zumeist materielle Regelungen
Solche Vorschriften, die sich meist erheblich vom vorgenannten “Hilfsrecht“ unterscheiden, haben die Funktion, Rechtsanwendern in Fällen wechselnden materiellen Rechts darüber Auskunft zu geben, welches Recht im Einzelfall gilt, wenn allein aus einem Vergleich
des vor dem Inkrafttreten eines Gesetzes gültigen Rechts mit dem nach dem Inkrafttreten
gültigen Recht nicht sicher zu ermitteln ist, ob und inwieweit ein bestimmter (tatsächlicher) Sachverhalt von den Rechtsfolgen des alten oder des neuen Rechts erfasst wird
(worden ist).
(1) “Spielraum“ des Gesetzgebers
Allgemein ist dem Gesetzgeber für die Regelung des Übergangs von einer älteren zu einer
neueren (den rechtspolitischen Vorstellungen der Gegenwart besser entsprechenden) Regelung “notwendig ein gewisser Spielraum“ einzuräumen; freilich muss er die in Betracht
zu ziehenden Faktoren hinreichend würdigen, und die Lösung muss “sachlich vertretbar“
erscheinen (BVerfGE 136, 127 [143 f.]).
Namentlich bei der Umstrukturierung komplexer Regelungssysteme ist dem Gesetzgeber
ein besonders weiter Spielraum bei der Ausgestaltung der Übergangsvorschriften einzuräumen (BVerfGE 125, 1 [18]; grundlegend: BVerfGE 43, 242 [288 f.]).
(2) Aufhebungen früherer Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften
Für die Aufhebung von (früher in Kraft gesetzten) Übergangsvorschriften bedeutet dies,
dass Aufhebungen bzw. Veränderungen zumindest untunlich sind, wenn durch die Übergangsvorschrift allein oder mit ihrer Hilfe auch zukünftig noch Rechtsfolgen eintreten
oder bewirkt werden können, die ohne sie nicht oder so nicht eintreten würden (vgl. auch
nachfolgend B.III.7.c) (vgl. S. 146) zu dem Sonderfall der “vorzeitigen“ Aufhebung einer
gebotenen Übergangsregelung).
Ohne Bedenken können hingegen solche Überleitungsvorschriften aufgehoben werden,
denen keine Möglichkeit mehr innewohnt, dass durch sie oder mit ihrer Hilfe zukünftig
Rechtsfolgen erzeugt werden, die sich also mit anderen Worten nunmehr darin erschöpfen, dazu beizutragen, einen endgültig abgeschlossenen Rechtszustand abzubilden. Denn
auch insoweit gilt, dass Aufhebungen derartiger Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften nicht in dem Sinne missverstanden werden dürfen, dass mit ihnen (unzulässig) auf
abgeschlossene (“abgewickelte“) Rechtsverhältnisse eingewirkt werden könnte.
(3) Setzung neuen Übergangsrechts
Was im Übrigen die Frage neuer Übergangs- bzw. Überleitungsvorschriften anbelangt,
so ist keine Überleitungsvorschrift dann erforderlich, wenn
• das neue Recht ohnehin nur Sachverhalte betrifft, deren Rechtsfolgen ausschließlich
nach dem Inkrafttreten des Gesetzes eintreten können oder
• die durch das alte Recht ausgelösten (abgeschlossenen oder unabgeschlossenen)
Rechtsfolgen ausdrücklich und ausnahmslos unberührt bleiben sollen oder
• das neue Recht ausdrücklich und uneingeschränkt auf bereits nach altem Recht
ausgelöste Rechtsfolgen einwirken soll (extremer Ausnahmefall).
Einer Übergangs- bzw. Überleitungsvorschrift bedürfen hingegen Neuregelungen, die
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• (zum Teil) auf nach altem Recht abgeschlossene Rechtsfolgenlagen einwirken sollen
bzw. können oder
• nach altem Recht noch unabgeschlossene Rechtsfolgenlagen (in der einen oder anderen Richtung) abändern sollen.
Es kann sogar - vornehmlich bei ersatzlosen Aufhebungen - eine Pflicht bestehen, überhaupt Übergangsregelungen zu treffen (BVerfGE 43, 242 [288 f.]; vgl. auch BVerfGE 76,
256 [360]; dort auch zum gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum).
(4) Geeignete Orte für Übergangsvorschriften
Was schließlich eine sachgerechte Bestimmung dessen betrifft, an genau welcher Stelle
neues spezielles (einzelnormbezogenes) Übergangs- sowie Überleitungsrecht zu verorten
ist, ist es im Interesse der Rechtsklarheit dringend anzuraten, solches Recht möglichst in
unmittelbarer Nähe des zu regelnden materiellen Rechts anzusiedeln, also beispielsweise
in einem letzten Absatz eines neu geschaffenen gesetzlichen Anspruchstatbestands. Dort
werden solche Bestimmungen von Rechtsanwendern naturgemäß zuerst gesucht, und dort
“stören“ sie später selbst dann nicht, wenn sie inhaltlich gegenstandslos geworden sind.
Hingegen führt die Verortung solchen Rechts außerhalb des Stammgesetzes zum einen zu
Auffindungsschwierigkeiten und zum anderen später zu unerfreulichen gegenstandslosen
“Regelungs-Resten“. Nichtsdestoweniger kann sich der Gesetzgeber auch auf folgende
Aussagen in der Rechtsprechung zurückziehen:
Dem Gesetzgeber ist es grundsätzlich überlassen, für Übergangsvorschriften die geeignete
gesetzestechnische Form zu bestimmen, also sie etwa einem Gesetz anzufügen (BVerfGE
68, 193 [225]; dort auch dazu, dass mit “Übergangsvorschriften“ bezeichnete Gesetzesabschnitte nicht notwendig formelles Recht enthalten müssen, sondern auch und gerade
materielles Recht enthalten können).
2. Die Auslegung des “vorhandenen“ (gültigen) Bundesrechts
Wenn der Gesetzgeber sein Werk in die Rechtswirklichkeit “entlassen“ hat (nachstehend
C.II.) ist die Gesetzesauslegung die “Domäne“ (der Behörden und) der Gerichte:
[1] Die Auslegung (und Anwendung) einfacher Gesetze ist Sache der (sachnäheren)
Fachgerichte , und das Bundesverfassungsgericht hat (nur) “die aus dem Verfassungsrecht sich ergebenden Maßstäbe oder Grenzen für die Auslegung eines einfachen Gesetzes
verbindlich zu bestimmen“ (BVerfGE 40, 88 [94]; vgl. auch BVerfG-K 7, 229 [236 f.] für
stattgebende (Kammer-)Eilentscheidungen), was aber keine Bindungswirkung hinsichtlich der “zu Inzidentfragen entwickelten Rechtsansichten“ auslöst (BVerfGE 2, 181 [191];
vgl. auch BVerfGE 78, 320 [328]).
Freilich darf (einerseits) ein Gericht eine “an sich mögliche Interpretation“ nicht für verfassungsgemäß halten, wenn das Bundesverfassungsgericht im Zusammenhang mit einer
verfassungskonformen Auslegung einer Gesetzesnorm eine solche Interpretationsmöglichkeit für mit dem Grundgesetz nicht vereinbar erklärt hat (BVerfGE 40, 88 [94]; vgl.
auch BVerfGE 72, 119 [121].
Gesetzgeber und Gerichte dürfen (andererseits) Nichtannahmeentscheidungen des Verfassungsgerichts auch nicht “überinterpretieren“, zumal dann (nicht), wenn sie gänzlich
ohne Begründungen oder nur mit einer Begründung versehen sind, welche die getroffene
Entscheidung entweder ausdrücklich oder sinngemäß nicht “tragen“ (BVerfGE 138, 64
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[100 f.]), was im Übrigen auch für sonstige nicht entscheidungstragende Begründungen
des Verfassungsgerichts gilt (vgl. indessen a.a.O. [101] für Entscheidungen mit “Gesetzeskraft“).
[2] Hier geht es aber darum, dass der Gesetzgeber in Vorbereitung eines neuen Gesetzes
das bisherige Recht selbst - anhand von “Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang der Regelung und deren Sinn und Zweck“ (BVerfGE 138, 64 [93 f.]) - zu
interpretieren hat. Auch insoweit gilt:
a) Grundsatz der Auslegung “mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden“
Meist lässt sich (auch wenn der Wortlaut einer Vorschrift nicht eindeutig oder “unbestimmt“ ist) “mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden, insbesondere durch Heranziehung anderer Vorschriften derselben Gesetze, durch Berücksichtigung des Normzusammenhangs oder aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung eine zuverlässige Grundlage
für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen“ (BVerfGE 134, 33 [82]; dort
[82 ff.] auch zur Heranziehung der EMRK [in der Auslegung durch den EGMR] sowie zu
den entsprechenden Konkretisierungs- und Präzisierungspflichten der Rechtsprechung);
dies gilt - im Grundsatz und mit denkbaren Modifikationen - auch für die hier behandelte Auslegung des bestehenden Rechts durch einen zu Veränderungen neigenden oder
entschlossenen Gesetzgeber:
aa) Parallelen (und Unterschiede) der Gesetzesauslegung zur Verfassungsauslegung
Auch insoweit gilt - ähnlich wie bei der Verfassungsauslegung (vorstehend A.III.2. (vgl.
S. 47) ), welche allerdings regelmäßig öfter als bei der gewöhnlichen Auslegung mit dem
“Problem der Offenheit des Normtextes zu tun“ hat (BVerfGE 62, 1 [45]) -, dass Ziel jeder
Auslegung die Feststellung des Inhalts einer Norm ist, wie er sich aus dem Wortlaut und
dem Sinnzusammenhang ergibt, in den sie hineingestellt ist (BVerfGE 35, 263 [278 f.]).
(1) Auslegung auch bei “Zweifeln“
Dass sich bei jeder Gesetzesauslegung Zweifel ergeben können, berechtigt nicht dazu,
eine Auslegung überhaupt abzulehnen; denn eine jeden Rechtszweifel ausschließende und
jeden Sonderfall ausdrücklich berücksichtigende Regelung eines Rechtsgebiets ist kaum
oder ohnehin nicht möglich (BVerfGE 3, 187 [198]).
(2) Bedeutungswandel
Auch insoweit gilt, dass eine gültige Gesetzesbestimmung bei gleich gebliebenem Wortlaut durch Veränderung der Verhältnisse einen Bedeutungswandel erfahren haben kann
(BVerfGE 7, 342 [351]).
Auch insoweit ist zu berücksichtigen, welche vernünftige Funktion eine Gesetzesnorm
im Zeitpunkt der jeweiligen Anwendung (hier also im Zeitpunkt der Veränderung) haben
kann. Eine Norm steht ständig im Kontext der Sozialverhältnisse und der gesellschaftlichpolitischen Anschauungen, auf die sie wirken soll; ihr Inhalt kann und muss sich unter
Umständen mit ihnen wandeln. Das gilt insbesondere, wenn sich zwischen Entstehung und
Anwendung eines Gesetzes die Lebensverhältnisse und Rechtsanschauungen tiefgreifend
geändert haben (BVerfGE 34, 269 [288 f.]).
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(3) Auslegung von verfassungsrechtliche Ansprüche “nachzeichnenden“ Normen
Weiterhin gilt, dass Normen, die einen verfassungsrechtlichen Anspruch “nachzeichnen“
bzw. ergänzen, insbesondere dann kritischer Auslegung mit Blick auf die Verfassungsnorm
bedürftig sind, wenn sich der verfassungsrechtliche Anspruch präzisiert haben sollte (vgl.
BVerfGE 43, 154 [168]).
(4) Deklaratorische “Klarstellung“ einer Rechtslage
Schließlich gilt, dass ein Gesetzgeber zwar - ohne Nachteile - eine früher von ihm geschaffene Rechtslage “deklaratorisch klarstellen“ kann, d.h. dasjenige “bestätigen“ kann, was
von vornherein aus der ursprünglichen Norm folgte.
Anderes kann aber dann gelten (insbesondere kann es sich um eine unzulässige Rückwirkung handeln; hierzu im Einzelnen nachfolgend III.), wenn in Wahrheit dem (neuen)
Gesetz ein “konstitutiver Regelungsgehalt“ zukommt. Das kann dann der Fall sein, wenn
die frühere Norm von den Gerichten nach den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung in einem Sinn (ausgelegt werden konnte und) ausgelegt worden ist, der ihr nach
der Neuregelung aberkannt wird (BVerfGE 131, 20 [37]).
bb) Objektivierter Wille des Gesetzgebers als maßgebliches Auslegungskriterium
Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesbestimmung ist - wie sinngemäß vorstehend
dargelegt - der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers,
so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang
ergibt, in den diese hineingestellt ist (grundlegend: BVerfGE 1, 299 [312]; vgl. auch BVerfGE 105, 135 [157] sowie BVerfGE 138, 261 [280] freilich für Sperrwirkung nach Art. 72
Abs. 1 GG).
[1] Ein - wie auch immer zum Ausdruck gekommener - “Wille des Gesetzgebers“ kann
bei der Auslegung einer Norm allerdings nur insoweit berücksichtigt werden, als er in
dem Gesetz selbst einen hinreichend bestimmten Ausdruck (“Niederschlag“) gefunden
hat (grundlegend: BVerfGE 11, 126 [130]; vgl. auch BVerfGE 133, 168 [205] für Beachtlichkeit einer vom Gesetzgeber verfolgten - “intendierten“ - “Regelungskonzeption“).
Ohne Bedeutung ist es, ob eine bestimme Regelung etwa auf einem Versehen des früheren
Gesetzgebers beruht (BVerfGE 18, 38 [45]).
[2] Dem Ziel , diesen objektivierten Willen des Gesetzgebers zu erfassen, dienen die
grammatische, die systematische, die teleologische und die historische Auslegung. Diese
Methoden schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig.
(1) Insbesondere: Wortlaut der Norm
Zwar hat - erstens - unter den vorgenannten Auslegungsmethoden - die bei der Auslegung
“helfen“ - keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (BVerfGE 105, 135 [157]).
Und zwar gibt - zweitens - der Wortlaut einer Norm nicht immer hinreichende Hinweise
auf den Willen des Gesetzgebers, weil unter Umständen erst im Zusammenhang mit
Sinn und Zweck des Gesetzes oder anderen Auslegungsgesichtspunkten die im Wortlaut
ausgedrückte, vom Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption deutlich wird (BVerfGE
133, 168 [205 f.]), weil - mit anderen Worten - “andere Indizien“ deutlich belegen, dass
der Sinn im Wortlaut unzureichend Ausdruck gefunden hat (BVerfGE 138, 64 [97]).
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Aber oft - und nicht nur im Strafrecht , wo der mögliche Wortsinn einer Vorschrift gerade
mit Blick auf Art. 103 Abs. 2 GG (F.VI.) der Auslegung eine Grenze zieht, die unübersteigbar ist (BVerfGE 105, 135 [157]; ferner BVerfGE 110, 226 [248] sowie BVerfGE 126,
170 [197 ff.]) - kommt der grammatischen Auslegung eine herausgehobene Bedeutung
(BVerfGE 138, 64 [95] für den seltenen Fall eines eindeutigen Wortlauts) zu.
Auch wenn der Wortlaut einer Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet, und
selbst wenn diese Deutungen nicht offensichtlich eher fernliegend sind, muss eine im
Wortlaut ausgedrückte, vom (früheren) Gesetzgeber verfolgte Regelungskonzeption akzeptiert werden (BVerfGE 133, 168 [205 f.]).
(2) Insbesondere: systematische Auslegung
Bei der systematischen Auslegung (BVerfGE 138, 64 [95] für “Eindeutigkeit“ von [Wortlaut und] Systematik) ist darauf abzustellen, dass einzelne Rechtssätze, die der (frühere)
Gesetzgeber in einen sachlichen Zusammenhang gestellt hat, grundsätzlich so zu interpretieren sind, dass sie logisch miteinander vereinbar sind. Denn es ist davon auszugehen,
dass der (frühere) Gesetzgeber sachlich Zusammenhängendes so geregelt hat, dass die
gesamte Regelung einen durchgehenden, verständlichen Sinn ergibt (BVerfGE 48, 246
[257]; vgl. auch BVerfGE 124, 25 [40 f.] ausdrücklich für “kollidierende“ Rechtssätze).
(3) Insbesondere: teleologische Reduktion
Ebenso wie eine “Erweiterung“ einer Norm gehört eine teleologische Reduktion im Grundsatz zu den anerkannten Auslegungsgrundsätzen (BVerfGE 88, 145 [167]; dort auch zu
einer Rechtsfortbildung “praeter legem“; vgl. auch BVerfGE 82, 6 [11 f.] für analoge
Anwendung, auf die sich allerdings vornehmlich die Bürger einstellen können müssen).
(4) Insbesondere: historische Methode
Die Vorarbeiten eines Gesetzes (“Materialien“; BVerfGE 135, 155 [218]) sind für dessen
Auslegung immer nur mit einer gewissen Zurückhaltung, in der Regel bloß unterstützend,
zu verwerten. Sie dürfen nicht dazu verleiten, die Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektivierten Gesetzesinhalt gleichzusetzen (BVerfGE 11, 126 [130]; vgl.
auch BVerfGE 62, 1 [45]; dort sowie in der abweichenden Meinung BVerfGE 119, 247
[279, 290] auch zu Verfassungsmaterialien).
Bedeutsam ist die Entstehungsgeschichte aber vor allem dann, wenn sich aus ihr gesetzgeberischer Wille und Gesetzeszweck ergeben (BVerfGE 138, 64 [96 ff.]).
(5) Meist unbeachtliche “Meinungen“ im Gesetzgebungsverfahren
Deshalb kann die Meinung einer einzelnen, an der Gesetzgebung beteiligten Person über
Sinn und Bedeutung einer Norm für ihre Auslegung niemals maßgebend sein (BVerfGE
6, 55 [75]). Ebenso wenig kann es maßgebend sein, welche Meinung von einem Unterausschuss eines Gesetzgebungsorgans, von dessen Mitgliedern oder von Vertretern einer
Bundesregierung geäußert worden ist, sofern nicht diese Meinung dem Wortlaut und dem
Sinn der Vorschrift entnommen werden kann (BVerfGE 20, 238 [253]; vgl. allerdings freilich für Verfassungsinterpretation - auch BVerfGE 109, 279 [317 ff.] für Heranziehung
von Materialien und Einzeläußerungen im Bundestag).
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(6) Berichtigung eines “technischen Versehens“
Allerdings ist eine berichtigende Auslegung einer Norm zulässig, wenn sich aus der Entstehungsgeschichte eines Gesetzes eindeutig ein “technisches Versehen“ ergibt (BVerfGE
11, 139 [149] zur Ausräumung der Möglichkeit, dass eine bewusste Rückwirkung beabsichtigt war).
b) Verfassungskonforme Auslegung
Ein Gesetz ist nicht verfassungswidrig, wenn (zumindest) eine Auslegung möglich ist,
die im Einklang mit dem Grundgesetz steht, und das Gesetz bei dieser Auslegung
sinnvoll bleibt (grundlegend: BVerfGE 2, 266 [282]; vgl. auch BVerfGE 122, 39 [60 f.]
sowie BVerfGE 138, 64 [88 ff.] für eine missglückte verfassungskonforme Auslegung durch
ein Fachgericht [94, 96 f.]).
aa) Ziel
Das Ziel einer verfassungskonformen Auslegung muss sein, in den Grenzen der Verfassung
das Maximum dessen aufrechtzuerhalten, was der Gesetzgeber gewollt hat (BVerfGE
134, 33 [63] sowie BVerfGE 138, 64 [99] “Grundsatz der Normerhaltung“).
Es soll vor allem dasjenige aufrechterhalten werden, was der Gesetzgeber mit der von
ihm ins Werk gesetzten Gesamtregelung vor allem zu erreichen bestrebt war (BVerfGE
86, 288 [320 f.]).
bb) Gebotensein einer verfassungskonformen Auslegung
Geboten ist eine verfassungskonforme Auslegung einer Norm dann, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt (BVerfGE 112, 164 [182 f.] für eine “näher liegende
Alternative bei der Suche nach einem verfassungsmäßigen Ergebnis“; vgl. auch BVerfGE
73, 322 [329] dazu, dass von mehreren vertretbaren Auffassungen eine von Verfassungs
wegen naheliegend[er] sein kann).
cc) Grenzen
Die Grenzen der verfassungskonformen Auslegung ergeben sich grundsätzlich aus dem
ordnungsgemäßen Gebrauch der anerkannten Auslegungsmethoden (vorstehend A.III.2.
(vgl. S. 47) für Auslegung der Verfassung und B.II.2 (vgl. S. 113) für “gewöhnliche“
Auslegung).
Hiernach darf einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift - erstens - kein
entgegengesetzter Sinn verliehen werden, - zweitens - der normative Gehalt der Norm
nicht grundlegend neu bestimmt und - drittens - das normative Ziel in einem wesentlichen
Punkt nicht verfehlt werden (BVerfGE 109, 279 [316 f.] freilich für Interpretation einer
Verfassungsänderung).
Eine Norm ist nur dann für verfassungswidrig zu erklären, wenn keine zulässige und
mit der Verfassung vereinbare Auslegung möglich ist (BVerfGE 138, 64 [93 f.]).
Brunn - Kapitel B.III.0.
Seite 118
(1) Die Voraussetzung der “Wiedererkennbarkeit“ der Norm durch den Gesetzgeber
Ist eine (einschränkende) verfassungskonforme Auslegung möglich , kommt es zwar nicht
darauf an, ob dem subjektiven Willen des Gesetzgebers die weitergehende, dem Grundgesetz nicht entsprechende Auslegung eher entsprochen hätte (BVerfGE 9, 194 [200]), aber
es darf nicht zu befürchten sein, dass ein Gesetzgeber die von ihm getroffene Regelung
nach der verfassungskonformen Auslegung inhaltlich nicht wiedererkennt (BVerfGE 119,
247 [278] “Prüffrage“ der verfassungskonformen Auslegung).
(2) Widerspruch zum Wortlaut und erkennbaren Gesetzeswillen
Mit anderen Worten findet sie ihre Grenzen dort, wo sie zum Wortlaut und zum klar
erkennbaren Willen des Gesetzgebers in Widerspruch treten würde (BVerfGE 134, 33
[63 f.] sowie BVerfGE 138, 64 [94, 97]), und sie darf den normativen Gehalt der auszulegenden Vorschrift nicht grundlegend neu bestimmen (BVerfGE 8, 71 [78 f.]). Überdies
muss die Auslegung auch die “prinzipielle Zielsetzung“ des Gesetzgebers wahren; das gesetzgeberische Ziel darf nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt oder verfälscht werden
(BVerfGE 138, 64 [94]).
c) Gebot gemeinschaftskonformer Auslegung
Neben dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts (BVerfGE 126, 286 [301
f.]; dort auch zur weiteren Geltung des “mitgliedschaftlichen“ Rechts) gilt auch das
Gebot gemeinschaftskonformer Auslegung. Das nationale Recht ist “in Übereinstimmung
mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts“ auszulegen und anzuwenden (BVerfGE
116, 271 [314]; vgl. auch BVerfGE 129, 78 [99]; dort [100] auch zu Änderungen und
Ergänzungen der Gewährleistungen des Grundgesetzes).
d) Gebot völkerrechtskonformer Auslegung
Wenn sogar Normen des Grundgesetzes völkerrechtsfreundlich auszulegen sein können
(BVerfGE 128, 326 [366 ff.]), gilt dies umso mehr bei der “einfachen“ Auslegung (a.a.O.
[367] für EMRK, welche im Rang eines Bundesgesetzes steht; ausführlich zum “ungeschriebenen“ Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes: BVerfGE 141,
1 [26]).
Was die wesentlichen Dimensionen der Pflicht, das Völkerrecht zu respektieren, anbelangt, so hat speziell der Gesetzgeber für die deutsche Rechtsordnung zu gewährleisten,
dass durch eigene Staatsorgane begangene Völkerrechtsverstöße korrigiert werden können
(BVerfGE 141, 1 [29]).
III. Gesetzgeber und Einwirkungen auf bestehende “geregelte“ Rechtslagen
und Rechtsverhältnisse namentlich durch Gesetzesänderungen
(Rückwirkungsverbot)
1.
Die grundsätzliche Befugnis
regelter Rechtsverhältnisse
a) Grundsatz . . . .
b) Grenzen . . . . .
des Gesetzgebers
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
zu
.
.
.
Regelungen
. . . .
. . . .
. . . .
(bereits)
. . .
. . .
. . .
ge.
.
.
123
123
123
Brunn - Kapitel B.III.0.
2.
Seite 119
Einführung in die für die Rückwirkungsproblematik maßgeblichen verfassungsrechtlichen Grundprinzipien (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit,
Rechtssicherheit, Gesetzesbindung sowie Vertrauensschutz) und deren
Konkretisierungspflichten durch den (abändernden) Gesetzgeber
. .
a) Konkretisierungspflicht . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Sicherung des Gebrauchs der Freiheitsrechte . . . . . . . . .
b)
bb) Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Grundprinzipien des Rechtsstaatsgebots (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit, Gesetzesbindung, Vertrauensschutz)
125
124
124
124
124
aa) Materielle (“materiale“) Gerechtigkeit (und Berücksichtigung
der Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege)
125
(1) Wiederaufnahme- und -aufgreifensverfahren und Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
125
(2) Gerechtigkeitsgebote bei schwierigen Tatsachenlagen im
(rechtskräftig abgeschlossenen) Erstverfahren (insbesondere: Prognoseentscheidungen) . . . . . . . . . . . . . . . .
126
bb) Grundsatz der Rechtsgleichheit
. . . . . . . . . . . . . . . .
126
cc) Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
126
(1) “Verlässlichkeit der Rechtsordnung“ . . . . . . . . . . . .
127
(2) Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Verbot der Anknüpfung neuer Lasten an alte Vorgänge; “Erschütterung“
von Vertrauen vornehmlich durch Rechtsprechung) . . . .
127
(2a)
Unzulässigkeit der Auferlegung von Lasten in
Anknüpfung an abgeschlossene Vorgänge . . .
127
Vertrauensenttäuschung durch rückwirkende
Rechte-Beseitigung . . . . . . . . . . . . . . .
127
(3) Bestands- und Rechtskraft (Rechtsfrieden und Rechtssicherheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127
(2b)
(3a)
Materielle Rechtskraft . . . . . . . . . . . . . .
128
(3b)
Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
(3c)
Kein Vertrauensschutz des “missbräuchlich“
Handelnden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
128
(4) Fristen und Rechtsbehelfsklarheit . . . . . . . . . . . . .
128
(4a)
Verbot der unangemessenen Kürze von Fristen
129
(4b)
Rechtsmittelklarheit . . . . . . . . . . . . . . .
129
(4c)
Rechtsbehelfsbelehrungen . . . . . . . . . . . .
129
dd) Gesetzesbindung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
ee) Vertrauensschutz (Einzelfälle) . . . . . . . . . . . . . . . . .
129
Brunn - Kapitel B.III.0.
3.
Die drei Begriffspaare, die zum Verständnis der Rechtsprechung erforderlich sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a)
b)
c)
d)
4.
Seite 120
130
Die Unterscheidung zwischen dem zeitlichen und dem sachlichen Anwendungsbereich einer Norm . . . . . . . . . . . . .
130
Die Unterscheidung zwischen der Rückbewirkung von Rechtsfolgen
und der tatbestandlichen Rückanknüpfung . . . . . . . .
130
aa) Rückbewirkung bzw. retroaktive Rückwirkung . . . . . . . .
130
bb) Tatbestandliche Rückanknüpfung . . . . . . . . . . . . . . .
131
Die Unterscheidung zwischen den “echten“ und “unechten“ Rückwirkungen (und damit zwischen “abgewickelten“ und den noch nicht
abgeschlossenen Sachverhalten und Rechtsbeziehungen) . . . .
131
aa) Eingriffe nach Anspruchsentstehung (Tatbestandsverwirklichung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
bb) Nachträgliche “Entwertung“ von Rechtspositionen (unechte
Rückwirkung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
cc) Entscheidend: Vorliegende “Regelung“
131
. . . . . . . . . . . .
Fehlen schutzwürdigen betätigten Vertrauens und Offenbleiben einer
echten bzw. unechten Rückwirkung
. . . . . . . . . .
131
Der gesetzgeberische Eingriff in abgewickelte Sachverhalte bzw. Rechtsverhältnisse (“echte Rückwirkung“) . . . . . . . . . . . .
132
a)
132
Grundsatz und Ausnahmen
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
132
(1) Freiheitsgefährdung durch eine Rückwirkung . . . . . . .
132
(2) Besonderes Rechtfertigungsbedürfnis für eine Rückwirkung
132
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
(1) Vertrauensschutz als (Grundlage und) Grenze des Rückwirkungsverbots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
132
(2) Fehlendes “Vertrauendürfen“ (von vornherein fragwürdiges
Recht) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
(3) Überragende Belange des Gemeinwohls bzw. Geringfügigkeitsvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
cc) Problematische “Aufweichungen“
c)
.
aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Ausnahmen
b)
.
. . . . . . . . . . . . . . .
133
(1) Rückwirkende Anordnungen (nachträgliche Verlängerungen) von Freiheitsentziehungen . . . . . . . . . . . . . . .
133
(2) Unklare Rechtslage im Steuerrecht
134
. . . . . . . . . . . .
Rechtfertigungs- bzw. Begründungspflicht als Folge einer echten
Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
134
Sonderfall des Steuerrechts
134
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Brunn - Kapitel B.III.0.
5.
Der Eingriff in noch nicht abgeschlossene Verhältnisse . . . . . .
a) Grenzen einer grundsätzlich zulässigen Rückwirkung . . . . .
b) Beispielfälle für (zulässige und unzulässige) unechte Rückwirkungen
134
134
135
aa) Unzweifelhaft noch nicht abgeschlossener Beispielsfall . . . .
135
bb) Bezweifelbar noch nicht abgeschlossener Beispielsfall (Therapieunterbringungsgesetz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
135
(1) Kritik
c)
6.
Seite 121
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Verfassungsrechtlich zulässiger “Ausweg“ (Annahme eines
zulässigen Präventivgesetzes) . . . . . . . . . . . . . . . .
Bestehende Dauerrechtsverhältnisse als typische Anwendungsfälle
der (zulässigen echten sowie) unechten Rückwirkung . . . . .
135
136
136
aa) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
136
bb) “Betätigtes Vertrauen“ (“Ins-Werk-Setzen“) als maßgebliches
Kriterium für die Zulässigkeit/ Unzulässigkeit eines Gesetzes
mit tatbestandlicher Rückanknüpfung . . . . . . . . . . . . .
137
cc) Typische Materien
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
(1) Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
(2) Beamtenrecht
137
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Steuerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Fehlendes schutzwürdiges Vertrauen als - ausnahmsweise - rechtfertigender
Grund sogar für “echte“ Rückwirkung (Eingriffe in “abgewickelte“ Sachverhalte) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Denkbare Zeitpunkte für den Verlust eines Vertrauensschutzes .
137
137
138
aa) Grundsätze der Abstellung auf den endgültigen Gesetzesbeschluss des Bundestags und/oder auf den Zeitpunkt, zu dem
ernsthaft mit einer Neuregelung zu rechnen ist . . . . . . . .
138
(1) Gesetzesbeschluss des Bundestags als Beseitigung des wesentlichen Unsicherheitsfaktors . . . . . . . . . . . . . . .
138
(2) Vertrauensgrenze des Zeitpunkts, zu dem ernsthaft mit einer Neuregelung zu rechnen war . . . . . . . . . . . . . .
139
bb) Verkündung des Gesetzes als spätester Zeitpunkt für einen Vertrauensverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
cc) Denkbare Zeitpunkte für einen Vertrauensverlust bei Anrufung
des Vermittlungsausschusses . . . . . . . . . . . . . . . . . .
139
dd) Sonderfall des Steuerrechts und der Einbringung eines entsprechenden Gesetzentwurfs im Bundestag . . . . . . . . . . . .
139
(1) Kein Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den künftigen
Fortbestand einer geltenden Gesetzeslage . . . . . . . . .
139
(2) Einzelfälle eines (zu- und unzulässigen) “Unterlaufens“ verlautbarter Absichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
Brunn - Kapitel B.III.0.
b)
Seite 122
Erfordernis des “sachlich gerechtfertigten“ Vertrauens
.
.
.
.
140
aa) Vertrauensverlustgründe in Fällen “unechter“ sowie “echter“
Rückwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht und Rückwirkung . . .
140
(2) Rückwirkende Ersetzung einer verfassungswidrigen Norm
durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
(3) Unredlich erworbene Rechte . . . . . . . . . . . . . . . .
141
(4) “Geringfügige“ Eingriffe
141
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Problematik der “Erwartbarkeit“, insbesondere bei unklarer
und/oder verworrener Gesetzeslage . . . . . . . . . . . . . .
141
(1) Die “ernsthafte“ Erwartbarkeit einer rückwirkenden Gesetzesänderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
141
(2) Die “Enttäuschung“ der Erwartungen des Gesetzgebers
durch Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
142
(3) Die unklare (“verworrene“) Rechtslage
142
. . . . . . . . . .
(4) “Wiederaufleben“ des früheren Rechts und Interpretationsbefugnis der Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . .
cc) Entschiedene Fälle von (nicht) schutzwürdigem Vertrauen
.
(1) Änderungen des Verfahrensrechts (insbesondere: Grundsätze des “intertemporalen Prozessrechts“) . . . . . . . . . .
(1a)
(1b)
142
143
143
Einwirkungen auf vorliegende verfahrensrechtliche Lagen (insbesondere anhängige Verfahren)
143
Grundsätze des intertemporalen Prozessrechts
und Rechtsmittelsicherheit . . . . . . . . . . .
143
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
(2) Mietrecht
(3) Beamtenrecht
7.
140
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
143
(4) Sozialrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
(5) Steuerrecht
144
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(6) Sonderfall einer Rückgängigmachung einer unter Verstoß
gegen Art. 3 GG gewährten Vergünstigung . . . . . . . .
“Zwingende Gründe“ als Rechtfertigungsgründe für Rückwirkungen .
a) Rückwirkungsgrenze der Verletzung des “grundrechtlichen Schutzes
des Lebenssachverhalts“ . . . . . . . . . . . . . .
b) Steuerrecht und (nicht-) “zwingende“ Gründe . . . . . . .
aa) “Überragende“ bzw. zumindest “wichtige“ Gemeinwohlbelange . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
145
145
145
145
(1) “Bloße“ Absicht der Erzielung staatlicher Mehreinkünfte
146
(2) Ausgleich unerwarteter Mindereinnahmen oder “notwendige“ Korrekturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
Brunn - Kapitel B.III.1.
c)
Seite 123
bb) Sonstige denkbare Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . .
Pflicht zur Aufrechterhaltung von Übergangsregelungen und Ausnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
146
aa) Die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes durch (verfassungsentsprechendes) Übergangsrecht . . . . . . . . . . . . .
146
bb) Rechtfertigung für “vorzeitige“ Aufhebung eines Vertrauenstatbestandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
146
Wie bereits eingangs (A.II.3.b) (vgl. S. 26) sowie B.I.1. (vgl. S. 98) ) dargelegt, begegnet
regelmäßig die erstmalige gesetzliche Regelung von in der Vergangenheit, der Gegenwart und auch in der Zukunft liegenden Sachverhalten und Rechtsverhältnissen keinen
Bedenken; es gibt keinen Vertrauensschutz dagegen, dass der Gesetzgeber eine noch nicht
geregelte Frage nunmehr für regelungsbedürftig hält und dabei an solche Sachverhalte
anknüpft (BVerfGE 103, 271 [287]; vgl. auch BVerfGE 109, 96 [121 f.]).
1. Die grundsätzliche Befugnis des Gesetzgebers zu Regelungen (bereits)
geregelter Rechtsverhältnisse
Aber auch bisher schon geregelte Sachverhalte dürfen im Ansatz einer anderen gesetzlichen Regelung zugänglich gemacht werden:
a) Grundsatz
Es ist seit jeher unbestritten das Recht des Gesetzgebers, bestehende Sachverhalte, Rechte und Rechtsbeziehungen durch eine Gesetzesänderung einer neuen Rechtslage zu
unterwerfen. Denn die Möglichkeit, durch neue Gesetze auf bestehende Rechtslagen
und Rechtsverhältnisse einzuwirken, ist jeglicher Gesetzgebung immanent (BVerfGE 48,
403 [415]; vgl. auch BVerfGE 128, 90 [107] kein Schutz vor nachteiliger Veränderung
der geltenden Rechtslage sowie BVerfGE 132, 302 [319] “Lähmung“ des Gesetzgebers in
wichtigen Bereichen als Alternative).
b) Grenzen
Begrenzt werden die vorbezeichneten Befugnisse des Gesetzgebers durch das aus dem
Rechtsstaatsgebot abgeleitete Rückwirkungsverbot (vgl. zum speziellen strafrechtlichen
Rückwirkungsverbot F.VI.3. (vgl. S. 949) ).
Dieses Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes (nachfolgend
B.III.2.b)ee) (vgl. S. 129) sowie B.III.6. (vgl. S. 137) ) nicht nur seinen Grund, sondern
auch seine Grenze. Es gilt nicht, soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden
Rechts bilden konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage nicht gerechtfertigt und daher nicht schutzwürdig war und ist. Von besonderer Bedeutung ist dabei,
ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war, ein Vertrauen von
Betroffenen oder Gruppen von betroffenen Gruppen auf ihren Fortbestand zu begründen
(BVerfGE 135, 1 [21 f.]).
Zum Verständnis der Rechtsprechung, ob und unter welchen Voraussetzungen sich ein zu
einem Rückwirkungsverbot führendes (schutzwürdiges) Vertrauen bilden konnte, ist es
unerlässlich, sich - zunächst (nachfolgend 2.) - die fünf wesentlichen verfassungsrechtlichen
Brunn - Kapitel B.III.2.
Seite 124
(rechtsstaatsgemäßen) Grundprinzipien abstrakt und - sodann (nachfolgend 3. bis 5.) konkret die insoweit einschlägigen Schlüsselbegriffe, insbesondere die drei wesentlichen
Begriffspaare vor Augen zu führen; nur unter dieser Voraussetzung ist es möglich, zur
Beantwortung der Frage vorzudringen, ob ein Vertrauen schutzwürdig ist (aber womöglich
gleichwohl überwindbar ist - 7. -) oder nicht (hierzu nachfolgend 6. und äußerst lesensund beachtenswert die abweichende Meinung BVerfGE 135, 1 [29, 36 ff.], wo zu Recht
ein schutzwürdiges Vertrauen verneint worden ist):
2. Einführung in die für die Rückwirkungsproblematik maßgeblichen
verfassungsrechtlichen Grundprinzipien (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit,
Rechtssicherheit, Gesetzesbindung sowie Vertrauensschutz) und deren
Konkretisierungspflichten durch den (abändernden) Gesetzgeber
Wie anderenorts dargelegt (vor D.I.) sowie D.V.), ist - im Sinne der Formulierung des
Art. 79 Abs. 3 GG - in Art. 20 Abs. 3 GG nicht der Grundsatz des Rechtsstaatsprinzips
“niedergelegt“, sondern es sind nur ganz bestimmte Grundsätze des Rechtsstaatsprinzips.
Aus dem Rechtstaatsprinzip lassen sich folglich mehr als die in Art. 79 Abs. 3 GG in Bezug
genommenen Rechtsgrundsätze des Art. 20 GG entwickeln (BVerfGE 30, 1 [24 f.]).
Es enthält keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den
sachlichen Gegebenheiten bedarf, wobei allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaats und die Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben müssen (BVerfGE 7, 89 [92
f.]; vgl. auch BVerfGE 116, 24 [52]).
a) Konkretisierungspflicht
Diese Konkretisierung des Rechtsstaatsprinzips ist Sache der zuständigen Organe, zuvörderst des Gesetzgebers . Angesichts der Weite und Unbestimmtheit des Rechtsstaatsprinzips ist bei der Ableitung konkreter Bindungen des Gesetzgebers mit Behutsamkeit
vorzugehen (BVerfGE 90, 60 [86]; vgl. auch BVerfGE 111, 54 [82]).
aa) Sicherung des Gebrauchs der Freiheitsrechte
Bei allen Ableitungen und Konkretisierungen ist zu berücksichtigen, dass das Rechtsstaatsprinzip den Gebrauch der Freiheitsrechte sichert, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet sowie Vertrauen schützt; darüber hinaus
umfasst es als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller
Gerechtigkeit und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate ein (BVerfGE 133, 168 [198]):
bb) Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege
Das Rechtsstaatsprinzip gestattet und verlangt (aber auch und gerade etwa) die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege, ohne die der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden kann. Es besteht daher die verfassungsrechtliche Pflicht des Staates, eine funktionstüchtige Strafrechtspflege zu gewährleisten
(BVerfGE 130, 1 [26]).
Brunn - Kapitel B.III.2.
Seite 125
b) Grundprinzipien des Rechtsstaatsgebots (Gerechtigkeit, Rechtsgleichheit,
Rechtssicherheit, Gesetzesbindung, Vertrauensschutz)
In der Folge werden daher - in der hier gebotenen und ausreichenden Kürze - die
Grundbegriffe “materielle Gerechtigkeit“ (anfänglich auch “materiale Gerechtigkeit“) nachfolgend aa) -, Grundsatz der Rechtsgleichheit - nachfolgend bb) -, Rechtssicherheit nachfolgend cc) -, Gesetzesbindung - nachfolgend dd) - und Vertrauensschutz - nachfolgend ee) - behandelt.
aa) Materielle (“materiale“) Gerechtigkeit (und Berücksichtigung der Erfordernisse
einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege)
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 7, 89 [92]; 7, 194 [196];
45, 187 [246]; 74, 129 [152], BVerfGE 122, 248 [272] sowie BVerfGE 130, 1 [26]) ist die
Gerechtigkeit zwar meist nur im Zusammenhang mit und im Gegensatz zu den Begriffen
“Rechtssicherheit“ und “Vertrauensschutz“ erwähnt worden; materielle (der in der frühen Rechtsprechung verwendete Begriff der “materialen“ Gerechtigkeit dürfte identisch
sein) Bestandteile des Gerechtigkeitsgebots sind so gut wie nicht auszumachen (vgl. aber
BVerfGE 72, 302 [329] dazu, dass es ein berechtigtes “Anliegen der Gerechtigkeit“ sein
kann, mit nicht sachwidrig typisierenden Regelungen auch für “untypische Einzelfälle“
weniger erwünschte Folgen mit in Kauf zu nehmen).
[1] Es ist aber immer wieder betont worden, dass die Forderung nach “materialer“ Gerechtigkeit häufig im Widerstreit mit dem Prinzip der Rechtssicherheit liegt und es in
erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers sein muss, einen solchen Widerstreit bald nach
der Seite der Rechtssicherheit, bald nach der Seite der materiellen Gerechtigkeit zu entscheiden; geschieht dies ohne Willkür, so kann ein solches Verfahren nicht beanstandet
werden (grundlegend: BVerfGE 3, 225 [237 f.]; vgl. auch BVerfGE 60, 253 [268 f.]).
[2] Wie gerade erwähnt (a)aa) sowie b)aa)), taucht als “Gegengewicht“ der Gerechtigkeit
beispielsweise oft die “funktionstüchtige Strafrechtspflege“ auf, die aber ihrerseits hohen
Anforderungen unterliegt:
Sie muss dem Schuldgrundsatz Rechnung tragen, der sich aus der Garantie der Würde
und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG)
sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) ergibt. Danach ist jede strafende Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ausgeschlossen. Außerdem muss bei der
Festsetzung der Strafe das gerechte Verhältnis zwischen Tatschwere und Verschulden des
Täters unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des einzelnen Falles beachtet
werden. Aus diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben folgt (im Übrigen), dass ein zentrales
Anliegen des Strafprozesses (auch und gerade) die bestmögliche Ermittlung des wahren
Sachverhalts sein muss (BVerfGE 130, 1 [26]).
(1) Wiederaufnahme- und -aufgreifensverfahren und Gerechtigkeit
Ein Hauptanwendungsbereich für die Gerechtigkeit dürfte deshalb die Regelung von
Verfahren sein, die abgeschlossene Verfahren wiederaufgreifen (Wiederaufnahmen sowie
Verfahren zur Rücknahme bzw. zum Widerruf von Verwaltungsakten).
Insbesondere das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen (Zivilrechts-, Straf- und öffentlich-rechtlichen)Verfahrens ist eine typische Ausprägung der Konfliktsituation zwischen materialer Gerechtigkeit und Rechtssicherheit .
Brunn - Kapitel B.III.2.
Seite 126
In diesem Rechtsinstitut wird um des Grundsatzes der materialen Gerechtigkeit willen
das Prinzip der Rechtssicherheit durchbrochen.
Dabei wirkt sich zwar dieses Prinzip dahin aus, dass die Durchbrechung an eine eng begrenzte Anzahl besonderer Ausnahmetatbestände gebunden ist (BVerfGE 22, 322 [329];
dort auch dazu, dass Wiederaufnahmemöglichkeiten ausgeschlossen werden dürfen, wenn
die Rechtsstellung eines Betroffenen vergleichsweise gering beeinträchtigt worden ist);
gerade deswegen muss aber der Gesetzgeber besondere Sorgfalt darauf verwenden, welche Konfliktsituationen aus welchen Gründen eine Bevorzugung (zugunsten der zunächst
Unterlegenen) aus Gerechtigkeitsgründen verdienen (und welche nicht).
(2) Gerechtigkeitsgebote bei schwierigen Tatsachenlagen im (rechtskräftig abgeschlossenen) Erstverfahren (insbesondere: Prognoseentscheidungen)
Unter diesem Aspekt müsste es sich eigentlich von selbst verstehen, dass die “Durchbrechungsmöglichkeiten“ von Bestands- und Rechtskraft (nachfolgend b)cc)(3)) gesetzlich
umso großzügiger gestaltet werden müssten , je schwieriger in tatsächlicher Hinsicht
eine getroffene (belastende) Entscheidung fallen musste, weil - wie dies vor allem und
fast regelmäßig bei Prognoseentscheidungen (A.II.3.a)dd) (vgl. S. 25) ) mit bisweilen
harten Rechtsfolgen für die Betroffenen der Fall ist - die Erkenntnismöglichkeiten aus der
Natur der Sache heraus nur eingeschränkte sein konnten, was vornehmlich auf (zukünftige) menschliche Verhaltensweisen sowie innere Tatsachen zutrifft; insoweit dürfte
gesetzgeberischer Handlungsbedarf auf allen vorgenannten Gebieten bestehen.
bb) Grundsatz der Rechtsgleichheit
Der Grundsatz der Rechtsgleichheit ist als eines der grundlegenden Gerechtigkeitspostulate - welche auch der verfassungsändernde Gesetzgeber beachten muss - in das Rechtsstaatsprinzip eingeschlossen (BVerfGE 84, 90 [121]). Im Einzelnen wird er hier im
Zusammenhang mit dem Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 GG behandelt (E.III.1. (vgl. S.
587) ).
cc) Rechtssicherheit
Die Rechtssicherheit ist zwar meist, keineswegs aber immer zugunsten der Bürger als
Maßstab verwendet worden; mit den Begriffen Rechtsfrieden und Rechtssicherheit
(BVerfGE 122, 190 [203] zum Thema Erschöpfung des Rechtswegs und Gegenvorstellung
für gerichtliche Entscheidungen, die - “ungeachtet etwaiger Rechtsbehelfe“ - nicht angegriffen bzw. abgeändert werden können) ist oft begründet worden, weshalb ein Belasteter
eine getroffene Entscheidung weiterhin hinnehmen muss (nachfolgend (3)).
Freilich dürfte es sich für Rechts- bzw. Gesetzesunterworfene meist günstig auswirken,
wenn die Frage bejahend zu beantworten ist, ob durch einen Gesetzgeber gegen das Verfassungsgebot der Einfachheit (einer) Norm verstoßen worden ist, welches aus dem
Rechtsstaatsgebot allgemein (und speziell wohl aus dem Verfassungsgebot der Rechtssicherheit) abgeleitet wird (BVerfGE 99, 280 [290]; dieses Gebot scheint wenig bekannt zu
sein, woraus folgt, dass (vielleicht unbewusst) oft hiergegen verstoßen worden sein dürfte
(im vereinigungsbedingten Recht sind bzw. waren Normen enthalten, die bspw. mit dem
folgenden Norm-Aufbau aufwarten: § ... a, Abs. ... a, Satz ... a).
Brunn - Kapitel B.III.2.
Seite 127
(1) “Verlässlichkeit der Rechtsordnung“
Die - den Gebrauch der Freiheitsrechts “fundierende“ - Rechtssicherheit wird in der Regel mit der Bindung der Staatsgewalt an das Gesetz und mit dem Vertrauensschutz in
Zusammenhang gebracht (BVerfGE 95, 96 [130]). Sie gilt als wesentlicher Bestandteil
des Rechtsstaatsprinzips (BVerfGE 7, 194 [196]; vgl. auch BVerfGE 13, 261 [271]).
Rechtssicherheit (und Vertrauensschutz) ist in wesentlichen Teilen identisch mit der “Verlässlichkeit der Rechtsordnung“ (BVerfGE 135, 1 [21]), die wesentliche Voraussetzung für
Freiheit ist, d.h. für die Selbstbestimmung über den eigenen Lebensentwurf und seinen
Vollzug (BVerfGE 133, 143 [158]).
Insbesondere zieht die Rechtssicherheit (in Verbindung mit dem Vertrauensschutz) allen
Hoheitsakten, die belastend in verfassungsmäßig verbürgte Rechtsstellungen eingreifen,
enge Grenzen (BVerfGE 67, 1 [14 f.]).
(2) Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit (Verbot der Anknüpfung neuer Lasten an
alte Vorgänge; “Erschütterung“ von Vertrauen vornehmlich durch Rechtsprechung)
Das Rechtsstaatsprinzip kann unter bestimmten Umständen Rechtssicherheit sogar
dann bieten, wenn gerade keine Regelungen bestehen, die Anlass zu spezifischem
Vertrauen geben, oder wenn Umstände einem solchen Vertrauen sogar entgegenstehen.
(2a) Unzulässigkeit der Auferlegung von Lasten in Anknüpfung an abgeschlossene Vorgänge
In seiner Ausprägung als Gebot der Belastungsklarheit und -vorhersehbarkeit kann es
davor schützen , dass lange zurückliegende, in tatsächlicher Hinsicht abgeschlossene Vorgänge unbegrenzt zur Anknüpfung neuer Lasten herangezogen werden können, selbst
wenn sie damals oder unmittelbar danach in dieser Weise hätten geregelt werden können; als Elemente des Rechtsstaatsprinzips sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz
eng miteinander verbunden, da sie gleichermaßen die Verlässlichkeit der Rechtsordnung
gewährleisten (BVerfGE 133, 143 [158 f.]).
(2b) Vertrauensenttäuschung durch rückwirkende Rechte-Beseitigung
Im Regelfall schützt das Rechtsstaatsprinzip in Form der Rechtssicherheit die rechtsunterworfenen Bürger freilich davor, durch die rückwirkende Beseitigung erworbener
Rechte in ihrem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden
(BVerfGE 126, 286 [313]; dort auch zum Vertrauen in den Fortbestand eines Gesetzes,
welches entweder durch die rückwirkende Feststellung seiner Nichtigkeit durch das Bundesverfassungsgericht oder seiner Nichtanwendbarkeit durch den Europäischen Gerichtshof in Wegfall geraten ist; vgl. darüber hinaus zum - freilich lediglich eingeschränkten Vertrauen in die höchstrichterliche Rechtsprechung BVerfGE 122, 248 [267 ff.], BVerfGE
126, 369 [395] “Die höchstrichterliche Rechtsprechung ist nicht Gesetzesrecht und erzeugt keine damit vergleichbare Rechtsbindung.“ sowie BVerfGE 131, 20 [42]; dort auch
zu “gefestigter und langjähriger Rechtsprechung“).
(3) Bestands- und Rechtskraft (Rechtsfrieden und Rechtssicherheit)
Während für das Gebot der materialen Gerechtigkeit (wohl) hauptsächlich die Fälle
des Wiederaufgreifens im Vordergrund stehen (vorstehend b)aa)), spielt hinsichtlich der
Rechtssicherheit die Rechts- bzw. Bestandskraft von Rechtsakten eine große Rolle:
Brunn - Kapitel B.III.2.
Seite 128
(3a) Materielle Rechtskraft
Was zunächst die materielle Rechtskraft anbelangt, so ist es ihre Funktion , durch die
Maßgeblichkeit und Rechtsbeständigkeit des Inhalts der Entscheidung über den Streitgegenstand für die Beteiligten und die Bindung der öffentlichen Gewalt an die Entscheidung
die Rechtslage verbindlich zu klären und damit dem Rechtsfrieden zwischen den Beteiligten zu dienen, ihnen insbesondere zu ermöglichen, ihr Verhalten gemäß dieser Rechtslage
einzurichten (BVerfGE 47, 146 [161]).
Rechtsfrieden und Rechtssicherheit sind von so zentraler Bedeutung für die Rechtsstaatlichkeit, dass um ihretwillen die Möglichkeit einer im Einzelfall vielleicht unrichtigen
Entscheidung in Kauf genommen werden muss, und eine Ausnahme von dieser Regel
kann (nur) dann gerechtfertigt sein, wenn besonders zwingende und schwerwiegende, den
Erwägungen der Rechtssicherheit übergeordnete Gründe dazu Anlass geben (BVerfGE 2,
380 [403 ff., 405]); vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen wirkt diese “Zementierung“ heute eher fragwürdig.
Beim Vorliegen solcher Gründe dürfte (wohl) - entgegen Andeutungen in der Entscheidung BVerfGE 72, 302 (328) - auch der Gesetzgeber (ohne Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz bzw. andere Verfassungsgrundsätze) in bereits rechtskräftig entschiedene Fälle eingreifen; entscheidend ist auch hier das Maß des schutzwürdigen Vertrauens
(insbesondere des Prozessgegners).
(3b) Bestandskraft
Entsprechendes gilt für die Bestandskraft von Verwaltungsakten. Die Fristen für Widerspruch und Klage in Bezug auf Verwaltungsakte sind ebenso Instrumente zur Gewährleistung von Rechtssicherheit wie die Fristen für Rechtsmittel gegen gerichtliche
Entscheidungen (BVerfGE 60, 253 [270]). Dem Grundgesetz ist folglich keine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt zu entnehmen, rechtswidrig belastende und rechtswidrig
begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft
von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben oder abzuändern (BVerfGE 117, 302 [315]; im Einzelfall kann dieser Grundsatz zu bedrückenden Ergebnissen
führen).
Freilich dürfen Verwaltungsbehörden Verwaltungsakte auch nach deren Unanfechtbarkeit zugunsten der Betroffenen ergänzen - und wohl auch aufheben - (BVerfGE 27, 297
[305 f.]).
(3c) Kein Vertrauensschutz des “missbräuchlich“ Handelnden
In der Regel keinen Bestandsschutz gewährt das Recht indessen dem missbräuchlich
Handelnden für Rechtspositionen, die er im Widerspruch zum geltenden Recht durch
Täuschung oder noch schwerwiegendere Missbräuche erwirkt hat, sondern ermöglicht
es, mindestens innerhalb gewisser Fristen den Erwerb der Rechtsposition rückgängig zu
machen (BVerfGE 116, 24 [49 f.]).
(4) Fristen und Rechtsbehelfsklarheit
Was allgemein Fristen (vgl. BVerfGE 102, 254 [295] zur Fristberechnung) und deren
Einhaltung anbelangt, müssen sie - als formale Ordnungsvorschriften, die als “jus strictum“ allein der Rechtssicherheit dienen - aus dem Gesetzestext sofort, eindeutig und klar
erkennbar sein und können nicht erst aus Sinn und Zusammenhang eines Gesetzes durch
Brunn - Kapitel B.III.3.
Seite 129
ausdehnende und vielleicht sogar überraschende Auslegung gefunden werden (BVerfGE
4, 31 [37]).
(4a) Verbot der unangemessenen Kürze von Fristen
Obgleich Fristen nicht unangemessen kurz sein dürfen, können u.U. auch einwöchige
Fristen zulässig sein (BVerfGE 77, 275 [285 f.]).
(4b) Rechtsmittelklarheit
Namentlich im gerichtlichen Verfahren gilt das Postulat der Rechtsmittelklarheit . Das
rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns
führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen.
(4c) Rechtsbehelfsbelehrungen
Sind die Formerfordernisse so kompliziert und schwer zu erfassen, dass nicht erwartet werden kann, der Rechtschutzsuchende werde sich in zumutbarer Weise darüber Aufklärung
verschaffen können, muss die Rechtsordnung zumindest für eine das Defizit ausgleichende
Rechtsmittelbelehrung sorgen. Diese kann aber zuverlässig nur erteilt werden, wenn die
Zulässigkeitsvoraussetzungen des jeweiligen Rechtsbehelfs in der Rechtsordnung geregelt
sind (BVerfGE 107, 395 [416 f.]).
dd) Gesetzesbindung
Die wesentlichen Grundsätze zur Gesetzesbindung sind in anderem Zusammenhang
(D.V.3.d) (vgl. S. 343) ) dargelegt.
ee) Vertrauensschutz (Einzelfälle)
Außerhalb der Materie der Rückwirkung von Gesetzen (nachfolgend 3. bis 7.) hat der
Vertrauensschutz (zusammenfassend: BVerfGE 135, 1 [21 ff.] sowie BVerfGE 135, 1 [29,
35 ff.] beachtenswerte abweichende Meinung) keine große Bedeutung:
Während sich dem Rechtsstaatsprinzip keine bestimmten Aussagen dazu entnehmen lassen, in welchem Verhältnis für die Verkündung einer Rechtsnorm ausreichend sein kann,
sie nicht in einem gedruckten Publikumsorgan zu veröffentlichen (sondern nur auf einer
Dienststelle zu jedermanns Einsicht bereit zu halten; BVerfGE 65, 283 [291]), können
Hoheitsakte - ein Hauptanwendungsfall hierfür sind Verkehrszeichen - erst dann gegenüber dem Bürger Rechtswirkungen entfalten, wenn sie ihm persönlich oder in ordnungsgemäßer Form öffentlich bekannt gemacht worden sind, was aus den Prinzipien der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes folgt (BVerfGE 84, 133 [159]).
Im Übrigen hat sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Vertrauensschutz u.a. befasst
im Zusammenhang mit der Ablehnung einer Auslieferung durch die Bundesregierung
(BVerfGE 50, 244 [249 f.]), mit dem Vertrauen des Bürgers in die Verfassungsmäßigkeit
eines Gesetzes (BVerfGE 53, 115 [128 ff.]) sowie mit (fehlendem) Vertrauen auf mangelnde Vollstreckbarkeit oder Vollstreckungshindernisse (BVerfGE 63, 343 [364 f.] “Ein
Vertrauen darauf, dass materielles Recht nicht durchgesetzt werde, ist grundsätzlich nicht
geschützt.“).
Brunn - Kapitel B.III.3.
Seite 130
3. Die drei Begriffspaare, die zum Verständnis der Rechtsprechung
erforderlich sind
[1] Möglicherweise wird man zukünftig von vier Begriffspaaren ausgehen müssen, nämlich von - nimmt man die Entscheidung BVerfGE 135, 1 (14 ff.) zum Maßstab, wo von
dieser Unterscheidung im Wesentlichen die Frage der Zulässigkeit/Unzulässigkeit einer
echten Rückwirkung abhing (kritisch BVerfGE 135, 1 [29 ff.] abweichende Meinung) der Unterscheidung “konstitutive“ bzw. “deklaratorische“ Wirkung einer nachträglichen
(rückwirkenden) Rechtsänderung:
Während bis zur genannten Entscheidung (fehlendes) Vertrauen in den Bestand des
alten Rechts für sowohl “echte“ als auch “unechte“ Rückwirkungen als letztlich entscheidendes Merkmal zu begreifen war, dürften nunmehr bei echter Rückwirkung mit der Bejahung der konstitutiven Wirkung einer Änderung im Wesentlichen “die Würfel gefallen“
sein, sieht man von wenigen Fällen besonderer - und deswegen korrekturbedürftiger Unklarheit ab (a.a.O. [22 ff., 24] “zusätzliche qualifizierende Umstände“; vgl. auch a.a.O.
[41 ff.] “grundlegende Umwertung der bisherigen Maßstäbe“ [47] “Irrweg“). Im Ansatz
gilt jedoch unverändert:
[2] Das Bundesverfassungsgericht unterscheidet bei rückwirkenden Gesetzen in ständiger
Rechtsprechung zwischen Gesetzen mit echter Rückwirkung, die grundsätzlich nicht mit
der Verfassung vereinbar sind, und solchen mit unechter Rückwirkung, die grundsätzlich
zulässig sind.
Eine Rechtsnorm entfaltet echte Rückwirkung, wenn sie nachträglich in einen abgeschlossenen Sachverhalt ändernd eingreift. Dies ist insbesondere der Fall, wenn ihre Rechtsfolge
mit belastender Wirkung schon vor dem Zeitpunkt ihrer Verkündung für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten soll (“Rückbewirkung von Rechtsfolgen“; BVerfGE 135, 1
[13]; dort auch zum Sonderfall des Steuerrechts).
a) Die Unterscheidung zwischen dem zeitlichen und dem sachlichen
Anwendungsbereich einer Norm
Der zeitliche Anwendungsbereich einer Norm bestimmt, in welchem Zeitpunkt die
Rechtsfolgen einer gesetzlichen Regelung eintreten sollen. Der sachliche Anwendungsbereich einer Norm wird durch ihre Tatbestandsmerkmale bestimmt (BVerfGE 97, 67
[78 f.]).
b) Die Unterscheidung zwischen der Rückbewirkung von Rechtsfolgen und
der tatbestandlichen Rückanknüpfung
Eine Rechtsnorm entfaltet Rückwirkung, wenn der Beginn ihres zeitlichen Anwendungsbereichs auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem die
Norm gültig geworden ist.
aa) Rückbewirkung bzw. retroaktive Rückwirkung
Die Anordnung, eine Rechtsfolge solle schon für einen vor dem Zeitpunkt der Verkündung
der Norm liegenden Zeitraum eintreten (Rückbewirkung von Rechtsfolgen, “echte“ Rückwirkung; BVerfGE 135, 1 [13]), ist grundsätzlich - ebenso wie die nachfolgend behandelte,
insoweit vom Bundesverfassungsgericht als gleichermaßen problematisch angesehene retroaktive Rückwirkung (BVerfGE 126, 369 [391] “oder“) - unzulässig.
Brunn - Kapitel B.III.4.
Seite 131
bb) Tatbestandliche Rückanknüpfung
Demgegenüber betrifft die tatbestandliche Rückanknüpfung (“unechte“ Rückwirkung)
nicht den zeitlichen, sondern den sachlichen Anwendungsbereich einer Norm. Die
Rechtsfolgen eines Gesetzes treten erst nach Verkündung der Norm ein, deren Tatbestand
erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung “ins Werk gesetzt“ worden sind
(BVerfGE 97, 67 [78 f.]; vgl. auch BVerfGE 131, 20 [36 f.]).
c) Die Unterscheidung zwischen den “echten“ und “unechten“
Rückwirkungen (und damit zwischen “abgewickelten“ und den noch nicht
abgeschlossenen Sachverhalten und Rechtsbeziehungen)
Echte (retroaktive) Rückwirkung eines Gesetzes liegt vor, wenn das Gesetz nachträglich
ändernd in “abgewickelte“, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift (grundlegend: BVerfGE 11, 139 [145 f.]; vgl. auch BVerfGE 95, 64 [86 f.] sowie BVerfGE 132,
302 [318]).
aa) Eingriffe nach Anspruchsentstehung (Tatbestandsverwirklichung)
Dabei ist ein Tatbestand bei (früheren) Rechtssätzen, die unmittelbar Rechtsansprüche
einräumen, nicht erst abgewickelt, wenn ein Anspruch durch Bescheid (bzw. Urteil)
zuerkannt wird, der Anspruch entsteht vielmehr schon mit der Verwirklichung der
(aller) gesetzlichen Tatbestandsmerkmale ; es genügt daher für die Annahme echter
Rückwirkung in formaler Hinsicht, dass der Gesetzgeber in Sachverhalte eingreift, die
vor der Gesetzesverkündung die Voraussetzungen des bisher geltenden Anspruchstatbestandes erfüllten (grundlegend: BVerfGE 30, 367 [386 f.]; vgl. auch BVerfGE 126, 369
[391]).
bb) Nachträgliche “Entwertung“ von Rechtspositionen (unechte Rückwirkung)
Demgegenüber liegt eine - grundsätzlich zulässige - unechte Rückwirkung vor, wenn eine
Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen
für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich
entwertet (BVerfGE 95, 64 [86 f.]; vgl. auch BVerfGE 135, 1 [13]).
cc) Entscheidend: Vorliegende “Regelung“
Schlagwortartig (ähnlich BVerfGE 127, 1 [19 f.]) ließe sich vielleicht mit guten Gründen
sagen, dass entscheidend ist, ob ein Sachverhalt (Tatbestand, Rechtsverhältnis) entweder bereits einmal (abschließend) geregelt war oder nicht; war er es, darf er nur
unter besonderen Voraussetzungen neu geregelt werden, war er es (noch) nicht, unter
erleichterten.
d) Fehlen schutzwürdigen betätigten Vertrauens und Offenbleiben einer
echten bzw. unechten Rückwirkung
Eine genauere Zuordnung zu den vorbezeichneten Merkmalen kann offenbleiben, wenn es
in jedem Fall an dem erforderlichen schutzwürdigen betätigten Vertrauen fehlt, welches
durch die Neuregelung hat enttäuscht werden können (BVerfGE 123, 111 [129]).
Brunn - Kapitel B.III.4.
Seite 132
4. Der gesetzgeberische Eingriff in abgewickelte Sachverhalte bzw.
Rechtsverhältnisse (“echte Rückwirkung“)
Die Verfassungsmäßigkeit eines rückwirkenden Gesetzes ist nur dann fraglich, wenn es
sich um ein den Bürger belastendes Gesetz handelt.
a) Grundsatz und Ausnahmen
Das grundsätzliche Verbot echt rückwirkender belastender Gesetze beruht auf den Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
aa) Grundsatz
Es schützt das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung
des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen
Rechte.
(1) Freiheitsgefährdung durch eine Rückwirkung
Es würde die Betroffenen in ihrer Freiheit erheblich gefährden, dürfte die öffentliche Gewalt an ihr Verhalten oder an sie betreffende Umstände ohne Weiteres im Nachhinein
belastendere Rechtsfolgen knüpfen, als sie zum Zeitpunkt ihres rechtserheblichen Verhaltens galten. Ausgehend hiervon sind Gesetze mit echter Rückwirkung grundsätzlich
nicht mit der Verfassung vereinbar.
(2) Besonderes Rechtfertigungsbedürfnis für eine Rückwirkung
Wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines der Vergangenheit zugehörigen Verhaltens
gleichwohl nachträglich belastend ändert , bedarf dies einer besonderen Rechtfertigung
vor dem Rechtsstaatsprinzip und den Grundrechten des Grundgesetzes. Die Grundrechte
wie auch das Rechtsstaatsprinzip garantieren im Zusammenwirken die Verlässlichkeit der
Rechtsordnung als wesentliche Voraussetzung für die Selbstbestimmung über den eigenen
Lebensentwurf und damit als eine Grundbedingung freiheitlicher Verfassungen.
bb) Ausnahmen
Von diesem grundsätzlichen Verbot echt rückwirkender Gesetze bestehen jedoch Ausnahmen .
(1) Vertrauensschutz als (Grundlage und) Grenze des Rückwirkungsverbots
Das Rückwirkungsverbot findet im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen
Grund, sondern auch seine Grenze.
Es gilt nicht , soweit sich kein Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden
konnte oder ein Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt
und daher nicht schutzwürdig war. Bei den in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anerkannten, nicht abschließend definierten Fallgruppen handelt es sich
um Typisierungen ausnahmsweise fehlenden Vertrauens in eine bestehende Gesetzeslage. Für die Frage, ob mit einer rückwirkenden Änderung der Rechtslage zu rechnen war,
ist von Bedeutung, ob die bisherige Regelung bei objektiver Betrachtung geeignet war,
ein Vertrauen der betroffenen Personengruppe auf ihren Fortbestand zu begründen.
Brunn - Kapitel B.III.4.
Seite 133
(2) Fehlendes “Vertrauendürfen“ (von vornherein fragwürdiges Recht)
Eine Ausnahme vom Grundsatz der Unzulässigkeit echter Rückwirkungen ist gegeben,
wenn die Betroffenen schon im Zeitpunkt, auf den die Rückwirkung bezogen wird, nicht
auf den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung vertrauen durften, sondern mit deren
Änderung rechnen mussten.
Vertrauensschutz kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Rechtslage so
unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste, oder wenn das
bisherige Recht in einem Maße systemwidrig und unbillig war, dass ernsthafte Zweifel an
seiner Verfassungsmäßigkeit bestanden.
(3) Überragende Belange des Gemeinwohls bzw. Geringfügigkeitsvorbehalt
Der Vertrauensschutz muss ferner zurücktreten, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung
erfordern, wenn der Bürger sich nicht auf den durch eine ungültige Norm erzeugten
Rechtsschein verlassen durfte oder wenn durch die sachlich begründete rückwirkende
Gesetzesänderung kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (BVerfGE
135, 1 [20 ff.]; vgl. noch nachfolgend B.III.6.b)aa)(4) (vgl. S. 141) ).
cc) Problematische “Aufweichungen“
Wie in der abweichenden Meinung der Entscheidung BVerfGE 135, 1 dargelegt worden
ist (BVerfGE 135, 1 [29 ff., 35 ff.]), war das Bundesverfassungsgericht bis zum Jahre
2013 mit der Nichtigerklärung von Gesetzen wegen des Verbots echter Rückwirkung sehr
zurückhaltend, wie auch das nachfolgende Beispiel zeigt:
(1) Rückwirkende Anordnungen (nachträgliche Verlängerungen) von Freiheitsentziehungen
Soweit die frühere gesetzliche Zehn Jahre-Höchstfrist für Sicherungsverwahrungen nachträglich verlängert worden ist, handelt es sich nämlich hierbei um einen besonders schwerwiegenden Eingriff in das Vertrauen des betroffenen Personenkreises darauf, dass spätestens nach zehn Jahren die Freiheit wieder erlangt werden wird (gewissermaßen ein
zulässiges und wohlbegründetes “prognostisches“ - und damit bereits verfassungsrechtlich schützenswertes - Vertrauen).
Angesichts des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in das Freiheitsgrundrecht
(Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG; vgl. hierzu nachfolgend E.II.6.) ist eine entsprechende Anordnung nur nach Maßgabe strikter Verhältnismäßigkeitsprüfung und zum Schutz höchster
Verfassungsgüter zulässig.
Das hat zur Folge, dass eine rückwirkend angeordnete oder verlängerte Freiheitsentziehung durch Sicherungsverwahrung nur noch als verhältnismäßig angesehen werden kann,
wenn der gebotene Abstand zur Strafe gewahrt wird, eine hochgradige Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten aus konkreten Umständen in der Person oder dem
Verhalten des Untergebrachten abzuleiten ist und die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1
Satz 2 e) EMRK (vorstehend A.III.2.e)bb)(2) (vgl. S. 53) ) erfüllt sind.
Lediglich in solchen Ausnahmefällen kann noch von einem Überwiegen der öffentlichen
Sicherheitsinteressen ausgegangen werden (BVerfGE 128, 326 [388 ff., 399]; vgl. auch
BVerfGE 129, 37 [45 ff.] sowie BVerfGE 134, 33 [59 ff.]; dort [61] ist allerdings eine echte
Brunn - Kapitel B.III.5.
Seite 134
Rückwirkung - mit wenig überzeugender Begründung, wie nachfolgend [5. b)] dargelegt
- verneint worden).
(2) Unklare Rechtslage im Steuerrecht
Demgegenüber erscheint die Strenge der Entscheidung BVerfGE 135, 1 im Hinblick auf
das Vermögen des Gesetzgebers, eine unklare Rechtslage im Steuerrecht zugunsten der
Allgemeinheit ohne gravierende Folgen nachträglich “zurechtrücken“ zu dürfen, als geradezu unverhältnismäßig (beachtliche Kritik in BVerfGE 135, 1 [29 ff.], abweichende
Meinung).
b) Rechtfertigungs- bzw. Begründungspflicht als Folge einer echten
Rückwirkung
Vor dem Rechtsstaatsprinzip bedarf es - wie bereits unter a) aa) (2) dargelegt - besonderer Rechtfertigung, wenn der Gesetzgeber die Rechtsfolge eines in der Vergangenheit
liegenden Verhaltens nachträglich belastend ändert (BVerfGE 97, 67 [78 f.]; vgl. auch
BVerfGE 127, 1 [16]). Denn das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit
der unter der Geltung des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer
Grundlage erworbenen Rechte wird geschützt (BVerfGE 132, 302 [317]).
Nachfolgend (5. bis 7.) werden Fallgruppen zulässiger (begründeter) Rückwirkung vorgestellt.
c) Sonderfall des Steuerrechts
Zwar liegt auch im Steuerrecht eine echte Rückwirkung vor, wenn der Gesetzgeber eine
bereits entstandene Steuerschuld nachträglich abändert. Aber für die meisten Steuerarten gilt, dass eine Steuerschuld erst entstanden ist mit dem Ablauf eines Kalenderjahres, nämlich mit dem Ablauf des Veranlagungszeitraums bzw. des Erhebungszeitraums
(BVerfGE 132, 302 [319] sowie BVerfGE 135, 1 [13 f.]), weswegen regelmäßig nur eine
unechte Rückwirkung vorliegt, die indessen ebenfalls verfassungsrechtlich zweifelhaft sein
kann (nachfolgend 5. c) cc) und 6. b) cc) (5)).
5. Der Eingriff in noch nicht abgeschlossene Verhältnisse
Eine unechte Rückwirkung liegt - wie unter 3. c) bereits dargestellt - vor, wenn eine Norm
auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die
Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition entwertet, so wenn
belastende Rechtsfolgen einer Norm erst nach ihrer Verkündung eintreten, tatbestandlich
aber von einem bereits ins Werk gesetzten Sachverhalt ausgelöst werden (“tatbestandliche
Rückanknüpfung“). Sie ist grundsätzlich zulässig .
a) Grenzen einer grundsätzlich zulässigen Rückwirkung
Allerdings können sich aus dem Grundsatz des Vertrauensschutzes und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip Grenzen der Zulässigkeit ergeben. Diese Grenzen sind erst überschritten, wenn die vom Gesetzgeber angeordnete unechte Rückwirkung zur Erreichung des
Gesetzeszwecks nicht geeignet oder erforderlich ist oder wenn die Bestandsinteressen
Brunn - Kapitel B.III.5.
Seite 135
der Betroffenen die Veränderungsgründe des Gesetzgebers überwiegen (BVerfGE 132,
302 [318]).
Umgekehrt gilt, dass eine unechte Rückwirkung - erstens - zur Förderung des Gesetzeszwecks geeignet und erforderlich sein muss und - zweitens - bei einer Gesamtabwägung
zwischen dem Gewicht und der Dringlichkeit der die Rechtsänderung rechtfertigenden
Gründe die “Grenze des Zumutbaren gewahrt bleibt“ (BVerfGE 136, 127 [148 f.]).
b) Beispielfälle für (zulässige und unzulässige) unechte Rückwirkungen
Die Erfahrung lehrt, dass selbst erfahrene Rechtsanwender bei den im vorliegenden Zusammenhang vorzunehmenden Zuordnungen ins Grübeln geraten können; hilfreich können dann (leicht nachvollziehbare) Beispielsfälle sein.
aa) Unzweifelhaft noch nicht abgeschlossener Beispielsfall
Einen nachvollziehbaren Beispielsfall für einen Eingriff in ein noch nicht endgültig abgeschlossenes Sach- und Rechtsverhältnis stellt die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (mit
Wirkung zum 1.1.2005) dar. Diese Maßnahme hat keine echte Rückwirkung entfaltet.
Der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe in früheren, bereits vollständig abgeschlossenen Bewilligungsabschnitten blieb unberührt. Es fand lediglich eine Auswirkung auf zukünftige
Bewilligungsabschnitte statt.
Die Abschaffung bewirkte auch keine unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung. Der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe hatte durch die Rechtsordnung keine
Ausgestaltung erfahren, die über das Ende des jeweiligen Bewilligungsabschnitts hinaus
eine verfestigte Anspruchsposition begründete. Die Arbeitslosenhilfe wurde vielmehr
abschnittsweise und nur nach einer Neuprüfung der Anspruchsvoraussetzungen bewilligt
(BVerfGE 128, 90 [105 ff.]).
bb) Bezweifelbar noch nicht abgeschlossener Beispielsfall (Therapieunterbringungsgesetz)
Weniger nachvollziehbar ist die Begründung dafür, dass das Therapieunterbringungsgesetz - welches den Zweck verfolgt, Straftäter, deren Gefährlichkeit für hochrangige
Rechtsgüter fortbesteht , im Anschluss an eine verbüßte Strafhaft zum Schutz der Allgemeinheit sicher unterzubringen (BVerfGE 134, 33 [57]) - mit seinen Freiheitsentziehungen, die hinsichtlich der Eingriffsintensität einer (zumal zunächst unbefristeten) Sicherungsverwahrung entsprechen und auf einer “aktuellen“ Gefährlichkeitsprognose basieren
müssen, das Vertrauen der Betroffenen nicht in “echter“ Weise rückwirkend zerstöre
(a.a.O. [61]; zwar greife die (neue) Rechtsfolge Unterbringung erst nach Verkündung
des Gesetzes ein, sie werde aber tatbestandlich von einem vor diesem Zeitpunkt liegenden rechtserheblichen Verhalten - was das sein kann, wird leider nicht näher dargelegt ausgelöst).
(1) Kritik
Diese Begründung “überspielt“ den Umstand, dass das (wohl) auslösende Element - die
(auf der Gefährlichkeit des Täters beruhende) Straftat (samt Schuldspruch) - bereits
einmal - mit der Rechtsfolge einer (ausdrücklich) zeitlich begrenzten Freiheitsentziehung
- abschließend (auf gesetzlicher Grundlage) geregelt war (zum Grundsatz BVerfGE
Brunn - Kapitel B.III.5.
Seite 136
126, 369 [391] “oder“) und deswegen auf neuer gesetzlicher Grundlage (und aufgrund
aktueller Tatsachengrundlage) neu (anders) geregelt wird im Sinne einer weiteren
(zusätzlichen) Freiheitsentziehung.
Auch soweit das vor der Verkündung des neuen Gesetzes liegende “rechtserhebliche“
Verhalten in einem andauernden “Gefährlich-Sein“ zu sehen sein sollte, war es durch
die auf dem Schuldspruch beruhende Strafhaft gewissermaßen “abgegolten“, weswegen
ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG (F.VII.) bzw. Art. 104 Abs. 1 GG (F.IX.) in Rede
stehen dürfte.
Schlagwortartig: Die “Klammer“ des Strafrechts und der darauf beruhenden Verurteilung zur begrenzten Freiheitsentziehung “verklammert“ Straftat und “Gefährlichsein“
zu einem (abschließend geregelten) Sachverhalt (anders aber bereits BVerfGE 109, 133
[184]).
(2) Verfassungsrechtlich zulässiger “Ausweg“ (Annahme eines zulässigen Präventivgesetzes)
Sieht man es hingegen so, dass das (immer noch oder wieder vorhandene) “GefährlichSein“ des (früheren) Straftäters - welches mit ganz erheblichen, unmittelbar drohenden
Gefahren für Höchstwerte der Verfassung (Leib und Leben) verbunden ist -, als neuer
(vom strafrechtlich abschließend “geregelten“) abtrennbarer Sachverhalt zu bewerten
ist, so ist eine bereits im Ansatz verfassungsgemäße Problemlösung nur darin zu sehen,
dass dieser neue Sachverhalt (auch) neu geregelt wird; auf der Grundlage eines (wohl)
polizeilichen (gefahrenabwehrenden bzw. straftatenverhütenden) Präventivgesetzes darf
die Freiheit des “Gefährlich-Seienden“ präventiv entzogen werden.
Freilich müsste auch ein solches Gesetz allen Anforderungen des Art. 104 GG entsprechen
und müsste (wohl) aus Kompetenzgründen ein Landesgesetz sein (welches aber durchaus bundeseinheitlich gestaltet sein könnte: nachfolgend C.IV.1.a)bb) (vgl. S. 180)),
weil die Strafrechtskompetenz des Bundes (wohl) nicht (mehr) für die Regelung solcher neuen Sachverhalte hinreicht; Rückwirkungsprobleme entstünden - anders als beim
verfassungsgerichtlichen Ansatz - jedenfalls (so gut wie) keine (vgl. noch nachstehend
7.).
c) Bestehende Dauerrechtsverhältnisse als typische Anwendungsfälle der
(zulässigen echten sowie) unechten Rückwirkung
Im Gegensatz zu den (tatsächlich und rechtlich) “abgewickelten“ Sachverhalten und
Rechtsverhältnissen lässt sich für die im Folgenden - beispielhaft - abgehandelten Fallgruppen noch nicht sagen, dass sie bereits abschließend geregelt waren. Deswegen sind
gesetzgeberische “Eingriffe“ regelmäßig zulässig.
aa) Grundsatz
Anpassungen eines in der Vergangenheit begründeten und noch bestehenden Rechtsverhältnisses für die Zukunft unterliegen weniger strengen Beschränkungen als sog. echte
Rückwirkungen. Sie sind zulässig, wenn die Interessen der Allgemeinheit, die mit der Regelung verfolgt werden, das Vertrauen des Einzelnen auf die Fortgeltung der bestehenden
Rechtslage überwiegen (BVerfGE 88, 384 [406 f.]; vgl. auch BVerfGE 127, 61 [76]).
Brunn - Kapitel B.III.6.
Seite 137
bb) “Betätigtes Vertrauen“ (“Ins-Werk-Setzen“) als maßgebliches Kriterium für die
Zulässigkeit/ Unzulässigkeit eines Gesetzes mit tatbestandlicher Rückanknüpfung
Der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz bei Gesetzen mit tatbestandlicher Rückanknüpfung - “rückanknüpfenden Regelungen“ (BVerfGE 76, 256 [356]) - geht jedenfalls
nicht so weit, den Staatsbürger vor jeder Enttäuschung zu bewahren.
Schutzwürdig ist von Verfassungs wegen überhaupt nur das betätigte Vertrauen, also die
“Vertrauensinvestition“, die zur Erlangung einer Rechtsposition geführt hat; der durch
die Neuregelung verursachte Vertrauensschaden muss - im Verhältnis zur Bedeutung des
gesetzgeberischen Anliegens - hinreichend gewichtig sein (BVerfGE 75, 246 [280]; vgl.
auch BVerfGE 109, 133 [182] sowie BVerfGE 132, 302 [320] die “Grenze der Zumutbarkeit“ muss gewahrt bleiben).
cc) Typische Materien
Die in der Folge erwähnten Materien stellen nur einen kleinen Ausschnitt der vom Bundesverfassungsgericht beurteilten Dauerrechtsverhältnisse und entsprechenden gesetzgeberischen Maßnahmen dar; das Steuerrecht dürfte die am meisten umkämpfte Materie
sein.
(1) Sozialrecht
Auch und gerade im Sozialrecht sind zwar gesetzgeberische “Anpassungen“ zulässig;
aber oft ist auch der Sozialstaatsgrundsatz (D.IV.) zu berücksichtigen (BVerfGE 40, 65
[76] für erworbenen Krankenversicherungsschutz, bejaht; vgl. auch BVerfGE 69, 272 [309
f.] für Rentenversicherung, freilich im Einzelfall verneint, sowie BVerfGE 103, 392 [404]
für gesetzliche Krankenversicherung, ebenfalls im Ergebnis verneint).
(2) Beamtenrecht
Auch im Beamtenrecht (nachfolgend D.VII.2.) kann ein Vertrauen auf einen Fortbestand
eines (gesetzlich begründeten) Dauerrechtsverhältnisses schutzbedürftig sein (BVerfGE
31, 94 [99]).
(3) Steuerrecht
Sogar im Steuerrecht kann schutzwürdiges Vertrauen entstanden sein, auch wenn der
Gesetzgeber noch während des Veranlagungszeitraums (vorstehend 4. c.) die Rechtslage
verändert (BVerfGE 127, 1 [19 f.]; vgl. auch BVerfGE 127, 31 [48] sowie BVerfGE 127,
61 [77]).
6. Fehlendes schutzwürdiges Vertrauen als - ausnahmsweise rechtfertigender Grund sogar für “echte“ Rückwirkung (Eingriffe in
“abgewickelte“ Sachverhalte)
[1] Art. 20 Abs. 3 GG schützt in den hier in Rede stehenden Varianten den Einzelnen
(auch Ausländer, BVerfGE 30, 367 [386]) davor, dass ein vom Gesetzgeber des Grundgesetzes (Rechtspositionen aus der DDR-Zeit sind weniger schutzwürdig: BVerfGE 101,
239 [262 f.]) bereits früher geregelter Sachverhalt nachteilig (BVerfGE 105, 17 [44 f.]
Brunn - Kapitel B.III.6.
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allerdings für Steuerrecht) anders (neu) geregelt wird, dass insbesondere eine entstandene Rechtsposition (ein Anspruch, ein sog. subjektiv-öffentliches Recht) nicht erhalten
bleibt und in Wegfall gerät (Grundsatz der Aufrechterhaltung materieller und verfahrensrechtlicher Rechtspositionen: BVerfGE 63, 343 [359] sowie BVerfGE 87, 48 [62 ff.];
grundlegend: BVerfGE 30, 367 [386 f.]).
Denn das Vertrauen in die Verlässlichkeit und Berechenbarkeit der unter der Geltung
des Grundgesetzes geschaffenen Rechtsordnung und der auf ihrer Grundlage erworbenen
Rechte wird geschützt (BVerfGE 132, 302 [317]).
[2] Um einen solchen Eingriff des Gesetzgebers (oder auch des Verordnungsgebers, BVerfGE 45, 142 [174]) gleichwohl rechtfertigen zu können, muss entweder das Vertrauen - aus
Zeitpunkts- (nachfolgend a)) oder Sachgründen (nachfolgend b)) - weniger schutzwürdig sein (BVerfGE 122, 374 [394]), oder die Gründe für einen Eingriff müssen besonders
gewichtig sein (nachfolgend 7.):
a) Denkbare Zeitpunkte für den Verlust eines Vertrauensschutzes
Jede Festlegung eines für das Ende eines schutzwürdigen Vertrauens in die bisherige
Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkts stellt notwendig einen Ausgleich zwischen gegenläufigen Interessen dar.
[1] Bei diesen handelt es sich zum einen um das - rechtsstaatliche, aber auch aus dem
Inbegriff der Grundrechte und letztlich aus dem Freiheitsverständnis entspringende Interesse des Einzelnen , dass er sich eine Neuregelung erst entgegenhalten lassen muss,
wenn sie endgültig verbindlich geworden ist und er sich über ihren vollständigen Inhalt
genau unterrichten konnte. Bestmögliche Lösung aus dieser Sicht wäre das Fortbestehen
des Vertrauensschutzes, bis die neue Regelung verkündet worden ist.
[2] Diesem Interesse steht das staatliche Interesse gegenüber, dass eine vom Gesetzgeber
für geboten erachtete Neuregelung alsbald “greift“ und so die zeitlichen Möglichkeiten
weitgehend eingeschränkt werden, sie zu umgehen und damit den angestrebten (politischen) Erfolg zu mindern. Diesem Zweck diente es am besten, den Vertrauensschutz
spätestens mit der Einbringung des Gesetzentwurfs der Neuregelung entfallen zu lassen
(grundlegend: BVerfGE 72, 200 [261]; vgl. auch BVerfGE 131, 47 [61]):
aa) Grundsätze der Abstellung auf den endgültigen Gesetzesbeschluss des Bundestags
und/oder auf den Zeitpunkt, zu dem ernsthaft mit einer Neuregelung zu rechnen ist
In dem vorbezeichneten Spannungsfeld ist es der verhältnismäßig beste Ausgleich, auf
den Zeitpunkt des - vorbehaltlich neuerlicher Beschlussfassung gem. Art. 77 Abs. 2 bis 4
GG (hierzu C.II.2. (vgl. S. 154) ) - Gesetzesbeschlusses des Bundestages abzustellen. Er
setzt keines der beiden gegenläufigen Interessen über Gebühr hintan und läuft nicht ihren
jeweiligen verfassungsrechtlichen Verankerungen zuwider (BVerfGE 72, 200 [261 f.]):
(1) Gesetzesbeschluss des Bundestags als Beseitigung des wesentlichen Unsicherheitsfaktors
Weil nämlich mit dem Gesetzesbeschluss des Bundestages der wesentliche - wenn auch
nicht der einzige und nicht der letzte - Unsicherheitsfaktor beseitigt ist, was das “Ob“
und “Wie“ der Neuregelung angeht, ist es zum einen gerechtfertigt und geboten, den
Vertrauensschutz nicht vor dem Gesetzesbeschluss enden zu lassen, und zum anderen
auch gerechtfertigt, den Vertrauensschutz nicht erst später entfallen zu lassen.
Brunn - Kapitel B.III.6.
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(2) Vertrauensgrenze des Zeitpunkts, zu dem ernsthaft mit einer Neuregelung zu
rechnen war
Dass möglicherweise der Bundesrat zu diesem Zeitpunkt noch nicht am Zustandekommen des Gesetzes mitgewirkt hat und sich der Bundestag nochmals mit dem Gesetz
befassen muss, wenn er einen Einspruch des Bundesrats überstimmt, führt nicht zu einer
anderen Beurteilung, weil ein schutzwürdiges Vertrauen nicht erst entfällt, wenn eine Änderung der Rechtslage sicher ist, sondern schon, wenn mit einer Neuregelung ernsthaft
zu rechnen ist (BVerfGE 126, 369 [396]; vgl. auch BVerfGE 131, 20 [39]).
bb) Verkündung des Gesetzes als spätester Zeitpunkt für einen Vertrauensverlust
Spätestens mit der Verkündung (nachfolgend C.II.4. (vgl. S. 158) ), das heißt mit der
Ausgabe des ersten Stücks des Verkündungsblattes, kann das Vertrauen zerstört sein,
weil dann die Norm rechtlich existent ist (BVerfGE 127, 1 [17]).
Weil - jedenfalls in Fällen der sog. unechten Rückwirkung - auch differenzierende Lösungen denkbar sind (BVerfGE 127, 31 [59]), können freilich auch andere (frühere) Zeitpunkte
zwischen dem Gesetzesbeschluss des Bundestags und der Verkündung der Norm in Frage
kommen:
cc) Denkbare Zeitpunkte für einen Vertrauensverlust bei Anrufung des Vermittlungsausschusses
Die Zerstörung schutzwürdigen Vertrauens kann auch schon mit dem Zeitpunkt eines
Vorschlags des Vermittlungsausschusses eintreten. Das ist jedenfalls der Fall, wenn die
Annahme des Vermittlungsvorschlags nach den politischen Verhältnissen in hohem Maße
wahrscheinlich ist und der Grad geschützten Vertrauens nicht durch Dispositionsentscheidungen des Betroffenen geprägt ist.
Schutzwürdiges Vertrauen in den künftigen Bestand der bisherigen Rechtslage besteht
erst recht nicht mehr ab der Zustimmung des Bundestags zum Vermittlungsvorschlag
des Vermittlungsausschusses, weil dieser Zeitpunkt in jeder Hinsicht dem des endgültigen
Gesetzesbeschlusses des Bundestages über den Gesetzentwurf entspricht (BVerfGE 132,
302 [326]).
dd) Sonderfall des Steuerrechts und der Einbringung eines entsprechenden Gesetzentwurfs im Bundestag
Zwar sind grundsätzlich Berichte über einen Regierungsentwurf und über Arbeiten von
Parlamentsausschüssen an einem Neuregelungsgesetz noch nicht geeignet, das Vertrauen des Bürgers in den Bestand des geltenden Rechts zu zerstören (BVerfGE 14, 288
[298]). Aber gleichwohl werden mit der Einbringung eines Gesetzentwurfs im Bundestag durch ein initiativberechtigtes Organ geplante Gesetzesänderungen öffentlich. Ab
diesem Zeitpunkt sind mögliche zukünftige Gesetzesänderungen in konkreten Umrissen
allgemein vorhersehbar.
(1) Kein Vertrauen des Steuerpflichtigen auf den künftigen Fortbestand einer geltenden Gesetzeslage
Deshalb können Steuerpflichtige regelmäßig nicht mehr darauf vertrauen, das gegenwärtig geltende Recht werde auch im Folgejahr unverändert fortbestehen; es ist ihnen
Brunn - Kapitel B.III.6.
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vielmehr grundsätzlich möglich, ihre wirtschaftlichen Dispositionen durch entsprechende
Anpassungsklauseln auf mögliche zukünftige Änderungen einzustellen (BVerfGE 127, 31
[50]; vgl. auch BVerfGE 132, 302 [324]).
(2) Einzelfälle eines (zu- und unzulässigen) “Unterlaufens“ verlautbarter Absichten
Zwar stellt es grundsätzlich keinen Missbrauch dar, sondern gehört zu den legitimen
Dispositionen im grundrechtlich geschützten Bereich der Handlungsfreiheit, wenn Steuerpflichtige darum bemüht sind, die Vorteile geltenden Rechts mit Blick auf mögliche
Nachteile einer künftigen Gesetzeslage für sich zu nutzen (BVerfGE 127, 31 [60]).
Anders kann es sich aber in Sondersituationen verhalten. So darf es dem Steuerpflichtigen nach Ankündigung des Wegfalls einer für verfehlt erachteten Subvention verwehrt
werden, die Gestaltungskompetenz und den Gestaltungswillen des Gesetzgebers zu unterlaufen, etwa wenn dieser die Steuervergünstigung für Verträge entfallen lassen will, die
zwischen dem Bekanntwerden der beabsichtigten Gesetzesänderung und deren Beschluss
durch den Gesetzgeber geschlossen worden sind, deren steuererheblicher Vollzug aber erst
nach dem Gesetzesbeschluss zu erwarten ist (BVerfGE 97, 67 [81 f.]).
b) Erfordernis des “sachlich gerechtfertigten“ Vertrauens
Das Vertrauen auf die geltende Rechtslage ist nur schutzwürdig , wenn die gesetzliche
Regelung generell geeignet ist, ein Vertrauen auf ihr Fortbestehen zu begründen und
darauf gegründete Entscheidungen - insbesondere Vermögensdispositionen - herbeizuführen, die sich bei der Änderung der Rechtslage als nachteilig erweisen.
Ist darüber hinaus das Vertrauen des Bürgers auf den Fortbestand einer bestimmten (im
Vorstehenden bezeichneten) Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt und daher nicht
schutzwürdig, sind Formen rückwirkender belastender Eingriffe (ausnahmsweise) zulässig (BVerfGE 131, 20 [41]). Wie bereits erwähnt (vorstehend 4. a) bb)), findet das Rückwirkungsverbot nämlich im Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht nur seinen Grund,
sondern auch seine Grenze (BVerfGE 101, 239 [266]). Deshalb gilt im Einzelnen:
aa) Vertrauensverlustgründe in Fällen “unechter“ sowie “echter“ Rückwirkung
Die in der Folge dargestellten Fallgruppen (können, müssen aber nicht kumulativ vorliegen, sondern) rechtfertigen jede für sich die Zulässigkeit einer - sogar “echten“ - Rückwirkung (BVerfGE 45, 142 [174]).
(1) Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht und Rückwirkung
Hat ein Gemeinschaftsorgan verlautbart, welche Maßnahmen ein Mitgliedstaat (etwa zur
Abwehr einer bestehenden oder drohenden Marktstörung zufolge einer besonders erteilten
Ermächtigung) ergreifen darf, dann müssen die betroffenen Kreise damit rechnen, dass
der Mitgliedstaat - schon im Hinblick auf seine eigenen Interessen und die ihm aus dem
Gemeinschaftsvertrag erwachsenden Mitgliedschaftspflichten - die entsprechenden Maßnahmen für seinen Hoheitsbereich ergreift und dabei auch den zeitlichen Anwendungsbereich, der ihm vom Gemeinschaftsrecht her eröffnet wird, voll ausschöpft (BVerfGE 45,
142 [175]).
Brunn - Kapitel B.III.6.
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(2) Rückwirkende Ersetzung einer verfassungswidrigen Norm durch den Gesetzgeber
Der Staatsbürger kann sich zumindest nicht immer auf den durch eine ungültige Norm
erzeugten Rechtsschein verlassen. Unter Umständen kann der Gesetzgeber eine verfassungswidrige Bestimmung rückwirkend durch eine rechtlich nicht zu beanstandende
Norm ersetzen (BVerfGE 13, 261 [272]; vgl. aber auch BVerfGE 99, 68 [83]); ob es dabei
(un-)erheblich ist, ob die frühere Norm in Wahrheit nicht verfassungswidrig war, ist
schwer zu beantworten, weil immerhin ein Vertrauen in eine (bis zur Aufhebung) gültige
Vorschrift ins Feld geführt werden kann.
Auch ob die neue Norm zumindest nicht schwerwiegender (gewissermaßen als Verbot
einer “reformatio in peius“) als die alte Norm in die Rechtspositionen der Betroffenen
eingreifen darf - wie es hier vertreten wird -, ist (soweit ersichtlich) noch nicht entschieden
worden.
(3) Unredlich erworbene Rechte
Das Vertrauen in den Fortbestand unredlich erworbener Rechte ist grundsätzlich nicht
schutzwürdig (BVerfGE 101, 239 [266]).
(4) “Geringfügige“ Eingriffe
Das Vertrauen der Betroffenen auf die geltende Rechtslage bedarf auch dann nicht des
Schutzes gegenüber sachlich begründeten rückwirkenden Gesetzesänderungen, wenn dadurch kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (vgl. bereits vorstehend
B.III.4.a)bb)(3) (vgl. S. 133) ). Auch das Rechtsstaatsprinzip schützt nicht vor jeglicher
Enttäuschung.
Die gesetzliche Regelung muss nämlich - wie bereits dargelegt (b)) - generell geeignet
sein, aus dem Vertrauen auf ihr Fortbestehen heraus Entscheidungen und Dispositionen herbeizuführen oder zu beeinflussen, die sich bei der Änderung der Rechtslage als
(erheblich) nachteilig erweisen (BVerfGE 30, 367 [389]; vgl. auch BVerfGE 95, 64 [87]).
bb) Problematik der “Erwartbarkeit“, insbesondere bei unklarer und/oder verworrener
Gesetzeslage
Ob angesichts neuerer Rechtsprechung noch an früherer Rechtsprechung festzuhalten ist,
wonach ein Schutz des Vertrauens generell - wie die Rechtsprechung wohl zu verstehen
ist - bereits dann nicht gefordert ist, wenn in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der
Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, “mit einer solchen Regelung zu rechnen
war“ (BVerfGE 30, 367 [387]), muss hier dahingestellt bleiben.
(1) Die “ernsthafte“ Erwartbarkeit einer rückwirkenden Gesetzesänderung
Ernsthaft “zu rechnen“ (vorstehend a)aa); BVerfGE 126, 369 [396]) ist mit einer Gesetzesänderung vornehmlich jedenfalls dann, wenn die bisherige Rechtslage erhebliche
Anwendungs- und Auslegungsschwierigkeiten bereitet hat. Hierzu gilt neuerdings Folgendes:
Brunn - Kapitel B.III.6.
Seite 142
(2) Die “Enttäuschung“ der Erwartungen des Gesetzgebers durch Rechtsprechung
Interpretiert die (insbesondere höchstrichterliche) Rechtsprechung eine Norm anders als
der Gesetzgeber sie verstanden wissen will, so kann der Gesetzgeber zwar - im Rahmen
der Verfassung - die Rechtsprechung für die Zukunft durch ein neues Gesetz korrigieren. Will der Gesetzgeber den Interessenkonflikt zwischen ihm und der Rechtsprechung
(und damit auch zwischen ihm und den Normbetroffenen) aber rückwirkend in seinem
Sinne entscheiden, muss er die Grundsätze rückwirkender Gesetzesänderung beachten
(BVerfGE 126, 369 [392]).
Mit anderen Worten kann der Gesetzgeber den Inhalt geltenden Rechts mit Wirkung
für die Vergangenheit nur in den verfassungsrechtlichen Grenzen für eine rückwirkende
Rechtsetzung feststellen oder klarstellend präzisieren (BVerfGE 135, 1 [15]; vgl. aber die
beachtlichen Gründe der abweichenden Meinung BVerfGE 135, 1 [29, 35 ff.], wo - zu
Recht - beklagt wird, dass die Senatsentscheidung die “Obersätze von ihrer bisherigen
Einbindung an die Grundsätze des Vertrauensschutzes ablöst und sie zu für sich selbst
stehenden abstrakten Regeln verselbständigt“).
Anders ist es - zum einen - dann, wenn die Neuregelung lediglich “deklaratorischer
Art“ ist, also nur bestätigt, was von vornherein aus der ursprünglichen Norm folgte
(BVerfGE 131, 20 [37]). Das ist aber - bei Fehlen einer höchstrichterlichen Rechtsprechung
im Sinne des Gesetzgebers - bereits dann nicht mehr der Fall, wenn die Auslegung in der
Fachgerichtsbarkeit als “offen“ zu bezeichnen ist (BVerfGE 135, 1 [15 ff.]); bei Offenheit
liegt mit anderen Worten bereits ein konstitutiver Regelungsgehalt der neuen Regelung
vor (a.a.O.).
(3) Die unklare (“verworrene“) Rechtslage
Vertrauensschutz kommt - zum anderen - dann nicht in Betracht, wenn die bisherige
Rechtslage so unklar und verworren war, dass eine Klärung erwartet werden musste
. Freilich rechtfertigt allein die Auslegungsbedürftigkeit einer Norm nicht deren rückwirkende Änderung; erst wenn die Auslegungsoffenheit ein Maß erreicht, das zur Verworrenheit der Rechtslage führt, darf der Gesetzgeber eine klärende Neuregelung auf
die Vergangenheit erstrecken (BVerfGE 135, 1 [21 ff.]; dort auch dazu, dass eine solche
Verworrenheit insbesondere dann vorliegt, wenn auch unter Berücksichtigung von Wortlaut, Systematik und Normzweck - vgl. hierzu vorstehend B.II.2.a) (vgl. S. 114) - völlig
unverständlich ist, welche Bedeutung die fragliche Norm haben soll).
(4) “Wiederaufleben“ des früheren Rechts und Interpretationsbefugnis der Fachgerichtsbarkeit
Ist ein “Reparaturversuch“ des Gesetzgebers im vorstehenden Sinne misslungen, hat also
das Bundesverfassungsgericht die “klarstellende“ Norm wegen Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot aufgehoben, so obliegt es allein der Fachgerichtsbarkeit, das nunmehr
allein gültige frühere Recht auszulegen und anzuwenden (BVerfGE 135, 1 [18 ff.]; vgl.
aber auch die beachtlichen Gründe der abweichenden Meinung: BVerfGE 135, 1 [29, 32
ff.]).
Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts setzt im Übrigen voraus, dass - entweder
ausdrücklich oder der Sache nach - ein Aufhebungsbefehl bzw. Veränderungsbefehl des
neuen (“gescheiterten“) Gesetzgebers hinsichtlich des alten und zu ersetzenden Rechts
durch das Bundesverfassungsgericht “derogiert“ werden kann (was dem Gesetzgeber so
nicht möglich wäre; vorstehend B.I.2.b) (vgl. S. 101) ).
Brunn - Kapitel B.III.6.
Seite 143
cc) Entschiedene Fälle von (nicht) schutzwürdigem Vertrauen
Die folgenden Beispiele sind keineswegs immer zwingend nur der “echten“ Rückwirkung zuzuordnen; womöglich gelten sie “nur“ für unechte Rückwirkungen, weil sich das
Verfassungsgericht nicht immer eindeutig festgelegt hat (vgl. auch vorstehend B.III.3.d)
(vgl. S. 131) ).
(1) Änderungen des Verfahrensrechts (insbesondere: Grundsätze des “intertemporalen
Prozessrechts“)
Prozess- und auch Prozesskostenrecht erfasst in der Regel zum Zeitpunkt seines In-KraftTretens (zwar regelmäßig keine bereits abgeschlossenen, wohl aber) auch anhängige
Verfahren; sie unterstehen von diesem Augenblick an dem neuen Recht (grundlegend:
BVerfGE 1, 4 [4]; vgl. auch BVerfGE 11, 139 [146]).
(1a) Einwirkungen auf vorliegende verfahrensrechtliche Lagen (insbesondere
anhängige Verfahren)
Indessen sind Rechtssicherheit und Vertrauensschutz als verfassungsrechtliche Prüfungsmaßstäbe auch dann gefordert, wenn der Gesetzgeber auf eine bislang gegebene verfahrensrechtliche Lage, in der der Bürger sich befindet, einwirkt. Auch Verfahrensordnungen
können Vertrauensdispositionen, zumal im Rahmen bereits anhängiger Verfahren oder
gegebener Verfahrenslagen, begründen. Auch wenn in gewissem Umfang das Vertrauen in den Fortbestand verfahrensrechtlicher Regelungen von Verfassungs wegen weniger
geschützt ist als das Vertrauen in die Aufrechterhaltung materieller Rechtspositionen,
können doch verfahrensrechtliche Positionen im Einzelfall ihrer Bedeutung und ihres Gewichts wegen im gleichen Maße schutzwürdig sein wie Positionen des materiellen Rechts
(BVerfGE 63, 343 [359]).
(1b) Grundsätze des intertemporalen Prozessrechts und Rechtsmittelsicherheit
Namentlich die nach Maßgabe der Grundsätze des intertemporalen Prozessrechts
gewährleistete Rechtsmittelsicherheit gebietet, dass bei einem gesetzlich festgelegten
Rechtsmittelausschluss ein bereits eingelegtes Rechtsmittel zulässig bleibt, sofern
das Gesetz nicht mit hinreichender Deutlichkeit - zulässig - Abweichendes bestimmt
(BVerfGE 87, 48 [62]).
(2) Mietrecht
Auf dem sozialpolitisch umstrittenen Gebiet des sozialen Mietrechts muss der Bürger mit
häufigen Gesetzesänderungen rechnen und kann nicht ohne weiteres auf das unveränderte Fortbestehen einer ihm günstigen Rechtslage vertrauen (BVerfGE 71, 230 [252];
vgl. auch BVerfGE 95, 64 [92] für staatliche Wohnungsförderung).
(3) Beamtenrecht
Weil (für die Zukunft) auch Bezüge von Beamten herabgesetzt werden können, liegt weil kein Beamter einen Anspruch auf unverändertes Erhaltenbleiben seiner Gehaltsund Versorgungsverhältnisse hat - in einer für einen Beamten ungünstigen Neuregelung
Brunn - Kapitel B.III.7.
Seite 144
etwa des Besoldungsdienstalters noch keine mit dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit
nicht zu vereinbarende Rückwirkung (BVerfGE 18, 159 [166 f.]).
Im Beamten-Versorgungsrecht kann es jedoch zu unzulässigen Rückwirkungen kommen
(BVerfGE 31, 94 [99] für Dispositionen, die nicht mehr korrigiert werden können).
(4) Sozialrecht
Im Sozialrecht kann sich das Sozialstaatsprinzip (hierzu D.IV.) dahin auswirken, dass
das Vertrauen des Bürgers umso weniger enttäuscht werden darf, je mehr er dadurch
gegenüber den Risiken des Lebens, die durch die Sozialversicherung gerade abgedeckt
werden sollen, in eine wesentlich ungünstigere Lage gerät, welche er aus eigener Kraft
nicht mehr bewältigen kann (BVerfGE 40, 65 [76]).
Entsprechendes kann - muss aber nicht - in den Zusammenhängen der Rentenversicherung gelten (BVerfGE 69, 272 [309 f.]). Unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes
darf der Gesetzgeber insbesondere danach differenzieren, ob ein Versicherter bereits ein
“Vollrecht auf Rente“ erworben hat (BVerfGE 117, 272 [302] “abgeschlossene Rentenbiographie“).
Maßgeblich ist in solchen Zusammenhängen immer, ob die vertrauensbegründende
Rechtslage “für die Zukunft gesichert erscheinen konnte“ oder nicht (BVerfGE 103,
392 [404]; vgl. auch BVerfGE 128, 90 [105 ff.], freilich für Arbeitslosenhilfe, wonach
maßgeblich ist, ob Ansprüche für frühere, bereits vollständig abgeschlossene Abschnitte
unberührt bleiben und Auswirkungen lediglich auf zukünftige Abschnitte stattfinden).
(5) Steuerrecht
Sogar im Steuerrecht, wo - wie dargelegt - unangenehme Folgen für den Gesetzgeber dadurch “abgemildert“ werden, dass regelmäßig auf abgelaufene Kalenderjahre als Veranlagungszeiträume abzustellen ist, kann eine Gesetzesänderung mit belastenden Folgen einer
unechten Rückwirkung verbunden sein, welche den Grundsätzen des Vertrauensschutzes
widersprechen können (BVerfGE 127, 1 [20 ff.] für Verlängerung von Spekulationsfristen;
vgl. auch BVerfGE 127, 31 [54]).
(6) Sonderfall einer Rückgängigmachung einer unter Verstoß gegen Art. 3 GG gewährten Vergünstigung
Hatte der Gesetzgeber eine Gruppe von einer Begünstigung (unzulässig) ausgeschlossen,
so bleibt es dem (neuen) Gesetzgeber überlassen, die gleichheitswidrig ausgeschlossene
Gruppe in die Begünstigung einzubeziehen, die Begünstigung insgesamt abzuschaffen
oder den Kreis der Begünstigten neu zu bestimmen, wenn das Bundesverfassungsgericht
auf einen Verstoß gegen Art. 3 GG durch den Ausschluss erkannt hat.
Weil aber eine vollständige Abschaffung der Begünstigung als rückwirkende Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen für abgeschlossene Veranlagungszeiträume wegen
des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots ausgeschlossen sein kann , kann für
den Zeitraum bis zur Neuregelung des Gesetzgebers die erkannte Ungleichbehandlung
möglicherweise nur dadurch ausgeräumt werden, dass die bisher Nicht-Begünstigten in
die Steuerbefreiung einbezogen werden, wenngleich es für die Zukunft dem Gesetzgeber
unbenommen bleibt, eine andere, gleichheitskonforme Regelung zu schaffen (BVerfGE
99, 69 [83]).
Brunn - Kapitel B.III.7.
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7. “Zwingende Gründe“ als Rechtfertigungsgründe für Rückwirkungen
Zwingende Gründe des gemeinen Wohls können dem - vorstehend behandelten - Vertrauensschutz vorgehen und sogar eine “echte“ Rückwirkung rechtfertigen. Dafür gelten
strengere Voraussetzungen als im Falle einer unechten Rückwirkung, bei der lediglich die
Anforderungen des Gemeinwohls mit dem Ausmaß des Vertrauensschadens abzuwägen
sind (BVerfGE 30, 367 [390 f.]; vgl. auch BVerfGE 122, 374 [394 f.] für “überragende
Belange des Gemeinwohls“, die “eine rückwirkende Beseitigung erfordern“).
In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind solche Rechtfertigungsgründe
falltypisch, aber (noch) nicht erschöpfend entwickelt worden (BVerfGE 72, 200 [258 ff.];
dort auch zum “Bagatellvorbehalt“).
Deswegen könnte hier die eigentliche Rechtfertigung für alle Formen einer (nachträglichen bzw. zusätzlichen) Sicherungsverwahrung bzw. “Therapieunterbringung“ mit “echter“ Rückwirkung - wie es hier vorstehend B.III.5.b)bb)(2) (vgl. S. 136) zu begründen
unternommen wird - gefunden werden, und zwar auch und gerade dann, wenn man diese (zwar kompetenzrechtlich wegen ihrer Anknüpfung an die Straftat dem Strafrecht
zuordnet - C.VII.1.b) (vgl. S. 206) -, aber materiellrechtlich trotz ihrer Anknüpfung
an eine Straftat aus dem Strafrecht “ausklammert“ (anders aber BVerfGE 134, 33 [61]
ohnehin nur “unechte“ Rückwirkung):
a) Rückwirkungsgrenze der Verletzung des “grundrechtlichen Schutzes des
Lebenssachverhalts“
Liegt in diesem Sinn ein Grund vor, der es von Verfassungs wegen rechtfertigt, (sogar)
das rechtsstaatliche Rückwirkungsverbot zu durchbrechen, so darf diese Durchbrechung
gleichwohl nicht zu Ergebnissen führen, die den grundrechtlichen Schutz des Lebenssachverhalts verletzen, der von dem Eingriff betroffen ist (BVerfGE 97, 67 [80]; vgl. auch
BVerfGE 131, 20 [39] für “besondere Momente der Schutzwürdigkeit“).
b) Steuerrecht und (nicht-) “zwingende“ Gründe
Die mithin regelmäßig erforderliche Abwägung zwischen dem Vertrauen des Einzelnen
in den Fortbestand der für ihn günstigen Rechtslage und der “Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit“ (BVerfGE 70, 69 [84 f.]; vgl. auch
BVerfGE 128, 90 [106 f.]) hat gerade im Steuerrecht zu einer nahezu unübersehbaren Fülle von Gesichtspunkten geführt, die als zwingend bzw. nicht zwingend angesehen worden
sind, wobei immer wieder betont worden ist, dass ein allgemeines Interesse an der Regelung als solche nicht ausreicht, sondern ein spezifischer Grund zu verlangen ist, welcher
geeignet ist, gerade die Rückwirkung einer Regelung zu legitimieren (BVerfGE 127, 1 [25
f.] sowie BVerfGE 127, 61 [78]; vgl. auch BVerfGE 135, 1 [23] “Auslegungsbedürftigkeit“
reicht nicht aus):
aa) “Überragende“ bzw. zumindest “wichtige“ Gemeinwohlbelange
Das an sich wünschenswerte Bestreben etwa nach Vereinfachung des Steuerrechts rechtfertigt für sich allein nicht, ein schutzwürdiges Vertrauen des Steuerpflichtigen zurücktreten
zu lassen. Kommt jedoch hinzu, dass etwa ein zusätzliches Ziel angestrebt wird, so kann
es sich um einen “überragenden Belang des Gemeinwohls“ handeln (BVerfGE 105, 17 [44
f.] vornehmlich für Kosten des Beitritts).
Brunn - Kapitel B.III.7.
Seite 146
(1) “Bloße“ Absicht der Erzielung staatlicher Mehreinkünfte
Die bloße Absicht, staatliche Mehreinkünfte zu erzielen, ist - für sich genommen - noch
kein den Vertrauensschutz regelmäßig überwindendes Gemeinwohlinteresse, schon weil
dieses Ziel durch jedes, auch durch sprunghaftes und willkürliches Besteuern erreicht
würde.
(2) Ausgleich unerwarteter Mindereinnahmen oder “notwendige“ Korrekturen
Kommt jedoch das Interesse des Staates hinzu, durch die Änderung von Steuergesetzen
unerwartete Mindereinnahmen auszugleichen oder bestimmte Lenkungseffekte des Steuerrechts zu korrigieren, kann hingegen wieder ein “wichtiger Gemeinwohlbelang“ vorliegen
(a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 127, 1 [26 f.] für “Bedürfnis nach Gegenfinanzierung“).
bb) Sonstige denkbare Rechtfertigungsgründe
Schließlich sind in den Entscheidungen BVerfGE 127, 1 (27); 127, 31 (55) und BVerfGE
127, 61 (85) u.a. folgende Rechtfertigungsgründe genannt worden:
• ordnungspolitische Sachziele, die einen Finanzierungsbedarf möglicherweise begleiten,
• die Notwendigkeit rascher Korrektur offensichtlicher Fehlsubventionierungen, die
durch Ankündigungs- oder Mitnahmeeffekte gefährdet wäre,
• Gesichtspunkte der Praktikabilität unter bestimmten Voraussetzungen und
• das Ziel, zweckwidrig überschießende Vergünstigungseffekte einer Regelung abzubauen, wenn die Realisierung dieses Ziels dringlich ist.
c) Pflicht zur Aufrechterhaltung von Übergangsregelungen und Ausnahmen
Der Gesetzgeber muss - wie bereits dargelegt (vorstehend B.I.2.b)bb) (vgl. S. 102) )
- oft bei der Aufhebung oder Modifizierung geschützter Rechtspositionen (auch dann,
wenn der Eingriff an sich verfassungsrechtlich zulässig ist) aufgrund des rechtsstaatlichen
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit zumindest eine angemessene Übergangsregelung
treffen (BVerfGE 43, 242 [288]; vgl. auch BVerfGE 68, 272 [284] für erlaubte Ausübung
einer zukünftig unzulässigen Tätigkeit).
aa) Die Schaffung eines Vertrauenstatbestandes durch (verfassungsentsprechendes)
Übergangsrecht
Hat er sich entsprechend verhalten und enttäuscht der Gesetzgeber später das Vertrauen in den Fortbestand einer solchen Übergangsvorschrift, die er aus Vertrauensschutzgründen erlassen hat, indem er sie nämlich vor Ablauf der ursprünglich vorgesehenen Frist
zu Lasten der Berechtigten beseitigt, so ist dies unter dem Gesichtspunkt des rechtsstaatlichen Vertrauensschutzes oft nur unter besonderen Anforderungen möglich.
bb) Rechtfertigung für “vorzeitige“ Aufhebung eines Vertrauenstatbestandes
Um einen solchen besonderen (gesetzlichen) Vertrauenstatbestand vorzeitig aufzuheben, genügt es nicht , dass sich die für den Erlass der Übergangsregelung ursprünglich
maßgeblichen Umstände geändert haben.
Brunn - Kapitel B.III.7.
Seite 147
Es müssen darüber hinaus - vorausgesetzt, das Interesse der Betroffenen auf einen Fortbestand der Regelung ist schutzwürdig und hat hinreichendes Gewicht - schwere Nachteile
für wichtige Gemeinschaftsgüter zu erwarten sein, falls die geltende Übergangsregelung
bestehen bleibt (BVerfGE 102, 68 [97 f.]).
Brunn - Kapitel C.I.0.
Seite 149
C. Gesetzgebungskompetenzen
Keinesfalls sind die Gesetzgebungskompetenzen auf die Art. 70 ff. GG beschränkt (wo
sie sich freilich - im Gegensatz zur Ur-Fassung des Grundgesetzes, in der man die Kompetenzen noch gewissermaßen “an zwei Händen“ abzählen konnte - auffällig, oft in einem
Artikel, häufen; vgl. etwa Art. 104 a ff. GG, insbesondere Art. 106 sowie Art. 107 GG).
[1] Vielmehr sind sie - wenn man den Grundrechtsteil außer Betracht lässt, wo es verfehlt wäre, die Befugnis zu einschränkenden Gesetzen als “Gesetzgebungskompetenz“ zu
qualifizieren - bereits in den Art. 21 ff. GG, insbesondere in neuer Zeit in Art. 23 GG
(A.III.3.a) (vgl. S. 57) ), auszumachen, wo freilich die materiellen Maßstäbe (und weniger
die eher formellen “Kompetenzen“, wie dies meist in den Art. 70 ff GG der Fall ist) im
Vordergrund stehen, weshalb hier (und folgend C.III.3. (vgl. S. 171)) das eher Formelle
bei den Übertragungen von Hoheitsrechten in den Blick genommen wird.
[2] Ebenfalls zu Kompetenzvorschriften werden hier die Art. 76 ff. GG (nachfolgend
C.II.) über das Zustandekommen von Bundesgesetzen gerechnet, weil sie die Befugnisse
von (sogar Bundespräsident) Bundestag, Bundesrat (Vermittlungsausschuss) und Bundesregierung im Gesetzgebungsprozess festlegen.
[3] Wegen inhaltlicher Nähe zum Gewaltenteilungsprinzip (nachstehend D.VI.) werden
allerdings die Kompetenzen zur Regelung der Rechtsstellungen der Abgeordneten, Beamten und Richter im Anschluss daran (als Anhang D.VII.) behandelt. Ähnliches gilt wegen der Zusammenhänge mit dem Wahlrecht - für Art. 21 GG (D.III.6. (vgl. S. 319)).
I. Bedeutung von Kompetenznormen
1.
2.
Umfang und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . .
a) Umfang der Regelungsbefugnis . . . . . . . . . .
b) Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
Nichtigkeit des Gesetzes als Folge einer fehlenden Kompetenz
Regelmäßig keine Pflicht zum gesetzgeberischen Tätigwerden . .
a) Grundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Denkbare Ausnahmen . . . . . . . . . . . . .
aa) Ausdrückliche Verfassungsaufträge
3.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . .
bb) Gesetzgeberische Pflichten nach verwerfenden Verfassungsgerichtsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gesetzgebungskompetenzen und (Pflicht zur) Begründung
. . . .
a) Grundsatz der Erkennbarkeit des Vorliegens der Kompetenz . .
b) Ratsamkeit von Begründungen bei von vornherein umstrittenen Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
150
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152
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152
Das Hauptziel aller Kompetenznormen dürfte es sein, einander widersprechende Normbefehle zu vermeiden (BVerfGE 141, 1 [35]; “Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung“).
Brunn - Kapitel C.I.1.
Seite 150
Für nahezu alle Kompetenzen dürfte inzwischen gelten, dass man sie - wie vorstehend unter A.II.1. (vgl. S. 12) bereits angedeutet - gewissermaßen als “Mischwesen“ charakterisieren kann, welche in sich formelle wie materielle Kriterien enthalten, die den Gesetzgeber
in beiderlei Hinsicht binden.
Daher erscheint es nicht verfehlt, auch solche Verfassungsbestimmungen als Kompetenzvorschriften zu behandeln, die zwar - wie etwa Art. 23 GG und Art. 24 GG (nachfolgend
C.III.3.) - die Übertragung von Hoheitsrechten dem Gesetzgeber vorbehalten, ihm aber
gleichzeitig inhaltliche Schranken errichten.
1. Umfang und Grenzen
Wie sehr sich die in den Kapiteln A. und B. eingeforderte - aber oftmals vernachlässigte
- Sorgfalt hinsichtlich der (zu unterscheidenden, aber auch gleichzeitig in ihren Zusammenhängen zu sehenden) Sach- und Zeitebenen verhängnisvoll oder segensreich auswirken
kann, zeigt sich am Beispiel der Kompetenznorm für das Strafrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr.
1 GG; nachfolgend VII.1.b)):
[1] Wer Straftaten begeht bzw. begangen hat (Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart), ist Straftäter oder Teilnehmer (Sachebene Strafrecht), wer sie zu begehen droht
(Zeitebene Zukunft), ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit (Sachebene Gefahrenabwehrrecht bzw. “Straftatenverhütungs-Recht“).
[2] Weil die Materie Strafrecht zwingend vom Schuldgrundsatz beherrscht wird, der für die
Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart nach der Sachebene Strafrecht (abstrakt und
im Einzelfall) im Vordergrund zu stehen hat, was insbesondere die Rechtsfolgen angeht
(Bestrafung, Freispruch, Maßregeln, Vollstreckung und Vollzug), darf/kann (“eigentlich“)
der frühere Straftäter, dessen Tat und die damit verbundene Schuld hinsichtlich der ausgesprochenen Rechtsfolgen “abgegolten“ ist (beispielsweise durch eine zeitlich begrenzte
Freiheitsstrafe und eine anschließende zeitlich begrenzte Sicherungsverwahrung), nicht
mehr nach der Sachebene Strafrecht beurteilt werden, wenn er auf der Zeitebene Zukunft
(erneut) zum Straftäter (dessen Schuld noch ungewiss ist) zu werden droht; vielmehr ist
ihm exklusiv die Sachebene “ Gefahrenabwehrrecht “ zugeordnet.
[3] Weil das Bundesverfassungsgericht dies in ständiger Rechtsprechung nicht immer so
sieht, dürfte der verfassungsändernde Gesetzgeber gut beraten sein, die vorbezeichnete
Kompetenznorm um die Teilmaterie Straftatenverhütungsrecht zu ergänzen, was freilich
eine (wohl unbedenkliche) Reduzierung der Länderkompetenzen (nachfolgend IV.4.a)aa))
zur Folge hätte.
a) Umfang der Regelungsbefugnis
Die Kompetenznormen des Grundgesetzes bestimmen nicht nur, welcher Gesetzgeber
zum Erlass einer Regelung zuständig ist, sondern legen zugleich auch den Umfang der
Regelungsbefugnis fest (BVerfGE 55, 274 [298] ; grundlegend: BVerfGE 34, 139 [146]).
Beispielsweise ergibt sich aus dem Text der Norm des Art. 91 e Abs. 2 und 3 GG sowie
den Materialien, dass ein Bundesgesetz u.a. Regelungen zur Kostentragung, Aufsicht,
Finanzkontrolle und Rechnungsprüfung treffen darf (BVerfGE 137, 108 [181]).
Brunn - Kapitel C.I.2.
Seite 151
b) Grenzen
Die Grenzen für die Ausnutzung einer durch das Grundgesetz gewährten Gesetzgebungskompetenz werden ausschließlich durch die Grundrechte und sonstigen Verfassungsgrundsätze bestimmt (BVerfGE 4, 7 [15]). Unüberschreitbare Schranken können einer Gesetzgebung auch dadurch gesetzt werden, dass der Verfassungsgesetzgeber direkt oder indirekt
auf Begriffe Bezug genommen hat, die er der allgemeinen Rechtsordnung entlehnt hat,
so dass diese nicht mit einem beliebigen Inhalt gefüllt werden dürfen (BVerfGE 31, 314
[331] ; vgl. allgemein zur Verfassungsinterpretation vorstehend A.III.2. (vgl. S. 47) ).
Schließlich kann sich eine Rechtsschranke für die Gesetzgebungsbefugnis auch aus dem
ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Bundestreue ergeben (BVerfGE 4, 115
[140]).
c) Nichtigkeit des Gesetzes als Folge einer fehlenden Kompetenz
Ein Gesetz, das ausgefertigt wird zu einem Zeitpunkt, an dem die dazu ermächtigende
Verfassungsnorm noch nicht in Kraft war, ist nichtig (BVerfGE 34, 9 [25 f.]). Freilich
kann es den an die Korrektur eines mangelhaften Gesetzgebungsverfahrens zu stellenden
Anforderungen genügen, wenn in einem ordnungsgemäß zu Stande gekommenen Gesetz
eine Fiktion eines späteren Erlasses des Gesetzes enthalten ist (BVerfGE 44, 227 [240]).
2. Regelmäßig keine Pflicht zum gesetzgeberischen Tätigwerden
Mit einer Kompetenznorm ist regelmäßig lediglich eine Befugnis zur Gesetzgebung
verbunden, regelmäßig aber - wie bereits erwähnt (A.II.1.c) (vgl. S. 15) ) - keine
Verpflichtung zum Handeln zu begründen.
a) Grundsatz
Nicht einmal dann, wenn der Gesetzgeber selbst zu erkennen gegeben hat, dass er eine
Regelung für notwendig hält, ist er verfassungsrechtlich verpflichtet, diese Regelung zu
erlassen (BVerfGE 11, 255 [261 f.]). Grundsätzlich hat auch der einzelne Staatsbürger
keinen - etwa mit einer Verfassungsbeschwerde verfolgbaren - Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers (BVerfGE 1, 97 [100]; vgl. jedoch A.II.1.c)bb) (vgl. S. 16) zu den
grundrechtlichen Schutzpflichten).
Dem Grundgesetz liegt nämlich nicht die Vorstellung zu Grunde, dass sich jede vom
Staat ergriffene Maßnahme auf eine Ermächtigung zurückführen lassen müsse. Es geht
vielmehr von der generellen Befugnis des Staates zum Handeln im Gemeinwohlinteresse
aus, erlegt ihm dabei aber sowohl formell als auch materiell bestimmte Beschränkungen
auf (BVerfGE 98, 218 [246]).
b) Denkbare Ausnahmen
Eine Verpflichtung zu gesetzgeberischem Handeln kann indessen zu bejahen sein, wenn
durch ein (teilweises) Unterlassen die Verfassung verletzt wird.
Brunn - Kapitel C.II.0.
Seite 152
aa) Ausdrückliche Verfassungsaufträge
Führt beispielsweise der Gesetzgeber einen ausdrücklichen Verfassungsauftrag zum Erlass eines bestimmten Gesetzes - etwa in Folge unrichtiger Auslegung des Grundgesetzes
- nur teilweise aus und verletzt er durch die Nichtberücksichtigung eines bestimmten
Bevölkerungskreises Grundrechte aus Art. 3 GG, so kann auch dies verfassungsrechtlich
gerügt werden (BVerfGE 6, 257 [264]).
Die Verfassung kann auch verletzt sein, wenn der Gesetzgeber es unterlässt, einen Verfassungsauftrag in angemessener Frist auszuführen (BVerfGE 8, 210 [216]).
bb)
gen
Gesetzgeberische Pflichten nach verwerfenden Verfassungsgerichtsentscheidun-
Ähnliches kann dann gelten, wenn ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu
der Feststellung geführt hat, dass zwar ein Gesetz verfassungswidrig ist, aber dies zunächst weiter bestehen bleibt ; in diesen Fällen ist der Gesetzgeber regelmäßig (vorstehend A.III.4. zu Einzelheiten) verfassungsrechtlich zum Erlass eines verfassungsgemäßen
Gesetzes verpflichtet (BVerfGE 6, 257 [265 f.]).
3. Gesetzgebungskompetenzen und (Pflicht zur) Begründung
Zwar ist es für sich genommen regelmäßig unschädlich, wenn nicht bereits aus den Gesetzgebungsmaterialien eine das Gesetz verfassungsrechtlich tragende Begründung (allgemein A.II.3.d) (vgl. S. 28) ) erkennbar ist.
a) Grundsatz der Erkennbarkeit des Vorliegens der Kompetenz
Vielmehr genügt es für die Gesetzgebungskompetenz (wie auch für die sonstigen Voraussetzungen der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes) in der Regel, dass deren Vorliegen im
verfassungsgerichtlichen Verfahren erkennbar wird. Das Grundgesetz schreibt grundsätzlich nicht vor, was, wie und wann genau im Gesetzgebungsverfahren zu begründen
ist. Es lässt Raum für Verhandlungen und für den politischen Kompromiss.
Entscheidend ist, dass im Ergebnis die Anforderungen des Grundgesetzes nicht verfehlt
werden (BVerfGE 139, 148 [180]).
b) Ratsamkeit von Begründungen bei von vornherein umstrittenen Gesetzen
Aber die Erfahrung lehrt, dass insbesondere dann, wenn - wie dies etwa während der
Vorgeschichte der Entscheidungen BVerfGE 138, 261 und BVerfGE 140, 65 erkennbar
der Fall war - bereits im Vorfeld einer Gesetzesinitiative Kompetenzfragen zwischen dem
Bund und den Ländern oder innerhalb des Parlaments diskutiert werden (wenn insbesondere die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG - nachfolgend C.VI.2. (vgl. S.
197) - umstritten sind), der Bundesgesetzgeber gut beraten ist, in den Materialien seine
Überzeugung (nachvollziehbar und überzeugend) zu begründen (vgl. auch die - zu - hohen Begründungsanforderungen - freilich in materieller Hinsicht, Art. 33 Abs. 5 GG - in
BVerfGE 139, 64 [126 f.]).
Brunn - Kapitel C.II.0.
Seite 153
II. Die “Grundkompetenz“ von Bundestag und Bundesrat für das
Zustandekommen von Bundesgesetzen (Art. 76 - 79 GG sowie Art. 82
GG)
1.
Gesetzesvorlagen (Art. 76 GG) .
2.
Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG)
a)
.
.
.
.
.
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.
.
.
.
.
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154
.
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155
Die Stellung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Zweck und Ziel des Vermittlungsverfahrens
c)
3.
155
(2) Weiter Spielraum autonomer Verfahrensgestaltung
. . .
155
(3) Fehlendes Gesetzesinitiativrecht . . . . . . . . . . . . . .
155
. . . . . . . . . . . .
Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses und Kompetenzen
156
156
(1) Beschränkung der Gestaltungsmacht durch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens . .
156
(2) Erfordernis der - vorgängigen - vollständigen Befassung des
Parlaments mit Anträgen und Stellungnahmen vor dem Gesetzesbeschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
156
Folgen von Mängeln im Vermittlungsausschuss-Verfahren
.
.
.
156
Zustandekommen eines Gesetzes durch Zustimmung sowie Zustimmungsbedürftigkeit (Art. 78 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
157
a)
Art und Weise der Zustimmung bzw. deren Versagung .
157
b)
Zustimmungsbedürftigkeit als von der Verfassung ausdrücklich zu regelnde Ausnahme
. . . . . . . . . . . . . . . .
157
aa) Aufhebungen und Änderungen zustimmungsbedürftiger Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
157
.
.
.
bb) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
4.
155
(1) Begrenzte Befugnis zur Erarbeitung (insbesondere) von
Kompromissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Fragwürdigkeit der Nichtöffentlichkeit
b)
. . . . . . . . .
155
Umfang der Zustimmung .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
158
.
158
Verkündung und Inkraftsetzen von Gesetzen im Sinne von Art. 82 GG
a)
b)
c)
Verkündung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
158
.
158
aa) Prinzip der formellen Gesetzesverkündung . . . . . . . . . .
158
bb) “Ausgabe“ des Gesetzblatts als maßgeblicher Zeitpunkt
. .
159
.
159
Inkrafttreten .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
aa) Erfordernis der Klarheit über den Zeitpunkt der Normverbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
bb) Gesetzgeber und Wahl des Zeitpunkts
159
. . . . . . . . . . . .
Der Bundespräsident und die Ausfertigung von Gesetzen (formelles/materielles Prüfungsrecht) . . . . . . . . . . . .
159
Brunn - Kapitel C.II.2.
d)
Neubekanntmachung
Seite 154
.
.
.
.
.
.
.
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.
.
.
.
.
.
.
160
Für das Parlament (in seiner Gesamtheit oder durch Ausschüsse handelnd) als Verfassungsorgan, welches zur Aufgabe der Gesetzgebung berufen ist, beginnt das Gesetzgebungsverfahren mit einer eigenen oder seitens der Bundesregierung bzw. seitens des Bundesrats eingebrachten Gesetzesvorlage, wobei Gesetzesinitiativen des Bundesrats (Art. 76
GG) eher selten sind; bedauerlich ist, wie in A.II.1.b)bb) (vgl. S. 14) ausgeführt ist, dass
auch die Vorlagen “aus der Mitte des Parlaments“ eher selten geworden sind. Es endet
mit der Verkündung eines Gesetzes (Art. 82 GG) bzw. mit einem Scheitern einer Vorlage,
wie unmittelbar nachfolgend dargestellt wird.
[1] Indessen wird die “Haupt- und Knochenarbeit“ zunächst bei der Erarbeitung einer
Vorlage erbracht, weil in dieser Zeit die (politischen,) “gesetzestechnischen“ sowie verfassungsrechtlichen Prüfungen und (ressortinternen und -übergreifenden) Abstimmungen
erfolgen, bevor (meist nach “Außenanhörungen“) - entsprechend den jeweiligen Geschäftsordnungen - die Vorlagen durch Fraktionen und/oder das Kabinett und schließlich durch
die jeweiligen Parlamentsausschüsse “abgesegnet“ werden.
[2] Angesichts der Detailliertheit der Art. 76 ff GG ist es nicht verwunderlich, dass hierzu
nur wenige Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts erforderlich waren. Lediglich
die Fragen, die sich um die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes (nachfolgend 3.)
sowie (bejahendenfalls) um die Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG) ranken, bedurften der Beantwortung. Deshalb enthalten die folgenden Darstellungen nur
die Erkenntnisse des Bundesverfassungsgerichts, deren Kenntnis u.U. notwendig ist, um
abschätzen zu können, ob ein - insbesondere zwischen Bundestag und Bundesrat umstrittenes - Gesetz wirksam i.S.v. Art. 78 GG zustande gekommen, verkündet worden und in
Kraft getreten ist (vgl. B.I.2. (vgl. S. 100) ) zu den Formen des Außerkrafttretens).
1. Gesetzesvorlagen (Art. 76 GG)
Das Verfassungsorgan, dem das Recht zur Gesetzesinitiative nach Art. 76 Abs. 1 GG
zusteht, darf sich verpflichten, von seinem Recht einen bestimmten Gebrauch zu machen,
wenn es nur bezüglich des Inhalts des Gesetzesvorschlages die Schranken der Verfassung
beachtet und nicht den Versuch macht, auch andere Staatsorgane zu binden (BVerfGE
1, 351 [366]).
Das Initiativrecht steht (nicht dem Bundestag als solchem, sondern) den Abgeordneten in einer zahlenmäßig bestimmten Gruppierung zu (BVerfGE 1, 144 [153]; dort [158]
auch dazu, dass das Initiativrecht der Abgeordneten nicht sachlich beschränkt werden
darf, etwa durch einen Zwang, eine Gesetzesvorlage mit einem Deckungsvorschlag zu
verbinden).
Das Initiativrecht hat zum Inhalt, dass das Gesetzgebungsorgan sich mit dem Gesetzesvorschlag beschäftigt, d.h. darüber berät und beschließt (a.a.O. [153]). Einzelnen ist
Gelegenheit zu geben, über eine Initiative eine allgemeine Aussprache zu führen, weil vor
einer Beschlussfassung des Parlaments über eine Gesetzesinitiative notwendig die Möglichkeit vorgängiger Rede und Gegenrede steht. Freilich kann eine Beteiligung anderer
Abgeordneter an einer Debatte nicht erzwungen werden (BVerfGE 84, 304 [329]).
Behauptet der Bundesrat beim ersten Durchgang gem. Art. 76 Abs. 2 Satz 2 GG, dass ein
von ihm von der Bundesregierung zugeleiteter Gesetzentwurf seiner Zustimmung bedürfe,
so kommt dieser Äußerung dem Bundestag gegenüber keine rechtserhebliche Bedeutung
zu (BVerfGE 3, 12 [17 f.]).
Brunn - Kapitel C.II.2.
Seite 155
2. Anrufung des Vermittlungsausschusses (Art. 77 GG)
Systematisch erscheint es angezeigt, die Fragen der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen und deren denkbaren Folgen in Art. 78 GG zu behandeln (nachfolgend 3.);
deshalb an dieser Stelle nur einige Aussagen zum Vermittlungsausschuss (ausführlich zu
dessen Zusammensetzung BVerfGE 140, 115 [153] “Grundsatz der Spiegelbildlichkeit“).
a) Die Stellung des Vermittlungsausschusses im Gesetzgebungsverfahren
Der Vermittlungsausschuss ist die institutionelle Konsequenz der Grundentscheidung des
Verfassungsgebers, an der Gesetzgebung im Bund mit dem Bundestag und dem Bundesrat zwei Entscheidungsträger konstitutiv zu beteiligen. Er eröffnet das Gesetzgebungsverfahren in einer bestimmten Konstellation für institutionelle Verhandlungslösungen.
Der Vermittlungsausschuss hat im Gesetzgebungsverfahren eine herausgehobene und in
gewissem Umfang verselbständigte Stellung (BVerfGE 112, 118 [138]).
aa) Zweck und Ziel des Vermittlungsverfahrens
Zweck und Ziel des Vermittlungsverfahrens ist das Erzielen eines politischen Kompromisses zwischen den beiden Gesetzgebungskörperschaften, nicht die nochmalige freie
Beratung des Gesetzgebungsvorschlages, zu dem diese unterschiedliche Positionen eingenommen haben. Dieses Ziel soll dadurch erreicht werden, dass auf höherer politischer
Ebene und unter übergeordneten Gesichtspunkten ein Interessenausgleich gesucht wird.
(1) Begrenzte Befugnis zur Erarbeitung (insbesondere) von Kompromissen
Das Vermittlungsverfahren dient folglich nicht der öffentlichen parlamentarischen Verhandlung und Beschlussfassung i.S.v. Art. 42 Abs. 1 und Abs. 2 GG, auf die sich die aus
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleitende gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten
des Deutschen Bundestags in erster Linie bezieht. Vielmehr eröffnet das Grundgesetz um
der Effizienz der Gesetzgebung willen die Möglichkeit, die Beratung von Vorlagen einem
Ausschuss zu übertragen, der nach seiner Zusammensetzung und seinem Verfahren in
besonderem Maße geeignet ist, einen Kompromiss zu erarbeiten.
(2) Weiter Spielraum autonomer Verfahrensgestaltung
Um diese ihm zugewiesene Aufgabe erfüllen zu können, ist diesem Ausschuss - innerhalb
des von Bundestag und Bundesrat gemeinsam gesetzten Rahmens seiner Geschäftsordnung - ein weiter Spielraum autonomer Verfahrensgestaltung eingeräumt. Damit verbunden ist die Befugnis, sich formeller und informeller Gremien zur Vorbereitung der
Beschlussfassung zu bedienen, die im Hinblick auf das jeweils anstehende Thema nach
anderen Kriterien als demjenigen der Spiegelbildlichkeit zusammengesetzt sind.
(3) Fehlendes Gesetzesinitiativrecht
Der Vermittlungsausschuss ist kein Entscheidungsorgan , er verfügt aber über eine den
Kompromiss vorbereitende, ihn aushandelnde und damit faktisch gestaltende Kompetenz, die jeder Vermittlungstätigkeit innewohnt. Er hat kein Gesetzesinitiativrecht und
Brunn - Kapitel C.II.2.
Seite 156
verantwortet seine Beratungen und Empfehlungen nicht vor einer parlamentarischen Öffentlichkeit, sondern tagt im Interesse seiner Effizienz nichtöffentlich und vertraulich
(BVerfGE 140, 115 [156]).
bb) Fragwürdigkeit der Nichtöffentlichkeit
Bedauerlich ist gleichwohl, dass der Vermittlungsausschuss im Interesse der Effizienz
seiner Arbeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt und seine Empfehlungen nicht
unmittelbar vor der Öffentlichkeit verantworten muss; seine Protokolle werden nach interner Übung erst in der dritten Wahlperiode nach der betreffenden Sitzung zugänglich
gemacht (BVerfGE 125, 104 [124]).
Erfahrungsgemäß stehen Rechtsanwender nämlich oft “vor verschlossenen Türen“, wenn
es darum geht, Sinn und Zweck einer erst im Vermittlungsausschuss ohne weitere Begründung eingearbeiteten Gesetzesänderung zu ermitteln.
b) Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses und Kompetenzen
Im vorliegenden Zusammenhang muss es zunächst sein Bewenden haben mit einem Hinweis auf die grundlegende Entscheidung BVerfGE 112, 118 (138 ff.; vgl. auch BVerfGE
101, 297 [306 ff.] sowie BVerfGE 125, 104 [122 ff.] und neuerdings BVerfGE 140, 115 zum
Grundsatz der Spiegelbildlichkeit und zur Besetzung von Arbeitsgruppen).
(1) Beschränkung der Gestaltungsmacht durch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens
Wichtig ist für den “eigentlichen“ Gesetzgeber vor allem, dass der Vermittlungsausschuss
zwar keine Entscheidungskompetenz hat, wohl aber eine den Kompromiss vorbereitende , ihn aushandelnde und faktisch gestaltende Kompetenz. Diese faktische Gestaltungsmacht ist durch die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsverfahrens beschränkt. Insbesondere hat der Vermittlungsausschuss kein eigenes Gesetzesinitiativrecht
, sondern wird nur tätig, sofern er nach Zustimmung des Bundestages zu einem Gesetzentwurf von einem der in Art. 76 Abs. 1 GG genannten Initiativberechtigten angerufen
wird (BVerfGE 120, 56 [73 f.]; vgl. auch BVerfGE 125, 104 [122]).
(2) Erfordernis der - vorgängigen - vollständigen Befassung des Parlaments mit Anträgen und Stellungnahmen vor dem Gesetzesbeschluss
Entscheidend ist, dass die das Anrufungsbegehren bestimmenden, in das Gesetzgebungsverfahren eingeführten Anträge und Stellungnahmen vor dem Gesetzesbeschluss bekanntgegeben worden waren und die Abgeordneten in Wahrnehmung ihrer ihnen aufgrund ihres freien Mandats obliegenden Verantwortung die Möglichkeit hatten, diese zu
erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine
Mehrheit im Parlament zu suchen (BVerfGE 120, 56 [75 f.]; vgl. auch BVerfGE 125, 104
[123]).
c) Folgen von Mängeln im Vermittlungsausschuss-Verfahren
Beansprucht der Vermittlungsausschuss der Sache nach ein Gesetzesinitiativrecht, welches - wie vorstehend ausgeführt - ausschließlich dem Bundestag, dem Bundesrat und
Brunn - Kapitel C.II.3.
Seite 157
der Bundesregierung zusteht, so verstößt ein so zustande gekommenes Gesetz wegen
der unterbundenen Möglichkeit der parlamentarischen Beratung gegen die Verfassung
(BVerfGE 120, 56 [78]; vgl. auch BVerfGE 125, 104 [132] “Evidenz des Mangels“).
3. Zustandekommen eines Gesetzes durch Zustimmung sowie
Zustimmungsbedürftigkeit (Art. 78 GG)
Soweit gemäß Art. 78 GG ein vom Bundestag beschlossenes Gesetz u.a. zustande kommt,
wenn der Bundesrat (einer aufgrund einer Norm des Verfassungsrechts - vgl. beispielsweise die Fülle der zustimmungsbedürftigen Gesetze in den Art. 104 ff. GG - zustimmungsbedürftiger Vorlage) zustimmt (die sonstigen Bestimmungen haben in der Praxis
des Verfassungsgerichts keine besondere Rolle gespielt), gilt das Gebot, den Willen der
beteiligten Verfassungsorgane zurechenbar festzustellen , was also gilt für den förmlichen Gesetzesbeschluss des Bundestages ebenso wie für die Zustimmung des Bundesrates
(BVerfGE 106, 310 [332]).
Nur ganz ausnahmsweise ist die Berichtigung eines Gesetzesbeschlusses zulässig, wenn
nämlich eine offensichtliche Unrichtigkeit vorliegt (BVerfGE 105, 313 [334 f.]).
a) Art und Weise der Zustimmung bzw. deren Versagung
Das Grundgesetz schreibt für die Beschlussfassung über die Zustimmung zu Gesetzen eine
bestimmte Form oder eine bestimmte Formulierung der gefassten Beschlüsse nicht vor
(BVerfGE 28, 66 [79 f.]). Gleichwohl muss der Bundesrat, falls er einem Gesetz zustimmen will, grundsätzlich seine Zustimmung ausdrücklich beschließen, und grundsätzlich
kann ein Beschluss, von der Anrufung des Vermittlungsausschusses abzusehen, nicht als
Zustimmung des Bundesrates zu einem Gesetz gewertet werden (BVerfGE 8, 274 [296 f.];
vgl. aber auch BVerfGE 9, 305 [315 f.] für “tatsächliche Zustimmung“).
Was auf der anderen Seite die Entschließung des Bundesrates anbelangt, dem Gesetz
die Zustimmung zu verweigern, so ist diese “unverrückbar“ (BVerfGE 55, 274 [327 f.]
dazu, dass eine Umdeutung ebenso wenig möglich ist wie eine Rückgängigmachung der
Versagung der Zustimmung). Freilich hat der Bundesrat das Recht, neben der Verweigerung der Zustimmung zu einem nach seiner Meinung zustimmungsbedürftigen Gesetz
gleichzeitig für den Fall, dass das Gesetz nicht zustimmungsbedürftig sein sollte, dagegen
vorsorglich Einspruch einzulegen (BVerfGE 37, 363 [396]).
b) Zustimmungsbedürftigkeit als von der Verfassung ausdrücklich zu
regelnde Ausnahme
Weil das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrats zu einem Gesetz nach dem Grundgesetz - zumindest in seiner Urfassung - die Ausnahme ist (BVerfGE 37, 363 [380 f.]; vgl.
auch BVerfGE 126, 77 [106]), gilt der Grundsatz, dass eine Zustimmung des Bundesrates
nur dort erforderlich ist, wo das Grundgesetz sie - wie gerade erwähnt - ausdrücklich
vorsieht ( Enumerationsprinzip ; grundlegend: BVerfGE 1, 76 [79]; vgl. auch BVerfGE
108, 370 [397]).
aa) Aufhebungen und Änderungen zustimmungsbedürftiger Gesetze
Brunn - Kapitel C.II.4.
Seite 158
Wie auch anderenorts dargelegt (nachfolgend C.VIII.4. (vgl. S. 232) ), erstreckt sich
jedoch das Zustimmungserfordernis für beispielsweise eine Verfahrensregelung nicht auf
die Aufhebung der Verfahrensregelung (BVerfGE 126, 77 [110 f.]).
Schwierig wird es, wenn ein mit Zustimmung des Bundesrates ergangenes Gesetz durch
ein Gesetz geändert wird; entscheidend ist dann regelmäßig, ob das Änderungsgesetz
neue Vorschriften enthält, die ihrerseits die Zustimmungsbedürftigkeit auslösen (grundlegend BVerfGE 37, 363 [382 f.]; vgl. auch BVerfGE 114, 196 [231] sowie BVerfGE 48,
127 [177 ff.], allerdings für Art. 87 b Abs. 2 Satz 1 GG).
bb) Einzelfälle
Im Einzelnen ist vor allem darüber gestritten worden, wann eine Regelung über die Einrichtung von Behörden vorliegt (BVerfGE 126, 77 [98 ff.]), wann bestimmte Aufgaben
auf die Länder übertragen werden (a.a.O. [103 ff.]) und unter welchen Voraussetzungen
es möglich ist, eine Gesetzesmaterie in ein nicht zustimmungsbedürftiges und in ein zustimmungsbedürftiges Gesetz aufzuteilen (BVerfGE 105, 313 [338 ff.]; vgl. auch BVerfGE
114, 196 [230] sowie BVerfGE 128, 1 [35]).
c) Umfang der Zustimmung
Liegt Zustimmungsbedürftigkeit objektiv vor, so bezieht sich die Zustimmung des
Bundesrates zu einem Bundesgesetz auf alle Normen des Gesetzes, nicht nur auf die,
die seine Zustimmungsbedürftigkeit ausgelöst haben.
Weil der Bundesrat durch seine Zustimmung die Verantwortung für das Gesetz als Ganzes
übernimmt (BVerfGE 24, 184 [197 f.]), soll er auch einem Gesetz, das sowohl materielle
Normen als auch beispielsweise Vorschriften über das Verfahren der Landesverwaltung
enthält, deshalb die Zustimmung versagen dürfen, weil er nur mit der materiellen Regelung nicht einverstanden ist (BVerfGE 37, 363 [381]; vgl. indessen auch BVerfGE 105,
313 [339]).
4. Verkündung und Inkraftsetzen von Gesetzen im Sinne von Art. 82 GG
Besondere Sorgfalt ist - wozu zu Recht das Handbuch der Rechtsförmlichkeit (3. Aufl.,
S. 131 ff.) rät - angezeigt, wenn es darum geht, den Verkündungs- und den Inkrafttretenszeitpunkt aufeinander abzustimmen:
a) Verkündung
Die verfassungsrechtlich vorgeschriebene Verkündung ist nicht bloß eine Zutat, sondern
ein integrierender Bestandteil des Rechtssetzungsaktes selbst (BVerfGE 7, 330 [337]).
aa) Prinzip der formellen Gesetzesverkündung
Nach dem Prinzip der formellen Gesetzesverkündung, das den ursprünglichen Grundsatz
der materiellen Gesetzesverkündung abgelöst hat, ist für das Inkrafttreten eines Gesetzes
nicht erforderlich, dass es tatsächlich allgemein bekannt geworden ist; es genügt, dass es
in einer Weise der Öffentlichkeit zugänglich ist, die es dem Bürger gestattet, sich Kenntnis
vom Inhalt des Gesetzes zu verschaffen (BVerfGE 16, 6 [16 f.]).
Brunn - Kapitel C.II.4.
Seite 159
bb) “Ausgabe“ des Gesetzblatts als maßgeblicher Zeitpunkt
Der Zeitpunkt, in dem die Äußerung des Verkündungswillens unwiderruflich wird, ist der
Zeitpunkt des “Ausgebens“ des Gesetzesblattes. Es ist der Zeitpunkt, in dem in Übereinstimmung mit dem Willen und der Weisung des für die Verkündung zuständigen Verfassungsorgans das erste Stück der Nummer des Gesetzblattes “in Verkehr gebracht“ wird;
in diesem Augenblick ist das Gesetz durch das zuständige Verfassungsorgan verkündet
(BVerfGE 16, 6 [18 ff.]).
Wird die Unrichtigkeit der Angabe im Kopf einer Nummer des Gesetzblattes über den
Tag ihrer Ausgabe geltend gemacht, so muss die Unrichtigkeit nachgewiesen werden;
bloße Zweifel oder Bedenken gegen die Richtigkeit der Angabe im Gesetzblatt genügen
nicht (BVerfGE 81, 70 [83 f.]).
b) Inkrafttreten
Ist mit der Verkündung das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen, so ist hiervon zu
unterscheiden das in Art. 82 Abs. 2 GG geregelte Inkrafttreten des Gesetzes, das den
Inhalt des Gesetzes betrifft und daher materielle Bedeutung hat (BVerfGE 42, 263
[283]). Die Bestimmung des Inkrafttretens eines Gesetzes kann grundsätzlich nur durch
den Gesetzgeber selbst erfolgen (a.a.O. [283 f.]).
aa) Erfordernis der Klarheit über den Zeitpunkt der Normverbindlichkeit
Durch Art. 82 Abs. 2 Satz 1 GG soll sichergestellt werden, dass über den Zeitpunkt der
Normverbindlichkeit Klarheit herrscht; alle Normadressaten müssen den Beginn ihres
jeweiligen Berechtigt- und Verpflichtetseins in ausreichender Weise erkennen können. Die
Bestimmung dient somit den rechtsstaatlichen Geboten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit (allgemein D.V.3.a) (vgl. S. 337) ) über die zeitliche Geltung des Gesetzes (a.a.O.
[285]); damit freilich ist nicht schlechthin unvereinbar, wenn der Gesetzgeber das Inkrafttreten von einer Bedingung abhängig macht, ohne ausdrücklich ein Datum zu bestimmen
(a.a.O. [283 f.]).
bb) Gesetzgeber und Wahl des Zeitpunkts
Die Bestimmung des Zeitpunkts für das Inkrafttreten eines Gesetzes bedarf im Regelfall
keiner Rechtfertigung. Allerdings gilt auch für die Anordnung des Inkrafttretens eines
Gesetzes der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Darüber hinaus können besondere Lagen die Freiheit des Gesetzgebers bei der Wahl des Zeitpunkts für das Inkrafttreten eines Gesetzes begrenzen (BVerfGE 47, 85 [93 f.]; die Wahl des Zeitpunkts muss
“am gegebenen Sachverhalt orientiert, d.h. sachlich vertretbar sein“; vgl. auch BVerfGE
21, 173 [184] für Gewährung einer Übergangszeit).
c) Der Bundespräsident und die Ausfertigung von Gesetzen
(formelles/materielles Prüfungsrecht)
Weil sie vom Gesetzgeber nicht (bzw. kaum, nämlich allenfalls in Form einer überzeugenden Gesetzesbegründung) beeinflusst werden kann, braucht hier der - soweit ersichtlich
- nach wie vor letztlich nicht verbindlich geklärten (vgl. BVerfGE 1, 396 [413]; BVerfGE 2, 143 [169] sowie BVerfGE 34, 9 [22 f.]) Frage nicht näher nachgegangen werden,
welche(n) Umfang und Grenzen Art. 82 Abs. 1 Satz 1 GG (vgl. BVerfGE 131, 47 [53]
Brunn - Kapitel C.III.0.
Seite 160
“...Kompetenz zur Prüfung ...“) bezüglich des Bundespräsidenten (vgl. allgemein BVerfGE 136, 277 [310 f.]) hat; im Ergebnis wird man dem im Schrifttum herrschenden und
in ständiger Staatspraxis ohne ersichtliche Ausnahmen praktizierten Auffassung folgen
müssen, wonach - neben einem “formellen“ - auch ein “materielles“ Prüfungsrecht jedenfalls dann anzunehmen ist, wenn es um evidente Verstöße gegen die Verfassung bzw.
Rechtsprechung des Verfassungsgerichts geht.
d) Neubekanntmachung
Die verkündete Fassung eines Gesetzes bleibt auch dann maßgeblich, wenn einem Bundesminister eine Ermächtigung erteilt wird, ein Gesetz neu bekannt zu machen. Eine solche
lediglich deklaratorische Klarstellung des Gesetzestextes lässt den rechtlich erheblichen
Inhalt des Gesetzes unberührt (BVerfGE 18, 389 [391]).
III. (Materienübergreifende) Kompetenzen zur Übertragung von
Normsetzungsbefugnissen und Hoheitsrechten
1.
Die Übertragung der Befugnis zur Normsetzung auf den Verordnungsgeber
(Art. 80 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Rechtsverordnung und Gesetzesvorbehalt (“Wesentlichkeitsdoktrin“)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Zwecke des Art. 80 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
163
163
164
(1) Gebot für das Parlament, sich nicht seiner Verantwortung
zu entäußern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
164
(2) Pflicht, Umfang und Grenzen der Befugnisse zu “bedenken“
164
bb) Gesetzgeber und “Eingriffe“ in Rechtsverordnungen . . . . .
164
cc) “Selbstbindung“ des verordnungsändernden Gesetzgebers? .
Die wichtigsten Verpflichtungen und Bindungen des Gesetzgebers sowie des Verordnungsgebers aus Art. 80 GG (insbesondere: Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Normtypen und “Ablösungen“)
164
164
aa) Abschließender Charakter von Artikel 80 Abs. 1 Satz 1 GG
165
(1) Adressatenkreis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
(2) Auswahl des Ermächtigten . . . . . . . . . . . . . . . . .
165
bb) Die Erfordernisse des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (insbesondere
Bestimmtheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Bindungen und Spielräume der Verordnungsgeber . . . .
165
166
(1a)
“Überschreitung“ des gesetzlichen Rahmens . .
166
(1b)
“Unterschreitung“ des gesetzlichen Rahmens .
166
(2) Bestimmtheit und Auslegung der Ermächtigungsnorm
(2a)
.
Interpretation nach allgemeinen Auslegungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
166
166
Brunn - Kapitel C.III.0.
(2b)
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Parlamentsvorbehalt und “wesentliche Entscheidungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
167
(3) “Ungewisse“ und vielschichtige Sachverhalte . . . . . . .
167
(2c)
cc) (Strengere) Anforderungen des Gesetzesvorbehalts und der Bestimmtheit bei einzelnen Materien . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Strafrecht
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168
(2) Steuerrecht
(3) Beamtenrecht
(4) Berufsbeschränkungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168
(4a)
Berufswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
(4b)
Berufsausübung . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
(5) Eigentumsbeschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
169
dd) Zitiergebot (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG) . . . . . . . . . . . .
169
(1) Verordnungsgeber und Pflicht zur Angabe aller einschlägigen Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
2.
3.
167
169
(2) Keine Pflicht zur Angabe der Grundlagen für jede gesonderte Verordnungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Anhang: Verfassungsgerichtlicher sowie einfach-rechtlicher Rechtsschutz gegen Verordnungen . . . . . . . . . . . . .
169
aa) Verfassungsgerichtliche Überprüfung von Rechtsverordnungen
170
(1) Unvereinbarkeit mit der Verfassung und/oder Bundesrecht
170
(2) Die Überprüfung auf die Einhaltung des Art. 80 Abs. 1 GG
170
(3) “Klarstellungsinteresse“
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
170
bb) Rechtsschutz wegen Missachtung des Zitiergebots . . . . . .
171
cc) Rechtsschutz wegen Missachtung des Gleichheitssatzes . . .
Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen (in Satzungsautonomie) . .
Die Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 24 GG im Allgemeinen und Art. 23 GG im Speziellen) . . . . . . . . . . .
a) Gesetzgeber und Übertragungen von Hoheitsrechten (Art. 24 GG)
aa) Zwischenstaatliche Einrichtungen i.S.v. Art. 24 Abs. 1 GG .
(1) Gesetzesvorbehalt in Art. 24 Abs. 1 GG
. . . . . . . . .
(2) Gesetzeserfordernis bei weiterem Integrationsprozess
. .
169
171
171
172
172
172
172
172
bb) Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs.
2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
172
(1) Beginn der Mitgliedschaft (Zustimmungsgesetz gem. Art.
59 Abs. 2 Satz 1 GG) und regelmäßige Folgen . . . . . .
173
(1a)
Übernahme von Aufgaben als typische Folgen
173
Brunn - Kapitel C.III.0.
(1b)
b)
Seite 162
“Fortentwicklungen“ (ohne förmliche Vertragsänderungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
(2) Verfassungsrechtliche Folgenbegrenzungen nach dem Beitritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
173
(3) Aufteilung der Staatsgewalten im Hinblick auf Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit . . . . . . . . . . . . . .
Gesetzgeber und Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen
Union (Art. 23 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (Anwendungsvorrang)
. . . . . .
174
174
174
174
(1) Folgen des Anwendungsvorrangs (insbesondere Ausübung
öffentlicher Gewalt in Deutschland durch Unionsorgane und
-stellen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
174
(2) Grenzen des Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . .
175
cc) Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG (Verfassungsidentität)
. . . . . .
175
(1) Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht
(insbesondere Prüfung, ob Unionsorgane bzw. -stellen
“ultra vires“ handeln) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
(2) Anrufungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts sowie dessen “Prüfprogramm“ . . . . . . . . . . . . . . . .
175
dd) Insbesondere: Die Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG im
Lichte der Wahrung der Integrationsverantwortung (aller Verfassungsorgane) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
(1) Verfassungsrechtliche Pflichten des Gesetzgebers . . . . .
(1a)
176
Verbot der Aufgabe der (völkerrechtlichen) Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
176
Verbot der “irreversiblen rechtlichen Präjudizierung künftiger Generationen“ . . . . . . . . . .
176
(2) Pflichten des Gesetzgebers bei “Grenzfällen des noch verfassungsrechtlich Zulässigen“ bzw. bei der Gefahr der “Bemächtigung“ der “Kompetenz-Kompetenz“ durch die EU
177
(3) Gebote und Verbote bei “Kompetenzanmaßungen“ (“ultravires“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
(1b)
(3a)
Mitwirkungsverbot an kompetenzüberschreitenden Handlungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
Pflicht zur aktiven Hinwirkung auf die Einhaltung des Integrationsprogramms (bei “Usurpationen“ von Hoheitsrechten) . . . . . . . . . .
177
Nachträgliche Legitimierungen von Kompetenzanmaßungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
177
ee) Der Haushaltsgesetzgeber und verfassungsrechtliche Bindungen (Erhalt der Budgetverantwortung des Parlaments) . . .
178
(3b)
(3c)
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 163
(1) Verbot der Zustimmung zu “Automatismen“ . . . . . . .
178
(2) Gesetzgeber und Währungsunion
178
. . . . . . . . . . . . .
ff) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, seine Grenzen und
seine Beachtung durch die Behörden und Gerichte . . . . . .
178
Bereits das Ur-Grundgesetz des Jahres 1949 enthält in Art. 24 GG Gesetzgebungskompetenzen zur Übertragung von Hoheitsrechten und in Art. 80 GG die Kompetenz zur
Übertragung von Normsetzungskompetenzen (auf den Verordnungsgeber).
Wie eingangs des Kapitels C. dargelegt, wird man die in der Folge angesprochenen Befugnisse des Bundesgesetzesgebers aus Art. 80 GG sowie Art. 23 GG und Art. 24 GG als
solche charakterisieren dürfen, welche zwischen einer (bloß) formellen und einer materiellen Kompetenz angesiedelt sind.
1. Die Übertragung der Befugnis zur Normsetzung auf den
Verordnungsgeber (Art. 80 GG)
[1] Wenngleich die in den Artikeln 70-75 GG enthaltenen Kompetenzvorschriften die
Befugnis zum Erlass von förmlichen Gesetzen betreffen (BVerfGE 55, 7 [21]), schließt
die Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich - in den Grenzen des Art. 80 Abs. 1 GG die partielle Übertragung der Normsetzungsbefugnis auf den Verordnungsgeber ein
(BVerfGE 106, 1 [19]).
Weil es grundsätzlich der Entscheidung des Gesetzgebers zu überlassen ist, welche normative Regelungsdichte er auf einem Rechtsgebiet für erforderlich hält, kann er dabei
auch den Verordnungsgeber zum Erlass von Normen verpflichten (BVerfGE 79, 174
[193 f.]).
[2] Für landesgesetzliche Verordnungsermächtigungen ist zwar Art. 80 Abs. 1 GG nicht
unmittelbar anwendbar. Die in Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG festgelegten, aus dem rechtsstaatlichen und demokratischen Verfassungssystem des Grundgesetzes folgenden Grundsätze sind aber auch für die Landesgesetzgebung verbindlich (BVerfGE 139, 19 [48] für
Landesbeamtenrecht; dort [45 ff.] sehr ausführlich zu den aus dem Rechtsstaatsprinzip
und Demokratiegebot folgenden Pflichten des Gesetzgebers, die für die Verwirklichung der
Grundrechte wesentlichen Regelungen selbst zu treffen, und den daraus - im Einzelnen
im Folgenden behandelten - resultierenden Anforderungen an Verordnungsermächtigungen).
a) Rechtsverordnung und Gesetzesvorbehalt (“Wesentlichkeitsdoktrin“)
Grundsätzlich können zwar auch Gesetze, die zu Rechtsverordnungen und Satzungen
ermächtigen, den Voraussetzungen des Gesetzesvorbehalts genügen, die wesentlichen
Entscheidungen müssen aber durch den parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen.
Die Wesentlichkeitsdoktrin beantwortet daher nicht nur die Frage, ob überhaupt ein bestimmter Gegenstand gesetzlich zu regeln ist. Sie ist vielmehr auch dafür maßgeblich,
wie genau diese Regelungen im Einzelnen sein müssen. Das Erfordernis der hinreichenden Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage bei Delegation einer Entscheidung auf
den Verordnungsgeber stellt insoweit eine notwendige Ergänzung und Konkretisierung
des Gesetzesvorbehalts und des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung dar
(BVerfGE 139, 19 [47]; dort auch im Einzelnen zur nachfolgend behandelten Bestimmtheit der Ermächtigung).
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 164
aa) Zwecke des Art. 80 Abs. 1 GG
Nach dem Vorstehenden begibt sich der parlamentarische Gesetzgeber durch eine Verordnungsermächtigung gerade nicht seiner Regelungskompetenz; er bleibt weiter regelungsbefugt und behält sein Zugriffsrecht auf die von der Verordnungsermächtigung
umfasste Materie (BVerfGE 114, 196 [232]).
(1) Gebot für das Parlament, sich nicht seiner Verantwortung zu entäußern
Mit anderen Worten ist es Sinn der Regelung des Art. 80 Abs. 1 GG, das Parlament
daran zu hindern, sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft zu entäußern
(“Parlamentsvorbehalt“; BVerfGE 136, 69 [114] vor allem für den grundrechtsrelevanten
Bereich).
(2) Pflicht, Umfang und Grenzen der Befugnisse zu “bedenken“
Es soll nicht einen Teil seiner Gesetzgebungsmacht der Exekutive übertragen können,
ohne die Grenzen dieser Befugnis bedacht und diese nach Tendenz und Programm so
genau umrissen zu haben, dass schon aus der Ermächtigung erkennbar und vorhersehbar
ist, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll (BVerfGE 78, 249 [272] ; grundlegend:
BVerfGE 58, 257 [277]).
bb) Gesetzgeber und “Eingriffe“ in Rechtsverordnungen
Gleichwohl ist ein entstandenes Normgebilde aus Gründen der Normenklarheit insgesamt als Rechtsverordnung zu qualifizieren, wenn das Parlament eine bestehende
Rechtsverordnung ändert oder in diese neue Regelungen einführt (BVerfGE 114, 196
[235 ff., 238 ]), auch wenn der parlamentarische Gesetzgeber bei diesem Verfahren an das
Verfahren nach den Artikeln 76 ff. GG gebunden ist (BVerfGE 114, 196 [238 f.]).
cc) “Selbstbindung“ des verordnungsändernden Gesetzgebers?
Dass der parlamentarische Gesetzgeber bei der Änderung einer Verordnung auch an die
Grenzen der Ermächtigungsgrundlage gebunden ist (BVerfGE 114, 196 [239]), lässt sich
mit guten Gründen bezweifeln (BVerfGE 114, 196 [250, 256 f.] abweichende Meinung).
b) Die wichtigsten Verpflichtungen und Bindungen des Gesetzgebers sowie
des Verordnungsgebers aus Art. 80 GG (insbesondere: Zusammenhänge
zwischen den jeweiligen Normtypen und “Ablösungen“)
Bei der Schaffung einer Ermächtigungsgrundlage für eine Verordnung braucht der Gesetzgeber nicht im Einzelnen zu bedenken, wie lange die Ermächtigungsgrundlage gültig
sein wird; sowohl das nachträgliche Erlöschen als auch die nachträgliche Änderung einer
Ermächtigung ist ohne Einfluss auf den Rechtsbestand der ordnungsgemäß erlassenen
Rechtsverordnung (BVerfGE 14, 245 [249]).
[1] Indessen wäre es unzulässig, wenn der Gesetzgeber eine Rechtsverordnung, die ohne gesetzliche Ermächtigung erlassen worden ist, mit rückwirkender Kraft nachträglich
genehmigte (BVerfGE 22, 330 [346]). Dies schließt aber nicht aus, gesetzliche Ermächtigungen zum Erlass rückwirkender Verordnungen zu erteilen; eine solche Ermächtigung
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 165
braucht nicht ausdrücklich erteilt zu werden, sondern sie kann sich auch aus dem Sinn
und Zweck des Gesetzes ergeben (BVerfGE 45, 142 [163 f.]).
[2] Knüpft eine gesetzliche Ermächtigung die Gültigkeit einer Rechtsverordnung an eine
weitere Voraussetzung, wie beispielsweise die vorherige Anhörung von Sachverständigen,
so folgt aus der Nichtbefolgung der Verpflichtung regelmäßig die Nichtigkeit der Verordnung (BVerfGE 10, 221 [227]).
Zumindest gilt das dann, wenn der Verstoß (gegen Anhörungs- und Beteiligungspflichten,
die der Gesetzgeber vorgesehen hat) zugleich einen Verfassungsverstoß darstellt, weil
dies das Gewicht des Verfahrensverstoßes “erhöht“ und dagegen spricht, dass er ohne
Folgen für die Gültigkeit der Norm bleibt (BVerfGE 127, 293 [332 f.]).
aa) Abschließender Charakter von Artikel 80 Abs. 1 Satz 1 GG
Zu einer anderen Regelungsform als einer Rechtsverordnung kann vermittels Art. 80 GG
nicht ermächtigt werden (BVerfGE 12, 319 [325]; vgl. auch BVerfGE 73, 388 [400]).
(1) Adressatenkreis
Auch der Adressatenkreis einer zulässigen Rechtsverordnung ist in Art. 80 Abs. 1 Satz 1
GG abschließend bestimmt. Weder kann durch Bundesgesetz i.S.d. Art. 80 Abs. 1 Satz 1
GG der Leiter einer Bundesoberbehörde (BVerfGE 8, 155 [163]) noch ein Landesminister
zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt werden (BVerfGE 11, 77 [86]).
Die Folge einer gültigen Ermächtigung an eine Landesregierung kann nur die Setzung
von Landesrecht, nicht von Bundesrecht sein (BVerfGE 18, 407 [414, 418 f.]).
(2) Auswahl des Ermächtigten
Innerhalb des von Art. 80 Abs. 1 Satz 1 GG abgesteckten Adressatenkreises steht es
dem Bundesgesetzgeber in Wahrnehmung seiner Kompetenzen frei, wen er zum Verordnungsgeber berufen will (BVerfGE 56, 298 [311]; zu den Anforderungen an eine gültige
Verordnung einer Bundesregierung als Kollegium: BVerfGE 91, 148 [165, 166, 169 ff.]).
bb) Die Erfordernisse des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG (insbesondere Bestimmtheit)
Jede Ermächtigungsnorm ist an den rechtsstaatlichen Anforderungen des Art. 80 Abs. 1
Satz 2 GG zu messen, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung im Gesetz
bestimmt werden müssen. Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG führt als eine Ausprägung des “allgemeinen Gesetzesvorbehalts“ den staatlichen Eingriff durch die Exekutive nachvollziehbar
auf eine parlamentarische Willensäußerung zurück.
[1] Die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm muss der Grundrechtsrelevanz der Regelung entsprechen, zu der ermächtigt wird: Je erheblicher diese in die Rechtsstellung des
Betroffenen eingreift, desto höhere Anforderungen müssen an den Bestimmtheitsgrad der
Ermächtigung gestellt werden. Eine Ermächtigung darf daher nicht so unbestimmt sein,
dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz
von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können. Schon aus der Ermächtigung muss daher
erkennbar und vorhersehbar sein, was dem Bürger gegenüber zulässig sein soll (BVerfGE
139, 19 [47]).
Brunn - Kapitel C.III.1.
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[2] Zwar stellen Art. 80 Abs. 1 Sätze 1 und 2 GG unmittelbar Anforderungen nur an
das ermächtigende Gesetz. Aus dem Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes (nachfolgend
D.V.3.b) (vgl. S. 341) ) folgt jedoch auch, dass eine Rechtsverordnung sich in den
Grenzen der gesetzlichen Ermächtigung halten muss (BVerfGE 136, 69 [92]; dort [102
ff.] auch zu Art. 80 Abs. 2 GG und dessen Zweck: Zustimmungsrechte des Bundesrates
sollen nicht durch Delegation der Rechtsetzung auf die Exekutive erlöschen).
(1) Bindungen und Spielräume der Verordnungsgeber
Im Grundsatz können sowohl “Kann-Ermächtigungen“ als auch “Muss-Ermächtigungen“
geschaffen werden; “Kann-Ermächtigungen“ sind regelmäßig unbedenklich, wenn die Anwendbarkeit des Gesetzes nicht davon abhängt, ob von ihnen Gebrauch gemacht wird
oder nicht (BVerfGE 78, 249 [272]); ist ohne eine vorgesehene Durchführungsverordnung
die gesetzliche Regelung nicht praktikabel, so ist der Ermächtigungsadressat freilich verpflichtet, von der Ermächtigung Gebrauch zu machen (BVerfGE 13, 248 [254]).
(1a) “Überschreitung“ des gesetzlichen Rahmens
Macht ein Verordnungsgeber von einer Ermächtigung Gebrauch, so darf er - erstens keine Differenzierungen vornehmen, wenn sie über die Grenzen einer formell und materiell verfassungsmäßigen Ermächtigung hinaus eine Korrektur der Entscheidungen des
Gesetzgebers bedeuten würden (BVerfGE 16, 332 [338 f.]); niemals darf in einer Rechtsverordnung originärer politischer Gestaltungswille der Exekutive zum Ausdruck kommen
(BVerfGE 78, 249 [273]).
Und - zweitens - muss er beachten, dass für jede seiner Vorschriften eine gesetzliche
Grundlage vorhanden sein muss (BVerfGE 136, 69 [93]).
(1b) “Unterschreitung“ des gesetzlichen Rahmens
Sieht das Gesetz für den Erlass einer Norm ein Anhörungserfordernis vor, so zielt es
darauf, dass das Ergebnis der Anhörung als informatorische Grundlage in die Abwägungsentscheidung des Normgebers einfließt.
Dem Anhörungserfordernis wird daher nicht ordnungsgemäß entsprochen, wenn die Anhörung nur pro forma durchgeführt wird, ohne dass noch die Möglichkeit oder Bereitschaft bestünde, das Ergebnis in der Abwägungsentscheidung des Normgebers zu
berücksichtigen (BVerfGE 127, 293 [321]).
(2) Bestimmtheit und Auslegung der Ermächtigungsnorm
Soweit nach Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung
“im Gesetz“ bestimmt werden müssen, besagt dies nicht, dass sie im Text des Gesetzes
ausdrücklich zu bestimmen sind.
(2a) Interpretation nach allgemeinen Auslegungsregeln
Für die Interpretation von Ermächtigungsnormen gelten vielmehr die allgemeinen Auslegungsgrundsätze; mithin können auch hier der Sinnzusammenhang der Norm mit anderen
Vorschriften und das Ziel, das die gesetzliche Regelung insgesamt verfolgt, maßgeblich
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 167
sein; maßgebend ist mit anderen Worten der in der Bestimmung zum Ausdruck kommende objektive Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Ermächtigungsnorm und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den die Ermächtigung gestellt ist,
und auch die Entstehungsgeschichte kann - vor allem zur Bestätigung des Ergebnisses
der Auslegung - herangezogen werden (BVerfGE 123, 39 [78]; grundlegend: BVerfGE 8,
274 [307]).
Auch etwa aus der Bezeichnung eines Gesetzes als “Übergangsgesetz“ lassen sich konkrete
Schlüsse auf die Tendenz ziehen, die das Gesetz verfolgt (BVerfGE 8, 274 [312]). Bezieht
sich eine Ermächtigung auf einen Sachbereich, der bereits durch eine Verordnung geregelt
war, so geht der Gesetzgeber, wenn er nichts anderes zum Ausdruck bringt, in der Regel
davon aus, dass der Verordnungsgeber sich an den bisherigen Grundsätzen orientieren
wird (BVerfGE 62, 203 [210]).
(2b) Parlamentsvorbehalt und “wesentliche Entscheidungen“
Wie nämlich vorstehend schon dargelegt (a)aa)), soll die Vorschrift des Art. 80 Abs. 1
Satz 2 GG den Gesetzgeber zwingen, die für die Ordnung eines Lebensbereiches entscheidenden Vorschriften selbst zu setzen (der Parlamentvorbehalt gebietet, dass die “wesentlichen Entscheidungen“ vom Gesetzgeber getroffen werden; BVerfGE 136, 69 [114]) und,
sofern Einzelregelungen der Exekutive überlassen bleiben, sie nach Tendenz und Ausmaß soweit selbst zu bestimmen, dass der mögliche Inhalt der zu erlassenden Verordnung
voraussehbar ist (BVerfGE 7, 282 [301]).
(2c) Einzelfragen
Dies schließt nicht von vornherein aus, dass der Gesetzgeber in der Ermächtigungsnorm
Generalklauseln und unbestimmte Rechtsbegriffe verwendet (BVerfGE 106, 1 [19]).
All dies gilt im Grundsatz sowohl für belastende als auch für begünstigende Regelungen
(BVerfGE 23, 62 [73]).
Speziell im Recht der Steuern ist eine Ermächtigung grundsätzlich hinreichend bestimmt, wenn der steuerliche Belastungstatbestand - Steuerschuldner, Steuergegenstand,
Bemessungsgrundlage und Steuersatz - im Gesetz festgelegt wird (BVerfGE 137, 350
[365]).
(3) “Ungewisse“ und vielschichtige Sachverhalte
Regelmäßig dürften geringere Anforderungen bei vielgestaltigen Sachverhalten zu stellen
sein oder dann, wenn zu erwarten ist, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse alsbald
ändern werden (BVerfGE 58, 257 [277 f.]; vgl. auch BVerfGE 123, 39 [80] für Spielraum
des Verordnungsgebers unter Berücksichtigung von “Komplexität und Dynamik einer zu
regelnden Materie“).
Wird durch den Gesetzgeber (zulässig) eine Prognoseentscheidung
(vorstehend
A.II.3.a)bb) (vgl. S. 21) ) auf den Verordnungsgeber übertragen, so gelten für die
Überprüfung regelmäßig die gleichen differenzierten Maßstäbe wie bei der Prognoseentscheidung des Gesetzgebers selbst (BVerfGE 106, 1 [17]).
cc) (Strengere) Anforderungen des Gesetzesvorbehalts und der Bestimmtheit bei einzelnen Materien
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 168
Allgemein gilt, dass die Bestimmtheit (hierzu ausführlich, freilich nicht zu Art. 80 GG:
BVerfGE 134, 33 [81 f.] zu Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) der Ermächtigungsnorm der
Grundrechtsrelevanz der Regelung entsprechen muss, zu der ermächtigt wird; greift die
Regelung erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen ein, so müssen höhere Anforderungen an den Bestimmtheitsgrad der Ermächtigung gestellt werden, als wenn es
sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert
(BVerfGE 58, 257 [278]; vgl. auch BVerfGE 85, 386 [403 f.] zur Verpflichtung zur “Offenlegung“ einer Ermächtigung zum Freiheitseingriff).
Jedenfalls fehlt es an der notwendigen Bestimmtheit, wenn die Ermächtigung so unbestimmt ist, dass nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchen Fällen und mit
welcher Tendenz von ihr Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die aufgrund der Ermächtigung erlassenen Verordnungen haben können (BVerfGE 101, 1 [31];
grundlegend: BVerfGE 1, 14 [60]; vgl. auch BVerfGE 123, 39 [78] sowie BVerfGE 137,
108 [180] “hinreichende Bestimmtheit“).
(1) Strafrecht
An die inhaltliche Bestimmtheit von Ermächtigungsnormen müssen deshalb insbesondere
für strafrechtliche Maßnahmen strenge Anforderungen gestellt werden. Der Gesetzgeber
muss die Ermächtigung zur Strafandrohung unzweideutig aussprechen und dabei Inhalt,
Zweck und Ausmaß der Ermächtigung so genau umreißen, dass die Voraussetzungen der
Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aus der Ermächtigung und nicht
erst aus der auf sie gestützten Verordnung voraussehbar sind (BVerfGE 14, 174 [185 f.]).
(2) Steuerrecht
Deshalb darf auch ein Gesetz, das eine Steuer (vgl. auch vorstehend bb)(2)(2c)) einführt,
es dem Verordnungsgeber nicht überlassen, das für die Steuer Wesentliche zu bestimmen
(BVerfGE 7, 282 [302]; vgl. auch für die Ausgestaltung einer Gebührenordnung BVerfGE
20, 257 [269 f.], für die Ermächtigung zur Festsetzung von Entgelten BVerfGE 58, 283
[292] und eine Ermächtigung zur Erhebung kostenorientierter Abgaben BVerfGE 124,
348 [382]).
(3) Beamtenrecht
Die Regelungsform des Gesetzes ist für das Beamtenverhältnis typisch und sachangemessen; die wesentlichen Inhalte des Beamtenrechts sind daher durch Gesetz zu regeln.
Ob bestimmte Regelungen in der Vergangenheit durch Rechtsverordnung erfolgt sind, ist
dabei nicht entscheidend. Die Frage der Wesentlichkeit und damit der Ermächtigungsgrundlage kann sich unter einem aktualisierten verfassungsrechtlichen Blickwinkel anders
darstellen als noch vor einigen Jahren oder gar Jahrzehnten (BVerfGE 139, 19 [48]).
(4) Berufsbeschränkungen
Art. 12 Abs. 1 GG (nachfolgend E.XII.) schützt unter anderem die freie Wahl des Arbeitsplatzes. Art. 12 Abs. 1 GG entfaltet seinen Schutz gegen alle staatlichen Maßnahmen,
die diese Wahlfreiheit beschränken.
Brunn - Kapitel C.III.1.
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(4a) Berufswahl
Die Berufsfreiheit steht allerdings unter dem spezifischen Gesetzesvorbehalt des Art. 12
Abs. 2 GG. Ein wesentlicher Eingriff in dieses Grundrecht ist anzunehmen, wenn die
Eingriffsregelung die Freiheit der Berufswahl betrifft oder statusbildenden Charakter hat.
(4b) Berufsausübung
Auch bei Regelungen, die nur die Freiheit der Berufsausübung betreffen, muss das
zulässige Maß des Eingriffs umso deutlicher in der gesetzlichen Ermächtigung bestimmt
werden, je empfindlicher die berufliche Betätigung beeinträchtigt wird: Einschneidende,
das Gesamtbild der beruflichen Betätigung wesentlich prägende Vorschriften über die
Ausübung des Berufs sind dem Gesetzgeber zumindest in den Grundzügen vorzubehalten
(BVerfGE 139, 19 [48 f.]).
(5) Eigentumsbeschränkungen
Vergleichbar strenge Voraussetzungen gelten im Blick auf die elementare freiheitsichernde
Bedeutung des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG, unter denen der Gebrauch des Eigentums
beschränkt werden darf (BVerfGE 58, 137 [146]).
dd) Zitiergebot (Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG)
Die besondere Bedeutung des Bestimmtheitsgebots kommt schließlich auch im Zitiergebot
des Art. 80 Abs. 1 Satz 3 GG (zusammenfassend BVerfGE 136, 69 [113 f.]) zum Ausdruck
(vgl. zum Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG nachfolgend E.I.3.c) (vgl. S. 486) ).
(1) Verordnungsgeber und Pflicht zur Angabe aller einschlägigen Grundlagen
Gerade weil sichergestellt werden muss, dass sich - erstens - der Gesetzgeber über die
Bedeutung der Ermächtigungsnorm im Klaren ist und dass sich - zweitens - der Verordnungsgeber seiner gesetzlichen Grundlage bewusst wird, erfordert Art. 80 Abs. 1 Satz
3 GG, dass nicht nur das ermächtigende Gesetz als solches, sondern die ermächtigende Einzelvorschrift aus dem Gesetz in der Verordnung genannt wird (BVerfGE 101, 1
[41]), was bedingt, dass bei inhaltlicher Überschneidung mehrerer (aktuell gültiger und
einschlägiger) Ermächtigungsgrundlagen diese gemeinsam angegeben werden müssen
(a.a.O. [42]; vgl. auch BVerfGE 136, 69 [113]).
(2) Keine Pflicht zur Angabe der Grundlagen für jede gesonderte Verordnungsnorm
Allerdings muss nicht zu jeder Bestimmung der Verordnung angegeben werden, auf
welcher der Ermächtigungen sie beruht (BVerfGE 136, 69 [113]).
c) Anhang: Verfassungsgerichtlicher sowie einfach-rechtlicher Rechtsschutz
gegen Verordnungen
Verfassungsgerichtliche Rechtsprechung ist zwar spärlich, soweit es aufgrund einer Verfassungsbeschwerde um die Folgen von - trotz ausreichender Grundlage - “missglückten“
Verordnungen geht. Oft haben insoweit bereits die Fachgerichte die Verordnungen für
unanwendbar erklärt.
Brunn - Kapitel C.III.1.
Seite 170
Aber häufiger kommt es vor, dass das Bundesverfassungsgericht in einem abstrakten
Normenkontrollverfahren (vorstehend A.III.4.c)cc) (vgl. S. 90) ) angerufen wird mit dem
Ziel der Unvereinbarkeitserklärung einer Rechtsverordnung.
aa) Verfassungsgerichtliche Überprüfung von Rechtsverordnungen
Auch Rechtsverordnungen können - beispielsweise aufgrund eines Antrags gemäß Art. 93
Abs. 1 Nr. 2 GG und § 76 Abs. 1 BVerfGG - Antragsgegenstand sein.
(1) Unvereinbarkeit mit der Verfassung und/oder Bundesrecht
Zwar bildet gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, soweit es im Verfahren der abstrakten
Normenkontrolle um Normen des Bundesrechts geht, allein deren behauptete Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz, nicht die behauptete bloße Unvereinbarkeit mit einfachem
Bundesrecht, einen zulässigen selbständigen Antragsgrund.
Dies schließt aber nicht aus, dass das Bundesverfassungsgericht, wenn eine Rechtsverordnung des Bundes mit zulässigem, ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz betreffenden
Antragsgrund zur Prüfung gestellt ist, als Vorfrage oder im Hinblick auf eine spezifische
verfassungsrechtliche Bedeutung bestimmter Vorgaben des einfachen Rechts auch die
Vereinbarkeit der Verordnung mit einfachgesetzlichen Normen prüft (BVerfGE 127, 293
[318 f.]; dort [320 f.] auch zu einem Verstoß gegen eine gesetzliche Anhörungspflicht vor
Erlass der Verordnung, “Anhörung pro forma“).
(2) Die Überprüfung auf die Einhaltung des Art. 80 Abs. 1 GG
Das Bundesverfassungsgericht prüft im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle
Rechtsverordnungen des Bundes auch daraufhin, ob sie sich im Rahmen der nach Art.
80 Abs. 1 GG erforderlichen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage halten.
Zur gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Sinne dieser Regel gehören nicht nur die
materiellrechtlichen, sondern auch die verfahrensrechtlichen Vorgaben, an die das ermächtigende Gesetz den ermächtigten Verordnungsgeber bindet, soweit ihre Beachtung für die
Gültigkeit der angegriffenen Verordnungsbestimmungen von Bedeutung sein kann.
Ob die betreffenden Vorgaben sich im selben Satz, Absatz oder Gesetzesparagraphen
finden wie der Ausspruch, dass der Verordnungsgeber ermächtigt werde, kann für die
Zugehörigkeit zur gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im vorliegenden Zusammenhang
nicht entscheidend sein; denn dies ist eine für den rechtlichen Status der Regelung belanglose Frage gesetzestechnischer Zweckmäßigkeit (BVerfGE 127, 293 [320]).
(3) “Klarstellungsinteresse“
Ein objektives Klarstellungsinteresse (BVerfGE 113, 167 [193]) ist indiziert , wenn ein
auf die Bundesverfassung in besonderer Weise verpflichtetes Organ oder ein besonders
verpflichteter Organteil von der Unvereinbarkeit der Norm mit höherem Bundesrecht
überzeugt ist. Dies gilt auch, wenn die zum Prüfungsgegenstand erhobene Norm außer
Kraft getreten oder auf andere Weise gegenstandslos geworden ist.
Das objektive Klarstellungsinteresse entfällt lediglich , wenn von der zur Prüfung gestellten Norm unter keinem denkbaren Gesichtspunkt mehr Rechtswirkungen ausgehen
können. Dies ist vor allem dann nicht der Fall, wenn Rechtsstreitigkeiten , für die es auf
die Vereinbarkeit dieser Norm mit dem Grundgesetz beispielsweise auch noch nach Ablauf
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 171
der darin vorgesehenen Übergangsfristen ankommt, nicht von vornherein auszuschließen
sind (BVerfGE 127, 293 [319]).
bb) Rechtsschutz wegen Missachtung des Zitiergebots
Eine Missachtung des Zitiergebots führt unmittelbar zur Nichtigkeit der Verordnung
(BVerfGE 101, 1 [42 f.]), welche das Fachgericht feststellen kann (BVerfGE 139, 19 [64]),
was zwar bei belastenden Akten, die hierauf gestützt wurden, (wohl zwingend) zur
(teilweisen) Aufhebung führt.
Schwierig ist aber die Frage zu beantworten, was bei Verpflichtungsklagen an die Stelle
der nichtigen Verordnung als Anspruchsgrundlage tritt (bis zur Schaffung einer neuen
Verordnung kommt wohl nur eine - auf die gesetzliche Grundlage bezogene - verfassungsentsprechende (teilweise) Weitergeltungsanordnung (ähnlich wie beim verfassungswidrigen Gesetz; vgl. vorstehend A.III.4.a)bb)(1)(1c) ) der nichtigen Verordnung in Betracht (vgl. zu den Aufhebungen von Gesetzen wegen Verfassungswidrigkeit vorstehend
B.I.2.b.aa)(2) (vgl. S. 101) ; vgl. auch BVerfGE 115,81 [92 ff] für Verordnung sowie
BVerfGE 124, 199 [233 f.] für Satzung zum effektiven Rechtsschutz).
cc) Rechtsschutz wegen Missachtung des Gleichheitssatzes
Ein ähnliches Problem entsteht, wenn ein Fachgericht zur Überzeugung gelangt, dass
eine Verordnung wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig ist. Zwar
stellt das einfache Recht die Möglichkeit zur Verfügung, durch Feststellungsklage die
Grundrechtswidrigkeit feststellen zu lassen, aber es kann - nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 115, 81 [94]; vgl. auch BVerfGE 124, 199 [233 f.]
für Satzung) - oft zu der Konstellation kommen, dass im Hinblick auf ein Verpflichtungsbegehren erst die “Nachbesserung“ der Verordnung abzuwarten ist, was zu äußerst
unbefriedigenden “Wartezeiten“ führen kann; auch insoweit dürfte das letzte Wort noch
nicht gesprochen sein.
2. Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen (in Satzungsautonomie)
Die Einrichtung funktionaler Selbstverwaltung als Ausprägung des Demokratieprinzips
mit dem Ziel der Verwirklichung der freien Selbstbestimmung darf nicht dazu führen, dass
ein Gesetzgeber sich seiner Regelungsverantwortung entäußert. Überlässt er öffentlichrechtlichen Körperschaften und Anstalten als Trägern funktionaler Selbstverwaltung bestimmte Aufgaben zur Regelung in Satzungsautonomie, darf er ihnen die Rechtsetzungsbefugnis nicht zur völlig freien Verfügung überlassen.
Dies gilt insbesondere bei Regelungen, die mit Grundrechtseingriffen verbunden sind
(BVerfGE 111, 192 [216]; dort [217 f.] auch dazu, dass Aufgaben und Handlungsbefugnisse sowie Bildung der Organe der Selbstverwaltung in einem parlamentarischen Gesetz
ausreichend bestimmt sein müssen, der Gesetzgeber institutionelle Vorkehrungen zur
Wahrung der Interessen der von der Selbstverwaltung erfassten Personen treffen sowie
sicherstellen muss, dass sich die gesetzten Regelungen mit Eingriffscharakter als Ergebnis
eines demokratischen Willensbildungsprozesses im Innern darstellen und schließlich im
Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes zu beurteilen ist, wie weit die gesetzlichen Vorgaben ins Einzelne gehen
müssen).
Bei einer solchen autonomen Selbstverwaltung ist regelmäßig eine Staatsaufsicht erforderlich (a.a.O. [218]).
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 172
3. Die Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten (Art. 24 GG im
Allgemeinen und Art. 23 GG im Speziellen)
Weil die Bestimmung des Art 24 GG die historisch ältere ist (Art. 23 GG gilt in dieser
Form erst seit 1993), zunächst die maßgeblichen Grundsätze zu Art. 24 GG:
a) Gesetzgeber und Übertragungen von Hoheitsrechten (Art. 24 GG)
Während über die Absätze 1 und 2 von Art. 24 GG, die der Sache nach bereits im Herrenchiemseer Entwurf enthalten waren, bereits heftig vor dem Verfassungsgericht gestritten
worden ist, ist der Absatz 3 im Wesentlichen “unbeurteilt“ geblieben.
aa) Zwischenstaatliche Einrichtungen i.S.v. Art. 24 Abs. 1 GG
Zwischenstaatliche Einrichtungen können nur durch Verträge zwischen Völkerrechtssubjekten geschaffen werden (BVerfGE 2, 347 [377 f.]). Die - soweit ersichtlich - erste
bedeutsame “Einrichtung“, welche vom Bundesverfassungsgericht als zwischenstaatliche
anerkannt worden ist, war die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), welcher bestimmte Hoheitsrechte übertragen worden sind (BVerfGE 22, 293 [296] vgl. auch BVerfGE
58, 1 [31] Euro-Control).
Sehr umstritten war , ob die NATO eine solche ist (BVerfGE 68, 1 [93] bejahend).
(1) Gesetzesvorbehalt in Art. 24 Abs. 1 GG
Weder ist eine Übertragung von Hoheitsrechten - welche durch Gesetz (und nicht etwa
durch eine Rechtsverordnung) erfolgen muss, um innerstaatliche Wirkung zu entfalten
(BVerfGE 58, 1 [35 f.]) - unwiderruflich (BVerfGE 68, 1 [93]), noch eröffnet Art. 24 Abs. 1
GG einen Weg, das “Grundgefüge“ der Verfassung anzutasten (BVerfGE 58, 1 [40 ff.]; dort
[28] auch zum gesetzgeberischen Ermessen; vgl. auch BVerfGE 73, 339 [376] “hinlängliche
Gerichtsbarkeit“ sowie BVerfGE 89, 155 [175 sowie Ls 7] zum Grundrechtsschutz).
Das verfassungsrechtliche Erfordernis der Übertragung durch Gesetz ist strikt auszulegen, weil letztlich in materieller Hinsicht eine Verfassungsänderung bewirkt wird
(BVerfGE 58, 1 [35 f.]).
(2) Gesetzeserfordernis bei weiterem Integrationsprozess
Was einen weiteren Integrationsprozess angeht, so bedarf es für einzelne Vollzugsschritte nicht jeweils eines gesonderten Gesetzes, wenn der Gründungsvertrag , dem der
Gesetzgeber zugestimmt hat, diesen künftigen Vollzugsverlauf hinreichend bestimmbar
normiert hat; anders ist es bei wesentlichen Änderungen eines Integrationsprogramms
(a.a.O. [36 f.]; vgl. auch BVerfGE 123, 267 [349 ff.]).
bb) Einordnung in ein System kollektiver Sicherheit (Art. 24 Abs. 2 GG)
Die wichtigsten Beispiele für Systeme kollektiver Sicherheit sind die Vereinten Nationen
sowie die NATO:
Die Vereinten Nationen sind ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit i.S.v. Art. 24
Abs. 2 GG. Sie sind darauf angelegt, Streitigkeiten unter ihren Mitgliedern auf friedliche
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 173
Weise beizulegen und notfalls durch Einsatz von Streitkräften den Friedenszustand
wieder herzustellen. Dabei sind die Mitgliedstaaten zu entsprechender Zusammenarbeit
verpflichtet. Die Charta der Vereinten Nationen beschränkt die einzelnen Mitglieder in der
Wahrnehmung ihrer Hoheitsrechte; insbesondere sind die Beschlüsse des Sicherheitsrats
bindend und müssen nach Maßgabe dieser Bindung von den Mitgliedstaaten ausgeführt
werden (BVerfGE 90, 286 [349 f.]).
Auch die NATO ist durch ein friedensicherndes Regelwerk und den Aufbau einer Organisation gekennzeichnet, die es zulassen, sie als System gegenseitiger kollektiver Sicherheit
zu bewerten (a.a.O. [351]; vgl. auch BVerfGE 104, 151 [206 ff.]; BVerfGE 118, 244 [261
f.] “Vorbehalt der Friedenswahrung“ sowie BVerfGE 121, 135 [156 f.]).
(1) Beginn der Mitgliedschaft (Zustimmungsgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG)
und regelmäßige Folgen
Art. 24 Abs. 2 GG enthält keinen eigenen besonderen Gesetzesvorbehalt (wie Art.
24 Abs. 1 GG oder Art 23 Abs. 1 GG), weil das Grundgesetz davon ausgeht, dass die
Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit nur durch völkerrechtlichen
Vertrag i.S.d. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG erfolgen kann. Der Vertrag verleiht dem System
kollektiver Sicherheit eine dauerhafte rechtliche Grundlage (BVerfGE 104, 151 [194 f.]).
(1a) Übernahme von Aufgaben als typische Folgen
Mit einem vollzogenen Beitritt ist in der Regel verbunden, dass der Bund zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte berechtigt ist; darüber
hinaus bietet Art. 24 Abs. 2 GG auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem solchen System typischerweise verbundenen
Aufgaben - und damit auch für etwa eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die
im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden - (BVerfGE 90, 286 [351];
vgl. auch BVerfGE 121, 135 [156 f.] sowie BVerfGE 126, 55 [71]).
(1b) “Fortentwicklungen“ (ohne förmliche Vertragsänderungen)
Die Regierung ist in der Regel ermächtigt, in den Organen und Institutionen des Vertrags an dessen Fortentwicklung auch ohne eine förmliche Vertragsänderung mitzuwirken
(BVerfGE 104, 151 [195]). Denn die nicht als Vertragsänderung erfolgende Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit bedarf keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages , und Art. 59 Abs. 2 GG ist keiner erweiternden Auslegung
zugänglich (a.a.O. [206]; vgl. auch BVerfGE 121, 135 [158]).
(2) Verfassungsrechtliche Folgenbegrenzungen nach dem Beitritt
Die tatbestandliche Formulierung des Art. 24 Abs. 2 GG schließt aus, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ein System militärischer Sicherheit einordnet, welches nicht
der Wahrung des Friedens dient. Auch die Umwandlung eines ursprünglich den Anforderungen des Art. 24 Abs. 2 GG entsprechenden Systems in eines, das nicht mehr der
Wahrung des Friedens dient oder sogar Angriffskriege vorbereitet, ist verfassungsrechtlich untersagt und kann deshalb nicht vom Inhalt des auf der Grundlage des nach Art.
59 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 24 Abs. 2 GG ergangenen Zustimmungsgesetzes gedeckt sein
(BVerfGE 104, 151 [212 f.]; vgl. auch BVerfGE 118, 244 [261]; dort [270 f.] auch zum Ziel
der “Herbeiführung und Sicherung einer friedlichen und dauerhaften Ordnung in Europa
und der Welt“).
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 174
(3) Aufteilung der Staatsgewalten im Hinblick auf Systeme gegenseitiger kollektiver
Sicherheit
Nach allem gestaltet sich die funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt (im Bereich der
auswärtigen Angelegenheiten) im Hinblick auf Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit so, dass das Parlament durch seine Mitentscheidung grundlegende Verantwortung für
die vertragliche Grundlage des Systems einerseits und für die - im Rahmen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts zu treffende - Entscheidung über den konkreten
bewaffneten Streitkräfteeinsatz andererseits übernimmt, während im Übrigen die nähere Ausgestaltung der Bündnispolitik als Konzeptverantwortung ebenso wie konkrete
Einsatzplanungen der Bundesregierung obliegen (BVerfGE 121, 135 [162]).
b) Gesetzgeber und Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen
Union (Art. 23 GG)
Während die Übertragung von Hoheitsrechten gem. Art. 24 GG noch einigermaßen
überschaubau ist, ist die Rechtsprechung zu Art. 23 GG in den letzten Jahren und Jahrzehnten (zumindest in ihren Feinheiten und Verästelungen) völlig unübersehbar geworden. Deshalb hier nur ein kursorischer Überblick:
aa) Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG
Nach Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG wirkt die Bundesrepublik Deutschland an der Gründung
und Fortentwicklung der Europäischen Union mit. Für den Erfolg der Europäischen Union ist die einheitliche Geltung ihres Rechts von zentraler Bedeutung. Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche
Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre. Art. 23 Abs. 1 GG
enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale
Recht.
bb) Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG (Anwendungsvorrang)
Mit der in Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG enthaltenen Ermächtigung, Hoheitsrechte auf die
Europäische Union zu übertragen, billigt das Grundgesetz daher die im Zustimmungsgesetz zu den Verträgen enthaltene Einräumung eines Anwendungsvorrangs zugunsten
des Unionrechts. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt
grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht und
führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit.
(1) Folgen des Anwendungsvorrangs (insbesondere Ausübung öffentlicher Gewalt in
Deutschland durch Unionsorgane und -stellen)
Auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 GG kann der Integrationsgesetzgeber nicht nur Organe und Stellen der Europäischen Union, soweit sie in Deutschland öffentliche Gewalt
ausüben, von einer umfassenden Bindung an die Grundrechte und andere Gewährleistungen des Grundgesetzes freistellen , sondern auch deutsche Stellen, die Recht der
Europäischen Union vollziehen.
Das gilt nicht zuletzt für die Gesetzgeber auf Bundes- und Landesebene, wenn diese
Sekundär- oder Tertiärrecht umsetzen, ohne dabei über einen Gestaltungsspielraum zu
verfügen. Umgekehrt sind die bei Bestehen eines Gestaltungsspielraums zur Ausfüllung
erlassener Rechtsakte einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zugänglich.
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(2) Grenzen des Anwendungsvorrangs
Der Anwendungsvorrang reicht jedoch nur soweit, wie das Grundgesetz und das Zustimmungsgesetz die Übertragung von Hoheitsrechten erlauben oder vorsehen. Der im
Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der
geltenden Verfassungsordnung erteilt werden.
Grenzen (nachfolgend cc)) für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich - jenseits
des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten
Ausgestaltung - aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des
Grundgesetzes. Dies ist mit dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs.
3 EUV) vereinbar und wird auch dadurch bestätigt, dass sich im Verfassungsrecht der
meisten anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union vergleichbare Grenzen finden.
cc) Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG (Verfassungsidentität)
Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts wird - wie soeben angedeutet - im Wesentlichen durch die in Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG
verfassungsänderungs- und integrationsfest ausgestaltete Verfassungsidentität des Grundgesetzes begrenzt. Zu deren Sicherstellung dient die Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.
(1) Identitätskontrolle durch das Bundesverfassungsgericht (insbesondere Prüfung, ob
Unionsorgane bzw. -stellen “ultra vires“ handeln)
Soweit Maßnahmen eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union
Auswirkungen zeigen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit den in Art.
1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen geschützte Verfassungsidentität berühren,
gehen sie über die grundgesetzlichen Grenzen offener Staatlichkeit hinaus. Auf einer primärrechtlichen Ermächtigung kann eine derartige Maßnahme nicht beruhen, weil auch
der mit der Mehrheit des Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG in Verbindung mit Art. 79 Abs. 2
GG entscheidende Integrationsgesetzgeber der Europäischen Union keine Hoheitsrechte
übertragen kann, mit deren Inanspruchnahme eine Berührung der von Art. 79 Abs. 3
GG geschützten Verfassungsidentität einherginge.
Auf eine Rechtsfortbildung zunächst verfassungsmäßiger Einzelermächtigungen kann sie
ebenfalls nicht gestützt werden, weil das Organ oder die Stelle der Europäischen Union
damit ultra vires handelte.
(2) Anrufungsmöglichkeiten des Bundesverfassungsgerichts sowie dessen “Prüfprogramm“
Im Rahmen der Identitätskontrolle ist zu prüfen, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für
unantastbar erklärten Grundsätze durch eine Maßnahme der Europäischen Union berührt
werden. Diese Prüfung kann - wie der Solange-Vorbehalt oder die ultra-vires-Kontrolle im Ergebnis dazu führen, dass Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Einzelfällen
für unanwendbar erklärt werden muss.
Um zu verhindern, dass sich deutsche Behörden und Gerichte ohne weiteres über den
Geltungsanspruch des Unionsrechts hinwegsetzen, verlangt die europarechtsfreundliche
Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen
Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden
Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 176
dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt. Dies wird auch durch die Regelung
des Art. 100 Abs. 2 GG unterstrichen, nach der bei Zweifeln, ob eine allgemeine Regel
des Völkerrechts Rechte und Pflichten für den Einzelnen erzeugt, das Bundesverfassungsgericht angerufen werden muss.
Mit der Identitätskontrolle kann das Bundesverfassungsgericht auch im Rahmen einer
Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG) befasst werden.
Die Identitätskontrolle verstößt nicht gegen den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit
im Sinne von Art. 4 Abs. 3 EUV. Sie ist vielmehr in Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV der Sache
nach angelegt (BVerfGE 140, 317 [335 ff.]; dort [341] auch zum Verbot einer Relativierung
der “integrationsfesten“ Schutzgüter, insbesondere der Menschenrechte).
dd) Insbesondere: Die Auslegung des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG im Lichte der Wahrung
der Integrationsverantwortung (aller Verfassungsorgane)
Für die europäische Integration gilt der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs.
1 Satz 2 GG, wonach Hoheitsrechte nur durch Gesetz (und mit Zustimmung des Bundesrates) übertragen werden können. Dieser Gesetzesvorbehalt ist zur Wahrung der Integrationsverantwortung und zum Schutz des Verfassungsgefüges so auszulegen , dass
jede Veränderung der textlichen Grundlagen des europäischen Primärrechts (vgl. bereits
A.III.3.a)aa) (vgl. S. 57) ) erfasst wird (BVerfGE 123, 267 [355]).
(1) Verfassungsrechtliche Pflichten des Gesetzgebers
Die Ermächtigung steht aber unter der Bedingung, dass dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines Integrationsprogramms nach dem Prinzip der
begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität
als Mitgliedstaaten gewahrt bleibt und zugleich die Mitgliedstaaten ihre Fähigkeit zu
selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht
verlieren.
(1a) Verbot der Aufgabe der (völkerrechtlichen) Souveränität
Mithin ermächtigt das Grundgesetz nicht , durch einen Eintritt in einen Bundesstaat
das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben. Dieser Schritt ist wegen der mit ihm verbundenen
unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein
dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten ; nach Maßgabe
der Integrationsermächtigung kann es für die Europäische Unionsgewalt kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremden Willen und damit
aus eigenem Recht gleichsam auf höherer Ebene verfassen könnte (a.a.O. [347 ff.]).
(1b) Verbot der “irreversiblen rechtlichen Präjudizierung künftiger Generationen“
Insbesondere muss durch den Gesetzgeber vermieden werden eine “irreversible rechtliche
Präjudizierung künftiger Generationen“; der demokratische Prozess muss offen bleiben,
und es müssen rechtliche Umwertungen (aufgrund anderer Mehrheitsentscheidungen)
erfolgen können (BVerfGE 135, 317 [404 f.]).
Freilich erlaubt Art. 23 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 GG sogar, unter Wahrung der in Art. 79
Abs. 2 und Abs. 3 GG genannten Voraussetzungen Hoheitsgewalt auch insoweit auf die
Brunn - Kapitel C.III.3.
Seite 177
EU zu übertragen, als dadurch die Reichweite der Gewährleistungen des Grundgesetzes
geändert oder ergänzt wird - ohne dass dabei das Zitiergebot des Art. 79 Abs. 1 Satz 1
GG eingreift - (BVerfGE 129, 78 [100]).
(2) Pflichten des Gesetzgebers bei “Grenzfällen des noch verfassungsrechtlich Zulässigen“ bzw. bei der Gefahr der “Bemächtigung“ der “Kompetenz-Kompetenz“ durch
die EU
Zustimmungsgesetze und “Begleitgesetzgebung“ müssen so beschaffen sein, dass die Integration weiter nach dem “Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung“ erfolgt, ohne
dass für die EU die Möglichkeit besteht, sich der “ Kompetenz-Kompetenz “ zu bemächtigen (oder die Verfassungsidentität zu verletzen); der Gesetzgeber muss wirksame
Vorkehrungen dafür treffen, dass die Integrationsverantwortung der Verfassungsorgane
sich hinreichend entfalten kann (BVerfGE 123, 267 [353]; vgl. auch BVerfGE 135, 317
[399]).
(3) Gebote und Verbote bei “Kompetenzanmaßungen“ (“ultra-vires“)
Weil auch der Mitgliedstaat Bundesrepublik Deutschland (und seine Verfassungsorgane)
- neben den Organen der “Rechtsgemeinschaft“ (BVerfGE 126, 286 [301]) Europäische
Union - Verantwortung trägt für die Einhaltung des Integrationsprogramms (Integrationsverantwortung), ist die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung Aufgabe aller
bundesdeutschen Verfassungsorgane. Dies bedeutet insbesondere:
(3a) Mitwirkungsverbot an kompetenzüberschreitenden Handlungen
Handelt ein Organ oder eine sonstige Stelle der Europäischen Union “ultra-vires“, so
dürfen deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte an solchen kompetenzüberschreitenden Handlungen nicht mitwirken (was auch etwa für die Deutsche Bundesbank
gegolten hat).
(3b) Pflicht zur aktiven Hinwirkung auf die Einhaltung des Integrationsprogramms (bei “Usurpationen“ von Hoheitsrechten)
Darüber hinaus dürfen der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch Organe der EU
nicht einfach geschehen lassen; sie müssen aktiv auf die Einhaltung des Integrationsprogramms hinwirken.
(3c) Nachträgliche Legitimierungen von Kompetenzanmaßungen
Zwar können sie eine “Kompetenzanmaßung“ nachträglich legitimieren, indem sie eine die Grenzen von Art. 79 Abs. 3 GG wahrende - entsprechende Änderung des Primärrechts
anstoßen und die in Anspruch genommenen Hoheitsrechte in Verfahren nach Art. 23 Abs.
1 Sätze 2 und 3 GG förmlich übertragen.
Soweit aber dies nicht möglich oder nicht gewollt ist, sind und bleiben sie grundsätzlich
verpflichtet, im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen mit rechtlichen oder mit politischen Mitteln auf die Aufhebung von - vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie - solange die Maßnahmen fortwirken - geeignete Vorkehrungen dafür zu treffen, dass die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit
wie möglich begrenzt bleiben (BVerfGE 134, 366 [394 ff.]).
Brunn - Kapitel C.IV.0.
Seite 178
ee) Der Haushaltsgesetzgeber und verfassungsrechtliche Bindungen (Erhalt der Budgetverantwortung des Parlaments)
Der Haushaltsgesetzgeber (nachfolgend C.IX.12. (vgl. S. 268) ) muss seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens der Organe und
anderer Mitgliedstaaten der EU treffen und dauerhaft “Herr seiner Entschlüsse“ bleiben
können.
(1) Verbot der Zustimmung zu “Automatismen“
Deshalb darf der Bundestag einem - wie auch immer vereinbarten - nicht an strikte
Vorgaben gebundenen und in seinen Auswirkungen nicht begrenzten Bürgschafts- oder
Wirkungsautomatismus nicht zustimmen, der - einmal in Gang gesetzt - seiner Kontrolle
und Einwirkung entzogen ist (BVerfGE 135, 317 [401 f.]).
(2) Gesetzgeber und Währungsunion
Weil die Entwicklung der Währungsunion als “voraussehbar normiert“ und “parlamentarisch verantwortbar“ zu beurteilen ist (“Stabilitätsgemeinschaft“), durfte der Gesetzgeber (verfassungsrechtlich unbedenklich) zustimmen (BVerfGE 129, 124 [181 ff., 184];
vgl. auch BVerfGE 135, 317 [420 ff.] zu Einzelheiten der Finanzierung des Europäischen
Stabilitätsmechanismus).
ff) Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, seine Grenzen und seine Beachtung
durch die Behörden und Gerichte
Weil beispielsweise der Schuldgrundsatz zur Verfassungsidentität gehört, müssen Behörden und Gerichte selbst dann auf seine Einhaltung (etwa als Folge einer ersuchten
Auslieferung) dringen, wenn das einschlägige Unionsrecht ein Handeln ermöglichen sollte und damit die Voraussetzungen eines Vorrangs gegenüber nationalem Gesetzesrecht
gegeben sein sollten (BVerfGE 140, 317 [352]).
IV. Die aus dem Prinzip der Länderkompetenz (Art. 70 GG i.V.m. Art. 30
GG) abzuleitenden Regeln für die Erzeugung von Bundesrecht
1.
Grundsatz der Länderkompetenz
a)
b)
c)
.
.
.
.
.
.
.
.
.
180
Keine Vermutung zugunsten des Bundes .
.
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.
.
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.
180
aa) Keine “Verfügungskompetenz“ der Länder . . . . . . . . . .
180
bb) Zulässige einvernehmliche bundeseinheitliche Ländervorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
180
cc) Zulässige Länderregeln für Steuern und Abgaben
180
. . . . . .
Länder als Träger der Kulturhoheit (u.a. Rundfunk und Schule), des
Kommunalrechts sowie des Polizeirechts . . . . . . . . .
181
Das Verhältnis der Gesetzgebungs- zur Verwaltungskompetenz
181
.
Brunn - Kapitel C.IV.1.
2.
Seite 179
Die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Kompetenzzuordnung
181
a)
181
Unbedingt zu vermeidende “Doppelzuständigkeit“
aa) Konflikte zwischen Bund und Ländern
b)
.
.
.
d)
3.
.
. . . . . . . . . . . .
182
cc) “Belassung“ einer Länderkompetenz durch den Bund . . . .
182
Gegenstand des Gesetzes .
.
.
.
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.
.
.
.
.
.
.
.
.
182
. . .
182
bb) Bezugnahmen auf Begriffe in der Verfassung . . . . . . . . .
182
Die Problematik der Zuordnung einzelner Teilregelungen eines umfassenden Regelungskomplexes . . . . . . . . . . . .
183
aa) Wesentliches Kriterium des Schwerpunkts der Teilregelung .
183
bb) Hauptanwendungsfälle (Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
183
Sonderfall des Gewohnheitsrechts
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
183
Zulässige und unzulässige Beanspruchungen der Gesetzgebungskompetenz 184
a)
Natur der Sache .
.
.
.
.
.
aa) Zulässige Beanspruchungen
.
.
.
.
.
.
.
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. . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Unzulässige Beanspruchungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
c)
4.
182
bb) Unbedenkliche “mehrfache“ Zuständigkeiten (etwa des Bundes) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Kriterien für die Zuordnung zu einer Kompetenznorm
c)
.
Sachzusammenhang .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
184
184
184
bb) Gebrauchmachung durch “absichtsvollen Regelungsverzicht“
185
cc) Unzulässige Beanspruchungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
dd) Zulässige Beanspruchungen
185
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Zulässige Beanspruchung einer Kompetenz zu Lenkungszwecken .
.
.
.
.
185
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
185
Länderkompetenzen .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
185
aa) Verfassungsschutz und Verhütung von Straftaten
b)
.
184
aa) Verbot des umfassenden “An-sich-Ziehens“ . . . . . . . . . .
Einzelfälle .
a)
.
184
. . . . . .
185
bb) Bildung und Kommunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
cc) Staatshaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
186
Fehlende Länderkompetenzen
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
186
Die Systematik des Grundgesetzes fordert im Sinne einer möglichst eindeutigen vertikalen Gewaltenteilung eine strikte, dem Sinn der Kompetenznorm gerecht werdende
Auslegung (vgl. auch nachfolgend 2.) der Art. 70 ff. GG (BVerfGE 138, 261 [273]; vgl.
auch BVerfGE 139, 194 [226] freilich für “Unverfügbarkeit“ der Verwaltungskompetenz).
Brunn - Kapitel C.IV.1.
Seite 180
1. Grundsatz der Länderkompetenz
Das Grundgesetz geht bei der Ordnung der Gesetzgebungskompetenzen von Bund und
Ländern vom Grundsatz der Länderkompetenz aus. Der Bund hat Gesetzgebungsbefugnisse nur, soweit das Grundgesetz sie ihm verleiht. In der Regel können daher Gesetzgebungsbefugnisse des Bundes nur auf eine ausdrückliche Verleihung durch das Grundgesetz
gestützt werden.
a) Keine Vermutung zugunsten des Bundes
Bei Zweifeln über die Zuständigkeit des Bundes spricht keine Vermutung zugunsten einer Bundeskompetenz. Die Systematik des Grundgesetzes fordert vielmehr eine strikte
Interpretation der Kompetenzregeln (BVerfGE 12, 205 [228 f.]).
Gegen unzulässige (ungeschriebene) Kompetenzzuschreibungen zugunsten des Bundes
spricht auch, dass sich aus ihnen nur schwer Klarheit über die Rechtsnatur der jeweils zugeschriebenen Kompetenz - ausschließlich oder konkurrierend - gewinnen ließe (BVerfGE
132, 1 [6]).
aa) Keine “Verfügungskompetenz“ der Länder
Aus diesen Gründen kann ein Land über seine Gesetzgebungskompetenz nicht verfügen; mit anderen Worten kann der Bund eine Gesetzgebungszuständigkeit, die ihm das
Grundgesetz nicht gewährt, nicht durch die Zustimmung des Landes gewinnen (BVerfGE
55, 274 [301]; grundlegend: BVerfGE 1, 14 [35]). Allenfalls dann, wenn eine Regelung
bspw. 20 Jahre lang einverständlich und unangefochten angewendet worden ist, könnte
eine eine “exzeptionelle Sonderlage regelnde Vorschrift“ als zulässig angesehen werden
(BVerfGE 32, 145 [155 f.]).
bb) Zulässige einvernehmliche bundeseinheitliche Ländervorschriften
Ist man sich zwischen Bund und den Ländern zwar einerseits einig, dass eine Materie in
die Länderkompetenz fällt, aber andererseits eine bundeseinheitliche Regelung angezeigt
ist, so lässt die Verfassung gleichlautende Ländervorschriften zu (BVerfGE 40, 237
[253]).
cc) Zulässige Länderregeln für Steuern und Abgaben
Die Konsequenz der strikten Länderzuständigkeit kann u.a. sein, dass auch die Kompetenz zu gesetzlichen Sonderregelungen grundsätzlich den Ländern zusteht (BVerfGE 10,
89 [101]).
Auch für das Gebiet des Steuerrechts (hierzu nachfolgend C.IX.7. (vgl. S. 254) ) gilt
die Grundregel des Art. 70 Abs. 1 GG (BVerfGE 16, 64 [78 f.]); im Einzelnen ist im
Steuerrecht jedoch manches fraglich (vgl. BVerfGE 98, 83 [97 f.]; BVerfGE 98, 106 [118,
119]).
Auch für nicht steuerliche Abgaben (u.a. Gebühren; nachfolgend C.IX.4. (vgl. S. 247)
) sind die Gesetzgebungskompetenzen aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG
herzuleiten (BVerfGE 108, 1 [13]).
Brunn - Kapitel C.IV.2.
Seite 181
b) Länder als Träger der Kulturhoheit (u.a. Rundfunk und Schule), des
Kommunalrechts sowie des Polizeirechts
Insbesondere anhand der Verfassungsentwicklung lassen sich Sachmaterien (im Einzelnen
nachfolgend 4.) ermitteln, die nach dem Willen des Verfassungsgebers (zumindest in
wesentlichen Hinsichten) in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallen sollen (vgl.
insoweit auch Art. 23 Abs. 6 GG “ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Länder“).
In diesem Sinne gelten die Länder - erstens - als Träger der Kulturhoheit, woraus aber
nicht folgen muss, dass die Gesetzgebungskompetenz des Bundes Einwirkungen auf
den Kulturbereich (und eine Berücksichtigung kultureller Belange) von vornherein nicht
ermöglichen (BVerfGE 135, 155 [196 ff.] “Filmförderung“ als Recht der Wirtschaft - Art.
74 Abs. 1 Nr. 11 GG - fragwürdig); das Rundfunkwesen und das Recht der schulischen
Bildung dürften diesem Bereich der Kulturhoheit zuzurechnen sein.
Das Grundgesetz weist - zweitens - die Gesetzgebungskompetenz für das Kommunalrecht
den Ländern zu. Es umfasst die Summe der Rechtssätze, die sich mit der Rechtsstellung,
der Organisation, den Aufgaben sowie den Handlungsformen der kommunalen Körperschaften befassen; darunter fällt auch das Gemeindeverfassungsrecht und insbesondere
die Art und Weise der kommunalen Willensbildung (BVerfGE 137, 108 [164]).
Schließlich ist - drittens - das Polizeirecht (zumindest im engen Sinne) ein traditionell
in die Gesetzgebungskompetenz der Länder fallender Sachbereich (BVerfGE 8, 143 [150];
vgl. auch BVerfGE 132, 1 [6] sowie - freilich für polizeiliches Handeln - BVerfGE 139, 194
[Ls. 3]).
c) Das Verhältnis der Gesetzgebungs- zur Verwaltungskompetenz
Die Verwaltungskompetenzen (Art. 83 ff. GG; hierzu nachfolgend C.VIII.) folgen den Gesetzgebungskompetenzen des Bundes und nicht umgekehrt. Die Gesetzgebungskompetenz
des Bundes bezeichnet die äußerste Grenze seiner Verwaltungszuständigkeit (BVerfGE
15, 1 [16]). Deshalb wäre eine bundesgesetzliche Regelung, welche dem Bund eine Verwaltungskompetenz zuweist, die das Grundgesetz ihm verwehrt, nichtig (BVerfGE 26,
338 [395]).
2. Die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Kompetenzzuordnung
Für die Zuweisung einer Gesetzgebungsmaterie an Bund oder Länder ist der in Betracht
kommende Kompetenztitel “anhand des Wortlauts, historisch, systematisch und mit Blick
auf den Normzweck“ auszulegen (BVerfGE 138, 261 [273]; dort [273 f.] vor allem zum
“Traditionellen oder Herkömmlichen“).
a) Unbedingt zu vermeidende “Doppelzuständigkeit“
Vorrangiges Prinzip bei der Kompetenzzuschreibung ist die Vermeidung einer “Doppelzuständigkeit“.
Brunn - Kapitel C.IV.2.
Seite 182
aa) Konflikte zwischen Bund und Ländern
Es muss mit anderen Worten vermieden werden, dass aufgrund einer solchen Doppelzuständigkeit Bund und Länder ein- und denselben Gegenstand in unterschiedlicher Weise
regeln könnten (BVerfGE 106, 62 [114]; grundlegend: BVerfGE 36, 193 [202 f.]).
bb) Unbedenkliche “mehrfache“ Zuständigkeiten (etwa des Bundes)
Im Grundsatz unbedenklich ist freilich etwa eine “doppelte Gesetzgebungszuständigkeit“
des Bundes (BVerfGE 138, 261 [275 f.] für Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 [a.F.] GG und Art. 74
Abs. 1 Nr. 12 GG “Ladenschluss“).
cc) “Belassung“ einer Länderkompetenz durch den Bund
Freilich schließt das Erfordernis einer überschneidungsfreien Zuständigkeitsabgrenzung
nicht aus, dass der Bund im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung den Ländern
die Befugnis belässt, Regelungen in Bezug auf einen bereits bundesrechtlich geregelten
Sachverhalt zu treffen (BVerfGE 136, 194 [268]).
b) Gegenstand des Gesetzes
Der Begriff Gegenstand des Gesetzes könnte auch durch den Begriff Materie des Gesetzes
ersetzt werden (vgl. BVerfGE 116, 202 [216]; grundlegend: BVerfGE 4, 60 [67 ff.]).
Über die Zuordnung einer Norm zu einer solchen Gesetzgebungsmaterie entscheidet weder der äußere Regelungszusammenhang noch der Wille des Gesetzgebers; maßgebend
ist allein der Gehalt der Regelung (BVerfGE 70, 251 [264]).
Unerheblich für die kompetenzrechtliche Zuordnung ist es auch, ob die Kompetenz für
eine inhaltlich rechtmäßige oder rechtswidrige Regelung in Anspruch genommen wird;
entscheidend ist, ob die Regelung gegenständlich in den Kompetenzbereich fällt (BVerfGE 88, 203 [313]; vgl. auch BVerfGE 135, 155 [196] “der maßgebliche objektive Regelungsgegenstand und -gehalt“).
aa) Kriterien für die Zuordnung zu einer Kompetenznorm
Mithin geschieht die Zuordnung einer bestimmten Regelung zu einer Kompetenznorm
anhand von unmittelbarem Regelungsgegenstand, Normzweck, Wirkung und Adressat
der zuzuordnenden Norm sowie der Verfassungstradition. Auch die bisherige Staatspraxis
kann großes Gewicht haben (BVerfGE 121, 30 [47]).
bb) Bezugnahmen auf Begriffe in der Verfassung
Hat der Verfassungsgesetzgeber direkt oder indirekt auf Begriffe Bezug genommen, die
er der allgemeinen Rechtsordnung entlehnt hat, so dürfen diese nicht mit einem beliebigen Inhalt gefüllt werden; die der allgemeinen Rechtsordnung entlehnten Begriffe setzen
mit den ihnen immanenten objektiven Kriterien deshalb auch der Gesetzgebungskompetenz unüberschreitbare Schranken (BVerfGE 31, 314 [331]; vgl. auch BVerfGE 109,
190 [218] für “normativ ausgeformte Materie“, die vorgefunden und als solche gleichsam
nachvollziehend benannt worden ist, sowie BVerfGE 138, 261 [274]).
Brunn - Kapitel C.IV.3.
Seite 183
c) Die Problematik der Zuordnung einzelner Teilregelungen eines
umfassenden Regelungskomplexes
Allgemein lässt sich sachgebietsübergreifend sagen, dass eine Zuständigkeit des Bundes
für grundsätzlich der Zuständigkeit der Länder zuzuordnende Materien dann bestehen
kann, wenn der Bund eine ihm zur Gesetzgebung zugewiesene Materie verständigerweise
nicht regeln kann, ohne dass die besagten Bestimmungen mitgeregelt werden (BVerfGE
125, 260 [314] für Datenschutzrecht).
Umgekehrt kann es zugunsten der Länder ausschlagen, wenn “das Übergreifen unerlässliche Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist“ (BVerfGE 138, 261
[274]).
aa) Wesentliches Kriterium des Schwerpunkts der Teilregelung
Teilregelungen eines umfassenden Regelungskomplexes dürfen bei der Zuordnung nicht
aus ihrem Regelungszusammenhang (BVerfGE 138, 261 [274]; dort auch zu “ungeschriebenen“ Gesetzgebungskompetenzen “kraft Sachzusammenhangs“ [auch zugunsten
der Länder]) gelöst und für sich betrachtet werden.
Aus dem Regelungszusammenhang ist zu erschließen, wo die Teilregelungen ihren
Schwerpunkt haben, wobei insbesondere ins Gewicht fallen kann, wie eng die fragliche
Teilregelung mit dem Gegenstand der Gesamtregelung verbunden ist. Regelmäßig spricht
für die Zugehörigkeit einer Teilregelung zum Kompetenzbereich der Gesamtregelung
eine enge Verzahnung und ein dementsprechend geringer eigenständiger Regelungsgehalt
der Teilregelung (BVerfGE 121, 30 [47 f.] sowie BVerfGE 137, 108 [161]; dort auch zur
“wesensmäßigen und historischen Zugehörigkeit“; grundlegend: BVerfGE 97, 228 [251
f.]).
bb) Hauptanwendungsfälle (Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung)
Deshalb können Normen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in einem bestimmten Sachbereich dienen, dem Sachbereich zuzurechnen sein, zu
dem sie in einem notwendigen Zusammenhang stehen (BVerfGE 8, 143 [150]); geht es
demgegenüber um Regelungen, bei denen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung der alleinige und unmittelbare Gesetzeszweck ist, so handelt es sich
hierbei um Polizeirecht im engeren Sinn, ein in die Gesetzgebungskompetenz der Länder
fallender Sachbereich (a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 132, 1 [6]).
d) Sonderfall des Gewohnheitsrechts
Gewohnheitsrecht (vorstehend B.II.1.b) (vgl. S. 108) ) ist dem Kompetenzrecht zuzuordnen, das es durch seine Übung aktualisiert.
Wächst es auf einem Felde, das dem Gesetzgebungsrecht der Länder unterliegt, so verbleibt es auch dort, unbeschadet dessen, ob es bundesweit gilt; mit anderen Worten hat
das Entstehen von Gewohnheitsrecht nicht zur Folge, dass sich die Kompetenzordnung
des Grundgesetzes für das gesetzte Recht verwandelte und die Regelungsbereiche in die
Gesetzgebungsbefugnis des Bundes hinüber wanderten, die ihm vorher verschlossen waren
(BVerfGE 61, 149 [203 f.]).
Brunn - Kapitel C.IV.3.
Seite 184
3. Zulässige und unzulässige Beanspruchungen der
Gesetzgebungskompetenz
Seit jeher ist vor dem Verfassungsgericht (vor allem zwischen Bund und Ländern) darüber
gestritten worden, ob vornehmlich die Bundeskompetenz auch “ungeschriebene“ Materien
und Zuordnungen kennt.
a) Natur der Sache
Schlussfolgerungen “aus der Natur der Sache“ müssen begriffsnotwendig sein und eine
bestimmte Lösung unter Ausschluss anderer Möglichkeiten sachgerechter Lösung zwingend fordern. Es muss sich also um ein Sachgebiet handeln, das seiner Natur nach eine
eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheit
des Bundes ist, welches nur vom Bund geregelt werden kann (BVerfGE 11, 89 [98 f.]).
aa) Zulässige Beanspruchungen
Raumplanung für den Gesamtstaat kann eine solche Materie sein (BVerfGE 3, 407 [427
f.]). Auch Aufgaben der Jugendhilfe, die einen eindeutig überregionalen Charakter haben,
können eine solche Materie darstellen (BVerfGE 22, 180 [217]). Für die unaufschiebbaren
gesetzgeberischen Aufgaben im Zusammenhang mit dem Beitritt ergab sich ebenfalls
eine aus der Natur der Sache folgende Gesetzgebungskompetenz (BVerfGE 95, 243 [249];
grundlegend: BVerfGE 84, 133 [148]).
bb) Unzulässige Beanspruchungen
Ist hingegen eine einheitliche Regelung lediglich etwa zweckmäßig, so reicht dies für die
Annahme einer Bundeskompetenz nicht aus (BVerfGE 26, 246 [257]). Die Notwendigkeit
der Reinhaltung von Bundeswasserstraßen löst daher nicht zwingend eine Bundeskompetenz aus (BVerfGE 15, 1 [24]).
Schließlich ist auch die Veranstaltung von Rundfunksendungen “nach innen“ keine Materie, die dem Bundesgesetzgeber vorbehalten wäre (BVerfGE 12, 205 [242]).
b) Sachzusammenhang
Wie bereits erwähnt (vorstehend 2.c.), stützt und ergänzt die Kompetenz kraft Sachzusammenhangs eine zugewiesene Zuständigkeit zwar dann, wenn die entsprechende Materie verständigerweise nicht geregelt werden kann, ohne dass zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene andere Materie mitgeregelt wird, wenn also das Übergreifen unerlässliche
Voraussetzung für die Regelung der zugewiesenen Materie ist (BVerfGE 138, 261 [274]).
aa) Verbot des umfassenden “An-sich-Ziehens“
Dies bedeutet aber nicht, dass der Bund aus diesen Gründen das Recht hätte, die gesamte
den Ländern vorbehaltene Materie an sich zu ziehen; er darf vielmehr nur diejenigen
Einzelregelungen treffen, ohne die er seine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz nicht
sinnvoll nutzen könnte (BVerfGE 106, 62 [115] sowie BVerfGE 137, 108 [170]).
Brunn - Kapitel C.IV.4.
Seite 185
bb) Gebrauchmachung durch “absichtsvollen Regelungsverzicht“
Ob der Bund von einer Kompetenz kraft Sachzusammenhangs auch durch erkennbaren,
absichtsvollen Regelungsverzicht mit Sperrwirkung gegenüber den Ländern Gebrauch
machen - allgemein nachstehend C.VI.1. (vgl. S. 194) - kann (so bejahend BVerfGE 98,
265 [313 ff.]), kann mit guten Gründen bezweifelt werden (BVerfGE 98, 265 [329, 352]
abweichende Meinung).
cc) Unzulässige Beanspruchungen
Eine Gesetzgebungskompetenz kraft Sachzusammenhangs ist beispielsweise verneint worden für das Baurecht (BVerfGE 40, 261 [265]), für die Veranstaltung von Rundfunksendungen (BVerfGE 12, 205 [237] und für ein Ingenieurgesetz (BVerfGE 26, 246 [256]).
dd) Zulässige Beanspruchungen
Bejaht worden ist sie für den Datenschutz und Sachzusammenhang mit einer Sachkompetenz (BVerfGE 125, 260 [314]), für Altenpflege (BVerfGE 106, 62 [120 f.]), für das
Beurkundungswesen (BVerfGE 11, 192 [199]) sowie für das ärztliche Berufsrecht im Zusammenhang mit dem Schutz ungeborenen Lebens (BVerfGE 98, 265 [301 ff.]; vgl. indessen auch BVerfGE 98, 265 [329, 347 ff.] abweichende Meinung).
c) Zulässige Beanspruchung einer Kompetenz zu Lenkungszwecken
Der Gesetzgeber darf seine Gesetzgebungskompetenz grundsätzlich auch ausüben, um
Lenkungswirkungen zu erzielen. Er darf also nicht nur durch Ge- und Verbote, sondern
ebenso mittelbar verhaltenssteuernd auf Wirtschaft und Gesellschaft gestaltend Einfluss
nehmen. Der Lenkungszweck muss aber von einer erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidung getragen und gleichheitsgerecht ausgestaltet sein (BVerfGE 118, 79 [101 f.]).
4. Einzelfälle
Wie bereits dargelegt (vorstehend 1.b)), gibt es Materien “ausschließlicher Länderkompetenz“, um die oft erbittert gerungen und gestritten wurde.
a) Länderkompetenzen
In Art. 23 Abs. 6 GG gibt die Verfassung zu erkennen, was zum unbestreitbaren Mindestbestand an den Ländern verbliebenen Gesetzgebungskompetenzen zu rechnen ist; viel ist
es nicht mehr:
aa) Verfassungsschutz und Verhütung von Straftaten
Der Bund hat keine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für den Verfassungsschutz allgemein; insoweit ergibt sich die Gesetzgebungskompetenz der Länder aus Art.
70 Abs. 1 GG. Die Länder sind zum Erlass von Gesetzen zur Abwehr von Bestrebungen
gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung selbstverständlich befugt, soweit sich
diese im jeweiligen Land auswirken und damit dort Gefahren hervorrufen können. Einem
Landesgesetzgeber ist es darüber hinaus auch nicht grundsätzlich verwehrt, zur Abwehr
Brunn - Kapitel C.V.0.
Seite 186
verfassungsfeindlicher Bestrebungen zu Maßnahmen zu ermächtigen, deren Wirkungen
die Grenzen des Landes unvermeidbar überschreiten (BVerfGE 113, 63 [79]).
Auch die Verhütung einer Straftat liegt in der Gesetzgebungskompetenz der Länder für
die Gefahrenabwehr; allenfalls sind derartige Maßnahmen insoweit der Bundeskompetenz zuzuordnen, als sie zu einem von ihr erfassten Sachbereich in einem notwendigen
Zusammenhang stehen, insbesondere für den wirksamen Vollzug der Bundesregelung
erforderlich sind (BVerfGE 113, 348 [368 f.]).
Wie in der Entscheidung BVerfGE 130, 1 zum Verhältnis zwischen einer präventivpolizeilichen Landesnorm über Informationserhebungen und einer Vorschrift der Strafprozessordnung über die Vertretung im Strafverfahren ausgeführt worden ist, kann zwar
letztere (selbstverständlich) nicht über den Regelungsgehalt ersterer disponieren, aber
bestimmen, dass beispielsweise von einer nach Landesrecht zulässigen Zweckänderung im
Strafverfahren nicht (oder nur eingeschränkt) Gebrauch gemacht werden darf.
bb) Bildung und Kommunen
Die Länder können auch befugt sein, arbeitsrechtliche Regelungen zur Arbeitnehmerweiterbildung zu treffen (BVerfGE 77, 308 [328 ff.]). Das Schulwesen ist im Grundsatz
der ausschließlichen Zuständigkeit der Länder zugewiesen (BVerfGE 75, 40 [66 f.]). Auch
Regelungen über die richtige Schreibung für den Unterricht in den Schulen fallen in die
Zuständigkeit der Länder (BVerfGE 98, 218 [248]). Grundsätzlich der Länderkompetenz
unterliegen darüber hinaus das Pflichtexemplarrecht (BVerfGE 58, 137 [146]), das Kommunalrecht (BVerfGE 58, 177 [191 f.]) sowie das Recht zur Regelung der Rechtsverhältnisse an den öffentlichen Straßen und Wegen (BVerfGE 42, 20 [28 f.]). Schließlich fallen
die Sorge für die Gemeindefinanzen (BVerfGE 26, 172 [181]) sowie das Spielbankenrecht
in die Kompetenz der Länder (BVerfGE 28, 119 [151]).
cc) Staatshaftung
Für den Bereich der Staatshaftung schließlich ist dem Bund zugunsten der Länder die
Kompetenz abgesprochen worden (BVerfGE 61, 149 [11, 173 ff.]).
b) Fehlende Länderkompetenzen
Hingegen sind die Länder mangels Kompetenz nicht befugt, im Rahmen von Enteignungsgesetzen Regelungen über Schadensersatz zu treffen (BVerfGE 45, 297 [338 ff.]).
Ein Land kann sich auch nicht dagegen wehren, dass sein Landesrecht durch den Bund
mit einer Kriminalstrafe bewehrt wird, weil dadurch seine Kompetenz zur inhaltlichen
Ausgestaltung des so geschützten Landesrechts nicht beeinträchtigt wird und erst recht
nicht ausgehöhlt werden kann (BVerfGE 13, 367 [373]).
V. Die ausschließliche Gesetzgebung (Art. 71 und 73 GG)
1.
2.
Auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Abs. 1 Nr.
a) Auslandsaufklärung . . . . . . . .
b) Rundfunk für das Ausland
. . . . .
Wehrpflicht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG) . . .
a) Zulässigkeit einer “Freiwilligenarmee“ . .
b) Spezieller Sachbereich . . . . . . .
1 GG)
. . .
. . .
. . .
. . .
. . .
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188
Brunn - Kapitel C.V.1.
Seite 187
3.
Bundesstaatsangehörigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG) .
4.
Freizügigkeit, Passwesen, Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung (Art.
73 Abs. 1 Nr. 3 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
189
5.
Währungs- und Geldwesen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG) .
.
.
189
6.
Einheit des Zoll- und Handelsgebiets u.a. (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG)
.
189
7.
Luftverkehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG)
.
.
.
.
.
.
.
.
.
189
8.
Bundeseisenbahnen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG)
.
.
.
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.
.
.
.
189
9.
Postwesen und Telekommunikation (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG)
.
.
.
190
a)
Telekommunikation im Allgemeinen
.
.
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.
.
.
190
b)
Telekommunikation im Speziellen
.
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190
10.
.
.
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.
.
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.
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.
188
Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes stehenden Personen (Art.
73 Abs. 1 Nr. 8 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . .
190
Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht und Verlagsrecht (Art. 73 Abs.
1 Nr. 9 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
12.
Terrorismusabwehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 a GG) .
191
13.
Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Belangen der Sicherheit
- Kriminalpolizei, Verfassungsschutz, Bestrebungen mit Auslandsbezug (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
191
a)
191
11.
“Zusammenarbeit“ .
.
.
.
.
.
.
aa) Zusammenarbeit “über Kreuz“
b)
14.
.
.
.
.
.
.
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. . . . . . . . . . . . . . . .
191
bb) “Kriminalpolizei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
192
Staatenübergreifende Verbrechensbekämpfung .
.
Statistik für Bundeszwecke (Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG)
.
.
.
.
.
.
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.
.
192
.
.
.
.
.
192
a)
Verbleibende Länderkompetenzen .
.
.
.
.
.
.
192
b)
Erfassung von inneren Tatsachen und Meinungen .
.
.
.
.
.
192
Den schärfsten Gegensatz zum zuvor beschriebenen Grundsatz der Länderkompetenz
stellt die ausschließliche Bundesgesetzgebung dar. Sie ist in den Artikeln 71 und 73 GG
geregelt. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat die ausschließliche
Gesetzgebung des Bundes - soweit ersichtlich - keine besonderen Schwierigkeiten bereitet; die relativ größten Probleme sind dort aufgetreten, wo es darum ging, ob von einer
einwandfrei gegebenen Gesetzgebungskompetenz des Bundes auch umgriffen ist, Regelungen zu treffen über die damit zusammenhängende Gefahrenabwehr (die traditionell
den Ländern vorbehalten ist).
1. Auswärtige Angelegenheiten (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG)
Nicht alle Tatbestände mit Auslandsbezug zählen zu den auswärtigen Angelegenheiten.
Darunter sind nur diejenigen Fragen zu verstehen, die für das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu anderen Staaten oder zwischenstaatlichen Einrichtungen Bedeutung
haben (BVerfGE 100, 313 [368 f.]); mit anderen Worten sind auswärtige Angelegenheiten (nur) die Beziehungen, die sich aus der Stellung der Bundesrepublik Deutschland als
Völkerrechtssubjekt zu anderen Staaten ergeben (BVerfGE 33, 52 [60]).
Brunn - Kapitel C.V.4.
Seite 188
a) Auslandsaufklärung
Deswegen hat der Bund zwar die Kompetenz zur Regelung der Erfassung, Verwertung
und Weitergabe von Telekommunikationsdaten durch den Bundesnachrichtendienst, aber
der Bundesgesetzgeber ist nicht dazu befugt, dem Bundesnachrichtendienst Befugnisse
einzuräumen, die auf die Verhinderung oder Verfolgung von Straftaten als solche gerichtet
sind (BVerfGE 100, 313 [314 sowie LS]).
Mit anderen Worten müssen Regelungen in einen Regelungs- und Verwendungszusammenhang eingebettet sein, der auf die Auslandsaufklärung bezogen ist und der politischen
Information der Bundesregierung dient (BVerfGE 133, 277 [319]).
b) Rundfunk für das Ausland
Letztlich ungeklärt ist, ob es dem Bund gestattet ist, umfassende Regelungen für solche
Rundfunksendungen zu erlassen, die für das Ausland oder für Deutsche bestimmt sind,
welche außerhalb der Bundesrepublik Deutschland wohnen (vgl. BVerfGE 12, 205 [241
f.]).
2. Wehrpflicht (Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG)
Die - derzeit ausgesetzte - allgemeine Wehrpflicht verstößt als solche weder gegen die
Menschenwürde noch sonst gegen die Grundlagen des verfassungsrechtlichen Wertsystems
(BVerfGE 12, 45 [50 ff.]).
a) Zulässigkeit einer “Freiwilligenarmee“
Militärische Landesverteidigung kann aber verfassungsrechtlich unbedenklich auch durch
eine Freiwilligenarmee sichergestellt werden (BVerfGE 48, 127 [160 f.]).
b) Spezieller Sachbereich
Die Gesetzgebungsbefugnis für die Verteidigung ist gegenüber anderen Kompetenzen für
die Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes und der bundesunmittelbaren Körperschaften des öffentlichen Rechts stehenden Personen die speziellere (BVerfGE 62, 354
[367]); deswegen gehört(e) das Dienstrecht der Zivildienstleistenden ebenfalls zu dem
speziellen Sachbereich des Art. 73 Abs. 1 Nr. 1 GG (a.a.O. [368]).
3. Bundesstaatsangehörigkeit (Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 GG)
Diese Kompetenz wirft als solche keine ersichtlichen Schwierigkeiten auf; ob jedoch Regelungen der Voraussetzungen für Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit und damit
auch der Kriterien, nach denen sich die Zugehörigkeit zum Staatsvolk (nachfolgend
D.III.2. (vgl. S. 294) ) bestimmt (BVerfGE 83, 37 [52]), die Grenzen einhalten, die andere Verfassungsbestimmungen stecken, kann äußerst fraglich sein (vgl. im Einzelnen
E.XV.1. (vgl. S. 870) zu Art. 16 Abs. 1 GG).
Brunn - Kapitel C.V.8.
Seite 189
4. Freizügigkeit, Passwesen, Ein- und Auswanderung sowie Auslieferung
(Art. 73 Abs. 1 Nr. 3 GG)
Ähnlich verhält es sich mit der Kompetenz der Nr. 3; insbesondere war immer fraglich, ob
überhaupt und inwieweit Deutsche ausgeliefert werden dürfen (vgl. im Einzelnen E.XV.2.
(vgl. S. 873) zu Art. 16 Abs. 2 GG).
5. Währungs- und Geldwesen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG)
Das Währungs- und Geldwesen umfasst nicht allein die besondere institutionelle Ordnung
der Geldrechnung und der in ihr gültigen Zahlungsmittel, sondern auch die tragenden
Grundsätze der Währungspolitik (BVerfGE 4, 60 [73]).
Ob sich die Erhebung eines Konjunkturzuschlages auf Art. 73 Abs. 1 Nr. 4 GG stützen
ließe, ist offen geblieben (BVerfGE 29, 402 [410]; vgl. im Übrigen auch BVerfGE 89, 155
[199 ff.]).
6. Einheit des Zoll- und Handelsgebiets u.a. (Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG)
Zur ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes gehört hiernach das gesamte Zollwesen
(BVerfGE 8, 260 [268 ff.]). Die Kompetenz betrifft auch alle Wareneinfuhr- und -ausfuhrverbote (BVerfGE 110, 141 [158]); dies betrifft auch Verbote “aus polizeilichen Gründen“
(BVerfGE 33, 52 [61 ff., 64]; vgl. auch BVerfGE 110, 33 [48] für auf den Außenwirtschaftsverkehr bezogene präventiv-polizeiliche Maßnahmen).
Ob auch Filme “Waren“ im Sinne des Art. 73 Abs. 1 Nr. 5 GG sind (so BVerfGE 33, 52
[60 ff.]), kann mit guten Gründen verneint werden (BVerfGE 33, 52 [78, 79] abweichende
Meinung).
7. Luftverkehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6 GG)
Die Gesetzgebungszuständigkeit für den Luftverkehr umfasst auch die Befugnis, Regelungen zur Abwehr solcher Gefahren zu treffen, die gerade aus dem Luftverkehr herrühren.
Allerdings bedarf - hier wie auch ansonsten - die Notwendigkeit des Zusammenhangs
zwischen einer dem Bund zugewiesenen Regelungskompetenz für ein bestimmtes Sachgebiet und einschlägigen Regelungen zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung
strenger Prüfung (BVerfGE 132, 1 [6]; vgl. auch BVerfGE 133, 241 [261]).
8. Bundeseisenbahnen (Art. 73 Abs. 1 Nr. 6a GG)
Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Bundeseisenbahnen umfasst (auch) die
Befugnis, die Planfeststellung für den Bau und die Veränderung des an einer Kreuzung
mit einem Schienenweg der Bundesbahn beteiligten Stückes einer Straße sowie das Verwaltungsverfahren dieser Planfeststellung zu regeln (BVerfGE 26, 338 [369]). Wie bei
allen anderen ausschließlichen Bundeskompetenzen darf der Bund hiervon nur in Einklang mit den übrigen Bestimmungen des Grundgesetzes Gebrauch machen. Deshalb
kann es rechtswidrig sein, dass einem Land Ausgaben für die Wahrung einer Bundesaufgabe auferlegt werden, wie es etwa die Beseitigung, Entlastung oder Veränderung eines
Bahnübergangs der Fall sein kann (a.a.O. [389 f.]).
Brunn - Kapitel C.V.11.
Seite 190
Auch hier schließt die Kompetenzvorschrift auch die Regelungen über die traditionell
dem Bund zukommende Aufgabe der Abwehr von konkreten Gefahren für die Sicherheit
und Ordnung auf den Bahnanlagen der Eisenbahnen des Bundes mit ein (BVerfGE 97,
198 [221]).
9. Postwesen und Telekommunikation (Art. 73 Abs. 1 Nr. 7 GG)
Die in der Vergangenheit äußerst wichtige Frage der Kompetenz im Rundfunkwesen ist
in der sog. Rundfunkentscheidung (BVerfGE 12, 205) beantwortet worden in dem Sinne,
dass Art. 73 Abs. 1 Nr. GG dem Bund nicht die Befugnis gibt, die Organisation der
Veranstaltung und die der Veranstalter von Rundfunksendungen zu regeln (vgl. auch
BVerfGE 114, 371 [385] und BVerfGE 121, 30 [46]).
a) Telekommunikation im Allgemeinen
In der unmittelbaren Vergangenheit und der Gegenwart ist die Telekommunikation in
den Vordergrund gerückt; diese Kompetenz betrifft die technische Seite der Errichtung
einer Telekommunikations-Infrastruktur und der Informationsübermittlung, nicht aber
Regelungen, die auf die übermittelten Inhalte oder die Art der Nutzung der Telekommunikation ausgerichtet sind (BVerfGE 113, 348 [368]).
b) Telekommunikation im Speziellen
Was speziell die Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten anbelangt, so berechtigt die Kompetenznorm auch zur Anordnung einer Verpflichtung zur Speicherung
von Telekommunikationsverkehrsdaten seitens der Anbieter öffentlich zugänglicher Telekommunikationsdienste; untrennbarer Bestandteil der Anordnung dieser Speicherverpflichtung ist dann auch die verfassungsrechtlich gebotene Gewährleistung der Sicherheit der gespeicherten Daten, ihrer Übermittlung sowie hierbei die Gewährleistung des
Schutzes besonderer Vertrauensbeziehungen der Kommunikationsteilnehmer (BVerfGE
125, 260 [314 f., 344 ff.]).
10. Rechtsverhältnisse der im Dienste des Bundes stehenden Personen (Art.
73 Abs. 1 Nr. 8 GG)
Wie bereits erwähnt (vorstehend 2.), werden von Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG nicht erfasst
Regelungen hinsichtlich sämtlicher Angehörigen der Bundeswehr (und der Zivildienstleistenden; vgl. BVerfGE 62, 354 [367]). Gleichfalls nicht erfasst wird das Arbeitsrecht für
die Angestellten und Arbeiter des öffentlichen Dienstes (BVerfGE 51, 43 [55 f.]).
Unmittelbar gegen den Staat gerichtete Ansprüche werden im Rahmen der Staatshaftung
und nicht nach Art. 73 Abs. 1 Nr. 8 GG geregelt (BVerfGE 61, 149 [155 ff.]).
Das Recht über die Personalvertretungen im öffentlichen Dienst bildet einen Teil des
öffentlichen Dienstrechts (BVerfGE 7, 120 [127]).
Brunn - Kapitel C.V.13.
Seite 191
11. Gewerblicher Rechtsschutz, Urheberrecht und Verlagsrecht (Art. 73
Abs. 1 Nr. 9 GG)
Im Vordergrund stehen bei diesem Kompetenztitel der Schutz des geistigen Eigentums
(die in einem Werk verkörperte geistige Leistung; vgl. BVerfGE 49, 382 [392]) sowie der
lautere Wettbewerb (vgl. BVerfGE 32, 311 [319]).
Die Ablieferungspflicht von Pflichtexemplaren zählt nicht zu Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 GG
(BVerfGE 58, 137 [145 f.]).
12. Terrorismusabwehr (Art. 73 Abs. 1 Nr. 9 a GG)
Gegen die Gesetzgebungskompetenz und die Übertragung der Aufgaben an das BKA
ist weder unter dem Gesichtspunkt der Gefahrenabwehr (Straftatenverhütung) noch der
Verwaltungskompetenz verfassungsrechtlich etwas zu erinnern (BVerfGE 141, 220 [263
f.]).
Man wird davon ausgehen müssen, dass diese Form der Straftatenverhütung kompetenzrechtlich eine Spezialregelung darstellt, welche sich (zumindest) nicht ohne weiteres
auf die “allgemeine“ Gefahrenabwehr (beinhaltend auch Straftatenverhütung) übertragen
lässt.
13. Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Belangen der Sicherheit
- Kriminalpolizei, Verfassungsschutz, Bestrebungen mit Auslandsbezug (Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG)
Der Schlüsselbegriff von Art. 73 Abs. 1 Nr. 10 GG ist derjenige der “Zusammenarbeit“; er
darf bei der Auslegung der Bestimmung nicht aus den Augen verloren werden, was aber
geschähe, wenn man die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz etwa auf den Bereich
des Verfassungsschutzes allgemein ausdehnen würde (BVerfGE 113, 63 [79]). Insoweit
bleibt es für den Bereich des Landesverfassungsschutzes bei der Gesetzgebungskompetenz
der Länder.
a) “Zusammenarbeit“
Zusammenarbeit ist eine auf Dauer angelegte Form der Kooperation, die die laufende
gegenseitige Unterrichtung und Auskunftserteilung, die wechselseitige Beratung sowie
gegenseitige Unterstützung und Hilfeleistung in den Grenzen der je eigenen Befugnisse
umfasst und funktionelle und organisatorische Verbindungen, gemeinschaftliche Einrichtungen und gemeinsame Informationssysteme erlaubt (BVerfGE 133, 277 [317 f.]).
aa) Zusammenarbeit “über Kreuz“
Entgegen einer lange vorherrschenden Auffassung darf eine Zusammenarbeit zwischen
den benannten Institutionen auch gewissermaßen “über Kreuz“ erfolgen. Art. 73 Abs. 1
Nr. 10 GG erlaubt auch fachübergreifende Regelungen und will eine Effektivierung der
Zusammenarbeit der verschiedenen Sicherheitsbehörden über föderale Kompetenzgrenzen hinweg ermöglichen (BVerfGE 133, 277 [318]).
Brunn - Kapitel C.VI.0.
Seite 192
bb) “Kriminalpolizei“
Der Begriff “Kriminalpolizei“ schließt nicht aus, dass der Bund eine Zusammenarbeit auch
zur Verhinderung von Straftaten regeln kann, sondern dient lediglich der Beschränkung
auf Regelungen, die sich auf bedeutsame Straftaten von Gewicht beziehen (BVerGE 133,
277 [318]).
b) Staatenübergreifende Verbrechensbekämpfung
Schließlich ist der Bundesgesetzgeber auch befugt, die staatenübergreifende (internationale) Verbrechensbekämpfung gesetzlich zu regeln (BVerfGE 100, 313 [369]).
14. Statistik für Bundeszwecke (Art. 73 Abs. 1 Nr. 11 GG)
Die Statistik hat erhebliche Bedeutung für eine staatliche Politik. Ist die Kenntnis der
relevanten Daten und die Möglichkeit, die durch sie vermittelten Informationen mit Hilfe
der Chancen, die eine automatische Datenverarbeitung bietet, für die Statistik zu nutzen,
schafft die für eine am Sozialstaatsprinzip orientierte staatliche Politik unentbehrliche
Handlungsgrundlage (BVerfGE 65, 1 [47]).
a) Verbleibende Länderkompetenzen
Der Bund hat die Zuständigkeit jedoch nur, wenn er die Statistik zur Bewältigung einer
Bundesaufgabe benötigt; andernfalls sind die Länder zuständig (BVerfGE 8, 104 [119]).
b) Erfassung von inneren Tatsachen und Meinungen
Nicht von vornherein ausgeschlossen ist es, dass bei der Erhebung auch innere Tatsachen
und Vorgänge sowie politische Wertungen und Meinungen der Bürger ermittelt werden
(BVerfGE 8, 104 [111]).
Umso mehr ist eine Abschottung der Statistik geboten (BVerfGE 65, 1 [50]).
VI. Konkurrierende Gesetzgebung des Bundes (Art. 72 und Art. 74 GG)
1.
Überkommene Regeln zum Gebrauchmachen einer Kompetenz durch den
Bund (Art. 72 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die Erfüllung des Tatbestandes des Gebrauchmachens . . . .
194
194
aa) Pflicht zur Verlautbarung der Absicht des Gebrauchmachens
194
bb) Umfassende Regelung eines Sachbereichs als Kriterium . . .
194
(1) Unvollständige Normen und “Lückenfüllungen“
. . . . .
195
(2) Inanspruchnahme von Steuergegenständen . . . . . . . .
195
cc) “Absichtsvolles Unterlassen“ (auch von Teilregelungen) als Gebrauchmachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) “Beginn“ einer umfassenden Regelung
. . . . . . . . . .
195
195
Brunn - Kapitel C.VI.0.
Seite 193
(2) Entschiedene Einzelfälle
b)
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Folgen eines (zulässigen) Gebrauchmachens
aa) Sperrwirkung
.
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
195
196
(1) Regelmäßig keine Sperrwirkung eines nichtigen Gesetzes
196
(2) Entschiedene Kollisionen mit Landesregelungen
. . . . .
196
. . . . . .
196
. . . . . . . . . .
196
(2) Rücknahme einer Ermächtigung . . . . . . . . . . . . . .
197
bb) Ausnahme der Vorbehalte zugunsten der Länder
(1) “Unberührt-Bleiben“ von Landesrecht
2.
.
195
Neuere Regeln über die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung
als Folge von Verfassungsänderungen . . . . . . . . . . . .
197
a)
197
Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse
.
.
.
.
.
.
.
aa) Bedrohung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse . . .
(1) Bedrohung und Prognoseentscheidung
. . . . . . . . . .
(2) Eingetretene oder drohende Überschreitung einer “Bandbreite“ unterschiedlicher Lebensverhältnisse . . . . . . . .
bb) Keine Bundeskompetenz bei “ausreichenden“ Länderregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit
.
.
.
.
.
bb) Rechtseinheit
197
197
198
.
198
. . .
198
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
198
aa) Gemeinsames und Unterschiede in den Schwerpunkten
.
197
(1) Vermeidung der Rechtszersplitterung als Rechtfertigung
198
(2) Erbschaftsteuerrecht als anerkennungswürdiges Beispiel .
199
cc) Wirtschaftseinheit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
c)
Die Beurteilung der Erforderlichkeit durch den Bundesgesetzgeber
199
d)
Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und verfassungsgerichtliche Überprüfung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen
Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
199
aa) Vergangene und gegenwärtige Tatsachen . . . . . . . . . . .
200
bb) Zukünftige Tatsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
(1) Erfordernis der ausreichenden Tatsachenbasis
e)
. . . . . .
200
(2) Erfordernis des angemessenen Prognoseverfahrens . . . .
200
Einzelfälle, in denen die Voraussetzungen der Erforderlichkeit in jüngerer Zeit verneint bzw. bejaht worden sind . . . . . . . .
aa) Verneinte Erforderlichkeit
bb) Bejahte Erforderlichkeit
200
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
200
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Brunn - Kapitel C.VI.1.
3.
4.
Seite 194
Abweichende Regelungen durch die Länder (Art. 72 Abs. 3 GG)
. .
Freigaben sowie Ersetzungen durch Landesrecht (Art. 72 Abs. 4 und Art.
125 a Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Freigabe“ und “Ersetzung“ . . . . . . . . . . . . .
b)
c)
201
201
201
aa) Ersetzung als Regelung in eigener Verantwortung . . . . . .
201
bb) Verbot einer “Blockade“ durch den Bund . . . . . . . . . .
Wahl zwischen “Modifizierung“ des Bundesrechts und Freigabe .
“Mischfälle“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
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Materienübergreifend gilt bezüglich der Ausübung einer Gesetzgebungskompetenz - sei
es durch den Bund, sei es durch ein Land -, dass sich aus dem “Gebot wechselseitiger bundesstaatlicher Rücksichtnahme“ verfassungsrechtliche Grenzen ergeben können
(BVerfGE 138, 261 [278]).
1. Überkommene Regeln zum Gebrauchmachen einer Kompetenz durch den
Bund (Art. 72 Abs. 1 GG)
Oft ist es vorgekommen, dass das Bundesverfassungsgericht eine (fehlende) Länderkompetenz gewissermaßen als “Vorfrage“ der Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde eines
Bürgers gegen ein belastendes Landesgesetz zu beurteilen hatte (vgl. etwa das Verfahren BVerfGE 138, 261); allerdings hat auch der Bund Anträge gegen einzelne Länder
gerichtet mit dem Ziel der Nichtigerklärung von entsprechendem Landesrecht.
a) Die Erfüllung des Tatbestandes des Gebrauchmachens
Unter “Gebrauchmachen“ ist eine erschöpfende materielle Regelung zu verstehen (BVerfGE 18, 407 [417]; vgl. auch BVerfGE 136, 194 [267 f.] “abschließender Charakter“ sowie
BVerfGE 138, 261 [280]).
aa) Pflicht zur Verlautbarung der Absicht des Gebrauchmachens
Beabsichtigt der Bundesgesetzgeber, eine solche erschöpfende materielle Regelung zu treffen, so muss er dies in erster Linie in dem Bundesgesetz selbst zum Ausdruck bringen;
ergänzend ist die Absicht in dem dem Gesetz eigenen Regelungszweck, in der Gesetzgebungsgeschichte und in den Gesetzgebungsmaterialien zum Ausdruck zu bringen (BVerfGE 98, 265 [300 f.]; vgl. auch BVerfGE 138, 261 [280] “hinreichend erkennbar“).
Oft ergibt aber die Auslegung, dass der Bundesgesetzgeber gerade keine abschließende
Regelung bezweckte (subjektive Sicht des Gesetzgebers) und/oder “objektiv“ (eindeutig)
als abschließend zu verstehen war/ist (BVerfGE 138, 261 [281]), etwa weil sich der Gesetzgeber “schlicht keine Gedanken machen musste“ (a.a.O.; dort auch - unter Hinweis
auf BVerfGE 109, 190 [235] - zur unzulässigen nachträglichen Umdeutung).
bb) Umfassende Regelung eines Sachbereichs als Kriterium
Maßgeblich ist, ob ein bestimmter Sachbereich tatsächlich umfassend und lückenlos geregelt ist (BVerfGE 102, 99 [114 f.]).
Brunn - Kapitel C.VI.1.
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(1) Unvollständige Normen und “Lückenfüllungen“
Eine “unvollständige“ Norm beispielsweise stellt keine solche erschöpfende und lückenlose
Regelung dar (BVerfGE 18, 407 [417]), was aber nicht mit dem Fall verwechselt werden
darf, dass der Gesetzgeber eine erkannte (verfassungsrechtlich problematische) Lücke
schließen will: die lückenfüllende Regelung kann regelmäßig kompetenzrechtlich nicht
anders bewertet werden als das lückenhafte Gesetz (BVerfGE 134, 33 [58]).
(2) Inanspruchnahme von Steuergegenständen
Zwar bedeutet in aller Regel die Inanspruchnahme eines Steuergegenstandes durch den
Bundesgesetzgeber eine erschöpfende Regelung im Hinblick auf diesen Steuergegenstand;
einen Tatbestand, an den ein Bundesgesetz bereits eine Steuer geknüpft hat, kann der
Landesgesetzgeber daher nicht mehr mit einer gleichartigen Steuer belegen (BVerfGE 7,
244 [258 f.]).
Fehl ginge aber die Auffassung, dass die Regelung einer Steuermaterie ganz allgemein die
Vermutung der erschöpfenden Regelung des gesamten Steuergebietes bedeuten soll; die
bundesrechtliche Inanspruchnahme eines Steuergegenstandes bedeutet lediglich hinsichtlich dieses konkreten Steuergegenstandes eine erschöpfende und abschließende Regelung
(BVerfGE 49, 343 [357 f.]).
cc) “Absichtsvolles Unterlassen“ (auch von Teilregelungen) als Gebrauchmachen
Von einer Kompetenz macht der Bund - wie vorstehend (3.b)bb)) angedeutet - nicht
nur dann Gebrauch, wenn er eine positive Regelung getroffen hat; vielmehr kann auch
das absichtsvolle Unterlassen einer Regelung eine Sperrwirkung für die Länder erzeugen
(BVerfGE 113, 348 [371] sowie BVerfGE 138, 261 [280]).
(1) “Beginn“ einer umfassenden Regelung
Auch kann es als erschöpfendes Gebrauchmachen bewertet werden, wenn der Bundesgesetzgeber begonnen hat, von seinem Recht zur Gesetzgebung auf einem abgrenzbaren
Gebiet umfassend Gebrauch zu machen (BVerfGE 34, 9 [28]).
(2) Entschiedene Einzelfälle
Beispielsfälle für - teils erschöpfendes, teils nicht erschöpfendes - Gebrauchmachen sind
Regelungen der Verwaltungsgerichtsordnung (BVerfGE 83, 24 [30]), des strafprozessualen
Zeugnisverweigerungsrechts der Presseangehörigen (BVerfGE 36, 193 [210]) sowie des
Ausschlusses weiterer Beschwerden gemäß § 310 StPO (BVerfGE 48, 367 [376]).
b) Die Folgen eines (zulässigen) Gebrauchmachens
Regelmäßig ist insoweit die Nichtigkeit von Landesrecht die (oft für das betroffene Land
sehr verhängnisvolle, weil kaum sinnvoll wiedergutzumachende) Folge (BVerfGE 138, 261
[283 f.] für Nichtigkeit bereits erlassenen Landesrechts).
Brunn - Kapitel C.VI.1.
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aa) Sperrwirkung
Ein erlassenes Bundesgesetz schafft eine Sperrwirkung für die Länder (BVerfGE 1, 283
[296]), und zwar unabhängig davon, ob landesrechtliche Regelungen den bundesrechtlichen Bestimmungen widerstreiten oder sie nur ergänzen, ohne ihnen sachlich zu widersprechen (BVerfGE 102, 99 [115]).
Eine Sperrwirkung ist regelmäßig zeitlich und sachlich begrenzt . Maßgeblich für die
Bestimmung ihrer Reichweite sind (die gesetzliche Regelung selbst und) der Regelungszweck sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BVerfGE 138, 261 [280 f.]; dort auch zum
Verbot einer “Nachbesserung“ einer Bundesregelung durch die Länder).
Auch Recht, das nach Art. 125 GG Bundesrecht geworden ist, entfaltet die Sperrwirkung
(BVerfGE 58, 45 [60 f.]).
(1) Regelmäßig keine Sperrwirkung eines nichtigen Gesetzes
Freilich kann ein vom Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärtes Bundesgesetz die
Sperrwirkung nicht auslösen, weil die Feststellung der Nichtigkeit ex tunc wirkt (BVerfGE
7, 377 [387]).
(2) Entschiedene Kollisionen mit Landesregelungen
Ist ein erschöpfendes Bundesgesetz verkündet, aber noch nicht in Kraft getreten, so führt
auch dieser Umstand bereits zur Nichtigkeit eines nach dem Zeitpunkt der Verkündung
erlassenen Landesgesetzes (BVerfGE 36, 342 [363 f.]).
Eine spätere Beseitigung einer Sperre kann landesrechtlichen Vorschriften nicht zur Gültigkeit verhelfen, die schon vorher erlassen worden sind; Recht, das der Landesgesetzgeber
ohne Kompetenz gesetzt hat, ist von Anfang an nichtig und kann nicht wieder aufleben
(BVerfGE 29, 1 [17]).
Nichts anderes gilt sogar dann, wenn ein Landesgesetzgeber eine Bundesregelung - zu
Recht - für offensichtlich verfassungswidrig gehalten hat, was später vom Bundesverfassungsgericht bestätigt worden ist (BVerfGE 98, 265 [320 ff.]; vgl. aber die beachtlichen
Gründe der abweichenden Meinung: BVerfGE 98, 265 [329, 352 f.]).
Lässt sich eine erschöpfende Bundesregelung nicht feststellen, so sind die Länder nicht
verpflichtet, eine “Homogenitätspflicht“ zu wahren (BVerfGE 49, 343 [359]).
bb) Ausnahme der Vorbehalte zugunsten der Länder
Auch bei einer “hinreichend erkennbaren“ (BVerfGE 113, 348 [372]) umfassenden und
erschöpfenden Regelung durch den Bund sind landesrechtliche Regelungen insoweit zulässig, als das Bundesrecht Vorbehalte (“Regelungsvorbehalt“; vgl. die Nachweise in der
abweichenden Meinung BVerfGE 138, 261 [289, 291]) zugunsten der Landesgesetzgebung
enthält (BVerfGE 20, 238 [251]; vgl. auch BVerfGE 109, 190 [234] sowie BVerfGE 136,
194 [268] für eine ausdrücklich nicht abschließende Regelung).
(1) “Unberührt-Bleiben“ von Landesrecht
Bestimmt der Bundesgesetzgeber, dass bestimmte landesrechtliche Vorschriften “unberührt bleiben“, so kann der Landesgesetzgeber dieses in Kraft bleibende Landesrecht
abändern (BVerfGE 132, 372 [387]; grundlegend BVerfGE 7, 120 [124]).
Brunn - Kapitel C.VI.2.
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(2) Rücknahme einer Ermächtigung
Die Rücknahme einer den Landesgesetzgebern erteilten Ermächtigung setzt in der Regel
eine ausdrückliche Verlautbarung voraus (BVerfGE 60, 135 [161]).
2. Neuere Regeln über die Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen
Regelung als Folge von Verfassungsänderungen
In früheren Fassungen des Art. 72 GG war für alle Materien der konkurrierenden Gesetzgebung ein Erforderlichkeitszusammenhang (“Bedürfnis“) auszumachen (ausführlich
BVerfGE 106, 62 [137 ff.]).
Aus dem Umstand, dass in Art. 72 Abs. 2 GG nunmehr ein Erforderlichkeitserfordernis
nur für bestimmte Materien der konkurrierenden Gesetzgebung aufgestellt wird, wird
man zwingend schließen müssen, dass es für die verbleibende “Kernkompetenz“ keine
Erforderlichkeitsmerkmale mehr gibt (vgl. BVerfGE 138, 261 [279]).
Die folgende Darstellung betrifft daher nur die ausdrücklich in Abs. 2 geregelten Materien:
a) Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse
Eine Bestimmung ist zur “Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ nicht schon
dann erforderlich, wenn es nur um das Inkraftsetzen bundeseinheitlicher Regelungen oder
um eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse geht.
aa) Bedrohung der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse
Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse ist aber dann bereits nicht mehr gegeben
oder bedroht und der Bund zum Eingreifen ermächtigt, wenn sich die Lebensverhältnisse
in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland in erheblicher, das bundesstaatliche Sozialgefüge beeinträchtigender Weise auseinanderentwickelt haben oder sich eine derartige
Entwicklung konkret abzeichnet.
(1) Bedrohung und Prognoseentscheidung
Ein rechtfertigendes besonderes Interesse an einer bundesgesetzlichen Regelung kann
mithin dann bestehen, wenn sich abzeichnet - nachfolgend d) zum Spielraum des Gesetzgebers -, dass Regelungen in einzelnen Ländern aufgrund ihrer Mängel zu einer mit
der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse unvereinbaren Benachteiligung der Einwohner dieser Länder führen und diese deutlich schlechter stellen als die Einwohner anderer
Länder (BVerfGE 140, 65 [80]).
(2) Eingetretene oder drohende Überschreitung einer “Bandbreite“ unterschiedlicher
Lebensverhältnisse
Mit anderen Worten muss entweder die in der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes angelegte Bandbreite unterschiedlicher Lebensverhältnisse überschritten sein
(BVerfGE 112, 226 [247 f.]).
Oder es müssen die vorhersehbaren Einbußen in den Lebensverhältnissen von den betroffenen Ländern durch eigenständige Maßnahmen entweder gar nicht oder nur durch mit
den anderen Ländern abgestimmte Regelungen bewältigt werden können (a.a.O. [248]).
Brunn - Kapitel C.VI.2.
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bb) Keine Bundeskompetenz bei “ausreichenden“ Länderregelungen
Deshalb hat der Bund kein Recht zur Gesetzgebung, wenn landesrechtliche Regelungen
zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten gesamtstaatlichen Rechtsgüter ausreichen; dabei genügt allerdings nicht jede theoretische Handlungsmöglichkeit der Länder
(BVerfGE 125, 141 [154]; im Übrigen gelten für die Steuergesetzgebungskompetenzen
nach Art. 105 Abs. 2 GG dieselben Voraussetzungen der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung: a.a.O. [154 f.]).
b) Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit
Allgemein gilt, dass eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich ist, wenn und soweit
die mit ihr erzielbare Einheitlichkeit der rechtlichen Rahmenbedingungen Voraussetzung
für die Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik als Ganzem/r ist
(BVerfGE 135, 155 [204]; vgl. auch BVerfGE 136, 69 [117] sowie BVerfGE 136, 194 [241
ff.]).
aa) Gemeinsames und Unterschiede in den Schwerpunkten
Die Gesichtspunkte der Wahrung der Rechts- und der Wirtschaftseinheit können sich
überschneiden, weisen aber unterschiedliche Schwerpunkte auf. Während die Wahrung
der Rechtseinheit in erster Linie auf die Vermeidung einer das Zusammenleben erheblich
erschwerenden Rechtszersplitterung zielt, geht es bei der Wahrung der Wirtschaftseinheit
im Schwerpunkt darum, Schranken und Hindernisse für den wirtschaftlichen Verkehr im
Bundesgebiet zu beseitigen. Das Merkmal der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen
Regelung zur Erreichung der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Zwecke wird durch den
Bezug auf das “gesamtstaatliche Interesse“ in besonderer Weise geprägt.
Die Regelung durch Bundesgesetz muss danach nicht unerlässlich für die Rechts- oder
Wirtschaftseinheit in dem normierten Bereich sein. Es genügt vielmehr, dass der Bundesgesetzgeber anderenfalls nicht unerheblich problematische Entwicklungen in Bezug
auf die Rechts- oder Wirtschaftseinheit erwarten darf (BVerfGE 138, 136 [176 f.] sowie
BVerfGE 140, 65 [87 f.]).
bb) Rechtseinheit
Was zunächst speziell die Wahrung der Rechtseinheit anbelangt, so können einheitliche
Rechtsregeln erforderlich werden, wenn eine unterschiedliche rechtliche Behandlung desselben Lebenssachverhalts unter Umständen erhebliche Rechtsunsicherheit und damit
unzumutbare Behinderungen für den länderübergreifenden Rechtsverkehr erzeugen kann
(BVerfGE 111, 226 [253 f.]).
(1) Vermeidung der Rechtszersplitterung als Rechtfertigung
Mit anderen Worten ist eine bundesgesetzliche Regelung zur Wahrung der Rechtseinheit erforderlich, wenn und soweit die mit ihr erzielbare Einheitlichkeit der rechtlichen
Rahmenbedingungen Voraussetzung für die Vermeidung einer Rechtszersplitterung mit
problematischen Folgen ist, die im Interesse sowohl des Bundes als auch der Länder nicht
hingenommen werden kann (BVerfGE 140, 65 [87]).
Brunn - Kapitel C.VI.2.
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(2) Erbschaftsteuerrecht als anerkennungswürdiges Beispiel
Der Bundesgesetzgeber durfte davon ausgehen, dass eine nicht hinnehmbare Rechtszersplitterung mit nicht unerheblichen Nachteilen und Erschwernissen für Erblasser und
Erwerber betrieblichen Vermögens wie auch für die Finanzverwaltung zu befürchten wäre, bliebe es den Ländern überlassen, ob, in welchem Umfang und in welcher Ausgestaltung im Einzelnen sie Regeln für beispielsweise die erbschaftsrechtliche Begünstigung des
Betriebsübergangs schaffen wollen (BVerfGE 138, 136 [178]).
cc) Wirtschaftseinheit
Was sodann speziell die Wahrung der Wirtschaftseinheit anbelangt, so liegt sie im gesamtstaatlichen Interesse, wenn es um die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Wirtschaftsraums der Bundesrepublik durch bundeseinheitliche Rechtsetzung geht.
Der Erlass von Bundesgesetzen zur Wahrung der Wirtschaftseinheit steht dann im gesamtstaatlichen, also im gemeinsamen Interesse von Bund und Ländern, wenn uneinheitliche Landesregelungen oder Untätigkeiten der Länder erhebliche Nachteile für die
Gesamtwirtschaft mit sich bringen (BVerfGE 106, 62 [147]; vgl. auch BVerfGE 140, 65
[87 f.]).
c) Die Beurteilung der Erforderlichkeit durch den Bundesgesetzgeber
Die Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG sind unbestimmte Gesetzesbegriffe (BVerfGE 106,
62 [148]).
Deshalb besteht zwar kein freier gesetzgeberischer Beurteilungsspielraum hinsichtlich der
Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG. Weil es aber zumeist (auch) um die methodisch unsichere Abschätzung zukünftiger Entwicklungen geht (ausführlich nachfolgend
d)), braucht sich der Gesetzgeber kein “Tauglichkeitsoptimum“ vorzunehmen; es genügt
vielmehr, wenn nach seiner Einschätzung mit Hilfe des Gesetzes der gewünschte Erfolg
befördert werden kann (BVerfGE 106, 62 [149]).
Die verfassungsrechtliche Beurteilung hängt von der objektiven Rechtfertigungsfähigkeit
der Einschätzung des Gesetzgebers ab (BVerfGE 135, 155 [204]).
d) Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers und verfassungsgerichtliche
Überprüfung von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Tatsachen
Die gerichtliche Kontrolle der Auslegung der Merkmale des Art. 72 Abs. 2 GG (zusammenfassend BVerfGE 138, 136 [176 f.] für Steuergesetze sowie BVerfGE 140, 65 [94 ff.])
ist umfassend; sie geht über eine bloße Vertretbarkeitskontrolle hinaus (BVerfGE 106, 62
[148]).
Dabei bezieht sich der erste Prüfungsschritt auf die Frage, ob eine Regelung des Bundesgesetzgebers zum Schutz der in Art. 72 Abs. 2 GG genannten Rechtsgüter zulässig ist
(“wenn ... erforderlich“); im zweiten Schritt ist das Ausmaß der Eingriffsbefugnis (“soweit ... erforderlich“) festzustellen (BVerfGE 125, 141 [154]). Immer muss berücksichtigt
werden, dass Art. 72 Abs. 2 GG den Bund auf den geringstmöglichen Eingriff in das
Gesetzgebungsrecht verweist.
“Erforderlich“ ist die bundesgesetzliche Regelung nur insoweit, als ohne sie die vom Gesetzgeber für sein Tätigwerden im konkret zu regelnden Bereich in Anspruch genommene
Brunn - Kapitel C.VI.2.
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Zielvorgabe des Art. 72 Abs. 2 GG nicht oder nicht hinlänglich erreicht werden kann
(BVerfGE 106, 62 [149]).
aa) Vergangene und gegenwärtige Tatsachen
Soweit es (zur Kontrolle des Vorliegens der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG)
der Feststellung vergangener und/oder gegenwärtiger Tatsachen bedarf, überprüft das
Bundesverfassungsgericht insoweit uneingeschränkt (BVerfGE 106, 62 [150]).
Selbst eine fehlerhafte Tatsachenfeststellung des Gesetzgebers führt indessen nicht zum
Verdikt der Verfassungswidrigkeit, wenn andere, zutreffende Erwägungen zu seiner Begründung herangezogen werden können (BVerfGE 111, 226 [254]).
bb) Zukünftige Tatsachen
Entsprechendes gilt für Tatsachenfeststellungen, die als Grundlage prognostischer Entscheidungen dienen.
(1) Erfordernis der ausreichenden Tatsachenbasis
Überprüfbar ist auch insoweit vor allem, ob der Gesetzgeber seine Entscheidung auf möglichst vollständige Ermittlungen gestützt und/oder ob er relevante Tatsachen übersehen
hat (BVerfGE 106, 62 [150 f.]). Was speziell den dem Gesetzgeber zustehenden Prognosespielraum anbelangt, so sind äußere oder vom Gesetzgeber zu vertretende Umstände
wie Zeitnot oder unzureichende Beratung nicht geeignet, ihn zu erweitern (a.a.O. [152]).
(2) Erfordernis des angemessenen Prognoseverfahrens
Die Prognose selbst muss sich methodisch auf ein angemessenes Prognoseverfahren stützen lassen, und dieses muss konsequent verfolgt worden sein.
Das Prognoseergebnis ist daraufhin zu kontrollieren, ob die die prognostische Einschätzung tragenden Gesichtspunkte mit hinreichender Deutlichkeit offengelegt worden sind
oder ihre Offenlegung jedenfalls in Verfahren möglich ist und ob in die Prognose keine
sachfremden Erwägungen eingeflossen sind (BVerfGE 111, 226 [255]).
e) Einzelfälle, in denen die Voraussetzungen der Erforderlichkeit in jüngerer
Zeit verneint bzw. bejaht worden sind
Auch hier gilt selbstverständlich, dass Vollständigkeit nicht angestrebt wird.
aa) Verneinte Erforderlichkeit
Verneint worden ist die Erforderlichkeit beispielsweise für eine bundesrechtliche Regelung
des Ladenschlusses (BVerfGE 111, 10 [28 f.]), für die Einführung der Junior-Professur und
Normierung von Voraussetzungen für die Einstellung von Professoren (BVerfGE 111, 226
[265 ff.]), für den Grundsatz der Gebührenfreiheit von Studien (BVerfGE 112, 226 [244
f.]), für eine vollständige bundeseinheitliche Regelung der Mindesthebesätze für die Gewerbesteuer (BVerfGE 125, 141 [157 f.]) und für ein bundeseinheitliches Betreuungsgeld
(BVerfGE 140, 65).
Brunn - Kapitel C.VI.4.
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bb) Bejahte Erforderlichkeit
Bejaht worden ist die Erforderlichkeit beispielsweise für eine bundesgesetzliche Regelung
des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (BVerfGE 113, 167 [198 f.]), für das
Gentechnikgesetz (BVerfGE 128, 1 [34]), für die Filmförderung (BVerfGE 135, 155 [204])
sowie für das Erbschaftsteuerrecht (BVerfGE 138, 136 [176 ff.]).
3. Abweichende Regelungen durch die Länder (Art. 72 Abs. 3 GG)
Zu diesen neuen Bestimmungen, die den ebenfalls neuen Bestimmungen in Art. 84 Abs. 1
Sätze 2 bis 6 GG (nachfolgend C.VIII.3. (vgl. S. 232) ) ähnlich sind, liegt - soweit ersichtlich - noch keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor (vgl. die abweichende
Meinung BVerfGE 138, 261 [289, 293 ff.]).
4. Freigaben sowie Ersetzungen durch Landesrecht (Art. 72 Abs. 4 und Art.
125 a Abs. 2 GG)
Der Sache nach regeln Art. 72 Abs. 4 und Art. 125 a Abs. 2 GG - bis auf den erfassten (früher oder später in Kraft getretenen) Normenbestand - gleiche Sachverhalte; für
kompetenzmäßig “ausgelaufenes“ Bundesrecht wird eine Möglichkeit bereitgestellt, durch
Bundesrecht eine Übernahme der Materie durch die Länder zu ermöglichen.
Die (nur) in Art. 125 a GG enthaltene Bestimmung, dass das erlassene Bundesrecht als
Bundesrecht fort gilt, gilt selbstverständlich (unausgesprochen) auch für Art. 72 Abs.
4 GG, denn ein Erlöschen des Bundesrechts ist nirgendwo bestimmt. Weil zwar von
Art. 125 a Abs. 2 GG mehrfach Gebrauch gemacht worden ist, nicht aber von Art. 72
Abs. 4 GG, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur über Art. 125
a Abs. 2 GG befunden worden (BVerfGE 135, 155 [205] sowie BVerfGE 136, 194 [241]
freilich nicht entscheidungserheblich); die nachfolgend dargestellten Erkenntnisse gelten
selbstverständlich auch für Art. 72 Abs. 4 GG:
a) “Freigabe“ und “Ersetzung“
Allein eine Freigabe durch den Bund ermöglicht die Ersetzung durch eine landesrechtliche
Regelung.
aa) Ersetzung als Regelung in eigener Verantwortung
Eine solche vorausgesetzte Ersetzung unterscheidet sich von einer nur teilweisen Änderung bei Fortbestand der bundesrechtlichen Regelung. Die Ersetzung des Bundesrechts
erfordert, dass der Landesgesetzgeber die Materie, ggf. auch einen abgrenzbaren Teilbereich, in eigener Verantwortung regelt (BVerfGE 111, 10 [30]).
bb) Verbot einer “Blockade“ durch den Bund
Art. 125 a Abs. 2 GG darf niemals dazu führen, dass eine sachlich gebotene oder politisch
gewollte Neuregelung nur deshalb unterbleibt, weil der Bund sie nicht (mehr) vornehmen
darf, er aber auch nicht bereit ist, die Materie den Ländern durch Freigabe zur Regelung zu überlassen; das dem Bund eingeräumte Ermessen ist unter Berücksichtigung
des Grundsatzes bundes- und länderfreundlichen Verhaltens entsprechend eingeschränkt
(a.a.O. [31]).
Brunn - Kapitel C.VII.0.
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b) Wahl zwischen “Modifizierung“ des Bundesrechts und Freigabe
Erkennt der Bundesgesetzgeber einen Änderungsbedarf hinsichtlich des fortbestehenden
Bundesrechts, so hat er die Wahl zwischen einer Änderung seines Rechts oder einer
Freigabe, die aber in sein Ermessen gestellt ist (BVerfGE 111, 10 [30]).
Freilich darf der Bundesgesetzgeber sein Recht nur “modifizieren“; er darf es nicht grundlegend neu konzipieren, weil hierzu nur die Länder befugt sind, freilich erst nach einer
Freigabe durch Bundesgesetz (a.a.O. [31]).
c) “Mischfälle“
Weil Art. 125 a Abs. 2 GG voraussetzungsgemäß nur Recht erfassen kann, welches bis
zum 15. November 1994 erlassen worden ist (während Art. 74 Abs. 2 GG nur Recht
erfassen kann, welches nach diesem Zeitpunkt erlassen worden ist), kann die Konstellation
auftreten, dass zwar eine ganze Materie (wie etwa das Strafrecht) von Art. 125 a Abs.
2 GG erfasst wird, aber eine einzelne (neu zu erlassende oder erlassene) Norm nach
dem derzeit gültigen Verfassungsrecht zu beurteilen ist. Dann ist hinsichtlich der neuen
Regelung Art. 72 Abs. 2 GG als Schranke für die Ausübung der Bundeskompetenz zu
beachten (BVerfGE 110, 141 [175]).
Auch insoweit gilt, dass ein Gesetz nicht erst mit seinem In-Kraft-Treten erlassen ist, sondern spätestens mit seiner Verkündung (BVerfGE 110, 370 [386]). Und auch in diesem
Zusammenhang gilt, dass die Reichweite einer kompetenzgerecht erteilten Verordnungsermächtigung von später erfolgten Einschränkungen der Gesetzgebungskompetenz des
Bundes unberührt bleibt (a.a.O.).
VII. Die Materien des Art. 74 GG im Einzelnen
1.
Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (BGB, Strafrecht, Gerichtsverfassung und verfahren, Rechtsberatung) . . . . . . . . . . . . . . .
a) Bürgerliches Recht . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Strafrecht (“weites“ Verständnis in kompetenzrechtlicher Hinsicht)
c)
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aa) Kernbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
bb) Randbereiche
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
206
cc) Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung . . .
Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren . . . . . . .
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aa) Weitreichende Kompetenzen der Länder
. . . . . . . . . . .
207
. . . . . . . . . . . . .
207
(2) Amtsbezeichnungen der Richter . . . . . . . . . . . . . .
207
(3) Verfahrensrechtliches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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(1) Organisation des Gerichtswesens
bb) Schwierige Abgrenzung der vorbeugenden Bekämpfung von
Straftaten von der Vorsorge für die spätere Verfolgung von
Straftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Vorsorge für eine spätere Straftatenverfolgung . . . . . .
208
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(2) Beschränkungen von Geheimnissen im Strafverfahren . .
cc) Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder
d)
. . . . . . . . . . . .
Rechtsanwaltschaft, Notariat und Rechtsberatung .
.
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208
208
208
2.
Personenstandswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 2 GG) .
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208
3.
Öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG)
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209
.
a)
Erfassung sowohl der “traditionellen“ als auch neuen Fürsorge
.
209
b)
Erfassung auch (nicht notwendig akuter) präventiver Maßnahmen
209
c)
Erfassung eines großen Personen- und Trägerkreises .
209
d)
Fürsorgerisches “Gesamtkonzept“ (verschiedene Arten von Fürsorgeleistungen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
aa) Selbständige Leistungen als Teile eines Gesamtkonzepts
e)
4.
5.
210
. .
210
bb) Abstimmung mit den Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . .
210
Entschiedene Einzelfälle
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210
Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG), Kriegsbeschädigte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG) . . . . . . . . . . .
210
Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG)
a)
Zweck und Umfang der Materie .
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211
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aa) Zweck von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 n.F. GG
bb) Umfang
. . . . . . . . . .
211
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
211
b)
Berufsordnende Gesetze
c)
Einzelfälle für das Recht der Wirtschaft und Untergruppen
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aa) Untergruppe Recht des Handwerks
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cc) Untergruppe Recht des Handels . . . . . . . . . . . . . . . .
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Arbeitsrecht
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213
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213
bb) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sozialversicherung
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213
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aa) Abhängige Arbeitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
212
bb) Untergruppe Gewerberecht (“umfassender“ Gewerbebegriff)
Arbeitsrecht und Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG)
a)
.
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. . . . . . . . . . . . . .
dd) Privatrechtliches Versicherungswesen
6.
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213
213
214
aa) Organisation der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . .
214
bb) Abgrenzungen der Finanzierung gegenüber anderen Finanzierungsmitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
(1) Verbot der Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben
. .
(2) Weites Verständnis der Finanzierung der Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Einzelregelungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214
214
215
Brunn - Kapitel C.VII.0.
Seite 204
7.
Enteignung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG) .
8.
Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung u.a. (Art. 74 Abs.
1 Nr. 17 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
215
Grundstücksverkehr, Bodenrecht, landwirtschaftliches Pachtwesen, Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
216
a)
216
9.
10.
Grundstücksverkehr .
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215
b)
Bodenrecht .
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216
c)
Wohnungswesen .
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216
d)
Siedlungswesen
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216
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Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei
Menschen und Tieren, Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen
u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG) . . . . . . . . . . . . .
216
a)
Maßnahmen gegen Krankheiten .
217
b)
Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
aa) Länderkompetenzen für Ausgestaltungsregelungen . . . . . .
217
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(1) Länderkompetenz für die Regelung der Berufsausübung
(nach der Zulassung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
(2) Regelung der Zulassungsvoraussetzungen . . . . . . . . .
217
bb) Randbereiche
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
(1) Altenpfleger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
217
(2) Hebammen
218
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11.
Tierschutz u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG) .
12.
Schifffahrt und Wasserstraßen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG)
.
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218
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218
a)
Schifffahrt .
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218
b)
Wasserstraßen .
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218
aa) Abgrenzung zur wasserwirtschaftlichen Ordnung
13.
.
. . . . . .
218
bb) Sonstige Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
Straßenverkehr u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG)
.
.
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219
a)
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219
Straßenverkehrsrecht
aa) Zweck
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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
bb) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
219
b)
Bundesfernstraßen
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219
c)
Straßenrecht
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220
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aa) Eingegrenzte Befugnisse des Bundes außerhalb des Fernverkehrs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
220
bb) Länderkompetenz für das Straßenausbaubeitragsrecht
220
. . .
Brunn - Kapitel C.VII.1.
14.
15.
Schienenbahnen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 23 GG) . . . . . . . . .
Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 Abs. 1
Nr. 24 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Abfallwirtschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Abfallbeseitigung und -verwertung
16.
17.
18.
19.
Seite 205
. . . . . . . . . . . . . .
bb) Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Sonstiges Umweltrecht . . . . . . . . . . . . . . .
Staatshaftung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG) . . . . . . . . . .
Medizinisch unterstützte Erzeugung menschlichen Lebens u.a. (Art. 74
Abs. 1 Nr. 26 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Umfassende Zuständigkeit im Recht der Gentechnik . . . . .
b) “Eingebettete“ Bestimmungen . . . . . . . . . . . .
Statusrechte und -pflichten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG)
. . . . .
a) Ersetzung der früheren Art. 74 a GG und Art. 75 GG . . . .
b) Denkbare Übernahmen früherer Rechtsprechung . . . . . .
Jagdwesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 GG), Naturschutz und Landschaftspflege
(Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG), Bodenverteilung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 30 GG),
Raumordnung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG), Wasserhaushalt (Art. 74 Abs.
1 Nr. 32 GG) sowie Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse (Art. 74
Abs. 1 Nr. 33 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Wasserhaushalt . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Hochschulzulassung . . . . . . . . . . . . . . . .
220
220
221
221
221
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221
221
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222
222
222
222
223
223
223
Auch insoweit gilt, dass die aufgezählten Gegenstände der Gesetzgebung nicht jeder für
sich in abstrakter Deutung zu bestimmen sind; ihre Abgrenzung ergibt sich auch aus dem
Gesamtgefüge dieser Artikel (grundlegend: BVerfGE 7, 29 [44]).
Ausschlaggebend für die Zuordnung ist auf die “wesensmäßige und historische Zugehörigkeit“ der Materie zu dem einen oder anderen Bereich abzustellen. Die Einordnung der zu
regelnden Materie richtet sich nach ihrer besonderen Eigenart; dabei ist - soweit möglich
- die herkömmliche Zuordnung zu berücksichtigen (BVerfGE 48, 367 [373]).
1. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (BGB, Strafrecht, Gerichtsverfassung und
-verfahren, Rechtsberatung)
Während im letzten Jahrhundert die Kompetenzregeln des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG
nahezu keine Rolle spielten, ist nunmehr die Kompetenz für “Strafrecht“ in Teilen streitig
geworden.
a) Bürgerliches Recht
Das bürgerliche Recht ist als Zusammenfassung aller Normen zu verstehen, die herkömmlicherweise dem Zivilrecht zugerechnet werden, also nicht als Gegensatz zum öffentlichen
Recht; auch das zur Freiwilligen Gerichtsbarkeit gehörende gerichtliche Beurkundungswesen fällt hierunter (BVerfGE 11, 192 [199]). Grundsätzlich ist dieser Gesetzgebungsgegenstand in gleicher Weise wie in der Weimarer Reichsverfassung zu interpretieren
(BVerfGE 61, 149 [174 f.]).
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Auch Vorschriften, die Eigentum der öffentlichen Hand begründen, wenn der betreffende Gegenstand herrenlos ist oder ein Eigentümer nicht ermittelt werden kann, können
hierunter fallen (BVerfGE 126, 331 [357]). Weil das bürgerlich-rechtliche Schadensersatzrecht abschließend die Voraussetzungen und den Inhalt von Schadensersatzansprüchen
und deren Abwicklung bestimmt, könnte nur der Bundesgesetzgeber - nicht aber ein
Landesgesetzgeber - im Rahmen eines Enteignungsgesetzes Regelungen über Schadensersatz treffen (BVerfGE 45, 297 [345]).
Hingegen kann die Regelung der Eigentums- und Haftungsverhältnisse an den öffentlichen Straßen der Länder nicht dem Sachbereich bürgerliches Recht zugerechnet werden
(BVerfGE 42, 20 [28 f., 32]).
b) Strafrecht (“weites“ Verständnis in kompetenzrechtlicher Hinsicht)
Dem - historisch begründeten - weiten (nach den beachtlichen Gründen der abweichenden Meinung BVerfGE 134, 33 [95 ff.] “überdehnten“ bzw. “sehr weiten“) Verständnis
des Begriffs des Strafrechts steht die abweichende (engere) Bedeutung in Art. 103 Abs. 2
GG (nachfolgend F.VI. (vgl. S. 943) ) nicht entgegen (BVerfGE 134, 33 [57]), weswegen
auch ein Gesetz, welches den Zweck verfolgt, Straftäter, deren Gefährlichkeit für hochrangige Rechtsgüter fortbesteht , im Anschluss an die verbüßte Strafhaft zum Schutz
der Allgemeinheit sicher unterzubringen, kompetenzgerecht erlassen worden sein kann
(a.a.O.).
aa) Kernbereich
Zum Strafrecht gehört die Regelung aller, auch nachträglicher, repressiver oder präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, die an die jeweilige Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat
beziehen; danach ist die Gesamtheit der Rechtsnormen, die für eine rechtswidrige Tat eine
Strafe, Buße oder Maßregel der Besserung und Sicherung festsetzen, ( kompetenzrechtlich
) dem Strafrecht zuzuordnen (BVerfGE 109, 190 [212 f.]; bestätigt durch BVerfGE 134,
33 [55 f.]).
bb) Randbereiche
Auch das Ordnungswidrigkeitenrecht fällt hierunter (BVerfGE 27, 18 [32 ff.]). Entsprechendes gilt für die Befugnis zum Erlass eines Straffreiheitsgesetzes (BVerfGE 2, 213 [222
ff.]).
Der Bund kann auch Landesrecht mit einer Kriminalstrafe bewehren. Er darf freilich nicht
auf dem Umweg über die Kompetenz Strafrecht eine der Länderkompetenz unterliegende
Materie selbst sachlich regeln (BVerfGE 26, 246 [257 f.]).
In den Kompetenzbereich fällt auch eine allgemeine Einschränkung der Kostenerstattung für die Vollstreckung von Freiheitsstrafen und freiheitsentziehenden Maßregeln der
Besserung und Sicherung (BVerfGE 85, 134 [144 f.]).
Ebenfalls zum Strafrecht zu rechnen können solche Vorschriften sein, die als Sanktionen
ärztlicher Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit Schwangerschaftsabbrüchen erlassen worden sind (BVerfGE 98, 265 [312, 313 f.]). Auch die Verfolgung von Straftaten durch
Maßnahmen der Telekommunikationsüberwachung kann zu dieser Gesetzgebungsmaterie
gehören (BVerfGE 113, 348 [371 f.]).
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Seite 207
Hingegen gehört die Regelung der Verjährung für Pressedelikte nicht zum Gebiet des
Strafrechts (BVerfGE 7, 29 [39]; möglicherweise gilt inzwischen Anderes).
cc) Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung
Sehr schwierig kann sich die Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung
kompetenzrechtlich darstellen (vgl. BVerfGE 128, 326 [387 f.]: Ausgestaltung der Anforderungen des Abstandsgebots gemeinsam durch Bundes- und Landesgesetzgeber).
c) Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren
Bislang ist eine erschöpfende und abschließende Regelung der gerichtsverfassungsrechtlichen Materie durch den Bundesgesetzgeber nicht erfolgt, so dass den Ländern die Befugnis
zur Gesetzgebung verblieben ist, soweit der Bund von seinem Gesetzgebungsrecht keinen
Gebrauch gemacht hat (BVerfGE 56, 110 [119]).
aa) Weitreichende Kompetenzen der Länder
Darüber hinaus sind auch bei umfassender und erschöpfender Regelung eines Gegenstandes der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz durch den Bund landesrechtliche
Regelungen immer insoweit zulässig, als das Bundesrecht Vorbehalte zugunsten der Landesgesetzgebung enthält, was beispielsweise bei § 187 Abs. 1 VwGO der Fall war (BVerfGE 29, 125 [137]; vgl. auch BVerGE 35, 65 [72, 75] für verwaltungsrechtliches Widerspruchsverfahren; vgl. aber auch BVerfGE 37, 191 [198] für abschließende Bestimmung
der örtlichen Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte).
(1) Organisation des Gerichtswesens
Was insoweit das Verhältnis des Bundesgesetzgebers zum Landesgesetzgeber anbelangt,
so kann auf der einen Seite der Bundesgesetzgeber den Zuständigkeitskreis der obersten
Bundesgerichte bezüglich des Umfangs des revisiblen Rechts auch insoweit bestimmen,
als es sich um die Anwendung von Landesrecht handelt (BVerfGE 10, 285 [292, 294,
296]).
Auf der anderen Seite ist gem. Art. 30, 92 GG die Organisation der Gerichte Aufgabe der
Länder und speziell die Errichtung der Gerichte in den Ländern sowie die Veränderung
ihrer Bezirke Sache der Landesgesetzgeber; der Bund kann deshalb nicht selbst Sitz
und Bezirk der Gerichte in den Ländern konkret bestimmen, was aber nicht ausschließt,
dass der Bund beispielsweise zur Errichtung gemeinsamer (Amts-)Gerichte ermächtigt
(BVerfGE 24, 155 [166 f.]).
(2) Amtsbezeichnungen der Richter
Die Regelung der Amtsbezeichnungen der Richter ist ebenso Sache des Bundesgesetzgebers (BVerfGE 38, 1 [8]; freilich abgeleitet aus Art. 98 GG) wie die Regelung einer Pflicht
von Rechtsanwälten zum Tragen einer Amtstracht in der mündlichen Verhandlung vor
Gericht (BVerfGE 28, 21 [32]; fragwürdig zumindest in Bezug auf die gewohnheitsrechtliche Begründung).
Brunn - Kapitel C.VII.3.
Seite 208
(3) Verfahrensrechtliches
Ebenfalls dem Recht des gerichtlichen Verfahrens zuzurechnen ist die Justizgewährung
in Gestalt von Rechtsmitteln (BVerfGE 48, 367 [374] für weitere Beschwerde in pressebezogenen Beschlagnahmeverfahren). Entsprechendes gilt für das strafprozessuale Aussageverweigerungsrecht von Angehörigen etwa der Presse (BVerfGE 36, 193 [202 ff.]).
bb) Schwierige Abgrenzung der vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten von der
Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten
Sehr schwierig kann bisweilen die Abgrenzung zwischen einer vorbeugenden Bekämpfung
von Straftaten - für die keine konkurrierende Zuständigkeit des Bundes besteht - und
der Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten sein, welche kompetenzmäßig dem
gerichtlichen Verfahren zuzuordnen ist.
(1) Vorsorge für eine spätere Straftatenverfolgung
Bezweckt ein Gesetz die Sicherung von Beweisen für ein künftiges Strafverfahren, so ist
dies Vorsorge für die spätere Verfolgung von Straftaten (BVerfGE 113, 348 [370 f.]).
Mithin sind Vorschriften dem Strafverfahrensrecht zuzuordnen, wenn sie (ausschließlich)
der Beweisbeschaffung zur Verwendung in Strafverfahren dienen (BVerfGE 103, 21 [30
f.] “genetischer Fingerabdruck“).
(2) Beschränkungen von Geheimnissen im Strafverfahren
Auch Maßnahmen zur Beschränkung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses im
Strafverfahren beruhen regelmäßig auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG (BVerfGE 30, 1 [29]).
cc) Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder
Die Materie Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder gehört nicht zur konkurrierenden Gesetzgebung, sondern steht ausschließlich den Ländern selbst zu (BVerfGE 96, 345 [368
f.]).
d) Rechtsanwaltschaft, Notariat und Rechtsberatung
Der Bundesgesetzgeber kann “für Rechtsanwaltschaft, Notariat und Rechtsberatung“
nicht nur die Zulassung zum Beruf, sondern auch die Berufsausübung einschließlich des
Gebührenwesens regeln (BVerfGE 17, 287 [292]; vgl. auch BVerfGE 47, 285 [313 f.] für
notarielles Gebührenrecht).
Hingegen gehören zum traditionellen Gemeindeverfassungsrecht auch die Statuierung
eines kommunalrechtlichen Vertretungsverbots für Angehörige der Kommunalverwaltung
(BVerfGE 41, 231 [241 f.]; vgl. auch BVerfGE 52, 42 [54 ff.]).
2. Personenstandswesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 2 GG)
Zum Personenstandswesen, das bislang wenige Probleme aufgeworfen hat, gehört auch
die Einführung der eingetragenen Lebenspartnerschaft (BVerfGE 105, 313 [338]).
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3. Öffentliche Fürsorge (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG)
Zwar ist der Begriff der “öffentlichen Fürsorge“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG
nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht eng auszulegen. Zu dieser Materie gehören nicht nur Bestimmungen darüber, was die Träger der Fürsorge an
materiellen Fürsorgeleistungen zu erbringen haben und auf welche Weise dies geschehen
soll. Der Regelungsbereich des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfasst auch organisatorische
Vorschriften über die Abgrenzung öffentlicher und privater Träger.
Bei der Bestimmung der Reichweite der aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG folgenden Gesetzgebungskompetenz ist aber Zurückhaltung geboten, wenn mit ihr Regelungen gerechtfertigt
werden sollen, von denen nach dem Grundgedanken der Art. 70 ff. GG anzunehmen ist,
dass der Regelungsgegenstand im Wesentlichen oder weitgehend in der Kompetenz der
Länder verbleiben soll. Das gilt insbesondere mit Blick auf das Kommunalrecht (BVerfGE
137, 108 [165, 167]).
a) Erfassung sowohl der “traditionellen“ als auch neuen Fürsorge
Der Begriff der öffentlichen Fürsorge geht über die klassische Fürsorge (im Bundesrecht
war bis vor wenigen Jahren noch der aus der Weimarer Zeit stammende Begriff der
“Krüppelfürsorge“ auszumachen) hinaus; auch neue Lebenssachverhalte werden umgriffen, wenn sie nur in ihren wesentlichen Strukturelementen dem überlieferten Bild entsprechen (BVerfGE 106, 62 [133]).
Aus der Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG scheiden indessen vor allem Gesetze
aus, die der Krankenversorgung, der Seuchenbekämpfung oder in sonstiger Weise in erster
Linie dem Gesundheitswesen dienen (BVerfGE 88, 203 [329 f.]).
b) Erfassung auch (nicht notwendig akuter) präventiver Maßnahmen
Der Begriff der Fürsorge setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potentieller Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei genügt es, wenn
eine - sei es auch nur typisierend bezeichnete und nicht notwendig akute - Bedarfslage
im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehende Lebenssituation besteht, auf
deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt (BVerfGE 140, 65 [78 f.]).
Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ist mithin nicht auf Hilfsmaßnahmen bei wirtschaftlichen Notlagen oder bei akuter Hilfsbedürftigkeit beschränkt, sondern schließt daneben vorbeugende
Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Hilfsbedürftigkeit ein, soweit dies im Interesse
fürsorgerischer Ziele erforderlich ist (BVerfGE 106, 62 [134]).
c) Erfassung eines großen Personen- und Trägerkreises
Vor dem vorstehenden Hintergrund sind auch unter Umständen Zwangsmaßnahmen gegen Hilfsbedürftige selbst (BVerfGE 58, 208 [227]) oder gegen Dritte ([BVerfGE 57, 139
[159, 161 f.]) erfasst.
Die Kompetenz ist auch keineswegs auf die Regelung der Hilfeleistung durch öffentlichrechtliche oder öffentlich-rechtlich beliehene Träger beschränkt (BVerfGE 106, 62 [134]);
auch organisatorische Abgrenzungen der Tätigkeit der Träger der öffentlichen Hilfe von
derjenigen der privaten Träger können erfasst sein (BVerfGE 22, 180 [203]).
Brunn - Kapitel C.VII.5.
Seite 210
Auch die Heranziehung von ehemaligen Arbeitgebern zur Erstattung von geleisteter Arbeitslosenhilfe kann dem verfassungsrechtlichen Gattungsbegriff der öffentlichen Fürsorge
unterfallen (BVerfGE 81, 156 [186]).
d) Fürsorgerisches “Gesamtkonzept“ (verschiedene Arten von
Fürsorgeleistungen)
Will der Bundesgesetzgeber verschiedene Arten von Leistungen der öffentlichen Fürsorge begründen, muss grundsätzlich jede Fürsorgeleistung für sich genommen den
Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG genügen.
aa) Selbständige Leistungen als Teile eines Gesamtkonzepts
Allein die Verbindung mit einer Bestimmung, die bundesrechtlicher Regelung unterliegt,
schafft demnach noch nicht den bundesrechtlichen Regelungsbedarf für eine Bestimmung,
die für sich genommen nicht die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erfüllt. Auch
wenn der Bundesgesetzgeber selbständige Leistungen der öffentlichen Fürsorge als Teile
eines Gesamtkonzepts begreift, teilen diese nicht allein wegen dieses Verknüpfungswillens
das kompetenzrechtliche Schicksal. Grundsätzlich ist der Bundesgesetzgeber bei der Realisierung legislativer Gesamtförderungskonzepte vielmehr auf jene Fürsorgeinstrumente
beschränkt, die für sich genommen die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erfüllen.
bb) Abstimmung mit den Ländern
Im Übrigen verbleibt ihm die Möglichkeit, eine übergreifende Konzeption in Kooperation
mit den Ländern und in Abstimmung mit deren Gesetzgebung zu verfolgen (BVerfGE
140, 65 [91 f.]).
e) Entschiedene Einzelfälle
Jugendfürsorge und Jugendpflege (BVerfGE 22, 180 [212 f.]) unterfallen ebenso der Kompetenzbestimmung wie etwa die Errichtung einer Stiftung “Hilfswerk für behinderte Kinder“ (BVerfGE 42, 263 [281 f.]). Ebenso erfasst sind das Schwerbehindertengesetz (BVerfGE 57, 139 [166 f.]) und die Kostenregelungen von Altenpflegegesetzen (BVerfGE 108,
186 [214]). Nichts anderes gilt für das Heimgesetz (BVerfGE 106, 62 [134]).
Sogar die Materie “Verbreitung jugendgefährdender Schriften“ soll hierunter fallen
(BVerfGE 31, 113 [117]).
4. Kriegsschäden und Wiedergutmachung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG),
Kriegsbeschädigte (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG)
Art. 74 Abs. 1 Nr. 9 GG betrifft nur die finanzielle Abgeltung der Kriegs- und Verfolgungsschäden (BVerfGE 3, 407 [419]; vgl. auch BVerfGE 126, 331 [356 f.]).
Was im Übrigen die Versorgung der Kriegsbeschädigten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 10 GG)
anlangt (vgl. BVerfGE 57, 139 [166 f.]), dürfte für die “neuen“ Kriegsbeschädigten (etwa
aus dem Afghanistan-Einsatz) ein anderer Kompetenztitel heranzuziehen sein.
Brunn - Kapitel C.VII.5.
Seite 211
5. Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG)
Auch bei der - vielfältigen (BVerfGE 136, 194 [241 ff.] für Sonderabgabe zur Finanzierung
der Tätigkeit des Deutschen Weinfonds; freilich i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 17; vgl. auch
BVerfGE 138, 261 [275 ff.] für Ladenschluss; dort [277] auch zu Modifikationen des Art. 74
Abs. 1 Nr. 11 GG im Zuge der Föderalismusreform) - Materie des Rechts der Wirtschaft
tritt die Problematik der Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenz zu dem Bereich der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung auf.
Auch insoweit können Normen, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung in einem bestimmten Sachbereich dienen, dem Sachbereich zuzurechnen sein,
zu dem sie in einem notwendigen Zusammenhang stehen. Einen selbständigen, in die
Gesetzgebungskompetenz der Länder fallenden Sachbereich bildet nur das Polizeirecht
im engeren Sinne ; es umfasst die Regelungen, bei denen die Aufrechterhaltung der
öffentlichen Sicherheit und Ordnung der alleinige und unmittelbare Gesetzeszweck ist
(BVerfGE 8, 143 [150]).
Folglich ließ sich das Sprengstoffgesetz nicht dem Recht der Wirtschaft zurechnen (BVerfGE 13, 367 [371 f.]). Hingegen ist ein vorkonstitutionelles Gesetz, welches sowohl einen
wirtschaftspolitischen als auch einen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit
und Ordnung dienenden Zweck verfolgte, wegen dieser “doppelten Zweckbestimmung“
dem Recht der Wirtschaft zugeordnet worden (BVerfGE 8, 143 [148]).
a) Zweck und Umfang der Materie
Angesichts der “Vielfältigkeit“ der erwähnten Materien kann es nur Zweck der Vorschrift
sein, ein Mindestmaß an Abgrenzungsklarheit herzustellen (um zu vermeiden, dass ein
- an sich sinnvolles - Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht aus Kompetenzgründen
scheitert).
aa) Zweck von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 n.F. GG
Es soll eine neu konturierte, klare föderale Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten
erzielt werden (BVerfGE 138, 261 [277]).
bb) Umfang
Zum Recht der Wirtschaft gehören jedenfalls alle das wirtschaftliche Leben und die wirtschaftliche Betätigung als solche regelnden Normen, die sich in irgendeiner Form auf die
Erzeugung, Herstellung und Verteilung von Gütern des wirtschaftlichen Bedarfs beziehen
(BVerfGE 8, 143 [149]; vgl. auch BVerfGE 26, 246 [254]; BVerfGE 116, 202 [215 f.] sowie
BVerfGE 135, 155 [196] Filmabgabe, fragwürdig).
Namentlich trifft dies zu auf Gesetze, die ordnend und lenkend in das Wirtschaftsleben
eingreifen (BVerfGE 4, 7 [13]). Im Rahmen derartiger Regelungen können auch Abgaben
vorgesehen werden (BVerfGE 55, 274 [309]; vgl. indessen dazu, dass gegenüber Art. 105
GG (nachstehend C.IX.7. (vgl. S. 254) ) die Zuständigkeit in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG
subsidiär ist: BVerfGE 4, 7 [13]).
Brunn - Kapitel C.VII.5.
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b) Berufsordnende Gesetze
Zuständig ist der Bund auch für Gesetze, die Berufe in der Wirtschaft rechtlich ordnen
und ihre Berufsbilder rechtlich fixieren. In diesem Rahmen kann der Gesetzgeber sowohl
den Inhalt der beruflichen Tätigkeit wie auch die Voraussetzungen für die Berufsausbildung (Ausbildung, Prüfungen) normieren (BVerfGE 26, 246 [255]).
Deshalb steht das Schulrecht als Teil der Kulturhoheit der Länder nicht in Frage, wenn
die Anforderungen an Ausbildung und Prüfungen als Voraussetzungen für die Berufsausübung im Bereich des Rechts der Wirtschaft geregelt werden (BVerfGE 119, 59 [82]; vgl.
auch BVerfGE 106, 62 [132]).
c) Einzelfälle für das Recht der Wirtschaft und Untergruppen
Dem Recht der Wirtschaft zugeordnet worden sind Vorschriften über die Vergabe von
öffentlichen Aufträgen (BVerfGE 116, 202 [216]), Rabattgesetze (BVerfGE 21, 292 [296]),
Regelungen der Aufbürdung von Rentenaltlasten von einer Berufsgenossenschaft auf andere Berufsgenossenschaften (BVerfGE 23, 12 [22 ff.]), gesetzgeberische Maßnahmen, die
zur Lenkung der Konjunktur den privaten Verbrauch drosseln sollten (BVerfGE 29, 402
[409]), sowie Regeln über ärztliche Gebührenvorschriften (BVerfGE 68, 319 [327 ff.]).
Demgegenüber verneint wurde die Zuständigkeit für das Spielbankenrecht (BVerfGE 28,
119 [146 ff.]; vgl. auch BVerfGE 102, 147 [214]), für das öffentlich-rechtliche Versicherungswesen (BVerfGE 41, 205 [218 f.]) sowie für das Ingenieurgesetz (BVerfGE 26, 246
[254]).
aa) Untergruppe Recht des Handwerks
Die Kompetenz des Bundes zur gesetzlichen Regelung des Handwerksrechts ergreift jeden
einzelnen Zweck des Handwerks entsprechend seiner Eigenart in vollem Umfang; dementsprechend können auch vom Bund geregelt werden eine entsprechende Altersgrenze und
eine dieser angepasste Altersversorgung (BVerfGE 1, 264 [272]).
bb) Untergruppe Gewerberecht (“umfassender“ Gewerbebegriff)
Entsprechend dem traditionellen Gewerbebegriff in früheren Verfassungen ist auch der
grundgesetzliche Begriff des Gewerbes umfassend zu verstehen (BVerfGE 5, 25 [29]).
Dementsprechend fällt auch der Betrieb einer Apotheke unter den traditionellen Begriff
des Gewerbes (a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 41, 344 [351 f., 355] für die Ausrüstung von
Aufzugsanlagen, wenn sie im Rahmen einer wirtschaftlichen Unternehmung Verwendung
finden).
Für das Recht der gewerblichen Sportwetten (Regelung eines staatlichen Wettmonopols)
hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass eine Kompetenz des Bundes nicht
an dem ordnungsrechtlichen Aspekt der Regelungsmaterie scheitern muss (BVerfGE 115,
276 [318 f.]).
Demgegenüber muss ein Landesgesetzgeber, der die Erhebung einer Steuer zulässt, mit
der gewerbepolizeiliche oder sozialpolitische Nebenzwecke verfolgt werden, nicht auf dem
Gebiet des Gewerberechts tätig werden (BVerfGE 13, 181 [196]).
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cc) Untergruppe Recht des Handels
Ladenschluss-Regelungen können auch zum Recht des Handels gehören (BVerfGE 1, 283
[292]; vgl. auch neuerdings ausführlich BVerfGE 138, 261 [275 ff.] zur Abgrenzung von
Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG im Zusammenhang mit “arbeitszeitrechtlichen Regelungen“).
dd) Privatrechtliches Versicherungswesen
Wie bereits erwähnt, erstreckt sich die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes für das
privatrechtliche Versicherungswesen nicht auf die hoheitlich ausgestalteten Gebäudeversicherungen bei öffentlich-rechtlichen Zwangs- oder Monopolanstalten (BVerfGE 10, 141
[162 f.]).
Demgegenüber widerspricht die Anordnung einer Versicherungspflicht (Kontrahierungszwang) durch den Bundesgesetzgeber nicht dem Begriff des privatrechtlichen Versicherungswesens (BVerfGE 103, 197 [218]). Entsprechendes gilt für den Bundesgesetzgeber,
wenn er für einen von ihm neu geschaffenen Typ von privatrechtlicher Versicherung Regelungen des sozialen Ausgleichs vorsieht (a.a.O. [217]; vgl. auch BVerfGE 123, 186 [235]).
6. Arbeitsrecht und Sozialversicherung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG)
Sowohl quantitativ als auch qualitativ dürfte die Kompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG
(vgl. neuerdings BVerfGE 138, 261 [273] für konkurrierende Kompetenz im Hinblick auf
das Arbeitszeitrecht; dort [279 ff.] auch dazu, dass der Bund von seiner Kompetenz zur
Regelung der Arbeitszeit an Samstagen keinen abschließenden Gebrauch gemacht hat;
kritisch demgegenüber die abweichende Meinung BVerfGE 138, 261 [289, 293] “Vernebelung der Kompetenzregelung“) die gewichtigste sein.
a) Arbeitsrecht
Das Arbeitsrecht hat sich als Ganzes im Laufe der Jahrzehnte zu einem selbständigen
und eigenständigen Rechtsgebiet entwickelt, das neben dem bürgerlichen Recht steht
(BVerfGE 7, 342 [348]; vgl. auch BVerfGE 77, 308 [328]).
aa) Abhängige Arbeitsverhältnisse
Es begründet insbesondere eine umfassende Kompetenz für die Regelung der Rechtsbeziehung zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und erstreckt sich sowohl auf privatrechtliche als auch auf öffentlich-rechtliche Bestimmungen über abhängige Arbeitsverhältnisse
(BVerfGE 106, 62 [132 f.]; vgl. indessen auch BVerfGE 11, 89 [98] dazu, dass dahinsteht,
ob gesetzliche Bestimmungen für Angestellte und Arbeiter des Bundes nur vom Bund
getroffen werden könnten).
bb) Einzelfragen
Auch betriebliches Ausbildungsrecht kann, soweit es arbeitsvertragliche Regelungen betrifft, dem Arbeitsrecht zugeordnet werden (BVerfGE 106, 62 [133]), und zur Bundeskompetenz gehört es auch, Kinderzuschläge zum Arbeitslohn gesetzlich anzuordnen (BVerfGE
11, 105 [115 f.]).
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Was den Erholungsurlaub von Arbeitnehmern anbelangt, so kommt es darauf an, ob
eine Bundesregelung erschöpfend ist (BVerfGE 7, 342 [347, 351 ff.]); ist dies nicht der
Fall, können die Länder entsprechend regeln. Entsprechendes gilt für das sog. öffentliche
Arbeitsrecht (BVerfGE 38, 281 [299]).
b) Sozialversicherung
Der Begriff Sozialversicherung (vgl. ausführlich zum “Sozialstaat“ nachstehend D.IV.)
ist hier als weitgefasster verfassungsrechtlicher Gattungsbegriff zu verstehen. Neue Lebenssachverhalte können in das Gesamtsystem einbezogen werden, wenn die neuen Sozialleistungen in ihren wesentlichen Strukturelementen (insbes. hins. organisatorischer
Durchführung bzw. abzudeckender Risiken) dem Bild entsprechen, das durch die “klassische“ Sozialversicherung geprägt ist (BVerfGE 75, 108 [146]; vgl. auch BVerfGE 114,
196 [221].
Seit jeher war es für diese Materie kennzeichnend, dass das Prinzip versicherungsrechtlichen Risikoausgleichs sozial modifiziert und mit Elementen der öffentlichen Fürsorge
verbunden wurde und wird (BVerfGE 113, 167 [196]).
Speziell in den Zusammenhängen der Krankenversicherung ist in jüngster Zeit die Frage
von Leistungsansprüchen bei lebensbedrohlichen Krankheiten aufgeworfen worden (vgl.
BVerfGE 140, 229 [236 f.]).
aa) Organisation der Sozialversicherung
Das Grundgesetz schreibt die Organisation der Sozialversicherung nicht vor (BVerfGE 89,
365 [377]). Folglich erstreckt sich der Kompetenztitel auf sämtliche mit der Sozialversicherung zusammenhängenden organisationsrechtlichen Fragen; selbst landesunmittelbare
Sozialversicherungsträger könnte der Bund aus eigenem Recht bilden (BVerfGE 113, 167
[201]; grundlegend: BVerfGE 11, 105 [123 f.]; vgl. auch BVerfGE 109, 96 [109 f.]).
bb) Abgrenzungen der Finanzierung gegenüber anderen Finanzierungsmitteln
Traditionell weckt der Kompetenztitel “Begehrlichkeiten“ (hauptsächlich des Haushaltsgesetzgebers), welchen das Bundesverfassungsgericht teils entgegengetreten, teils wohlwollend begegnet ist.
(1) Verbot der Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben
Der Kompetenztitel dient nicht dazu, Mittel für die Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben aufzubringen. Die Finanzmasse der Sozialversicherung ist tatsächlich und rechtlich
von den allgemeinen Staatsfinanzen getrennt. Ein Einsatz der Sozialversicherungsbeiträge
zur Befriedigung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staates ist ausgeschlossen (BVerfGE
75, 108 [146 ff.]).
(2) Weites Verständnis der Finanzierung der Sozialversicherung
Demgegenüber ist die Kompetenz aus sich heraus auch und gerade auf die Regelung der
Finanzierung der Sozialversicherung gerichtet. Dies gilt nicht nur in einem engeren Sinn
für die Erhebung von Sozialversicherungsbeiträgen, sondern in einem weiteren Sinn auch
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für Regelungen über die Erstattung und den Ausgleich von Sozialversicherungsleistungen
(BVerfGE 113, 167 [195]).
Freilich bedarf die Heranziehung nicht selbst Versicherter zu entsprechenden Zahlungen
eines sachorientierten Anknüpfungspunktes in den Beziehungen zwischen Versicherten
und Zahlungspflichtigen (BVerfGE 81, 156 [185]).
Auch Regelungen zur finanziellen Entlastung der Sozialversicherungssysteme dienen
dem Erhalt ihrer Leistungsfähigkeit und sind von dem Kompetenztitel erfasst (BVerfGE
114, 196 [221]).
Allgemein ist es grundsätzlich unschädlich, wenn neben Versichertenbeiträgen weitere
Einnahmequellen bestehen (BVerfGE 109, 96 [110] für Zuschüsse aus Steuermitteln).
cc) Einzelregelungen
Die Zugehörigkeit zur Kompetenz ist beispielsweise bejaht worden für die Familienversicherung (BVerfGE 113, 167 [196]), für die Erhebung der Künstlersozialabgabe (BVerfGE
75, 108 [148]), für die Einführung der sozialen Pflegeversicherung (BVerfGE 103, 197
[215]), für das System des Kindergeldgesetzes (BVerfGE 11, 105 [113]) sowie “gerade
noch“ für den Schwangerschaftsabbruch (BVerfGE 88, 203 [314]).
Demgegenüber stellt die beamtenrechtliche Krankenfürsorge gegenüber der Sozialversicherung ein “aliud“ dar (BVerfGE 62, 354 [366]).
7. Enteignung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 14 GG)
Wie bereits erwähnt (vorstehend 1.a)), könnte nur der Bundesgesetzgeber Schadenersatzregelungen im Rahmen eines Enteignungsgesetzes schaffen (BVerfGE 45, 297 [345]).
8. Förderung der land- und forstwirtschaftlichen Erzeugung u.a. (Art. 74
Abs. 1 Nr. 17 GG)
Von dieser Kompetenz kann die Erhebung einer Sonderabgabe zur Finanzierung des
Deutschen Weinfonds gedeckt sein (BVerfGE 136, 194 [241]).
Von der Förderung der landwirtschaftlichen Erzeugung wird auch die Pferdezucht umgriffen (BVerfGE 88, 366 [378, 379]). Die Förderung der Erzeugung ist nicht auf solche
Maßnahmen begrenzt, die zugleich der Sicherung der Ernährung dienen (a.a.O.). Freilich
hat die Förderung der landwirtschaftlichen Erzeugung in erster Linie positiv gestaltende Maßnahmen finanzieller, organisatorischer oder marktlenkender Art zum Gegenstand
(a.a.O.).
Auch Vorschriften zur Gründung eines Wasserbeschaffungsverbandes können der Förderung der landwirtschaftlichen Erzeugung bzw. der Sicherung der Ernährung dienen
(BVerfGE 58, 45 [56 ff.]). Schließlich kann auch die Normierung von Ausgleichsabgaben
kompetenzgerecht erfolgen (BVerfGE 18, 315 [329]).
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9. Grundstücksverkehr, Bodenrecht, landwirtschaftliches Pachtwesen,
Wohnungswesen, Siedlungs- und Heimstättenwesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 18
GG)
Alle Materien, die in Art. 74 Abs. 1 Nr. 18 GG aufgeführt sind, sind gleichwertig nebeneinander gestellt (BVerfGE 3, 407 [414]).
a) Grundstücksverkehr
Zum Grundstücksverkehr können auch Bestimmungen darüber gehören, inwieweit
Eigentums- und sonstige Rechtsänderungen an Grundstücken im Zusammenhang mit
der baulichen Ordnung einer Genehmigungspflicht unterliegen (BVerfGE 3, 407 [429]).
b) Bodenrecht
Zur Materie Bodenrecht gehören (nur) solche Vorschriften, die den Grund und Boden
unmittelbar zum Gegenstand rechtlicher Ordnung haben, also die rechtlichen Beziehungen des Menschen zum Grund und Boden regeln; so gehört zum Bodenrecht das Recht
der städtebaulichen Planung, der Baulandumlegung und Zusammenlegung von Grundstücken (BVerfGE 34, 139 [144]).
Während also die Materie Bodenrecht auch das Bauplanungsrecht umfasst (BVerfGE 65,
283 [288]), ist das Bauordnungsrecht eine selbständige Rechtsmaterie, die einer bundesgesetzlichen Regelung nicht zugänglich ist (BVerfGE 40, 261 [266]).
c) Wohnungswesen
Hierzu gehören auch Maßnahmen zur Förderung des Wohnungsbaus (BVerfGE 21, 117
[128]). Der Bund könnte auch einzelne spezifisch das Wohnungswesen berührende baupolizeiliche Vorschriften erlassen (BVerfGE 3, 407 [433]). Kompetenzgerecht erlassen werden
können auch Regelungen über die Erhebung einer Ausgleichsabgabe von Inhabern einer
öffentlich geförderten Wohnung (BVerfGE 78, 249 [266]).
d) Siedlungswesen
Gegenüber seiner ursprünglichen Bedeutung - landwirtschaftliche Besiedlung - ist der
Begriff des Siedlungswesens umfassender geworden und schließt auch die Wohnsiedlung
ein (BVerfGE 3, 407 [418 f.]).
10. Maßnahmen gegen gemeingefährliche und übertragbare Krankheiten bei
Menschen und Tieren, Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen
u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG)
Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG stellt keine Globalermächtigung des Bundes für den Bereich
des Gesundheitswesens dar, sondern führt enumerativ und spezifisch einige Felder auf,
bei denen der Bund normierungsbefugt ist (BVerfGE 102, 26 [37]).
Brunn - Kapitel C.VII.10.
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a) Maßnahmen gegen Krankheiten
Ob ein umfassendes Rauchverbot von der Kompetenz gedeckt wäre, ist bislang offen
geblieben (BVerfGE 121, 317 [347]).
b) Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen und zum Heilgewerbe
Zum Recht der Zulassung zum ärztlichen Beruf gehören jedenfalls alle Vorschriften, die
sich auf Erteilung, Zurücknahme und Verlust der Approbation oder die Befugnis zur
Ausübung des ärztlichen Berufs beziehen (BVerfGE 7, 18 [25]).
Freilich sind ärztliche Berufe lediglich die Berufe des Arztes, des Zahnarztes und des
Tierarztes, weshalb der Bund zur Regelung des Facharztwesens keine Gesetzgebungszuständigkeit besitzt (BVerfGE 33, 125 [152 ff.]).
aa) Länderkompetenzen für Ausgestaltungsregelungen
Von der Kompetenz, die Zulassung zu regeln, wird nicht umgriffen, ausgestaltende
Regelungen der ärztlichen Berufsausübung zu treffen; bundesgesetzliche Regelungen über
die Erteilung der Approbation schließen deshalb nicht aus, dass der Zugang zu einer
speziellen ärztlichen Tätigkeit durch ein Land an weitere Erfordernisse geknüpft wird,
solange nicht der Zugang zur ärztlichen Tätigkeit als Ganzer abweichend geregelt wird
(BVerfGE 98, 265 [305 f.]).
(1) Länderkompetenz für die Regelung der Berufsausübung (nach der Zulassung)
Generell steht den Ländern die (ausschließliche) Befugnis zu, etwa die Berufsausübung
der Ärzte nach ihrer Zulassung zu regeln und im Zusammenhang mit der Ordnung des
ärztlichen Berufsbildes etwa Werbeverbote für zugelassene Ärzte zu normieren (BVerfGE
71, 162 [171 f.]).
Zu Berufsausübungsregelungen, die den Ländern zugewiesen sind, gehören auch präventive Verbote mit Erlaubnisvorbehalt (BVerfGE 98, 265 [305]). Folglich gehört zur
“Zulassung“ auch nicht die Berufsgerichtsbarkeit (BVerfGE 4, 74 [83]).
(2) Regelung der Zulassungsvoraussetzungen
Demgegenüber befugt die Kompetenz für die Regelung der Berufszulassung auch zur
Regelung von Zulassungsvoraussetzungen und deren Nachweis (BVerfGE 106, 62 [130];
vgl. auch a.a.O. [131] für Regelung des Prüfungswesens).
bb) Randbereiche
Wegen der zunehmenden Bedeutung des “Gesundheitsmarkts“ dürfte die Prognose nicht
verfehlt sein, dass zukünftig hierüber erbittert gestritten werden dürfte.
(1) Altenpfleger
Anders als der Beruf des Altenpflegehelfers gehört der Beruf des Altenpflegers zur Materie
“andere Heilberufe“ (BVerfGE 106, 62 [104 f.]).
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(2) Hebammen
Was das Hebammenwesen anlangt, so können die Anerkennung, die aufgrund einer Prüfung erteilt wird, und die Niederlassungserlaubnis ohne Bedenken dem Zulassungswesen
nach Art. 74 Abs. Nr. 19 GG zugerechnet werden. Dagegen gehört etwa eine statuierte
Pflicht zur Abführung eines Teils der Einkünfte an ein Land nicht zur Zulassung zum
Hebammenberuf (BVerfGE 17, 287 [292]).
11. Tierschutz u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG)
Der Begriff des Tierschutzes ist weit auszulegen . Er bezieht sich insbesondere auf Haltung, Pflege, Unterbringung und Beförderung von Tieren, aber auch auf deren Schlachtung sowie auf Tierversuche.
Dabei geht es der Kompetenznorm in erster Linie darum, Regelungen zu ermöglichen,
deren Zweck es ist, Tieren bei Vorgängen der genannten Art Schmerzen , Leiden oder
Schäden soweit wie möglich zu ersparen. Im Interesse der wirksamen Sicherung dieses
Zweckes gestattet Art. 74 Abs. 1 Nr. 20 GG dem Bund auch Regelungen zur Überwachung
und zur Förderung des Tierschutzes (BVerfGE 110, 141 [171]; vgl. auch BVerfGE 119,
59 [83] zum Tierschutz als einem wichtigen Gemeinschaftsgut sowie BVerfGE 127, 293
[328 f.] zum Tierschutz als Belang von Verfassungsrang, Art. 20 a GG).
12. Schifffahrt und Wasserstraßen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG)
Neuere Rechtsprechung zu dieser Materie ist nicht ersichtlich; offenbar sind sich Bund
und Länder insoweit einig.
a) Schifffahrt
Bei der Gesetzgebungsbefugnis für die Schifffahrt ist an Regelungen über die technische
Beschaffenheit, die Ausrüstung und die Bemannung der Schiffe, die Festsetzung des Entgeltes, die Sorge für die Leichtigkeit und Sicherheit des Verkehrs sowie das Signalwesen
zu denken (BVerfGE 15, 1 [12]).
b) Wasserstraßen
Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG rechtfertigt
nur Regelungen, die sich auf die Wasserstraßen als Verkehrswege beziehen.
aa) Abgrenzung zur wasserwirtschaftlichen Ordnung
Dabei kann der Bund spezifische Regelungen im Interesse des Schiffsverkehrs treffen, auch
wenn sie zugleich zwangsläufig die allgemeine wasserwirtschaftliche Ordnung, abgesehen
von der Schifffahrt, berühren. Im Übrigen stehen dem Bund keine allgemeinen wasserwirtschaftlichen Gesetzgebungsbefugnisse an den dem allgemeinen Verkehr dienenden
Wasserstraßen zu (BVerfGE 15, 1 [9 ff.]).
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bb) Sonstige Abgrenzungen
Was im Übrigen die Binnenwasserstraßen anbelangt, so unterliegen der konkurrierenden
Gesetzgebung des Bundes nur jene Wasserstraßen des allgemeinen Verkehrs, die durch
Staatsvertrag vom 29. Juli 1921 vom Reich übernommen wurden (BVerfGE 2, 347 [376]).
Bundeswasserstraßen, die Binnenwasserstraßen sind, und Binnenwasserstraßen im Sinne
von Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG sind begrifflich nicht dasselbe. Der Rhein oberhalb von
Basel, der Bodensee und andere größere süddeutsche Seen werden von der Kompetenz
erfasst, ohne Bundeswasserstraßen zu sein (BVerfGE 15, 1 [8 f.]).
13. Straßenverkehr u.a. (Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG)
Dem Bund ist in Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG die konkurrierende Befugnis zur abschließenden Regelung des Rechts des Straßenverkehrs verliehen worden, was die Annahme
ausschließt, dass die normative Ordnung von Teilbereichen aus der Ermächtigung an den
Bund ausgeklammert und den Ländern zur ausschließlichen Wahrnehmung zugewiesen
wäre (BVerfGE 67, 299 [320]).
a) Straßenverkehrsrecht
Namentlich das Straßenverkehrsrecht ist sachlich begrenztes Ordnungsrecht, für das dem
Bund - abweichend vom sonstigen Polizei- bzw. Ordnungsrecht - die Gesetzgebungskompetenz zusteht.
aa) Zweck
Es dient dem Zweck, die spezifischen Gefahren, Behinderungen und Belästigungen auszuschalten oder wenigstens zu mindern, die mit der Straßenbenutzung unter den Bedingungen des modernen Verkehrs verbunden sind. Es regelt in diesem Rahmen die Anforderungen , die an den Verkehr und die Verkehrsteilnehmer gestellt werden, um Gefahren
von anderen Verkehrsteilnehmern oder Dritten abzuwenden und den optimalen Verlauf
des Verkehrs zu gewährleisten (BVerfGE 40, 371 [380]).
bb) Einzelfragen
Dementsprechend besitzt der Bund die Zuständigkeit für ein Verbot verkehrsgefährdender
Außenwerbung , was aber nicht ausschließt, dass auch der Landesgesetzgeber Vorschriften
über Außenwerbung innerhalb geschlossener Ortschaften erlässt (BVerfGE 32, 319 [326
f.]; vgl. auch BVerfGE 40, 371 [380] für “rollende“ Reklame).
Demgegenüber ist das Parken von Fahrzeugen durch Bundesrecht erschöpfend geregelt
(BVerfGE 67, 299 [324 ff.]).
b) Bundesfernstraßen
Was die Gesetzgebungskompetenz des Bundes bei Bundesfernstraßen anbelangt, so ergibt
sie sich hinsichtlich eines kreuzungsbeteiligten Stücks einer Bundesfernstraße zumindest
für das materielle Planfeststellungsrecht auch aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG (BVerfGE
26, 338 [377]).
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c) Straßenrecht
Was schließlich das Straßenrecht (und dessen Abgrenzung zum Straßenverkehrsrecht) anbelangt, so dient das Straßen- und Wegerecht der Bereitstellung von Wegen und Straßen
für die in der Widmung festgelegte besondere Verkehrsfunktion, während das Straßenverkehrsrecht (vorstehend a)) die gewissermaßen polizeilichen Anforderungen an den Verkehr
und die Verkehrsteilnehmer bzw. Außenstehende regelt, um Gefahren abzuwehren und
die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zu gewährleisten.
aa) Eingegrenzte Befugnisse des Bundes außerhalb des Fernverkehrs
Mithin reicht im Bereich der öffentlichen Straßen, die nicht dem Fernverkehr dienen,
die Befugnis des Bundes zur Gesetzgebung lediglich aus, den wegerechtlich zugelassenen
Verkehr zu regeln; weitergehende Regelungen, insbesondere der Rechtsverhältnisse der
Verkehrswege selbst, sind ausschließlich Sache des jeweiligen Landes.
Im Sinne der Unterscheidung von “Verkehrsarten“ und “Verkehrswegen“ handelt es sich
beim Gemeingebrauch um die - dem Bund regelmäßig nicht zustehende - Regelung einer
Straße als Verkehrsweg. Demgegenüber ist die Regelung der Ausübung des Gemeingebrauchs ausschließlich Sache des Straßenverkehrsrechts. Eine solche Regelung darf aber
nicht im Ergebnis auf eine Erweiterung oder Beschränkung der Widmung - etwa durch
Zulassung oder Untersagung einer ganzen Verkehrsart - hinauslaufen, da diese Frage
bereits zum Gemeingebrauch selbst gehört (BVerfGE 67, 299 [314 f., 322]).
bb) Länderkompetenz für das Straßenausbaubeitragsrecht
Folglich steht den Ländern beispielsweise für das Straßenausbaubeitragsrecht - Materie
“Straßenbau“ - die Kompetenz zu, sofern es sich nicht um den Bau und die Unterhaltung
der Landstraßen des Fernverkehrs handelt (BVerfGE 137, 1 [19]).
14. Schienenbahnen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 23 GG)
Weil das Grundgesetz hinsichtlich von Bergbahnen den Ländern das Recht zur Gesetzgebung ausdrücklich vorbehalten hat (BVerfGE 56, 249 [263]) und das Recht der Eisenbahnen des Bundes eigenen Regeln folgt, ist das Recht der Schienenbahnen ( Bahnen
mit einem festen Spurweg ) verhältnismäßig eng. Die Kompetenz des Bundes für diese
Materie (vgl. BVerfGE 45, 297 [323] für einen Fall nicht erschöpfender Kompetenz im
Personenbeförderungsrecht) umfasst auch die Regelung des Baus und der Veränderung
solcher Schienenbahnen.
Der Bund hat aber nicht die Befugnis, bei Kreuzungen nicht bundeseigener Eisenbahnen
mit Straßen die Planfeststellung für das kreuzungsbeteiligte Stück einer Straße zu regeln,
die nicht Straße für den Fernverkehr ist (BVerfGE 26, 338 [382 ff.]; vgl. auch a.a.O. [388]
für Regelungen über die Verteilung der Kosten von Baumaßnahmen an Bahnen).
15. Abfallwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung (Art. 74 Abs. 1
Nr. 24 GG)
Diese Kompetenz dürfte auch in Zukunft noch Streitigkeiten hervorgerufen, weil womöglich einzelnen Ländern die Aktivitäten des Bundes als unzureichend erscheinen. Überdies
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ist auf diesen Gebieten eine besonders intensive Befassung der gemeinschaftsrechtlichen
Normgeber zu beobachten.
a) Abfallwirtschaft
Was zunächst das Recht der Abfallwirtschaft anbelangt, so ist dem Bundesgesetzgeber
insoweit eine Zuständigkeit zur umfassenden Regelung eingeräumt (BVerfGE 98, 106
[120]).
aa) Abfallbeseitigung und -verwertung
Namentlich soll die Zuständigkeit des Bundes eine sachlich lückenlose Regelung über
die Beseitigung des gesamten (umweltschädlichen) Abfalls ermöglichen. Darüber hinaus
deckt die Kompetenznorm Regelungen der Abfallverwertung (BVerfGE 110, 370 [384]).
bb) Mittel
Die Kompetenznorm gibt nicht vor, welcher Mittel sich der Bundesgesetzgeber zur Verwirklichung seines Regelungsziels bedienen darf. Neben etwa dem Abgabenrecht kann er
auch haftungsrechtliche Instrumente einsetzen, solange die eingesetzten Instrumente sich
insgesamt als Ordnungselemente des Abfallrechts darstellen (a.a.O. [385]).
b) Sonstiges Umweltrecht
Auch im Übrigen Umweltrecht können neben verbindlichen Anordnungen (insbesondere
Geboten, Verboten und Erlaubnisvorbehalten) auch Instrumente mittelbarer Verhaltenssteuerung eingesetzt werden. Innerhalb dieser Instrumente mittelbaren Einwirkens lassen
sich unterscheiden eine zielgebundene Kooperation von einer zielorientierten steuerlichen
Verhaltenslenkung (BVerfGE 98, 106 [120 ff.]; vgl. auch BVerfGE 98, 83 [101 ff.]).
16. Staatshaftung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 25 GG)
Durch diese Kompetenznorm ist die Entscheidung BVerfGE 61, 149 überholt (vgl. zur
gemäß Abs. 2 notwendigen Zustimmung des Bundesrates vorstehend C.II.3. (vgl. S. 157)
).
17. Medizinisch unterstützte Erzeugung menschlichen Lebens u.a. (Art. 74
Abs. 1 Nr. 26 GG)
Bislang hat sich das Bundesverfassungsgericht - soweit ersichtlich - lediglich zur zweiten
Alternative (Gentechnologie) geäußert.
a) Umfassende Zuständigkeit im Recht der Gentechnik
Insoweit ist eine umfassende Zuständigkeit begründet worden zur Regelung des Rechts
der Gentechnik, welche neben der Humangenetik auch die Gentechnik in Bezug auf Tiere
und Pflanzen umfasst. Ermöglicht werden nicht nur Vorschriften, die Forschung und
Brunn - Kapitel C.VII.19.
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Entwicklung unter Einsatz gentechnischer Verfahren betreffen, sondern auch sonstige die
Verwendung von und den Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen regelnde
Bestimmungen.
b) “Eingebettete“ Bestimmungen
Mithin deckt der Kompetenztitel auch rechtlich und funktional in das Gentechnikrecht
(nur) eingebettete Bestimmungen ab (etwa über den Umgang mit in den Verkehr gebrachten Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten, ein Register
über den Anbau gentechnisch veränderter Organismen sowie die Ergänzung und Konkretisierung der zivilrechtlichen Ansprüche bei Nutzungsbeeinträchtigungen). Ein solches
weites Verständnis verhindert eine Zersplitterung des Gentechnikrechts in verschiedene Kompetenzen (BVerfGE 128, 1 [33 f.]).
18. Statusrechte und -pflichten (Art. 74 Abs. 1 Nr. 27 GG)
Ob es so klug war, dass die Länder einen Kompetenzzuwachs angefordert haben, lässt
sich womöglich mit guten Gründen bezweifeln (Abwerbung von Personen durch “reiche“
Bundesländer).
a) Ersetzung der früheren Art. 74 a GG und Art. 75 GG
Es lässt sich für einen beträchtlichen Teil der Materie sagen, dass diese Kompetenznorm
an die Stelle des früheren Art. 74a GG (hierzu vor allem BVerfGE 106, 225 [242 f.] sowie
BVerfGE 107, 218 [240, 256]) sowie des Art. 75 GG (vgl. hierzu BVerfGE 111, 226 [246
ff.] sowie BVerfGE 111, 226 [274] abweichende Meinung) getreten ist (vgl. zu der gem.
Abs. 2 notwendigen Zustimmung des Bundesrates vorstehend C.II.3. (vgl. S. 157) ).
b) Denkbare Übernahmen früherer Rechtsprechung
Aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den gültigen Begriffen ist soweit ersichtlich - noch nicht vorhanden (vgl. allgemein und umfassend zum Recht der
Beamten gem. Art. 33 GG nachstehend D.VII.2.).
Mit einer gewissen Vorsicht lässt sich für den Begriff der Laufbahnen auf die Entscheidung BVerfGE 38, 1 zu den Amtsbezeichnungen sowie - was den Begriff der Besoldung
anbelangt - auf die Entscheidungen BVerfGE 62, 354 und BVerfGE 106, 225 zurückgreifen. Hiernach sind unter “Besoldung“ sämtliche in Erfüllung der Alimentationspflicht
(vgl. hierzu ausführlich nachfolgend D.VII.2.c)dd) (vgl. S. 409) ) gewährten Leistungen
zu verstehen, also nicht nur Geld-, sondern auch Sachbezüge. Die freie Heilfürsorge ist
nicht anders zu behandeln als die ihr von der Zweckrichtung her verwandte Beihilfe, die
als zur Alimentation gehörig betrachtet wird (BVerfGE 62, 354 [368]; vgl. auch BVerfGE
107, 218 [241 f.] für Ortszuschlag).
Brunn - Kapitel C.VIII.0.
Seite 223
19. Jagdwesen (Art. 74 Abs. 1 Nr. 28 GG), Naturschutz und
Landschaftspflege (Art. 74 Abs. 1 Nr. 29 GG), Bodenverteilung (Art. 74
Abs. 1 Nr. 30 GG), Raumordnung (Art. 74 Abs. 1 Nr. 31 GG),
Wasserhaushalt (Art. 74 Abs. 1 Nr. 32 GG) sowie Hochschulzulassung
und Hochschulabschlüsse (Art. 74 Abs. 1 Nr. 33 GG)
Sämtliche Materien waren (teilweise) der Rahmengesetzgebung des Bundes in Art. 75 GG
zugeordnet. Insoweit kann nochmals auf BVerfGE 111, 226 (246 ff.) aufmerksam gemacht
werden. Aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist - soweit ersichtlich noch nicht vorhanden.
a) Wasserhaushalt
Was den Begriff des Wasserhaushalts anbelangt, so können mit Vorsicht möglicherweise
die Entscheidungen BVerfGE 10, 89; BVerfGE 14, 1; BVerfGE 15, 1; BVerfGE 58, 45
sowie BVerfGE 58, 300 herangezogen werden.
b) Hochschulzulassung
Was den Begriff der Hochschulzulassung anbelangt, so mag BVerfGE 112, 226 (242 ff.)
weiterführend sein.
VIII. Bundesgesetzgebung und Verwaltungskompetenzen (Art. 83 ff. GG)
1.
2.
Die Bedeutung des Demokratieprinzips (Volkssouveränität), des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit sowie des Gebots der Bundesstaatlichkeit
für die Regelung der Verwaltungskompetenzen
. . . . . . . .
a) Demokratie und Volkssouveränität sowie problematische “Verflechtung von Zuständigkeiten“ . . . . . . . . . . . . .
b) Rechtsstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
Bundesstaatlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . .
Grundsatz der Verwaltung von Bundesgesetzen durch die Länder (Art. 83
und Art. 84 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Ausführung von (Landesgesetzen und) Bundesgesetzen ohne Verwaltungsverfahrensregelungen, allgemeine Verwaltungsvorschriften .
226
226
227
227
228
aa) Bundeskompetenz (nur) bei Bedürfnis nach “einheitlicher Vollzugspraxis“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
228
bb) Allgemeine Verwaltungsvorschriften . . . . . . . . . . . . . .
228
cc) Reichweite von Vollzugsakten der Länder . . . . . . . . . . .
228
(1) Vollzug von Landesgesetzen
. . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Vollzug von Bundesgesetzen (als eigene Angelegenheiten
der Länder und Wirkungen im ganzen Bundesgebiet) . .
b)
226
(3) Übergreifende Verpflichtungen zur Rücksichtnahme . . .
Ausführung von Bundesgesetzen mit Verfahrensregelungen (Art. 84
Abs. 1 GG)
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
229
229
229
229
Brunn - Kapitel C.VIII.0.
Seite 224
c)
Kein Gesetzesvorbehalt für Verwaltungsaufbau, Behördenzuständigkeit und Verwaltungsverfahren . . . . . . . . . . . .
229
d)
“Regelungen“ von Verwaltungsverfahren .
230
.
.
.
.
.
.
.
.
aa) Schwieriger Abgrenzungsbereich bei materieller Regelung mit
oder ohne Verfahrensfestlegung . . . . . . . . . . . . . . . . .
230
(1) Verneinte Regelungen des Verfahrens . . . . . . . . . . .
230
(2) “Verdeckte“ Regelungen des Verfahrens . . . . . . . . . .
230
bb) Verwaltung von Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
230
(1) Unmittelbar den Zwecken der Verwaltung dienendes Vermögen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
(2) Kulturelle Verwaltungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . .
231
cc) Behörden
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
(1) Gemeinde- und sonstige Behörden . . . . . . . . . . . . .
231
(2) Quantitative Vermehrung von Aufgaben
231
. . . . . . . . .
dd) (Übertragung von Aufgaben auf) Gemeinden und Gemeindeverbände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
231
(1) Gegenstandslose frühere Rechtsprechung . . . . . . . . .
232
(2) Zuordnung der Gemeinden und Gemeindeverbände zu den
Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
232
ee) Insbesondere: Mischverwaltung
. . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Kriterien einer Verfassungswidrigkeit
232
. . . . . . . . . . .
232
(2) Zulässige Durchbrechungen des Verbots . . . . . . . . . .
232
3.
Abweichungsmöglichkeiten (Art. 84 Abs. 1 Sätze 2 - 6 GG)
4.
Pflicht zur Zustimmung des Bundesrats als Folge von bestimmten Verfahrensregelungen (Art. 84 Abs. 1 Satz 6 sowie Abs. 5 GG) . . . . .
233
a)
233
b)
c)
5.
Zweck eines Zustimmungserfordernisses
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
232
aa) Auslegung der Bestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
bb) Art. 84 Abs. 5 GG (neu) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
Voraussetzungen einer Zustimmungsbedürftigkeit .
.
.
.
.
.
233
aa) Einzelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
233
bb) Gerichtsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
Folgen des Vorliegens der Voraussetzungen der Zustimmungsbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
234
Bundesaufsicht (Art. 84 Abs. 3 und Abs. 4 GG) .
.
.
.
.
.
.
.
234
a)
Zwecke der Bundesaufsicht
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
234
b)
“Durchgriff“ auf die Gemeinden .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
234
.
Brunn - Kapitel C.VIII.0.
6.
7.
Seite 225
“Bundesauftragsverwaltung“
. . . . . . . . . .
a) Charakter der Bundesauftragsverwaltung der Länder
b) Folgen . . . . . . . . . . . . . . . .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
235
bb) Wahrnehmungs- und Sachkompetenz (als unterschiedlich ausgestaltete Länderkompetenzen) . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
(1) Wahrnehmungskompetenz (Handeln und Verantwortlichkeit nach außen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
aa) Führung durch Körperschaften
h)
i)
j)
k)
l)
m)
235
235
235
aa) Ausgabentragung und Verteilung von Kompetenzen . . . . .
(2) Grundsätzliche Zulässigkeit eines “An-sich-Ziehens“
Bundes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bundeseigene Verwaltung (Art. 86 ff. GG) . . . . . . . . .
a) Bundesgrenzschutz (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG)
. . . . .
b) Soziale Versicherungsträger (Art. 87 Abs. 2 GG) . . . . .
c)
d)
e)
f)
g)
.
.
.
des
. .
.
.
.
. . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Kompetenz zu Überführungen . . . . . . . . . .
Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden (Art. 87
Organisationsformen “funktionaler Selbstverwaltung“
Bundeswehrverwaltung (Art. 87 b GG) . . . . .
Luftverkehrsverwaltung (Art. 87 d GG) . . . . .
Eisenbahnverkehrsverwaltung (Art. 87 e GG) . . .
236
236
236
236
236
. . . . . . .
Abs. 3 GG)
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
236
237
237
237
238
238
aa) Traditionelle Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
bb) Ausschluss weiterer Rechte des Bundestags . . . . . . . . . .
Postwesen und Telekommunikation
. . . . . . . . . .
Bundesbank (Art. 88 Satz 1 GG) . . . . . . . . . . .
Übertragungen auf die Europäische Zentralbank (Art. 88 Satz 2 GG)
Bundeswasserstraßen (Art. 89 GG)
. . . . . . . . . .
Bundesstraßen (Art. 90 GG) . . . . . . . . . . . . .
Gemeinschaftsaufgaben, Verwaltungszusammenarbeitsfälle (Art. 91
a ff. GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
238
238
239
239
239
239
240
aa) Zweck der Vorschrift des Art. 91 e GG . . . . . . . . . . . .
240
bb) Art. 91 e Abs. 2 GG als “Einräumung einer Chance“ . . . .
240
cc) Gesetzgebungskompetenz und -auftrag (Art. 91 e Abs. 3 GG)
240
Oft darf sich der Bundesgesetzgeber nicht mit einer Prüfung der Gesetzgebungskompetenzen der Artikel 70 ff. GG begnügen, sondern muss auch die Art. 83 ff. GG beachten, sofern
zur Regelung - neben materiellen Eingriffsbefugnissen oder Ansprüchen in einem meist
öffentlich-rechtlichen Gesetz - auch die Materien “Verwaltungsverfahren“ bzw. “Behörden“ anstehen. Zu viele Gesetzgebungskompetenzen des Bundes sind allein im (seit 2006)
gültigen Art. 84 Abs. 1 GG “versteckt“, zu dem zwar sehr wenig aktuelle, aber gleichwohl
übertragbare überkommene Rechtsprechung des Verfassungsgerichts existiert.
[1] Dass der Bund überhaupt die Materie Verwaltungsverfahren regeln darf, erschließt
sich aus dem Grundgesetz nicht ohne weiteres; für die früher gültigen Fassungen der
Kompetenznormen hat das Bundesverfassungsgericht eine Annexkompetenz des Bundes
für das Verwaltungsverfahren teils verneint, teils bejaht (BVerfGE 26, 281 [300] und
Brunn - Kapitel C.VIII.1.
Seite 226
BVerfGE 77, 288 [298 f.]; vgl. aber auch skeptisch: BVerfGE 137, 108 [165]; grundlegend:
BVerfGE 3, 407 [424 f.]).
Möglicherweise kann man aus den Sätzen 2 - 6 von Art. 84 Abs. 1 GG in seiner gültigen
Fassung schließen, dass dem Bund nunmehr eine “Grundkompetenz“ in Verwaltungsverfahrensfragen zusteht.
[2] Im Übrigen gilt auch und gerade im Verwaltungsverfahrensrecht, dass der Bund nicht
gehindert ist, die Länder zu (bundeseinheitlich) gleichlautenden Bestimmungen zu bewegen (BVerfGE 40, 237 [253]).
1. Die Bedeutung des Demokratieprinzips (Volkssouveränität), des
Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit sowie des Gebots der
Bundesstaatlichkeit für die Regelung der Verwaltungskompetenzen
Demokratie und Volkssouveränität erschöpfen sich im repräsentativ-parlamentarischen
System des Grundgesetzes nicht in Zurechnungsfiktionen und stellen auch nicht nur formale Mindestanforderungen an den Legitimationszusammenhang zwischen dem Volk und
den handelnden Staatsorganen. Sie sind vielmehr Rechtsprinzipien, die ihren praktischen
Niederschlag in der Verfassungswirklichkeit finden müssen.
Die Wahlen zum Bundestag und zu den Volksvertretungen der Länder dienen so gesehen nicht nur der Kreation dieser Verfassungsorgane, sondern weisen auch eine realwie personalplebiszitäre Dimension auf, welche die mit der Wahl verbundene politische
Richtungsentscheidung auch konkret erfahrbar macht.
a) Demokratie und Volkssouveränität sowie problematische “Verflechtung
von Zuständigkeiten“
Eine Verflechtung von Zuständigkeiten stellt sich vor diesem Hintergrund als Problem
dar, weil sie dazu führen kann, dass der Auftrag des Wählers auf Bundes- oder Landesebene durch die Mitwirkung anderer Ebenen relativiert und konterkariert wird. Das gilt
auch im Hinblick auf die Verwaltungskompetenzen. Demokratische Verantwortlichkeit
setzt auch hier grundsätzlich eine hinreichend klare Zuordnung voraus. Der wahlberechtigte Bürger muss wissen können, wen er wofür - nicht zuletzt durch Vergabe oder Entzug
seiner Stimme - verantwortlich machen kann. Daran fehlt es, wenn die Aufgaben durch
Organe oder Amtswalter unter Bedingungen wahrgenommen werden, die eine solche Verantwortungszuordnung nicht ermöglichen.
Das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG gebietet deshalb nicht nur
eine weitgehende Normierung von Zuständigkeitszuweisungen , Verfahren und Aufsichtsrechtsverhältnissen , sondern enthält auch ein grundsätzliches Verbot der Mischverwaltung .
b) Rechtsstaatlichkeit
Die Anforderungen des Demokratieprinzips berühren sich insoweit mit dem Grundsatz
der Rechtsstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 3 GG), der mit Blick auf die Verwaltungsräume
von Bund und Ländern und im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes eine klare und
auf Vollständigkeit angelegte Zuordnung von Kompetenzen der handelnden Staatsorgane
gebietet. Auch das Rechtsstaatsprinzip verlangt mit Blick auf die für die Ausrichtung
Brunn - Kapitel C.VIII.2.
Seite 227
und das Verständnis der Verfassungsordnung maßgebliche Sicht des Bürgers zuallererst
Klarheit der Kompetenzordnung .
c) Bundesstaatlichkeit
Das Gebot der Bundesstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) schließlich gebietet zwar in seinem verfassungsänderungsfreien Kern “lediglich“, dass den Ländern im Bereich aller
drei Staatsfunktionen - Legislative, Exekutive und Judikative - Aufgaben von substantiellem Gewicht als “Hausgut“ unentziehbar verbleiben (BVerfGE 137, 108 [143 f.]; vgl.
auch - freilich für parlamentarische Anfragen zu Bundespolizeieinsätzen im Landesbereich
- BVerfGE 139, 194 [223 ff.]).
Nicht fernliegend dürfte aber die Vermutung sein, dass - angesichts einer “Austrocknung“
der Länderkompetenzen - bald Streitverfahren mit Berufung auf diesen Grundsatz anhängig gemacht werden.
2. Grundsatz der Verwaltung von Bundesgesetzen durch die Länder (Art. 83
und Art. 84 Abs. 1 GG)
[1] Die Verwaltungszuständigkeiten von Bund und Ländern sind in den Art. 83 ff. GG erschöpfend geregelt und grundsätzlich nicht abdingbares Recht. Bund und Länder dürfen
von der in diesen Bestimmungen vorgeschriebenen “Verwaltungsordnung“ nicht abweichen. Es gilt der allgemeine Verfassungssatz, dass weder der Bund noch die Länder über
ihre im Grundgesetz festgelegten Kompetenzen verfügen können; Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern sind auch mit Zustimmung der Beteiligten nicht
zulässig. Auch organisatorische Regelungen können nicht abbedungen werden (BVerfGE
63, 1 [38 f.]; vgl. auch BVerfGE 119, 331 [364 f.] sowie BVerfGE 137,108 [147 f.]).
Mitplanungs-, Mitverwaltungs- und Mitentscheidungsbefugnisse des Bundes (gleich welcher Art) im Aufgabenbereich der Länder sind ausgeschlossen, soweit nicht die Verfassung dem Bund entsprechende Sach- und Verwaltungskompetenzen übertragen hat
(BVerfGE 137, 108 [148] sowie BVerfGE 139, 194 [226]).
[2] Die Kompetenzaufteilung nach Art. 30 GG und Art. 83 ff. GG ist eine wichtige
Ausformung des bundesstaatlichen Prinzips im Grundgesetz und zugleich ein Element
zusätzlicher funktionaler Gewaltenteilung. Sie verteilt politische Macht und setzt ihrer
Ausübung einen verfassungsrechtlichen Rahmen, der diese Machtverteilung aufrechterhalten und ein Zusammenwirken der verschiedenen Kräfte sowie einen Ausgleich widerstreitender Belange ermöglichen soll (BVerfGE 108, 169 [181]; dort auch dazu, dass die
Grundsätze der Normenklar- bzw. Normenwahrheit [hier D.V.3.a) (vgl. S. 337) ] sowie
der Widerspruchsfreiheit auch im vorliegenden Zusammenhang gelten; ebenso BVerfGE
119, 331 [366]).
Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise der Einsatz von Kräften der Bundespolizei
zur Wahrnehmung von Aufgaben eines Landes nur aufgrund ausdrücklicher verfassungsrechtlicher Ermächtigung zulässig, wie sie das Grundgesetz in Art. 35 Abs. 2 Satz 1 GG
für Fälle von besonderer Bedeutung unter engen Voraussetzungen vorsieht. Ein darüber
hinausgehender regelmäßiger Einsatz von Kräften der Bundespolizei zur Wahrnehmung
von Aufgaben der Länder wäre ebenso wenig zulässig wie der Ausbau der mit begrenzten Aufgaben betrauten Bundespolizei zu einer allgemeinen, mit der Polizei der Länder
konkurrierenden Polizei des Bundes.
Brunn - Kapitel C.VIII.2.
Seite 228
Zudem hat der Gesetzgeber bei der Bestimmung von Verwaltungszuständigkeiten die
rechtsstaatlichen Grundsätze der Normenklarheit und Widerspruchsfreiheit zu beachten,
um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich
der Verwaltung zu schützen und eine Aushöhlung des Grundsatzes des Art. 30 GG zu
verhindern.
[3] Die einfachrechtlichen Regelungen über die Zuständigkeiten bei Unterstützungseinsätzen der Bundespolizei für die Länder sind daher so auszugestalten, dass sie eine klare
und widerspruchsfreie Zuordnung der Kompetenzen und der Verantwortung des Bundes
und des jeweiligen Landes ermöglichen (BVerfGE 139, 194 [226 f.]).
a) Ausführung von (Landesgesetzen und) Bundesgesetzen ohne
Verwaltungsverfahrensregelungen, allgemeine Verwaltungsvorschriften
Zum einen ist die Ausführung von Landesgesetzen durch Bundesbehörden nach dem
Grundgesetz schlechthin ausgeschlossen (BVerfGE 21, 312 [325]).
Zum anderen spricht eine Vermutung für die Landeszuständigkeit, wenn es um die
Ausführung von Bundesgesetzen geht, d.h. die verwaltungsmäßige Ausführung von Bundesgesetzen (BVerfGE 11, 6 [15]; vgl. auch BVerfGE 108, 169 [179] sowie BVerfGE 139,
321 [353]). Schwierig kann die Bestimmung der Reichweite von Länderakten sein, die
Bundesrecht vollziehen (nachfolgend cc)).
aa) Bundeskompetenz (nur) bei Bedürfnis nach “einheitlicher Vollzugspraxis“
Das Grundgesetz gibt dem Bund freilich die Befugnis zur - ausschließlichen oder konkurrierenden - Gesetzgebung auf solchen Gebieten, auf denen eine einheitliche Vollzugspraxis durch Länder von besonderer Bedeutung ist. Die einheitliche Geltung von Rechtsvorschriften im Bundesgebiet darf nicht dadurch illusorisch gemacht werden, dass ihre
Ausführung von Land zu Land erhebliche Verschiedenheiten aufweist.
Vor allem der Erlass von allgemeinen Verwaltungsvorschriften (Art. 84 Abs. 2 GG) soll
eine einheitliche Ausführung gewährleisten (BVerfGE 11, 6 [18]; vgl. auch BVerfGE 90,
145 [190 f.]).
bb) Allgemeine Verwaltungsvorschriften
Als allgemeine Verwaltungsvorschriften sind solche Regelungen zu verstehen, die für eine
abstrakte Vielheit von Sachverhalten des Verwaltungsgeschehens verbindliche Aussagen
treffen, ohne auf eine unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet zu sein (BVerfGE 100, 249 [258]).
Nur von der Bundesregierung als Kollegium können (mit Zustimmung des Bundesrates) solche allgemeinen Verwaltungsvorschriften erlassen werden (aa.O. [261]; vgl. auch
BVerfGE 126, 77 [102] zum Unterschied zu gesetzlichen Regelungen des Verwaltungsverfahrens).
cc) Reichweite von Vollzugsakten der Länder
Ein Land ist bei Ausübung seiner Verwaltungshoheit grundsätzlich auf sein eigenes
Staatsgebiet beschränkt.
Brunn - Kapitel C.VIII.2.
Seite 229
(1) Vollzug von Landesgesetzen
Für den Vollzug von Landesgesetzen gilt eine Einschränkung dieses Grundsatzes dann,
wenn er - etwa durch Staatsvertrag - abbedungen oder die Ausübung der Verwaltungshoheit die Hoheitsgewalt anderer Länder nicht beeinträchtigt.
(2) Vollzug von Bundesgesetzen (als eigene Angelegenheiten der Länder und Wirkungen im ganzen Bundesgebiet)
Soweit Bundesgesetze im Sinne des Art. 83 GG vollzogen werden, werden diese von den
Ländern als eigene Angelegenheiten ausgeführt; in diesem Bereich spricht eine Vermutung für die Landeszuständigkeit. Die Länder sind deshalb grundsätzlich berechtigt und
verpflichtet, zur Ausführung von Bundesgesetzen in eigener Verantwortung verwaltend
tätig zu werden. Der im Vollzug eines Bundesgesetzes ergangene Verwaltungsakt eines
Landes beansprucht grundsätzlich im ganzen Bundesgebiet Geltung.
(3) Übergreifende Verpflichtungen zur Rücksichtnahme
Unabhängig davon, ob die Länder Landes- oder Bundesrecht vollziehen, unterliegen sie
der aus dem Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG folgenden Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten. Diese Pflicht verlangt, dass sowohl der Bund als auch die Länder
bei der Wahrnehmung ihrer Kompetenzen die gebotene und ihnen zumutbare Rücksicht
auf das Gesamtinteresse des Bundesstaates und auf die Belange der Länder nehmen
(BVerfGE 139, 321 [359] für Staatskirchenrecht; vgl. aber auch BVerfGE 139, 321 [371
ff.] abweichende Meinung).
b) Ausführung von Bundesgesetzen mit Verfahrensregelungen (Art. 84 Abs.
1 GG)
Obgleich Art. 83 GG sowie Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG bestimmen, dass die Länder die
Bundesgesetze als eigene Angelegenheiten ausführen und deshalb die Länder auch die
Einrichtung der Behörden und das Verwaltungsverfahren regeln, kann es gleichwohl zu
Zweifelsfragen kommen, wenn es darum geht, ob und inwieweit der Bund trotz des
vorstehenden Grundsatzes es unternehmen darf, das Verwaltungsverfahren zu regeln.
Zunächst zu den Grundregeln und -begriffen:
c) Kein Gesetzesvorbehalt für Verwaltungsaufbau, Behördenzuständigkeit
und Verwaltungsverfahren
Das Grundgesetz enthält keine ausdrückliche Vorschrift, die eine Regelung des Verwaltungsaufbaus, der Behördenzuständigkeiten oder des Verwaltungsverfahrens durch
Gesetz fordert. Zumindest gibt es keinen Gesetzesvorbehalt für die leistungsgewährende
Verwaltung.
Nicht einmal die Erstreckung des Rechtsschutzes für den Staatsbürger durch das Grundgesetz lässt den Schluss zu, dass auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrens und der
Verwaltungszuständigkeiten durchgehend eine gesetzliche Normierung bestehen müsste
(BVerfGE 8, 155 [166 ff.]; fragwürdig, weil durch BVerfGE 119, 331 [366] entschieden
worden ist, dass eine hinreichend klare Zuordnung von Verwaltungszuständigkeiten vor
allem im Hinblick auf das Demokratieprinzip erforderlich ist, was ohne gesetzliche Bestimmungen schwer zu gewährleisten ist; vgl. indessen BVerfGE 12, 205 [247] dazu, dass
Brunn - Kapitel C.VIII.2.
Seite 230
der VIII. Abschnitt des Grundgesetzes sowohl für die gesetzesakzessorische wie für die
gesetzesfreie Verwaltung andere Regelungen im Sinne von Art. 30 GG trifft).
d) “Regelungen“ von Verwaltungsverfahren
Vorschriften über das Verwaltungsverfahren sind jedenfalls gesetzliche Bestimmungen,
die die Tätigkeit der Verwaltungsbehörden im Blick auf die Art und Weise der Ausführung
des Gesetzes einschließlich ihrer Handlungsformen, die Form der behördlichen Willensbildung, die Art der Prüfung und Vorbereitung der Entscheidung, deren Zustandekommen
und Durchsetzung sowie verwaltungsinterne Mitwirkungs- und Kontrollvorgänge in ihrem Ablauf regeln (BVerfGE 55, 274 [297 ff., 320 f.]; vgl. auch die abweichende Meinung
BVerfGE 55, 274 [331, 341 ff.] sowie BVerfGE 114, 196 [224]).
aa) Schwieriger Abgrenzungsbereich bei materieller Regelung mit oder ohne Verfahrensfestlegung
Eine zulässige “Annexregelung“ stellten die Vorschriften im JWG des Jahres 1961 über
Aufbau und Verfahren des Jugendamtes dar, weil diese Regelungen “sachbezogen und
für die Gewährung eines wirksamen Gesetzesvollzuges notwendig“ waren (BVerfGE 22,
180 [211]; vgl. aber a.a.O. [210] dazu, dass die Bestimmung der öffentlichen Jugendhilfe
zur Selbstverwaltungsangelegenheit der Gemeinden und Gemeindeverbände und der Sozialhilfe zur Selbstverwaltungsangelegenheit der kreisfreien Städte und Landkreise einen
unzulässigen Eingriff in die Verwaltungskompetenz der Länder darstellte).
(1) Verneinte Regelungen des Verfahrens
Keine Regelungen des Verwaltungsverfahrens sind Beendigungen von entsprechendem
Landeshandeln sowie Bestimmungen über Auskunftsrechte und Akteneinsicht durch andere Behörden (BVerfGE 10, 20 [49]) sowie über Schweigepflichten (BVerfGE 14, 197
[221]).
Keine Regelung des Verfahrens von Landesbehörden liegt auch vor, wenn eine Norm
einen materiell-rechtlichen Anspruch gewährt und damit zwar ein Handeln der Behörde
erzwingt, aber das Verfahren hierfür - auch nicht indirekt - nicht mit festlegt (BVerfGE
75, 108 [149 ff., 152]).
(2) “Verdeckte“ Regelungen des Verfahrens
Gleichwohl muss immer bedacht werden, dass ein Gesetz in ein und derselben Vorschrift
zugleich dem Bürger Rechte gewähren oder Pflichten auferlegen und der Verwaltung
Handlungsanweisungen erteilen kann. Eine solche - möglicherweise “verdeckte“ - Regelung eines “Wie“ des Verwaltungshandelns liegt dann vor, wenn die den Bürger betreffende materiell-rechtliche Vorschrift zugleich die zwangsläufige Festlegung eines korrespondierenden verfahrensmäßigen Verhaltens der Verwaltung bewirkt (BVerfGE 55, 274
[321]; vgl. auch BVerfGE 105, 313 [331]).
bb) Verwaltung von Vermögen
Was die Verwaltung von Vermögen anbelangt, so folgt die Verwaltung des Finanzvermögens (das der öffentlichen Verwaltung lediglich mittelbar durch seinen Kapitalwert
dient und dessen Erträgnisse zur Finanzierung des Verwaltungsaufwandes nutzbar gemacht werden) weitgehend den Regeln des Privatrechts .
Brunn - Kapitel C.VIII.2.
Seite 231
(1) Unmittelbar den Zwecken der Verwaltung dienendes Vermögen
Anders ist es regelmäßig beim Verwaltungsvermögen, welches (sowohl durch seinen Gebrauch wie durch seine Zweckbestimmung) unmittelbar den Zwecken der Verwaltung
dient (BVerfGE 10, 20 [37]).
(2) Kulturelle Verwaltungsaufgaben
Was speziell kulturelle Verwaltungsaufgaben anbelangt, kann es sich um die Verwaltung von Verwaltungsvermögen im vorstehenden Verständnis handeln. Dies kann dann
der Fall sein, wenn es um die Errichtung und Unterhaltung von Akademien, Forschungsanstalten, Hochschulen, Theatern und Museen geht; zur Erfüllung seiner Aufgaben im
Bereich der Kultur muss der Staat auch solche Gegenstände erwerben und erhalten, die
für die Kulturpflege unentbehrlich sind (BVerfGE 10, 20 [36 f.]).
Die kulturellen Angelegenheiten fallen indessen regelmäßig in den Bereich der Länder
(BVerfGE 12, 205 [229]; vgl. auch a.a.O. [250, 252] dazu, dass die Veranstaltung von
Rundfunksendungen nicht Aufgabe des Bundes ist).
cc) Behörden
Unter einer Behörde versteht man im Allgemeinen eine in den Organismus der Staatsverwaltung eingeordnete organisatorische Einheit von Personen und sächlichen Mitteln,
die - mit einer gewissen Selbständigkeit ausgestattet - dazu berufen ist, unter öffentlicher
Autorität für die Erreichung der Staatszwecke oder von ihm geförderter Zwecke tätig zu
sein (BVerfGE 10, 20 [48]).
(1) Gemeinde- und sonstige Behörden
Im Sinne von Art. 84 GG Behörden sind nicht nur Verwaltungseinheiten der unmittelbaren Staatsverwaltung auf der Länderebene, sondern auch die Gemeinden und Gemeindeverbände (BVerfGE 77, 288 [299]). Auch sonstige Behörden und Körperschaften der
mittelbaren Landesverwaltung können angesprochen sein (BVerfGE 114, 196 [223 f.] für
Krankenkassen).
(2) Quantitative Vermehrung von Aufgaben
Ist eine Behörde im Sinne von Art. 84 Abs. 1 Satz 1 GG eingerichtet, was insbesondere
auch durch die Festlegung des näheren Aufgabenkreises erfolgt, so greifen rein quantitative Vermehrungen bereits bestehender Aufgaben nicht in den den Ländern vorbehaltenen
Bereich ein (BVerfGE 75, 108 [149 ff.] sowie BVerfGE 114, 196 [224] für bloße Konkretisierungen bzw. Wiederholungen).
dd) (Übertragung von Aufgaben auf) Gemeinden und Gemeindeverbände
Gemäß Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG dürfen durch Bundesgesetz Gemeinden und Gemeindeverbänden (zu Art. 28 Abs. 2 GG - Garantie der kommunalen Selbstverwaltung - ausführlich: BVerfGE 137, 108 [156 ff. sowie 176 f.]) Aufgaben nicht übertragen werden.
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(1) Gegenstandslose frühere Rechtsprechung
Damit ist wohl die Rechtsprechung gegenstandslos, wonach der Bund nach Art. 84 Abs. 1
GG im Rahmen seiner materiellen Gesetzgebungszuständigkeit die Einrichtung und das
Verfahren kommunaler Behörden regeln konnte, sofern dies für die Gewährleistung eines
wirksamen Gesetzesvollzugs notwendig war (BVerfGE 22, 180 [210]).
(2) Zuordnung der Gemeinden und Gemeindeverbände zu den Ländern
Unberührt hiervon bleibt, dass Gemeinden und Gemeindeverbände staatsorganisationsrechtlich und finanzverfassungsrechtlich den Ländern zugeordnet sind. Sie können sich
zwar auf die Selbstverwaltungsgarantie in Art. 28 Abs. 2 GG stützen, bleiben jedoch hinsichtlich der grundgesetzlichen Verteilung der Verwaltungskompetenzen stets Bestandteil
der Länder (BVerfGE 119, 331 [364] sowie BVerfGE 137, 108 [147] “zweistufiger Bundesstaat des Grundgesetzes“).
ee) Insbesondere: Mischverwaltung
Kennzeichnendes Moment einer Mischverwaltung ist die gemeinsame Wahrnehmung von
Verwaltungsaufgaben (BVerfGE 127, 165 [191 f.]).
(1) Kriterien einer Verfassungswidrigkeit
Im vorliegenden Zusammenhang ist Mischverwaltung jede Verwaltungstätigkeit, bei
der die sachlichen Entscheidungen in einem irgendwie gearteten Zusammenwirken von
Bundes- und Landesbehörden getroffen werden. Aus dieser Einordnung folgt zwar noch
nichts für die Frage, ob die Mischverwaltung rechtlich zulässig ist; verfassungswidrig ist
eine Mischverwaltung nur, wenn ihr zwingende Kompetenz- oder Organisationsnormen
oder sonstige Vorschriften des Verfassungsrechts entgegenstehen (BVerfGE 63, 1 [38]).
(2) Zulässige Durchbrechungen des Verbots
Im vorliegenden Zusammenhang muss aber eine Mischverwaltung vom Grundgesetz jedoch ausdrücklich zugelassen werden (BVerfGE 108, 169 [182]; vgl. auch BVerfGE 119,
331 [364 f.]), was nunmehr durch beispielsweise (Art. 91 a sowie) Art. 91 e GG der Fall
ist:
Zwar durchbricht Art. 91 e Abs. 1 GG das grundsätzliche Verbot der Mischverwaltung,
aber dabei handelt es sich nicht um einen Fall des Art. 79 Abs. 3 GG, weswegen der
verfassungsändernde Gesetzgeber zur Normierung befugt war (BVerfGE 137, 108 [143 ff.];
dort [145] auch dazu, dass insoweit das Verbot einer Aufgabenübertragung auf Gemeinden
- Art. 84 Abs. 1 Satz 7 GG, Art. 85 Abs. 1 Satz 2 GG - nicht gilt).
3. Abweichungsmöglichkeiten (Art. 84 Abs. 1 Sätze 2 - 6 GG)
Soweit ersichtlich, hat das Bundesverfassungsgericht zu den neuen Regelungen über abweichende Regelungen und strikt bundeseinheitliche Regelungen des Verwaltungsverfahrens ohne Abweichungsmöglichkeiten für die Länder noch nicht entschieden (vgl. indessen
BVerfGE 126, 77 [100] sowie BVerfGE 128, 1 [35] nicht tragend). Insoweit gelten ähnliche Maßstäbe wie für die neuen Bestimmungen in Art. 72 Abs. 2 und Abs. 3 GG (hierzu
vorstehend VI. 3.).
Brunn - Kapitel C.VIII.4.
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4. Pflicht zur Zustimmung des Bundesrats als Folge von bestimmten
Verfahrensregelungen (Art. 84 Abs. 1 Satz 6 sowie Abs. 5 GG)
Um die Länder vor einem Eindringen des Bundes in den ihnen vorbehaltenen Bereich der
Verwaltung zu schützen, macht das Grundgesetz das Zustandekommen von bestimmten Bundesgesetzen, die Vorschriften über das Verwaltungsverfahren enthalten, von der
Zustimmung des Bundesrates abhängig.
a) Zweck eines Zustimmungserfordernisses
Dieses Zustimmungserfordernis soll die Grundentscheidung der Verfassung zugunsten des
föderalistischen Staatsaufbaus mit absichern und verhindern, dass “Systemverschiebungen“ im bundesstaatlichen Gefüge im Wege der einfachen Gesetzgebung herbeigeführt
werden (grundlegend: BVerfGE 37, 363 [379 ff.]; vgl. auch BVerfGE 105, 313 [331]).
aa) Auslegung der Bestimmungen
Die Voraussetzungen für die Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes im Sinne von Art.
84 GG dürfen deshalb weder erweiternd noch einengend ausgelegt werden (BVerfGE
55, 274 [319 f.]).
Man wird deswegen Art. 84 Abs. 1 Satz 6 GG (“Diese Gesetze bedürfen der Zustimmung
des Bundesrates.“) auf die Fälle des Satzes 5 beschränken müssen; indessen hätte es auch
einen gewissen Sinn, wenn trotz der eingeräumten Länderkompetenzen auch in den Fällen
der voranstehenden Sätze 2 bis 4 der Bundesrat zustimmen müsste.
bb) Art. 84 Abs. 5 GG (neu)
Zum neuen Art. 84 Abs. 5 GG (zustimmungsbedürftiges Gesetz über Einzelweisungen in
besonderen Fällen) liegt noch kein Erkenntnis des Bundesverfassungsgerichts vor; unzulässig dürfte ein “Sammelgesetz“ sein, welches für viele Bundesgesetze (gewissermaßen
pauschal) Befugnisse zu Einzelweisungen verleiht, weil dies mit dem Ausnahmecharakter
der Norm (“besondere Fälle“) nicht vereinbar wäre.
b) Voraussetzungen einer Zustimmungsbedürftigkeit
Das Zustimmungserfordernis gilt allein für solche Bundesgesetze, die - strikt, ohne Abweichungsmöglichkeiten - selbst das Verfahren der Landesbehörden regeln, also verbindlich
die Art und Weise und die Formen ihrer Tätigkeit zur Ausführung des Gesetzes vorschreiben (BVerfGE 55, 274 [319]; vgl. auch BVerfGE 77, 288 [299] für Gemeinden und
Gemeindeverbände).
aa) Einzelfälle
Ein Regelungscharakter liegt nicht vor, wenn Verfahrensbestimmungen eine bestehende
und von den Ländern schon zu beachtende Verfahrensregelung nur wiederholen bzw.
konkretisieren (BVerfGE 114, 196 [224]).
Schwierig kann es - wie bereits dargelegt (2.d)aa)) - werden, wenn ein Gesetz sowohl
materiell-rechtliche Regelungen als auch Vorschriften für das Verwaltungsverfahren der
Brunn - Kapitel C.VIII.6.
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Landesverwaltung enthält und durch eine Änderung materiell-rechtlicher Normen die
nicht ausdrücklich geänderten Vorschriften über das Verwaltungsverfahren bei sinnorientierter Auslegung ihrerseits eine wesentlich andere Bedeutung und Tragweite erfahren;
dann liegt regelmäßig Zustimmungsbedürftigkeit vor (BVerfGE 37, 363 [383]).
bb) Gerichtsverfahren
Für die Verfahren vor Gerichten ist Art. 84 Abs. 1 GG nicht heranziehbar (BVerfGE 14,
197 [219]).
c) Folgen des Vorliegens der Voraussetzungen der Zustimmungsbedürftigkeit
Regelt ein Bundesgesetz, das die Länder als eigene Angelegenheit ausführen, das Verwaltungsverfahren, so bedarf nach Art. 84 Abs. 1 GG das Gesetz “als Ganzes“ der Zustimmung des Bundesrats, wobei der Ausdruck Bundesgesetz nicht das Gesetz im Sinne einer
einzelnen Norm meint, sondern das Gesetz als gesetzgebungstechnische Einheit (BVerfGE
8, 274 [294 f.]; vgl. auch BVerfGE 55, 274 [319, 326 f. ]).
Gleichwohl kann der Bundesgesetzgeber das Zustimmungserfordernis dadurch “umgehen“, dass er ein Gesetz in zustimmungspflichtige und nichtzustimmungspflichtige Regelungen unterteilt, was das Grundgesetz nicht verbietet (BVerfGE 114, 196 [230]; dort
auch zum “Willkürverbot“).
5. Bundesaufsicht (Art. 84 Abs. 3 und Abs. 4 GG)
Art. 84 GG vermittelt zwischen der Gesetzgebungskompetenz des Bundes und der Verwaltungskompetenz der Länder, indem er dem Bund Einflussmöglichkeiten auf die Anwendung des von ihm gesetzten Rechts einräumt.
a) Zwecke der Bundesaufsicht
Der Bund soll die Möglichkeit haben, auf eine einheitliche Geltung der Rechtsvorschriften
hinzuwirken. Der Gesichtspunkt der Wirksamkeit des Gesetzesvollzugs tritt hinzu. Die
Bundesaufsicht ist anlassunabhängig und zielt auch auf die Beeinflussung des zukünftigen
Gesetzesvollzugs (BVerfGE 127, 165 [203, 207]; vgl. a.a.O. [221] sowie BVerfGE 137,
108 [149] auch dazu, dass die Möglichkeit der Aktenanforderung auf Fälle beschränkt
ist, in denen es Anhaltspunkte für einen Rechtsverstoß gibt, und ein routinemäßiges
Aktenvorlagewesen unzulässig ist, wodurch die Aufsichtsmöglichkeiten geringer sind als
bei der Bundesauftragsverwaltung).
b) “Durchgriff“ auf die Gemeinden
Regelmäßig - sieht man von Sonderfällen wie etwa Art. 91 e Abs. 2 GG und Art. 106
Abs. 8 GG ab - ist dem Bund ein “unmittelbarer Durchgriff auf die Gemeinden“ versagt
(BVerfGE 137, 108 [149 f.]; dort [150 f.] auch dazu, dass sich die Finanzkontrolle i.S.v.
Art. 91 e Abs. 2 Satz 2 GG von einer “Aufsicht“ abhebt).
Brunn - Kapitel C.VIII.6.
Seite 235
6. “Bundesauftragsverwaltung“
Für den Bundesgesetzgeber spielt Art. 85 GG lediglich insoweit eine Rolle, als in Art. 85
Abs. 1 GG Regelungsmöglichkeiten durch Bundesgesetz und Regelungsverbote enthalten
sind. Was die übrigen Absätze anbelangt, so ist im Wesentlichen über die Voraussetzungen
und die Folgen des Weisungsrechts gestritten worden (vgl. BVerfGE 81, 310 [331 ff.] und
BVerfGE 102, 167 [172 ff.] sowie BVerfGE 104, 249 [265 ff.]).
a) Charakter der Bundesauftragsverwaltung der Länder
Entgegen dem ersten Anschein ist auch diese Art der Verwaltung eine Form der Landesverwaltung ; die Länder üben hierbei Landesstaatsgewalt aus, ihre Behörden handeln
als Landesorgane , nicht als Bundesorgane (BVerfGE 81, 310 [331]; vgl. auch BVerfGE
104, 249 [264]).
b) Folgen
Im Gegensatz zu Regelungen gem. Art. 84 Abs. 1 GG besteht im Bereich dieser Verwaltung kein Zustimmungserfordernis für bundesgesetzliche Regelungen des (“bloßen“)
Verwaltungsverfahrens (BVerfGE 126, 77 [100]).
Anders ist es gem. Art. 85 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach bundesgesetzliche Regelungen zur
Einrichtung der Behörden, die Bundesgesetze im Auftrag des Bundes auszuführen haben,
(zwar zulässig sind, aber) der Zustimmung des Bundesrates bedürfen. Diese Bestimmung
dient dem Schutz der Verwaltungshoheit der Länder (a.a.O. [98]; grundlegend: BVerfGE
75, 108 [150]).
aa) Ausgabentragung und Verteilung von Kompetenzen
Handeln die Länder im Auftrag des Bundes, so trägt der Bund nicht nur gemäß Art. 104
a Abs. 2 GG die sich daraus ergebenden Ausgaben , sondern es sind auch die Kompetenzen dergestalt verteilt , dass dem Land unentziehbar die Wahrnehmungskompetenz
zusteht, die Sachkompetenz hingegen von vornherein nur unter dem Vorbehalt ihrer
Inanspruchnahme durch den Bund (BVerfGE 81, 310 [332]).
bb) Wahrnehmungs- und Sachkompetenz (als unterschiedlich ausgestaltete Länderkompetenzen)
Durch das Atomrecht sind diese Kompetenzformen in das Blickfeld der Öffentlichkeit
geraten.
(1) Wahrnehmungskompetenz (Handeln und Verantwortlichkeit nach außen)
Die Wahrnehmungskompetenz, nämlich das Handeln und die Verantwortlichkeit nach
außen im Verhältnis zu Dritten, bleibt stets Landesangelegenheit (und ein Eintrittsrecht
des Bundes ist nicht vorgesehen).
Brunn - Kapitel C.VIII.7.
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(2) Grundsätzliche Zulässigkeit eines “An-sich-Ziehens“ des Bundes
Anders ist es bei der Sachbeurteilung und Sachentscheidung. Zwar liegt die Sachkompetenz zunächst ebenfalls beim Land. Der Bund kann sie aber nach eigener Entscheidung
dadurch an sich ziehen , dass er die Sachentscheidungsbefugnis ausdrücklich oder konkludent auf sich überleitet. Eine solche Inanspruchnahme ist nicht auf Ausnahmefälle
begrenzt und auch nicht weiter rechtfertigungsbedürftig (BVerfGE 104, 249 [264 f.]; vgl.
auch BVerfGE 126, 77 [102]).
7. Bundeseigene Verwaltung (Art. 86 ff. GG)
Ein reiches Betätigungsfeld hat der Bundesgesetzgeber im Zusammenhang der Regelungen der bundeseigenen Verwaltungen. Größere Probleme sind insoweit bislang nicht aufgetaucht, weswegen auch der Fundus an Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
begrenzt ist:
a) Bundesgrenzschutz (Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG)
Der Bundesgesetzgeber darf dem Bundesgrenzschutz weitere Verwaltungsaufgaben zuweisen, wenn er sich für deren Wahrnehmung auf eine Kompetenz des Grundgesetzes stützen
kann, die Aufgabe von Verfassungs wegen nicht einem bestimmten Verwaltungsträger
vorbehalten ist und die Zuweisung der neuen Aufgabe das Gepräge des Bundesgrenzschutzes als einer Sonderpolizei zur Sicherung der Grenzen des Bundes und zur Abwehr
bestimmter, das Gebiet oder die Kräfte eines Landes überschreitender Gefahrenlagen
wahrt.
Der Bundesgrenzschutz darf indessen nicht zu einer allgemeinen, mit den Landespolizeien
konkurrierenden Bundespolizei ausgebaut werden und damit sein Gepräge als Polizei mit
begrenzten Aufgaben verlieren (BVerfGE 97, 198 [217 f.]).
b) Soziale Versicherungsträger (Art. 87 Abs. 2 GG)
Unter Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG fallen auch Krankenversicherungsträger, denn der Begriff
der Sozialversicherung ist derselbe wie der von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG verwendete.
Da Art. 87 Abs. 2 Satz 1 GG eine Ausnahme zu der Regel der Landeseigenverwaltung
enthält, ist die Zuweisung zur bundeseigenen Verwaltung auf die landesübergreifenden
Versicherungsträger beschränkt (BVerfGE 114, 196 [223]).
aa) Führung durch Körperschaften
Da Art. 87 Abs. 2 GG bestimmt, dass die sozialen Versicherungsträger als bundesunmittelbare Körperschaften des öffentlichen Rechts zu führen sind, ist eine mittelbare Verwaltung (durch eigenständige Körperschaften ) vorgeschrieben, und eine unmittelbare
Verwaltung durch Bundesbehörden ist nicht zulässig (BVerfGE 63, 1 [36]).
bb) Kompetenz zu Überführungen
Der Bund hat es aufgrund seiner Sachgesetzgebungskompetenz weitgehend in der Hand,
ob er landesunmittelbare Sozialversicherungsträger und damit deren Beitragsaufkommen
in die Bundesverwaltung überführt oder nicht.
Brunn - Kapitel C.VIII.7.
Seite 237
Es wäre folglich mit dem Grundgesetz grundsätzlich auch zu vereinbaren, wenn der Bundesgesetzgeber etwa sämtliche Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zusammenfasste und den nunmehr einzigen Träger nach Art. 87 Abs. 2 GG als bundesunmittelbare
Körperschaft des öffentlichen Rechts organisierte (BVerfGE 113, 167 [201 f., 223]; dort
[206] auch dazu, dass das Grundgesetz für die Sozialversicherung ein “in sich geschlossenes
und spezielles kompetenzrechtliches Normkonzept bietet“).
c) Errichtung selbständiger Bundesoberbehörden (Art. 87 Abs. 3 GG)
Art. 87 GG stellt unterschiedliche Möglichkeiten bereit, zwischen denen der Bund wählen
darf, soweit die jeweiligen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der Einrichtung der
jeweiligen Behörde erfüllt sind.
Zieht der Bund im Interesse effektiver Aufgabenbewältigung die in Art. 87 Abs. 3 Satz 1
GG ermöglichte Organisationsform der nach Art. 87 Abs. 1 GG eröffneten vor, so ist dies
verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (BVerfGE 110, 33 [50 f.]; vgl. auch BVerfGE
104, 238 [247] sowie grundlegend BVerfGE 14, 197 [214]; dort auch dazu, dass Art. 87 Abs.
3 Satz 1 GG nicht nur für die gesetzesakzessorische, sondern auch für die gesetzesfreie
Verwaltung gilt).
Im vorliegenden Zusammenhang ist dann beispielsweise auch die gesetzliche Regelung des
Verwaltungsverfahrens vor einer Bundesoberbehörde erlaubt (BVerfGE 31, 113 [117]).
d) Organisationsformen “funktionaler Selbstverwaltung“
Die bei In-Kraft-Treten des Grundgesetzes vorhandenen, historisch gewachsenen Organisationsformen der sog. funktionalen Selbstverwaltung sind vom Verfassungsgeber zur
Kenntnis genommen und durch Erwähnung als mit der Verfassung grundsätzlich vereinbar anerkannt worden (BVerfGE 107, 59 [89 f.]).
e) Bundeswehrverwaltung (Art. 87 b GG)
Während Art. 87 a GG (Streitkräfte) für den (einfachen) Gesetzgeber nicht von besonderer Bedeutung ist, weil die Verfassung die wesentlichen Voraussetzungen des Streitkräfteeinsatzes im Äußeren und im Inneren selbst regelt (vgl. BVerfGE 121, 135 [160 f.]
sowie BVerfGE 124, 267 [276] für den Parlamentsvorbehalt beim Streitkräfteeinsatz; vgl.
BVerfGE 132, 1 [9 ff.] und BVerfGE 126, 55 [69 ff.] zum Einsatz im Inneren), hat der
Bundesgesetzgeber durch Art. 87 b GG Gesetzgebungskompetenzen.
Insoweit gilt, dass zustimmungsbedürftig nach Art. 87 b Abs. 2 Satz 1 GG nicht nur
ein solches Bundesgesetz ist, das den Gesetzesvollzug einer Verwaltungsmaterie erstmals
den Ländern voll entzieht und in die Bundeseigenverwaltung überführt oder bestimmt,
dass es von den Ländern im Auftrag des Bundes ausgeführt wird; das Erfordernis der Zustimmung des Bundesrates greift vielmehr auch dann ein, wenn ein Änderungsgesetz die
früher mit der Zustimmung des Bundesrates in die Bundeseigenverwaltung oder Bundesauftragsverwaltung überführte Verwaltungsaufgabe so umgestaltet oder erweitert, dass
dieser Vorgang angesichts des Grundsatzes des Art. 83 GG einer neuen Übertragung von
Ausführungszuständigkeiten auf den Bund gleichkommt (BVerfGE 48, 127 [177 ff.]).
Brunn - Kapitel C.VIII.7.
Seite 238
f) Luftverkehrsverwaltung (Art. 87 d GG)
Die Übertragung von Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung auf die Länder als Auftragsverwaltung bedarf eines Bundesgesetzes, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf,
weil es sich hierbei um eine “besonders gewichtige Berührung der föderalen Ordnung und
des Interessenbereichs der Länder“ handelt (BVerfGE 126, 77 [110 f.]; vgl. auch BVerfGE
133, 241 [261 f.]; grundlegend: BVerfGE 97, 198 [226]).
Der Zustimmungsvorbehalt entfällt indessen, wenn den Ländern dieser Aufgabenbereich
entzogen wird, jedenfalls dann, wenn der Aufgabenbereich ihnen nach der primären
grundgesetzlichen Aufgabenzuordnung ohnehin nicht zugewiesen ist (BVerfGE 133, 241
[270 ff.]).
g) Eisenbahnverkehrsverwaltung (Art. 87 e GG)
Der Begriff der Eisenbahnverkehrsverwaltung umfasst alle hoheitlichen Ordnungs- und
Steuerungsaufgaben, die das Eisenbahnwesen einschließlich des Baus und des Betriebs
der Eisenbahnen betreffen (BVerfGE 97, 198 [222]).
aa) Traditionelle Aufgaben
In diesem Rahmen umfasst die Gesetzgebungskompetenz des Bundes zumindest auch
die Wahrnehmung der Aufgaben, die herkömmlich der ehemaligen Bahnpolizei und dem
Fahndungsdienst der Deutschen Bundesbahn zukamen (a.a.O. [218 ff.]).
bb) Ausschluss weiterer Rechte des Bundestags
Soweit im Zusammenhang mit Art. 87 e Abs. 4 und 5 GG der Bundesgesetzgeber tätig
werden kann (unter dem Zustimmungsvorbehalt durch den Bundesrat), ist der Deutsche
Bundestag hierauf beschränkt; den genannten Vorschriften ist u.a. zu entnehmen, dass
das Parlament seinen Anteil an der Erfüllung der Gewährleistungspflicht durch Gesetzgebung zu leisten hat, was weitere Mitwirkungs- oder Zustimmungsrechte des Bundestages
ausschließt (BVerfGE 129, 356 [368 f.]).
h) Postwesen und Telekommunikation
Was das in Art. 87 f Abs. 1 GG vorgesehene Bundesgesetz anbelangt, so sollte der Bereich
des Postwesens nur mit der Maßgabe aus der staatlichen Regie entlassen werden, dass dabei die Verantwortung des Staates für die ehedem aus der Daseinsvorsorge entstandenen
Aufgaben nicht aufgegeben wurde bzw. wird; der Infrastrukturgewährleistungsauftrag
begründet die staatliche Verantwortung, marktwirtschaftlich bedingte Nachteile für eine Grundversorgung der Bevölkerung mit Postdienstleistungen zu verhindern (BVerfGE
108, 370 [393 f.]; vgl. auch BVerfGE 130, 52 [71 f.]).
Dies gilt auch für das früher sog. “Fernmeldewesen“, weil der Begriff “Telekommunikation“ nur diesen früher gebräuchlichen Ausdruck ohne sachliche Änderung ersetzen sollte
(BVerfGE 108, 169 [183]; dort auch dazu, dass das Wort “Hoheitsaufgaben“ verdeutlichen und terminologisch klarstellen soll, dass die verbliebenen staatlichen Kompetenzen
keinesfalls das verwaltungsmäßige Erbringen von Telekommunikationsdienstleistungen
umfassen können).
Brunn - Kapitel C.VIII.7.
Seite 239
Im Übrigen kann Art. 87 f Abs. 2 GG keineswegs eine Festlegung der Erbringung von
Postdienstleistungen auf das Wettbewerbsprinzip entnommen werden (BVerfGE 108, 370
[393]).
i) Bundesbank (Art. 88 Satz 1 GG)
Art. 88 geht als lex specialis dem Art. 87 GG vor. Dies hatte u.a. zur Folge, dass die
Bundesbank (mit Mittel- und Unterbehörden) errichtet werden konnte, ohne dass die
besonderen Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 3 Satz 2 GG vorliegen mussten. Außerdem konnten ohne Zustimmung des Bundesrates entweder durch ausdrückliche Änderung
und Ergänzung des Bundesbankgesetzes oder durch besondere Gesetze der Bundesbank
weitere Aufgaben übertragen werden, soweit diese noch in ihren Geschäftskreis fielen
(BVerfGE 14, 197 [215 f.]).
j) Übertragungen auf die Europäische Zentralbank (Art. 88 Satz 2 GG)
Art. 88 Satz 2 GG sieht ausdrücklich vor, dass die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Bundesbank (im Rahmen der Europäischen Union) der Europäischen Zentralbank
übertragen werden dürfen (BVerfGE 134, 366 [389]).
Die Regelung in Art. 88 Satz 2 GG besagt auch, dass eine Inanspruchnahme dieser
Ermächtigung als solche nicht der Verfassung, insbesondere nicht dem Grundrechten widerspricht (BVerfGE 89, 155 [174]; vgl. auch BVerfGE 97, 350 [370 ff.] dazu, dass die
Ersetzung der Deutschen Mark durch eine andere Währung ausreichend verfassungsrechtlich legitimiert ist).
k) Bundeswasserstraßen (Art. 89 GG)
Wie bereits zur Kompetenz in Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG dargelegt (C.VII.12. (vgl. S.
218) ), sind Bundeswasserstraßen, die Binnenwasserstraßen sind, und dem allgemeinen
Verkehr dienende Binnenwasserstraßen im Sinne von Art. 74 Abs. 1 Nr. 21 GG begrifflich
nicht dasselbe (BVerfGE 15, 1 [7 f.]).
Für die von Art. 89 GG erfassten Bundeswasserstraßen trifft Abs. 2 zugunsten des Bundes
eine Kompetenzentscheidung zwischen Bund und Ländern (BVerfGE 21, 312 [322]).
l) Bundesstraßen (Art. 90 GG)
Die Auftragsverwaltung nach Art. 90 Abs. 2 GG umfasst die gesamte Bundesstraßenverwaltung, mithin sowohl die Hoheitsverwaltung als auch die Vermögensverwaltung der
Bundesfernstraßen.
Mit dieser Verwaltungszuständigkeit korrespondiert die Gesetzgebungskompetenz des
Bundes für den Bau und die Unterhaltung von Landstraßen für den Fernverkehr nach
Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG. Regelungen über die Abstufung einer Bundesstraße in eine
Straßenklasse nach Landesrecht zählen nicht zu den Regelungen über Landstraßen für
den Fernverkehr. Dem Bund stehen lediglich die Möglichkeiten offen, eine als Bundesfernstraße entbehrlich gewordene Straße in Ausübung seines Weisungsrechts zu entwidmen
oder dem Land nach Vereinbarung zur Übernahme zu überlassen (BVerfGE 102, 167 [173
ff.]).
Brunn - Kapitel C.IX.0.
Seite 240
Für eine Übernahme gemäß Art. 90 Abs. 3 GG dürfte kein Bundesgesetz notwendig sein.
m) Gemeinschaftsaufgaben, Verwaltungszusammenarbeitsfälle (Art. 91 a ff.
GG)
Soweit ersichtlich, haben die nach Art. 91 a Abs. 2 und Abs. 3 Satz 3 GG sowie Art. 91
c Abs. 4 Satz 2 GG vorgesehen Gesetze (mit Bundesratsvorbehalt) noch keine Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hervorgebracht. Anders verhält es sich mit Art.
91 e GG, insbesondere Abs. 3:
aa) Zweck der Vorschrift des Art. 91 e GG
Bei Art. 91 e GG handelt es sich um eine eng begrenzte Durchbrechung der grundsätzlich
auf Trennung von Bund und Ländern angelegten Verteilung der Verwaltungszuständigkeiten nach den Art. 83 ff GG. Sie beschränkt sich auf die Regelung der Verwaltungs- und
Finanzierungszuständigkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Die in
Art. 20 Abs. 1 bis Abs. 3 GG enthaltenen und durch Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten
Systementscheidungen der Demokratie sowie des Rechts- und Bundesstaates stellt sie
nicht in Frage (BVerfGE 137, 108 [143]).
In seinem Anwendungsbereich verdrängt Art. 91 e GG sowohl die Art. 83 ff GG als auch
Art. 104 a GG (a.a.O. [Ls. 1]). Er begründet eine unmittelbare Finanzbeziehung zwischen
dem Bund und den Optionskommunen und ermöglicht eine Finanzkontrolle, die sich von
der staatlichen Aufsicht wie auch von der Finanzkontrolle durch den Bundesrechnungshof
unterscheidet (a.a.O. [Ls. 2]).
bb) Art. 91 e Abs. 2 GG als “Einräumung einer Chance“
Art. 91 e Abs. 2 GG räumt den Gemeinden und Gemeindeverbänden eine Chance ein,
die Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende als kommunale Träger alleinverantwortlich wahrzunehmen. Die gesetzliche Ausgestaltung dieser Chance muss willkürfrei
erfolgen. Ihre Wahrnehmung fällt in den Schutzbereich der Garantie kommunaler Selbstverwaltung (a.a.O. [Ls. 3]).
cc) Gesetzgebungskompetenz und -auftrag (Art. 91 e Abs. 3 GG)
Nach Art. 91 e Abs. 3 GG regelt das Nähere über das Zusammenwirken von Bund
und Ländern oder der nach Landesrecht zuständigen Gemeinden und Gemeindeverbände
bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des
Bundesrates bedarf.
Die Vorschrift weist dem Bund eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz zu und
enthält zugleich einen Gesetzgebungsauftrag, der bewusst weit gefasst wurde und dem
Gesetzgeber bei der Ausgestaltung einen großen Spielraum lassen soll. In der Sache bezieht er sich, wie dargelegt, auf die nähere Ausgestaltung der gemeinsamen Einrichtungen
(Art. 91 e Abs. 1 GG), die Anzahl möglicher Optionskommunen, das von ihnen zu durchlaufende Verfahren und - im Falle der Zulassung - die Kostentragung für die Aufgabe der
Grundsicherung für Arbeitsuchende (Art. 91 e Abs. 2 Satz 2 GG). Freilich ist diese Aufzählung nicht abschließend (a.a.O. [160, 168 f.]).
Brunn - Kapitel C.IX.0.
Seite 241
IX. Gesetzgeber und “Steuerstaat“ (Finanzverfassung gem. Art. 104 ff.
GG); insbesondere Gesetzgebungskompetenz für nicht-steuerliche
Abgaben sowie Steuern
1.
2.
3.
4.
Grundsatz des “festen Rahmens“ der Finanzverfassung . . . . . .
a) Finanzverfassung als für den Gesetzgeber “unübersteigbare“ Grenze
b) Verbot von Analogien . . . . . . . . . . . . . . .
Grundsatz der strikten Kompetenztrennung bei Steuern (Art. 105 GG)
einerseits und nicht-steuerlichen Abgaben andererseits . . . . . .
Sonderfall der Finanzierung der Sozialversicherung . . . . . . .
Nichtsteuerliche Abgaben
. . . . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeines (insb. Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen) .
b)
c)
247
247
247
248
aa) Erfordernis der besonderen sachlichen Rechtfertigung . . . .
248
bb) Erfordernis der deutlichen Unterscheidung von Steuern . . .
248
cc) Erfordernis der Belastungsgleichheit
248
. . . . . . . . . . . . .
(1) Hintergrund des Ausnahmecharakters (gegenüber Steuern)
von Abgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
(2) Keine “Umwandlung“ einer unzulässigen Abgabe in eine
zulässige Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248
dd) Staatliche Preisreglementierungen . . . . . . . . . . . . . . .
Gebühren und Beiträge
. . . . . . . . . . . . . .
249
249
aa) Gemeinsames (Leistung und Gegenleistung) und Unterschiedliches von Gebühren und Beiträgen . . . . . . . . . . . . . .
249
bb) Gebührenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
cc) Gebührenzwecke
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
249
dd) Rechtssicherheit, Vertrauensschutz . . . . . . . . . . . . . .
Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . . .
250
250
aa) Sonderabgabenbegriff (Konkurrenz zur Steuer, Gegenleistungsfreiheit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
250
(1) Erfordernis einer “Konkurrenzsituation zur Steuer“ . . .
250
(2) Fehlende Konkurrenzsituationen . . . . . . . . . . . . . .
251
bb) Enge Voraussetzungen für die (weitere) Zulässigkeit von Sonderabgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) “Gruppenbelastung“
(1a)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
251
Zu Gunsten der Belasteten wirkendes Verbot der
gleichheitswidrigen “Verschonung Näherer“ . .
251
“Willkürliche“ Gruppenbildungen . . . . . . .
251
(2) Meist unschädliche Effekte . . . . . . . . . . . . . . . . .
252
(3) Prüfpflichten des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . .
Andere Abgaben (“eigener Art“) . . . . . . . . . . .
252
252
aa) Regelzweck des “Ausgleichs von Belastungen“ Anderer . . .
252
bb) Ausgleich eines “Sondervorteils“ . . . . . . . . . . . . . . . .
252
(1b)
d)
246
247
247
Brunn - Kapitel C.IX.0.
5.
6.
7.
Seite 242
Gesetze gem. Art. 104 a GG . . . . . . . . . . . . . . .
Gesetze gem. Art. 104 b Abs. 1 und Abs. 2 GG (Art. 104 a Abs. 4 GG
a.F.) - Bundesfinanzhilfe . . . . . . . . . . . . . . . .
a) “Wesentliche“ Bestandteile eines entsprechenden Gesetzes . . .
b) Keine Ermächtigung der Bundesverwaltung durch Art. 104 b Abs. 2
Satz 1 GG zur Regelung von Verwaltungsbefugnissen gegenüber den
Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Steuern (Art. 105 GG) . .
a) Geltung des Art. 70 Abs. 1 GG auch für das Steuerrecht . . .
aa) Materieller Gehalt einer Abgabe als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung der Kompetenzen . . . . . . . . .
b)
c)
253
253
253
254
254
254
bb) “Strenger“ Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . .
Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes über Zölle und Finanzmonopole (Art. 105 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . .
Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 105 Abs. 2 GG) . . . . .
254
aa) Maßgeblicher Steuerbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
(1) Maßgebliche gesetzliche Definition . . . . . . . . . . . . .
255
(2) Erfordernis des endgültigen Zuflusses . . . . . . . . . . .
255
(3) Kreis der Steuerpflichtigen (Pflicht zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
bb) Steuer (auch) als zulässiges Lenkungsinstrument
(1) (Un-)Zulässige Mittel der Lenkung
254
255
. . . . . .
256
. . . . . . . . . . . .
256
(2) Rechtfertigungsfähigkeit für steuerliche Be- und Entlastungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
256
(2a)
Erforderliche Erkennbarkeit zulässiger Zwecke
256
(2b)
Zulässigkeitshindernis der “Widersprüchlichkeit
der Rechtsordnung“ . . . . . . . . . . . . . . .
256
cc) Abgrenzungen gem. Art. 105 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 2
GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
(1) Erschöpfende Regelungen
(2) Einzelfälle
d)
253
. . . . . . . . . . . . . . . . .
257
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
dd) Länderkompetenz für nicht gleichartige Verbrauch- und Aufwandsteuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
(1) Verbrauchsteuer (auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegte Warensteuer) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
(2) Aufwandsteuer (Konsum als Indikator für eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Pflichtigen) . . . . . . . . . .
257
(3) Gleichartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bundesgesetze mit Zustimmungserfordernis (Art. 105 Abs. 3 GG)
258
258
Brunn - Kapitel C.IX.0.
8.
Seite 243
Der Bundesgesetzgeber und die Verteilung des Steueraufkommens (Art.
106 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Vertikale Steuerverteilung . . . . . . . . . . . . . .
b)
aa) Ausgestaltung als Gemeinschaftsteuern . . . . . . . . . . . .
258
bb) Befriedigung von Deckungsbedürfnissen . . . . . . . . . . .
Einzelne in Art. 106 Abs. 1 und Abs. 2 GG genannte Steuern
(Verkehr-, Erbschaft- und Vermögensteuer) . . . . . . . .
258
aa) Verkehrsteuern
c)
259
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
(1) Luftverkehrsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
(2) Grunderwerbsteuer (als “Rechtsverkehrsteuer“)
. . . . .
259
bb) Erbschaftsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
259
cc) Vermögensteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 106 Abs. 3 ff. GG als erste Stufe der gesetzlichen Verteilung des
Finanzaufkommens . . . . . . . . . . . . . . . .
260
aa) Planungsgrundlage
9.
10.
258
258
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
260
260
bb) Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d) Gewerbesteuer und Grundsteuer gem. Art. 106 Abs. 6 GG . . .
Verkehrsbezogene Länderanteile (Art. 106 a GG sowie Art. 106 b GG)
Art. 107 GG (Finanzausgleich; Ergänzungszuweisungen) . . . . .
a) (Nicht allein durch Art. 107 GG erreichbare) Ziele und Zwecke des
Art. 107 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . .
261
aa) Art. 107 GG als einer der tragenden Pfeiler der bundesstaatlichen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
(1) Zweck (hinreichende Finanzausstattung von Gesamtstaat
und Gliedstaaten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
(2) Verbindliche Ordnung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262
bb) Aufbau des Art. 107 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
262
cc) Ergänzende Vorschriften des Verfassungsrechts, welche indessen außerhalb des Finanzausgleichssystems bleiben müssen .
262
(1) Weitere Finanzierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . .
b)
(2) Auswirkungen der Finanzleistungen . . . . . . . . . . . .
Die für den Bundesgesetzgeber maßgeblichen Rechtsquellen und deren Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Rechtsquellen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Die vier Stufen der Verteilung des Finanzaufkommens
260
260
261
261
262
263
263
263
. . .
263
(1) Erste Stufe (Umsatzsteuerverteilung) . . . . . . . . . . .
263
(2) Zweite Stufe (Unterdurchschnittlichkeit der Einnahmen;
Art. 107 Abs. 1 Satz 4, Hs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . .
263
(3) Dritte Stufe (horizontaler Finanzausgleich) . . . . . . . .
264
Brunn - Kapitel C.IX.0.
Seite 244
(4) Vierte Stufe (Sonderlasten)
. . . . . . . . . . . . . . . .
264
(5) Schlusskorrektur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
264
cc) Einzelfragen auf den einzelnen Stufen . . . . . . . . . . . . .
264
(1) Erste Stufe (Umsatzsteuerverteilung) . . . . . . . . . . .
264
(2) Zweite Stufe (Unterdurchschnittlichkeit der Einnahmen)
264
(2a)
Kriterium der Einwohnerzahl . . . . . . . . . .
265
(2b)
“Strukturelle Eigenart“ von Ländern . . . . . .
265
(3) Dritte Stufe (Horizontaler Finanzausgleich)
(3a)
265
(3b)
“Finanzkraft“
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
266
(3c)
Finanzkraft von Gemeinden . . . . . . . . . . .
266
(4a)
(4b)
12.
. . . . . .
266
“Leistungsschwäche“ . . . . . . . . . . . . . . .
266
(4c)
Einzelfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Finanzverwaltung (Art. 108 GG) . . . . . . . . . . . . .
a) Verhältnis der einzelnen Absätze des Art. 108 GG zu den Art. 83 ff.
GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Oberfinanzdirektionen . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 109 GG (Haushaltswirtschaft) . . . . . . . . . . . .
a) “Schuldenbremse“ . . . . . . . . . . . . . . . .
b) Verantwortung des Haushaltsgesetzgebers für das “gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht“ . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) “Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ als unbestimmter Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 109 a GG (Haushaltsnotlagen) . . . . . . . . . . . .
Art. 110 (Haushaltsplan) . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Die besondere Bedeutung des Gesetzgebers . . . . . . . .
b)
266
Freiheiten für den Gesetzgeber (zulässige Varianten) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Verantwortung für die Auswirkungen des Haushalts . . . . .
13.
14.
265
“Reihenfolge“ der Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder . . . . . . . . . . . . . . . .
(4) Vierte Stufe (Bundesergänzungszuweisungen)
11.
. . . . . . .
267
267
267
267
268
268
268
268
268
269
269
269
aa) Herausragende Stellung des Bundestages . . . . . . . . . . .
269
bb) Wahrnehmung durch das Plenum . . . . . . . . . . . . . . .
270
cc) Missgriff des Gesetzgebers durch “Griff in die Kasse der Sozialversicherung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die vier Haushaltsgrundsätze im Einzelnen . . . . . . . .
270
270
aa) Grundsatz der Vollständigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
(1) Zweck (vollständiger Überblick über Finanzvolumen und
Aufgabenlast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
270
Brunn - Kapitel C.IX.0.
Seite 245
(2) Nachtragshaushalt
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
bb) Grundsatz der Haushaltswahrheit . . . . . . . . . . . . . . .
271
(1) Prognosen und Prognosegrundlagen . . . . . . . . . . . .
271
(2) Pflichtverletzungen
271
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
cc) Verfassungsgebot der Ausgeglichenheit
. . . . . . . . . . . .
271
dd) Verfassungsgebot der Vorherigkeit . . . . . . . . . . . . . . .
272
(1) Verpflichtungen vor und nach Ablauf der Pflicht . . . . .
272
(2) Gebot der Vorherigkeit und Nachtragshaushalt
272
. . . . .
(3) Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zwischen Verfassungsorganen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
Haushaltsgesetz und Haushaltsplan
.
.
.
aa) Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 GG)
.
.
.
.
.
.
.
. . . . . . . . . . . .
272
bb) Haushaltsplan (Art. 110 Abs. 1 und Abs. 2 GG) . . . . . . .
273
(1) Grundsatz der Budgetöffentlichkeit und Ausnahmen
. .
(2) Nicht erfasste Einnahmen und Ausgaben (vom Bund “beherrschte“ juristische Personen und privatrechtlich organisierte Gesellschaften) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d)
Ablauf des Verfahrens und Rechte sowie Pflichten von Beteiligten
aa) Bundestag und Bundesregierung als Hauptakteure
15.
272
272
. . . . .
273
273
273
274
bb) Überstaatliche Vereinbarungen und Verantwortung des Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
274
(1) Verbot des “Auslieferns“ an “finanzwirksame Mechanismen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
274
(2) Völkervertragliche “Mechanismen“
. . . . . . . . . . . .
274
cc) Einfluss von Fraktionen und Abgeordneten . . . . . . . . . .
274
Art. 111 GG und Art. 112 GG (Ausgaben vor Etatgenehmigung bzw.
überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben)
. . . . . . .
275
a)
275
Art. 111 GG
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
aa) Vorläufige Haushaltsführung der Bundesregierung . . . . . .
bb) Enge Begrenzung des Spielraums der Bundesregierung
b)
Art. 112 GG
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
275
. . .
275
.
275
.
aa) Notkompetenz und zusätzliche Prüfungs- und Verfahrenspflichten des Finanzministers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
275
bb) Subsidiarität der Notkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . .
276
Brunn - Kapitel C.IX.1.
16.
Art. 114 GG (Rechnungslegung und Rechnungsprüfung)
a)
.
.
.
.
.
276
Die gewöhnlichen Aufgaben des Bundesrechnungshofs
.
.
.
.
276
aa) Rechnungsprüfung
b)
17.
Seite 246
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
bb) Rechnungsunabhängige Prüfung (Bundesexekutive als Prüfungsadressatin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
cc) Weitere Aufgaben (insbesondere: spezielle Beratung des Parlaments) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
Bundesrechnungshof und Länderbereich .
b)
c)
.
.
.
.
.
.
.
277
277
bb) Einzelbefugnisse (u.a. Durchführung von Erhebungen)
. . .
278
.
278
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
Art. 115 Abs. 1 GG als Konkretisierung des demokratischen Parlamentsvorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . . .
279
aa) Pflicht des Parlaments, wesentliche Entscheidungen (Entwicklung des Gesamtschuldenstands) selbst zu treffen . . . . . . .
279
bb) Kontrollmöglichkeiten
279
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung, die zumindest bestimmbar den Höchstbetrag festlegen muss . . . . . . . . . .
279
Insbesondere: Gewährleistungsübernahme
279
.
.
.
aa) Pflicht zu “flankierenden Rahmenbedingungen“
d)
.
aa) Grenzen der Erhebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Art. 115 GG (Kreditbeschaffung) .
a)
276
.
.
.
.
.
. . . . . . .
279
bb) Gesetzliche Bindungen von Inanspruchnahmen und Mitwirkungen des Bundestags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
280
Insbesondere: Gewährleistungsermächtigungen im Rahmen internationaler Übereinkünfte . . . . . . . . . . . . . . .
280
Im Gegensatz zu manchen Kompetenzen der Art. 70 ff. GG, welche sich ganz überwiegend auf eine reine Aufgabenzuweisung beschränken, enthalten die Regelungen des X.
Abschnitts (nicht nur Aufgabenzuweisungen, sondern) auch inhaltliche Vorgaben (Maßstäbe), über deren Umfang und Grenzen bereits heftig vor dem Bundesverfassungsgericht
gestritten worden ist.
Hier soll es “nur“ darum gehen, welche Verfassungsbestimmungen bzw. verfassungsrechtlichen Grundsätze der Bundesgesetzgeber zu beachten hat, wenn er Steuern - welche
einem “strengen“ Gesetzesvorbehalt unterliegen (BVerfGE 137, 350 [364] “Diktum des
Gesetzgebers“) - und nicht-steuerliche Abgaben regelt sowie den - zahlreichen - Gesetzgebungsaufträgen in den Art. 104 ff. GG folgt:
1. Grundsatz des “festen Rahmens“ der Finanzverfassung
Die Regelungen des X. Abschnittes des Grundgesetzes müssen aus zwingenden bundesstaatsrechtlichen Gründen als eine für Bund und Länder abschließende Regelung verstanden werden (BVerfGE 67, 256 [286]).
Brunn - Kapitel C.IX.4.
Seite 247
a) Finanzverfassung als für den Gesetzgeber “unübersteigbare“ Grenze
Die Finanzverfassung des Grundgesetzes bildet eine in sich geschlossene Rahmen- und
Verfahrensordnung . Sie ist auf Formenklarheit und Formenbindung angelegt. Diese fördern und entlasten den politischen Prozess, indem sie ihm einen festen Rahmen
vorgeben. Der Rahmen selbst stellt eine Grenze dar, die der einfache Gesetzgeber nicht
überschreiten darf.
b) Verbot von Analogien
Deshalb findet sich für Analogieschlüsse , die notwendig zu einer Erweiterung oder
Aufweichung dieses Rahmens führen würden, in diesem Bereich kein rechtlicher Grund
(BVerfGE 105, 185 [193 f.]).
2. Grundsatz der strikten Kompetenztrennung bei Steuern (Art. 105 GG)
einerseits und nicht-steuerlichen Abgaben andererseits
Der grundgesetzlichen Finanzverfassung liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Finanzierung der staatlichen Aufgaben in Bund und Ländern einschließlich der Gemeinden
grundsätzlich aus dem Ertrag der in Art. 105 ff. GG geregelten Einnahmequellen erfolgt
und nur ausnahmsweise, d.h. unter besonderen Voraussetzungen, Einnahmen außerhalb
des von der Finanzverfassung erfassten Bereichs erschlossen werden dürfen (BVerfGE 78,
249 [266 f.]; vgl. auch BVerfGE 110, 370 [387]).
Für nicht-steuerliche Abgaben (nachfolgend 4.), etwa für Gebühren, sind die Gesetzgebungskompetenzen aus den allgemeinen Regeln der Art. 70 ff. GG herzuleiten (BVerfGE
108, 1 [13] sowie BVerfGE 113, 128 [145]).
Daher steht den Ländern etwa für das Straßenausbaubeitragsrecht (Materie “Straßenbau“) die Sachkompetenz zu; anders ist es bei Vorschriften über den Bau und die Unterhaltung der Landstraßen des Fernverkehrs - Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 GG - (BVerfGE 137,
1 [19]).
3. Sonderfall der Finanzierung der Sozialversicherung
Die vor- und nachstehenden Grundsätze gelten nicht für die Erhebung und Verwaltung
von Sozialversicherungsbeiträgen. Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG, Art. 87 Abs. 2 GG und Art.
120 Abs. 1 Satz 4 GG bilden ein in sich geschlossenes Regelungssystem für die Sozialversicherung und deren Finanzierung. Diese Bestimmungen gehen als speziellere Normen
den allgemeinen, steuerzentrierten Vorschriften des X. Abschnitts des Grundgesetzes vor
(BVerfGE 113, 167 [199 f., 202]).
4. Nichtsteuerliche Abgaben
Maßgeblich für die Qualifizierung einer Abgabe als Steuer oder nichtsteuerliche Abgabe
ist die Ausgestaltung des betreffenden Gesetzes. Die Einordnung der Abgabe richtet sich
nicht nach ihrer gesetzlichen Bezeichnung, sondern nach ihrem tatbestandlich bestimmten, materiellen Gehalt.
Brunn - Kapitel C.IX.4.
Seite 248
[1] Steuern sind öffentliche Abgaben, die als Gemeinlast ohne individuelle Gegenleistung
(“voraussetzungslos“) zur Deckung des allgemeinen Finanzbedarfs eines öffentlichen Gemeinwesens erhoben werden.
[2] Erweist sich eine Abgabe wegen ihres Gegenleistungscharakters als nichtsteuerliche Abgabe , stehen die finanzverfassungsrechtlichen Vorschriften des Grundgesetzes
ihrer Erhebung nicht entgegen. Das Grundgesetz enthält keinen abschließenden Kanon
zulässiger Abgabetypen. Abgaben, die einen Sondervorteil ausgleichen sollen, sind als
Vorzugslasten zulässig. Darunter fallen Gebühren und Beiträge (BVerfGE 137, 1 [17 f.]).
a) Allgemeines (insb. Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen)
Aus der Begrenzungs- und Schutzfunktion der bundesstaatlichen Finanzverfassung ergeben sich Grenzen für die Auferlegung von Abgaben in Wahrnehmung einer dem Gesetzgeber (nach den vorstehenden Darlegungen) zustehenden Kompetenz (BVerfGE 93, 319
[342 f.]).
aa) Erfordernis der besonderen sachlichen Rechtfertigung
Deshalb bedürfen nicht-steuerliche Abgaben - über die Einnahmeerzielung hinaus oder
an deren Stelle - einer besonderen sachlichen Rechtfertigung (BVerfGE 135, 155 [206]).
bb) Erfordernis der deutlichen Unterscheidung von Steuern
Sie müssen sich zudem ihrer Art nach von der Steuer, die “voraussetzungslos auferlegt
und geschuldet wird“, deutlich unterscheiden (BVerfGE 108, 186 [216]; dort [235] auch
zu den Bestimmtheitsanforderungen an Gesetze über öffentlich-rechtliche Abgaben).
cc) Erfordernis der Belastungsgleichheit
Insbesondere muss die Erhebung einer nicht-steuerlichen Abgabe der Belastungsgleichheit der Abgabepflichtigen (hierzu ausführlich nachfolgend E.III.1.h)cc) (vgl. S. 622) )
Rechnung tragen.
(1) Hintergrund des Ausnahmecharakters (gegenüber Steuern) von Abgaben
Der Schuldner einer nicht-steuerlichen Abgabe ist regelmäßig zugleich Steuerpflichtiger
und wird als solcher schon zur Finanzierung der die Gemeinschaft treffenden Lasten herangezogen (BVerfGE 93, 319 [343]). Das schließt nicht aus, dass verschiedene Formen
von Abgaben (das Grundgesetz enthält keinen abschließenden Kanon zulässiger Abgabetypen) als verfassungsrechtlich zulässig gelten müssen (a.a.O. [343 ff.]).
(2) Keine “Umwandlung“ einer unzulässigen Abgabe in eine zulässige Steuer
Die Folge etwa einer unzulässigen Überhöhung einer Abgabe ist nicht etwa diejenige, dass
eine solche Abgabe begrifflich zu einer Steuer würde; vielmehr muss es bei ihrer Zuordnung zu den allgemeinen Sachgesetzgebungskompetenzen der Art. 70 ff. GG unabhängig
davon bleiben, ob die Bemessung der Abgabe sachlich gerechtfertigt oder möglicherweise
unzulässig überhöht ist (BVerfGE 108, 1 [13 f.]).
Brunn - Kapitel C.IX.4.
Seite 249
dd) Staatliche Preisreglementierungen
Die vorbezeichneten Maßstäbe für die Auferlegung nicht-steuerlicher Abgaben gelten indessen nicht für etwa staatliche Preisreglementierungen, weil die sich nur im Bereich privatautonom vereinbarter Leistungsbeziehungen auswirken und deshalb der Schutzzweck
der Rechtsprechung zu den Sonderabgaben nicht eingreift (BVerfGE 114, 196 [249 f.]).
b) Gebühren und Beiträge
Nur wenige Spezialisten dürften in der Lage sein, ohne Zuhilfenahme einschlägiger Rechtsprechung mit den folgenden Begriffen “trittsicher“ umzugehen:
aa) Gemeinsames (Leistung und Gegenleistung) und Unterschiedliches von Gebühren
und Beiträgen
Gebühren sind öffentlich-rechtliche Geldleistungen, die aus Anlass individuell zurechenbarer Leistungen dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm oder sonstige hoheitliche Maßnahme auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung
an diese Leistung deren Kosten ganz oder teilweise zu decken.
Das gilt entsprechend für Beiträge , die im Unterschied zu Gebühren schon für die
potentielle Inanspruchnahme einer öffentlichen Einrichtung oder Leistung erhoben werden. Durch Beiträge sollen die Interessenten an den Kosten einer öffentlichen Einrichtung
beteiligt werden, von der sie potentiell einen Nutzen haben.
Der Gedanke der Gegenleistung , also des Ausgleichs von Vorteilen und Lasten ist
der den Beitrag im abgabenrechtlichen Sinn legitimierende Gesichtspunkt. Während bei
den Zwecksteuern die Ausgaben- und die Einnahmenseite voneinander abgekoppelt sind,
werden bei den nichtsteuerlichen Abgaben in Form von Beiträgen die Rechtfertigung und
die Höhe der Abgabe gerade durch den öffentlichen Aufwand vorgegeben (BVerfGE 137,
1 [18]).
bb) Gebührenbegriff
Das Grundgesetz enthält keinen eigenständigen Gebührenbegriff, aus dem sich unmittelbar Kriterien für die Verfassungsmäßigkeit von Gebührenmaßstäben, Gebührensätzen
oder Gebührenhöhen ableiten ließen (BVerfGE 97, 332 [344 f.]).
Demnach muss ein allgemeiner Gebührenbegriff zugrunde gelegt werden. Hiernach sind
Gebühren öffentlich-rechtliche Geldleistungen, die aus Anlass individuell zurechenbarer
öffentlicher Leistungen dem Gebührenschuldner durch eine öffentlich-rechtliche Norm
oder sonstige hoheitliche Maßnahmen auferlegt werden und dazu bestimmt sind, in Anknüpfung an diese Leistungen deren Kosten ganz oder teilweise zu decken. Aus dieser
Zweckbestimmung folgt, dass Gebühren für staatliche Leistungen nicht völlig unabhängig von den tatsächlichen Kosten der gebührenpflichtigen Staatsleistung festgesetzt werden dürfen; die Verknüpfung zwischen Kosten und Gebührenhöhe muss sachgerecht sein
(a.a.O. [345]; vgl. auch BVerfGE 132, 334 [349]).
cc) Gebührenzwecke
Neben den zulässigen Gebührenzwecken “Kostendeckung“ (BVerfGE 108, 1 [18]) sowie
“Vorteilsabschöpfung“ (a.a.O.) können auch Lenkungszwecke und soziale Zwecke als zulässige Gebührenzwecke anerkennungswürdig sein; ein solcher sozialer Zweck kann etwa
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durch Abstufungen der Gebührenbelastung nach Leistungsfähigkeit unterhalb einer kostenorientierten Obergrenze verfolgt werden (a.a.O.; vgl. auch BVerfGE 132, 334 [349]).
Diese zulässigen Gebührenzwecke muss der Gesetzgeber allerdings vor allem im Wortlaut
des Gesetzes deutlich machen (BVerfGE 108, 1 [20]; vgl. auch BVerfGE 132, 334 [350]
zur “Normenwahrheit“).
dd) Rechtssicherheit, Vertrauensschutz
Vor allem gilt zwar, dass die Anforderungen an die gesetzgeberische Gebührenbemessung,
die komplexe Kalkulationen, Bewertungen, Einschätzungen und Prognosen voraussetzen
kann, nicht überspannt werden dürfen (BVerfGE 108, 1 [19]).
Indessen darf aber der Gesetzgeber nicht unbegrenzt zuwarten, bis er - was im Grundsatz
zulässig ist - einen in der Vergangenheit liegenden Vorteil ausgleichen will; der Grundsatz
der Rechtssicherheit gebietet vielmehr, dass ein Vorteilsempfänger in zumutbarer Zeit
Klarheit darüber gewinnen kann, ob und in welchem Umfang er die erlangten Vorteile
durch Beiträge ausgleichen muss. Deshalb kann der Gesetzgeber aus Gründen des Vertrauensschutzes verpflichtet sein, Verjährungsregelungen zu treffen (BVerfGE 133, 143
[159 f.]).
c) Sonderabgaben
Auch insoweit soll die Finanzverfassung des Grundgesetzes (durch einschränkende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie entsprechende gesetzliche Regelungen)
vor Aushöhlung bewahrt werden; Sonderabgaben unterliegen engen Grenzen und müssen
deshalb (gegenüber Steuern) “seltene Ausnahmen bleiben“ (BVerfGE 108, 186 [217]; vgl.
auch BVerfGE 135, 155 [207]).
Dies ist allerdings nicht nur auf bundesrechtliche Sonderabgaben beschränkt, sondern
kann auch landesrechtliche Sonderabgaben betreffen (BVerfGE 92, 91 [115 f.]).
aa) Sonderabgabenbegriff (Konkurrenz zur Steuer, Gegenleistungsfreiheit)
Entscheidend für die Qualifizierung einer Abgabe als Sonderabgabe ist ihr materieller
Gehalt und nicht etwa, wie das Abgabengesetz selbst die Abgabe klassifiziert (BVerfGE
55, 274 [304 f.]).
Auch die Einstellung des Aufkommens in den allgemeinen Haushalt ändert nichts an dem
durch die Fassung der Abgabentatbestände bestimmten materiellen Gehalt (BVerfGE
108, 186 [213]).
(1) Erfordernis einer “Konkurrenzsituation zur Steuer“
Der Begriff der Sonderabgabe umfasst nur einen näher eingegrenzten Teil der nichtsteuerlichen Abgaben. Nicht-steuerliche Geldleistungen sind immer nur dann Sonderabgaben, wenn es zu einer Konkurrenzsituation zur Steuer kommt (BVerfGE 81, 156 [186
f.]; vgl. auch BVerfGE 123, 132 [140 f.]).
Wesentliches Merkmal einer Sonderabgabe ist es nämlich, dass sie eine Geldleistungspflicht begründet, der keine Gegenleistung der öffentlichen Hand entspricht. Aus diesem
Grund gerät jede Sonderabgabe zwangsläufig in Konkurrenz zu dem verfassungsrechtlich
umfassend geregelten Institut der Steuer, mit der sie jedenfalls insoweit übereinstimmt,
Brunn - Kapitel C.IX.4.
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als sie den Betroffenen eine Geldleistungspflicht voraussetzungslos - d.h. ohne Rücksicht
auf eine korrespondierende Gegenleistung der öffentlichen Hand - auferlegt. Zur Sonderabgabe gehört ferner, dass sie nicht aus einer eigenen Abgabenkompetenz erhoben wird,
sondern unter Inanspruchnahme von Kompetenzen zur Regelung bestimmter Sachmaterien, die ihrer Art nach nicht auf Abgabenerhebung bezogen sind (BVerfGE 81, 156 [186
f.).
(2) Fehlende Konkurrenzsituationen
Ist mithin maßgeblich, ob mangels sonstiger spezieller Sach- und Zweckzusammenhänge
eine Konkurrenz zur Steuer nicht von vornherein ausgeschlossen ist (BVerfGE 108, 186
[219]), so steht der Qualifizierung als Sonderabgabe entgegen, wenn eine Geldleistungspflicht unter Inanspruchnahme von Gesetzgebungssachkompetenzen normiert wird, die
bereits aus sich heraus auch auf die Regelung der Finanzierung, mithin die Erhebung
von Abgaben, gerichtet sind; zu dem bei der Erhebung von Sonderabgaben typischerweise drohenden Konflikt mit den Regelungen der Finanzverfassung kann es dann nicht
kommen (BVerfGE 75, 108 [148] für Künstlersozialversicherung).
bb) Enge Voraussetzungen für die (weitere) Zulässigkeit von Sonderabgaben
Der Gesetzgeber darf sich des Finanzierungsinstruments der Sonderabgabe nur zur Verfolgung eines Sachzwecks bedienen, der über die bloße Mittelbeschaffung hinausgeht.
In dem Gesetz muss die gestaltende Einflussnahme auf den geregelten Sachbereich zum
Ausdruck kommen. Die einen Sachbereich gestaltende Sonderabgabe darf nur eine vorgefundene homogene Gruppe (nachfolgend (1)) in Finanzverantwortung nehmen. Die
Gruppe muss durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und
anderen Gruppen abgrenzbar sein.
(1) “Gruppenbelastung“
Nur eine - bereits vorgegebene - “homogene“ Gruppe darf mit der Sonderabgabe belegt
werden; sie muss zu dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck in einer Beziehung spezifischer Sachnähe stehen, aufgrund deren ihr eine besondere Finanzierungsverantwortung zugerechnet werden kann, und außerdem muss das Abgabenaufkommen
gruppennützig verwendet werden (BVerfGE 135, 155 [206 ff.] für Filmförderung sowie
BVerfGE 136, 194 [242 f.] für Abgabe nach § 43 WeinG; dort [243] auch dazu, dass eine
“vollständige Interessenharmonie“ nicht vorlangt ist, sondern ein “rechtfertigendes Maß
an spezifischer Gemeinsamkeit“).
(1a) Zu Gunsten der Belasteten wirkendes Verbot der gleichheitswidrigen
“Verschonung Näherer“
Von der Belastung mit einer Sonderabgabe dürfen Gruppen nicht ausgeschlossen werden,
die zum Sachzweck der Abgabe in gleicher oder größerer Nähe stehen als die Abgabebelasteten (BVerfGE 136, 194 [246]).
(1b) “Willkürliche“ Gruppenbildungen
Es ist dem Gesetzgeber insbesondere verwehrt, für die beabsichtigte Abgabenerhebung
beliebig Gruppen nach Gesichtspunkten zu bilden, die nicht in der Rechts- oder Sozialordnung vorgegeben sind (BVerfGE 82, 159 [180 f.]; vgl. auch BVerfGE 110, 370
Brunn - Kapitel C.IX.4.
Seite 252
[392] zu dem Erfordernis einer spezifischen Sachnähe der Abgabepflichtigen zu der zu
finanzierenden Aufgabe bzw. zur sachgerechten Verknüpfung zwischen Belastungen und
Begünstigungen).
(2) Meist unschädliche Effekte
Nicht geboten ist eine jederzeitige Gleichverteilung des Nutzens unter allen Abgabebelasteten; ein “Mitprofitieren“ Außenstehender ist im begrenzten Umfang zulässig, auch
mittelbare (und nicht nur unmittelbare) Nutzeffekte können berücksichtigungsfähig sein,
und die Anforderung der gesamtgruppennützigen Verwendung bezieht sich (nicht auf einzelne finanzielle Maßnahmen, sondern) auf das Abgabenaufkommen als Ganzes (BVerfGE
136, 194 [259]).
(3) Prüfpflichten des Gesetzgebers
Auch wenn alle vorgenannten Voraussetzungen erfüllt sind, ist der Gesetzgeber gehalten, in angemessenen Zeitabständen zu überprüfen, ob seine ursprüngliche Entscheidung
für den Einsatz des gesetzgeberischen Mittels “Sonderabgabe“ aufrecht zu erhalten ist
(BVerfGE 82, 159 [181]; vgl. auch BVerfGE 124, 348 [366] sowie BVerfGE 124, 235 [244
f.]; dort [250] auch zum Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers; vgl. darüber hinaus
BVerfGE 108, 186 [218 f.] sowie BVerfGE 136, 194 [261] für das Erfordernis haushaltsrechtlicher Informationspflichten durch Dokumentation der Sonderabgaben; zusammenfassend: BVerfGE 135, 155 [206 f.]).
d) Andere Abgaben (“eigener Art“)
Unter besonderen Voraussetzungen können - neben Steuern, Gebühren und Beiträgen
sowie Sonderabgaben - auch andere Abgaben verfassungsrechtlich möglich sein (BVerfGE
82, 159 [181]).
Auch insoweit ist die Zulässigkeit einer Abgabe nicht etwa davon abhängig, ob sie sich
den gebräuchlichen Begriffen (etwa der Gebühr oder des Beitrags) einfügt (BVerfGE 93,
319 [345]).
aa) Regelzweck des “Ausgleichs von Belastungen“ Anderer
Ausgleichsabgaben “eigener Art“ sind regelmäßig dadurch gekennzeichnet, dass ihr Zweck
nicht die Finanzierung einer besonderen Aufgabe ist, sondern der Ausgleich einer Belastung (anderer Pflichtigen), die sich aus einer primär zu erfüllenden öffentlich-rechtlichen
Pflicht ergibt. Sie wird denjenigen auferlegt, die diese Pflicht - aus welchen Gründen auch
immer - nicht erfüllen, und soll damit auch zur Erfüllung der Pflicht anhalten (BVerfGE
92, 91 [117]; vgl. auch BVerfGE 78, 249 [266 ff.] für “Abschöpfungsabgabe“, mit der eine
Fehlleitung von Subventionen ausgeglichen werden soll).
bb) Ausgleich eines “Sondervorteils“
Zulässig kann es freilich auch sein, einen Einzelnen zu belasten, dem die Nutzung einer
bestimmten Ressource eröffnet wird, womit er einen Sondervorteil gegenüber all denjenigen erhält, die das Gut nicht oder nicht im gleichen Umfang nutzen dürfen (BVerfGE
93, 319 [345 f.] für Wasserpfennig).
Brunn - Kapitel C.IX.6.
Seite 253
Auch die Erhebung des “Kabelgroschens“ nach einem Staatsvertrag über die Höhe der
Rundfunkgebühr verstieß nicht gegen das Grundgesetz (BVerfGE 90, 60 [105]; vgl. auch
BVerfGE 114, 371 [386] für Teilnehmerentgelt zur Mitfinanzierung privaten Rundfunks,
fragwürdig).
5. Gesetze gem. Art. 104 a GG
Der Gesetzgeber kann gem. Art. 104 a Abs. 5 GG auch eine verschuldensunabhängige Haftung begründen. Eine Beschränkung auf evidente oder grobe Rechtsverstöße kann
dem Gesetzgebungsauftrag in Art. 104 a Abs. 5 Satz 2 GG nicht entnommen werden. Das
Ausführungsgesetz braucht keine übergreifende Kodifizierung des Verwaltungshaftungsrechts zu sein; möglich - und jeweils am Verfassungsrecht zu messen - sind auch Teilausführungsregelungen im Zusammenhang bereichsspezifischer Sachregelungen (BVerfGE 127, 165 [205]; dort [205 und 207] auch dazu, dass der Bundesverwaltung die Befugnis
eingeräumt werden darf, zum Zwecke der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Haftungsanspruchs bei den Landesverwaltungen Berichte anzufordern, Akten
beizuziehen und Unterlagen einzusehen).
Eine - der Sache nach - “Abweichung“ von den Grundsätzen des Art. 104 a (Abs. 1, 3
und 5) GG stellt die neu geschaffene Vorschrift des Art. 91 e Abs. 2 Satz 2 GG dar, die
aber verfassungsrechtlich zulässig erlassen worden ist (BVerfGE 137, 108 [147]).
6. Gesetze gem. Art. 104 b Abs. 1 und Abs. 2 GG (Art. 104 a Abs. 4 GG
a.F.) - Bundesfinanzhilfe
Das “Nähere“ kann nicht auf andere Weise als durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz oder Verwaltungsvereinbarung geregelt werden; denn die verfassungsrechtlich
gewährleistete Mitwirkung der Länder bei der Entscheidung über die Grundlagen der
Finanzzuweisungen ist nur in diesen beiden Beteiligungsformen ausreichend gesichert
(BVerfGE 41, 291 [304]). Das Zustimmungsgesetz muss alles Wesentliche enthalten und
darf dies weder Verwaltungsvorschriften noch Ermessensentscheidungen eines Bundesministeriums noch gar einer bloßen Verwaltungspraxis überlassen.
a) “Wesentliche“ Bestandteile eines entsprechenden Gesetzes
Wesentliche Bestandteile dieser Gesetze sind mindestens - erstens - Regelungen über die
Auswahl der zu fördernden Investitionsvorhaben, - zweitens - die Bestimmung der Höhe
des Bundesanteils an den förderungsfähigen Investitionskosten an dem auch insoweit
durch Art. 104 b GG gezogenen Rahmen und schließlich - drittens - die Fixierung eines
einheitlichen Maßstabes, nach dem der Bund - vorbehaltlich einer allseitigen Einigung mit
den Ländern - mangels feststehender oder berechenbarer Landesquoten verfährt, wenn die
Summe der von den Ländern angeforderten Bundesmittel den Ansatz im Bundeshaushalt
übersteigt (BVerfGE 39, 96 [116 f.]; vgl. indessen BVerfGE 127, 165 [202] dazu, dass noch
offen ist, ob die zur früheren Rechtslage entwickelten Grundsätze unter der Geltung des
Art. 104 b GG weiterhin zu beachten sind).
b) Keine Ermächtigung der Bundesverwaltung durch Art. 104 b Abs. 2 Satz
1 GG zur Regelung von Verwaltungsbefugnissen gegenüber den Ländern
Art. 104 b Abs. 2 Satz 1 GG enthält keine Ermächtigung zu Regelungen, die der Bundes-
Brunn - Kapitel C.IX.7.
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verwaltung Verwaltungsbefugnisse gegenüber den Ländern einräumen. Die Auslegung von
Regelungskompetenzen kann zwar ergeben, dass damit in bestimmtem Umfang Verwaltungskompetenzen des Bundes verbunden sein sollen, worauf aber nur bei hinreichend
deutlichen Anhaltspunkten geschlossen werden kann, welche hier nicht ersichtlich sind
(BVerfGE 127, 165 [192 f.]).
7. Gesetzgebungskompetenz des Bundes für Steuern (Art. 105 GG)
Das Steuerrecht dürfte selbst für ausgesprochene Fachleute als ein nahezu undurchdringlicher “Dschungel“ erscheinen. Hier geht es “nur“ um Begriffsklärungen und Zuordnungen.
Wegen des “Mischcharakters“ der Kompetenzregeln, die auch - zumindest was die einzelnen Abgrenzungen anbelangt - materielles Verfassungsrecht enthalten, kann es nicht
ausbleiben, dass hier ähnliche oder gar gleiche - vom Bundesverfassungsgericht beantwortete - Fragen angesprochen werden (müssen), die auch an anderen Stellen (etwa Art.
3 Abs. 1 GG [E.III.1.h)aa) (vgl. S. 610) und E.III.1.h)bb) (vgl. S. 618) ] sowie Art. 14
GG [E.XIV.1.d)aa) (vgl. S. 860) und E.XIV.1.d)bb) (vgl. S. 861) ] behandelt werden
(müssen)).
Die (wohl) schwierigsten Aufgaben (im Hinblick auf das materielle Steuerrecht) erwachsen
dem Steuergesetzgeber, wenn es darum geht, wie dem Grundsatz der Belastungsgleichheit
entsprochen werden kann (hierzu ausführlich E.III.1.h)aa)(1) (vgl. S. 611) ).
a) Geltung des Art. 70 Abs. 1 GG auch für das Steuerrecht
Art. 70 Abs. 1 GG gilt als Grundregel der bundesstaatlichen Verfassung für jede Art
von Gesetzgebung, also auch für das Gebiet des Steuerrechts. Die Länder können daher
solche Steuern erfinden und regeln, die nicht durch Art. 105 GG der ausschließlichen oder
konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes zugewiesen sind (BVerfGE 16, 64
[79]; vgl. BVerfGE 98, 83 [101] dazu, ob die Länder außerhalb der Zuständigkeit des Art.
105 GG ein Steuererfindungsrecht haben).
aa) Materieller Gehalt einer Abgabe als maßgeblicher Gesichtspunkt für die Abgrenzung der Kompetenzen
Für die Abgrenzung der Kompetenzbereiche der Bundes- und Landesgesetzgebung nach
Art. 105 GG kommt es nicht darauf an, wie ein Abgabengesetz selbst eine öffentlichrechtliche Abgabe klassifiziert, sondern entscheidend ist der materielle Gehalt der Abgabe
(BVerfGE 7, 244 [251 f.]).
bb) “Strenger“ Gesetzesvorbehalt
Im Steuerrecht, dessen Steuerbelastungsentscheidungen weitgehend vom Willen des Gesetzgebers zu Belastungsgegenstand und Tarif abhängen, ist im Übrigen von einem “strengen Gesetzesvorbehalt“ auszugehen (BVerfGE 137, 350 [364]).
b) Ausschließliche Gesetzgebung des Bundes über Zölle und
Finanzmonopole (Art. 105 Abs. 1 GG)
Zölle sind formal bestimmt als die Abgaben, die nach Maßgabe des Zolltarifs von der
Warenbewegung über die Zollgrenze erhoben werden. Deshalb können Länder nicht an-
Brunn - Kapitel C.IX.7.
Seite 255
dere Abgaben vom Warenverkehr über eine Grenze regeln, sofern sie dadurch in die
ausschließliche Gesetzgebung des Bundes über das Zollwesen eingreifen (BVerfGE 8, 260
[269]).
Die Bestätigung des Bestandes der Finanzmonopole vornehmlich in Art. 105 Abs. 1 GG
enthält zugleich die grundgesetzliche Billigung ihrer Struktur im Großen. Damit werden
diejenigen Beschränkungen der freien wirtschaftlichen Betätigung des Einzelnen, die sich
aus der vom Grundgesetz angetroffenen Struktur der Monopole notwendig ergeben, im
Prinzip hingenommen und gebilligt (BVerfGE 14, 105 [111]).
c) Konkurrierende Gesetzgebung (Art. 105 Abs. 2 GG)
Nach Art. 105 Abs. 2 GG hat der Bund die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz für
Steuergesetze, wenn ihm das Aufkommen dieser Steuern ganz oder zum Teil zusteht
oder die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG vorliegen.
Das Aufkommen der Erbschaftsteuer beispielsweise steht zwar vollständig den Ländern
zu (Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG). Für den Bereich der Erbschaftsteuer besitzt der Bund
die Gesetzgebungskompetenz aber gleichwohl deshalb, weil die Wahrung der Rechts- und
Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht - Art. 72 Abs. 2 GG (nachstehend cc)) - (BVerfGE 138, 136 [176]).
aa) Maßgeblicher Steuerbegriff
Unter den Steuern im X. Abschnitt des Grundgesetzes sind nur solche den Steuerbegriff
erfüllenden Abgaben zu verstehen, die vom Bund, von den Ländern oder von Gebietskörperschaften erhoben werden (BVerfGE 10, 141 [176]).
(1) Maßgebliche gesetzliche Definition
Die im deutschen Steuerrecht eingebürgerte Begriffsbestimmung der Steuer, die in der
gesetzlichen Definition des § 1 Abs. 1 der (Reichs-)Abgabenordnung ihren Niederschlag
gefunden hat, gilt auch für das Grundgesetz und muss deshalb den Kompetenzvorschriften
über die Steuergesetzgebung zugrunde gelegt werden (BVerfGE 7, 244 [251]; vgl. auch
BVerfGE 98, 106 [123] sowie BVerfGE 110, 274 [294]).
(2) Erfordernis des endgültigen Zuflusses
Weil nur Abgaben erfasst werden, die dem Staat endgültig zufließen, sind keine Steuern im Sinne der Kompetenzbestimmung Abgaben, deren Rückzahlung von vornherein
vorgesehen ist, wie dies bei den sog. Zwangsanleihen der Fall ist (BVerfGE 67, 256 [282
f.]).
(3) Kreis der Steuerpflichtigen (Pflicht zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben)
Der Kreis der Abgabepflichtigen ist nicht auf solche Personen begrenzt, die einen wirtschaftlichen Vorteil aus öffentlichen Vorhaben ziehen (BVerfGE 65, 325 [344]), weil die
Erfüllung der öffentlichen Aufgaben, zu deren Finanzierung Zwecksteuern dienen, nicht
den Charakter einer Gegenleistung des Abgabeberechtigten zugunsten des Abgabepflichtigen hat, wodurch sich - wie dargestellt (vorstehend 4.a) und b)) - Steuern im Übrigen
von Gebühren und Beiträgen unterscheiden (BVerfGE 7, 244 [254]).
Brunn - Kapitel C.IX.7.
Seite 256
Einen unzulässigen Missbrauch stellte es allerdings dar, wenn das Steuergesetz dem ihm
begrifflich zukommenden Zweck, Steuereinnahmen zu erzielen, geradezu zuwiderhandelte,
indem es ersichtlich darauf ausginge, die Erfüllung des Steuertatbestandes praktisch unmöglich zu machen, also in diesem Sinne eine “erdrosselnde“ Wirkung auszuüben (BVerfGE 16, 147 [161]).
bb) Steuer (auch) als zulässiges Lenkungsinstrument
Bisweilen kann der Zweck, Einkünfte für die Bestreitung allgemeiner Staatsaufgaben zu
erzielen, in den Hintergrund treten. Zulässiger (Haupt-)Zweck kann es auch sein, Steuern
zum zentralen Lenkungsinstrument aktiver staatlicher Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik zu erheben (BVerfGE 55, 274 [299]; vgl. auch BVerfGE 135, 126 [142]):
(1) (Un-)Zulässige Mittel der Lenkung
Der Gesetzgeber darf eine Steuerkompetenz grundsätzlich auch ausüben und damit Differenzierungen verfolgen, um Lenkungsauswirkungen zu erzielen. Er darf nicht nur durch
Ge- und Verbote, sondern ebenso durch mittelbare Verhaltenssteuerung auf Wirtschaft
und Gesellschaft gestaltend Einfluss nehmen. Der Bürger wird dann nicht rechtsverbindlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, erhält aber durch Sonderbelastung eines
unerwünschten Verhaltens oder durch steuerliche Verschonung eines erwünschten Verhaltens ein finanzwirtschaftliches Motiv, sich für ein bestimmtes Tun oder Unterlassen
zu entscheiden (BVerfGE 137, 350 [367 f.]).
Nicht-steuerlicher Art wären hingegen Regelungen, die auf eine Steuerkompetenz nicht
gestützt werden könnten, bei denen die steuerliche Lenkung nach Gewicht und Auswirkung einer verbindlichen Verhaltensregel nahekommt, die Finanzfunktion der Steuer also
durch eine Verwaltungsfunktion mit Verbotscharakter verdrängt wird (BVerfGE 98, 106
[118]; vgl. auch BVerfGE 135, 126 [142]).
(2) Rechtfertigungsfähigkeit für steuerliche Be- und Entlastungen
Wenn solche Förderungs- und Lenkungsziele von erkennbaren gesetzgeberischen Entscheidungen getragen werden, sind sie geeignet, rechtfertigende Gründe für steuerliche
Belastungen oder Entlastungen zu liefern.
(2a) Erforderliche Erkennbarkeit zulässiger Zwecke
Dabei genügt es, wenn die gesetzgeberischen Entscheidungen anhand der üblichen Auslegungsmethoden festgestellt werden können. Lenkungszwecke können sich etwa aus den
Gesetzesmaterialien ergeben. Möglich ist auch, den Zweck aus einer Gesamtschau der
jeweils normierten Steuervorschriften zu erschließen (BVerfGE 137, 350 [367 f.]).
(2b)
Zulässigkeitshindernis der “Widersprüchlichkeit der Rechtsordnung“
Allerdings ist die Ausübung der Steuergesetzgebung zur Lenkung in einem anderweitig
geregelten Sachbereich nur zulässig, wenn dadurch die Rechtsordnung nicht widersprüchlich wird (BVerfGE 98, 106 [119]; vgl. auch BVerfGE 98, 83 [98]).
Brunn - Kapitel C.IX.7.
Seite 257
cc) Abgrenzungen gem. Art. 105 Abs. 2 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 2 GG
Für die Steuergesetzgebungskompetenzen gelten - wie vorstehend vor aa) angedeutetdieselben Voraussetzungen der Erforderlichkeit einer bundesgesetzlichen Regelung wie
für Art. 72 Abs. 2 GG (BVerfGE 125, 141 [154 f.]; vgl. auch BVerfGE 138, 136 [176 ff.]).
(1) Erschöpfende Regelungen
Die Inanspruchnahme eines Steuergegenstandes durch den Bundesgesetzgeber bedeutet
eine erschöpfende Regelung, weswegen der Landesgesetzgeber einen Tatbestand, an den
ein Bundesgesetz bereits eine Steuer geknüpft hat, nicht mehr mit einer gleichartigen
Steuer belegen kann (BVerfGE 7, 244 [258 f.]; vgl. auch BVerfGE 16, 64 [75] dazu, dass
entscheidend ist, ob die eine Steuer dieselbe Quelle wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit
ausschöpft wie die andere).
(2) Einzelfälle
Weil dem Bund das Aufkommen der Gewerbesteuer weder ganz noch zum Teil originär
zusteht, steht bei dieser Materie dem Bund das Recht zur Gesetzgebung nur zu, wenn
die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG erfüllt sind (BVerfGE 125, 141 [153]).
Hingegen war der Stabilitätszuschlag eine Einkommensteuer, weshalb der Bundesgesetzgeber zum Erlass des Stabilitätszuschlaggesetzes befugt war (BVerfGE 36, 66 [70
f.]).
dd) Länderkompetenz für nicht gleichartige Verbrauch- und Aufwandsteuern
Ob ein Landesgesetzgeber sich mit dem Erlass eines Steuergesetzes im Rahmen der Kompetenzgrundlage aus Art. 105 Abs. 2 a Satz 1 GG hält, hängt allein vom Charakter
der geschaffenen Steuer ab. Dieser wird zwar auch durch den vom Gesetzgeber gewählten Steuermaßstab mitbestimmt. Von Einfluss auf die kompetenzielle Einordnung einer
Steuer ist der Besteuerungsmaßstab indessen nur, soweit er deren Typus prägt, nicht
hingegen im Hinblick auf seine sonstige Eignung, den Besteuerungsgegenstand in jeder
Hinsicht leistungsgerecht zu erfassen (BVerfGE 123, 1 [17]; vgl. auch BVerfGE 135, 126
[142]).
(1) Verbrauchsteuer (auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegte Warensteuer)
Eine Verbrauchsteuer ist eine Warensteuer , die den Verbrauch vertretbarer, regelmäßig
zum baldigen Verzehr oder kurzfristigen Verbrauch bestimmter Güter des ständigen
Bedarfs belastet. Als Besteuerung des Verbrauchs wird sie in der Regel bei demjenigen
Unternehmer erhoben, der das Verbrauchsgut für die allgemeine Nachfrage anbietet, ist
aber auf Überwälzung auf den Verbraucher angelegt (BVerfGE 98, 106 [123 f.]; vgl. auch
BVerfGE 110, 274 [297 f.]).
(2) Aufwandsteuer (Konsum als Indikator für eine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit
des Pflichtigen)
Eine Aufwandsteuer ist eine Steuer auf die in der Einkommensverwendung für den persönlichen Lebensbedarf zum Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (BVerfGE 16, 64 [74]; vgl. auch BVerfGE 123, 1 [15]).
Brunn - Kapitel C.IX.8.
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Ausschlaggebendes Merkmal ist der Konsum in Form eines äußerlich erkennbaren Zustandes, für den finanzielle Mittel verwendet werden. Der Aufwand im Sinne von Konsum ist
typischerweise Ausdruck und Indikator der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, ohne
dass es darauf ankäme, von wem und mit welchen Mitteln dieser finanziert wird und
welchen Zwecken er des Näheren dient (BVerfGE 65, 325 [347 f.]; vgl. auch BVerfGE 114,
316 [334] für Zweitwohnungsteuer).
(3) Gleichartigkeit
Das Gleichartigkeitsverbot des Art. 105 Abs. 2 a GG hat gegenüber dem entsprechenden traditionellen steuerrechtlichen Begriff einen engeren Sinn. Seine Voraussetzungen
sind nicht so streng wie im Bereich der konkurrierenden Gesetzgebung, weil anderenfalls
die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis der Länder für die örtlichen Verbrauch- und
Aufwandsteuern leer liefe (BVerfGE 65, 325 [350 f.]).
d) Bundesgesetze mit Zustimmungserfordernis (Art. 105 Abs. 3 GG)
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hierzu sind - soweit ersichtlich - noch nicht
ergangen.
8. Der Bundesgesetzgeber und die Verteilung des Steueraufkommens (Art.
106 GG)
Angesichts der Fülle an Kompetenzen, die Art. 106 Abs. 3 ff. GG enthält, ist es erstaunlich, dass das Bundesverfassungsgericht bislang nur wenige Entscheidungen hierzu gefällt
hat.
a) Vertikale Steuerverteilung
Art. 106 GG regelt die sog. “vertikale Steuerverteilung“, die das Verhältnis des Bundes zur
Ländergesamtheit betrifft. Art. 106 GG weist die Erträge bestimmter Steuern entweder
dem Bund (Art. 106 Abs. 1 GG) oder den Ländern (Art. 106 Abs. 2 GG) zu.
aa) Ausgestaltung als Gemeinschaftsteuern
Die vom Ertrag her bedeutendsten Steuern - Einkommensteuer, Körperschaftsteuer und
Umsatzsteuer - sind als Gemeinschaftsteuern ausgestaltet; dabei sind Bund und Länder
am Aufkommen der Einkommensteuer (auch nach Abzug des den Gemeinden zufließenden Anteil) und der Körperschaftsteuer je zur Hälfte beteiligt, während ihre Anteile an
der Umsatzsteuer variabel sind und durch Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates festgelegt werden (Art. 106 Abs. 3 GG; neuerdings wird auch das Aufkommen der
Umsatzsteuer nach Art. 106 Abs. 5a GG den Gemeinden zugewiesen).
bb) Befriedigung von Deckungsbedürfnissen
Diese variable Festlegung ist nicht beliebig, sie orientiert sich vielmehr an einer gleichmäßigen Deckung der notwendigen Ausgaben von Bund und Ländern bei der Abstimmung
der jeweiligen Deckungsbedürfnisse aufeinander im Sinne eines billigen Ausgleichs (Art.
106 Abs. 3 Satz 4 GG).
Brunn - Kapitel C.IX.8.
Seite 259
Damit erhält bereits die vertikale Steueraufteilung, bezogen auf die Ländergesamtheit,
ausgaben- und bedarfsorientierten Charakter (BVerfGE 72, 330 [383 f.]; vgl. auch BVerfGE 116, 327 [378 f.] sowie BVerfGE 125, 141 [158 ff.]).
b) Einzelne in Art. 106 Abs. 1 und Abs. 2 GG genannte Steuern (Verkehr-,
Erbschaft- und Vermögensteuer)
In der Ordnung des Grundgesetzes deckt der Staat seinen Finanzbedarf grundsätzlich
durch steuerliche Teilhabe am Erfolg privaten Wirtschaftens; er belastet durch die Besteuerung von Einkommen und Ertrag den privaten Vermögenserwerb und durch die
Besteuerung von Umsatz, Verkehrs- und Verbrauchsvorgängen die private Verwendung
von Vermögen (BVerfGE 93, 121 [134]).
aa) Verkehrsteuern
Was zunächst die in Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG und Art. 106 Abs. 2 GG genannten Verkehrsteuern anbelangt, so gehört zum “Wesen“ der Verkehrsteuern, dass sie an Akte oder
Vorgänge des Rechtsverkehrs, an einen rechtlichen oder wirtschaftlichen Akt, an die Vornahme eines Rechtsgeschäfts, einen wirtschaftlichen Vorgang oder einen Verkehrsvorgang
anknüpfen (BVerfGE 16, 64 [73]).
(1) Luftverkehrsteuer
In diesem Sinne handelt es sich bei der Luftverkehrsteuer um eine Verkehrsteuer; sie
ist eine sonstige auf motorisierte Verkehrsmittel (Schiffe, Bahnen, Flugzeuge) bezogene
Steuer i.S.d. Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG i.V.m. Art. 105 Abs. 2, 1. Alt. GG, für die der
Bund die Kompetenz hat (BVerfGE 137, 350 [361 ff.]).
(2) Grunderwerbsteuer (als “Rechtsverkehrsteuer“)
Als “Rechtsverkehrsteuer“ (BVerfGE 139, 1 [14 f.]) dürfte folglich auch die Grunderwerbsteuer, die den Ländern zusteht und seit einigen Jahren hinsichtlich des Steuersatzes von
den Ländern geregelt werden darf (BVerfGE 139, 285 [286]), eine Verkehrsteuer sein.
bb) Erbschaftsteuer
Spätestens durch die Entscheidung BVerfGE 93, 165, wonach u.a. der steuerliche Zugriff
seine Grenze dort findet, wo die Steuerpflicht den Erwerber übermäßig belastet und
die ihm zugewachsenen Vermögenswerte grundlegend beeinträchtigt (a.a.O. [Ls. 2]), ist
die Erbschaftsteuer in den verfassungsrechtlichen Blick geraten; zutreffend fordert die
ergänzende abweichende Meinung der Entscheidung BVerfGE 138, 136 (252 ff.) in diesen
Zusammenhängen - und in Fortentwicklung der abweichenden Meinung BVerfGE 93,
121 [149 ff.] zur Vermögensteuer - auch die Beachtung des Sozialstaatsprinzips bei der
Gestaltung der Erbschaftsteuer.
Schwierige Aufgaben sind dem Gesetzgeber vornehmlich durch die Entscheidung BVerfGE 138, 136 erwachsen; hiernach kann nämlich der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG
verletzt sein, wenn die gebotene gleichheitsgerechte Belastung durch eine Steuer durch
bestimmte Steuervergünstigungen in Frage gestellt wird - Leitsatz 1 -, und besteht die
Gesetzgebungskompetenz des Bundes (a.a.O. [176 ff.]), auch wenn die Erbschaftsteuer
(wohl) allein den Ländern zugutekommt (Art. 106 Abs. 2 Nr. 2 GG).
Brunn - Kapitel C.IX.8.
Seite 260
cc) Vermögensteuer
Was sodann die in Art. 106 Abs. 2 Nr. 1 GG angesprochene Vermögensteuer angeht,
so kann auch der ruhende Bestand des Vermögens Anknüpfungspunkt für eine Steuerbelastung sein, wie dies insbesondere bei der Vermögensteuer und den Realsteuern der Fall
ist.
Sie werden vom Grundgesetz bei der Regelung der Ertragshoheit (Art. 106 Abs. 2 Nr. 1
und - was Realsteuern anbelangt - Art. 106 Abs. 6 GG) in ihrer historisch gewachsenen
Bedeutung aufgenommen und als zulässige Form des Steuerzugriffs anerkannt (BVerfGE
93, 121 [134 f.]).
c) Art. 106 Abs. 3 ff. GG als erste Stufe der gesetzlichen Verteilung des
Finanzaufkommens
Auf der ersten Stufe, der Verteilung der Ertragshoheit über das Steueraufkommen zwischen Bund und Ländern, ist die variable vertikale Verteilung des Umsatzsteueraufkommens zwischen Bund und Ländergesamtheit nach Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG an verfassungsrechtlich vorgegebene Grundsätze gebunden.
Im Rahmen der laufenden Einnahmen haben Bund und Länder gleichmäßigen Anspruch
auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben .
aa) Planungsgrundlage
Der Umfang der notwendigen Ausgaben stützt sich nach Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1
Satz 2 GG auf eine Planungsgrundlage , die sicherstellt, dass Bund und Länder bei
der Ermittlung der notwendigen Ausgaben und der laufenden Einnahmen jeweils dieselben Indikatoren zugrunde legen, deren Entwicklung in finanzwirtschaftlicher Rationalität über Jahre hin beobachten, aufeinander abstimmen und fortschreiben, auf dieser
Grundlage dem Haushaltsgesetzgeber jeweils in Bund und Ländern dauerhafte Grundlagen für Planungen geben und in dem kontinuierlich fortgeschriebenen Kriterium der
Notwendigkeit gewährleisten, dass nicht eine großzügige Ausgabenpolitik sich bei der
Umsatzsteuerzuteilung refinanzieren könnte, eine sparsame Ausgabenpolitik hingegen
verminderte Umsatzsteueranteile zur Folge hätte (BVerfGE 101, 158 [220]).
bb) Einzelfragen
Während Art. 106 Abs. 3 GG mithin Einnahmen verteilt, deren Rechtsqualität fest steht,
können nicht-steuerliche Einnahmen sich nicht in steuergleiche Einnahmen verwandeln,
selbst wenn sie außergewöhnlich hohe Erträge erbringen (BVerfGE 105, 185 [194]).
Was die Einkommensteuer anbelangt, so konnten Ergänzungsabgaben bzw. Stabilitätszuschläge , welche in der Vergangenheit erhoben worden sind, Einkommensteuern sein
bzw. ihnen gleichstehen (BVerfGE 32, 333 [338] sowie BVerfGE 36, 66 [70 f.]).
d) Gewerbesteuer und Grundsteuer gem. Art. 106 Abs. 6 GG
Die 1997 erfolgte Änderung des Art. 106 Abs. 6 GG bestätigte den schon zuvor vom
Bundesverfassungsgericht vertretenen Standpunkt, dass die Gewerbesteuer als solche mit
ihrer Verankerung im Grundgesetz in ihrer Grundstruktur und herkömmlichen Ausgestaltung verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist. Eine Prüfung der gesetzlichen Ausgestaltung
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 261
der Gewerbesteuer am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG (E.III.1.) wird dadurch allerdings
nicht entbehrlich (BVerfGE 120, 1 [25 ff.]).
Entsprechendes gilt für die Erhebung der Grundsteuer (hierzu BVerfGE 10, 372 [376 ff.]
und BVerfGE 86, 148 [225]).
Was insgesamt die kommunale Finanzhoheit anbelangt, so ist sie durch Art. 106 Abs. 6
GG und sodann durch Art. 28 Abs. 2 Satz 3 GG konstitutiv verstärkt worden, weswegen
Art. 106 Abs. 6 Satz 2 GG geeignet ist, das verfassungsrechtliche Bild der Selbstverwaltung mitzubestimmen (BVerfGE 125, 141 [158 f.]).
9. Verkehrsbezogene Länderanteile (Art. 106 a GG sowie Art. 106 b GG)
Zu diesen neueren Länderanteilen liegt noch - soweit ersichtlich - keine Senatsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vor.
10. Art. 107 GG (Finanzausgleich; Ergänzungszuweisungen)
Selten sind über Bundesgesetze, die der Zustimmung des Bundesrates bedürfen, wie es
in Art. 107 GG mehrfach der Fall ist, solche erbitterten Streitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht (seit dessen Bestehen; vgl. bereits BVerfGE 1, 82 sowie BVerfGE 1,
117) geführt worden (und sie werden - wohl - auch weiterhin geführt werden) wie im
Zusammenhang des Art. 107 GG.
a) (Nicht allein durch Art. 107 GG erreichbare) Ziele und Zwecke des Art.
107 Abs. 1 GG
Hier kann es nur darum gehen, die für den Gesetzgeber zu erreichenden Ziele und Zwecke
des Art. 107 GG ins Bewusstsein zu rufen, die das Bundesverfassungsgericht aus Art. 107
GG abgeleitet hat; Einzelheiten hierzu sind zu unübersichtlich und können nur mit Hilfe
von Spezialschrifttum einer Beantwortung zugeführt werden.
aa) Art. 107 GG als einer der tragenden Pfeiler der bundesstaatlichen Ordnung
Art. 107 GG bildet - ebenso wie die übrigen finanzverfassungsrechtlichen Normen des
Grundgesetzes - einen der tragenden Pfeiler der bundesstaatlichen Ordnung.
(1) Zweck (hinreichende Finanzausstattung von Gesamtstaat und Gliedstaaten)
Insgesamt sollen diese Artikel eine Finanzordnung sicherstellen, die den Gesamtstaat und
die Gliedstaaten am Ertrag der Volkswirtschaft sachgerecht beteiligt. Nur auf der Basis
einer hinreichenden Finanzausstattung sind die Länder und ist der Bund in der Lage,
die eigene Staatlichkeit zu entfalten. Insofern ist es unabdingbar, dass die bundesstaatliche Verfassung die finanziellen Positionen des Bundes und seiner Glieder bestimmt und
absichert.
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 262
(2) Verbindliche Ordnung
Diese Ordnungsfunktion der Finanzverfassung schließt es aus, ihre Regelungen - sei es
insgesamt, sei es in Teilen - als Recht von minderer Geltungskraft anzusehen, das (etwa
bis zur Willkürgrenze) abweichenden Kompromissen und Handhabungen zugänglich ist,
sofern nur ein vertretbares Ergebnis erreicht wird. Das Grundgesetz hat auch in diesem
Bereich, der nicht das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern das Verhältnis zwischen
Bund und Ländern sowie der Länder untereinander betrifft, rechtliche Positionen,
Verfahrensregeln und Handlungsrahmen festgelegt, die Verbindlichkeit beanspruchen
(BVerfGE 72, 330 [388 f.]).
bb) Aufbau des Art. 107 GG
Art. 107 Abs. 1 GG bestimmt als Teil eines mehrstufigen Systems zur Verteilung des
Finanzaufkommens im Bundesstaat, was den einzelnen Ländern als eigene Finanzausstattung zusteht.
Art. 107 Abs. 2 GG korrigiert diese Ergebnisse dieser primären Steuerverteilung,
soweit sie auch unter Berücksichtigung der Eigenstaatlichkeit der Länder (aus dem bundesstaatlichen Gedanken der Solidargemeinschaft heraus) unangemessen sind. Ziel
dieser Verteilung ist es, Bund und Länder finanziell in die Lage zu versetzen, die ihnen verfassungsrechtlich zukommenden Aufgaben auch wahrzunehmen ; erst dadurch
kann die staatliche Selbständigkeit von Bund und Ländern real werden, können sich
Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Aufgabenwahrnehmung entfalten.
Im Hinblick auf die mit dieser Aufgabenverteilung verknüpfte Ausgabenbelastung, die in
Art. 104 a GG geregelt ist, soll im Rahmen der vorhandenen Finanzmasse Bund und
Ländern, soweit möglich, eine angemessene Finanzausstattung verschafft werden. Von
diesem Ansatzpunkt her regelt das Grundgesetz die Verteilung des Finanzaufkommens in
verschiedenen, aufeinander aufbauenden und aufeinander bezogenen Stufen, wobei jeder
Stufe bestimmte Verteilungs- und Ausgleichsziele zugeordnet sind.
Daraus ergibt sich insgesamt ein verfassungsrechtlich normiertes Gefüge des Finanzausgleichs, das zwar in sich durchaus beweglich und anpassungsfähig ist, dessen einzelne
Stufen aber nicht beliebig funktional ausgewechselt oder übersprungen werden können
(BVerfGE 72, 330 [382 ff.]; vgl. auch BVerfGE 86, 148 [213 ff.]; BVerfGE 101, 158 [214]
sowie BVerfGE 116, 327 [378]).
cc) Ergänzende Vorschriften des Verfassungsrechts, welche indessen außerhalb des
Finanzausgleichssystems bleiben müssen
Bei allem ist zu bedenken, dass außerhalb des Steuerzuweisungs- und Finanzausgleichssystems der Art. 106 GG und Art. 107 GG auch die Bundesfinanzierung von bundesmitbestimmten Länderaufgaben Ausgleichswirkungen entfaltet.
(1) Weitere Finanzierungsinstrumente
Die Mitfinanzierungen nach Art. 91 a ff. GG, die Bundesfinanzhilfen für besonders bedeutsame Investitionen der Länder und Gemeinden nach Art. 104 b GG, die anteilige
Übernahme von Ausgaben für den Vollzug von Bundesgeldleistungsgesetzen nach Art.
104 a Abs. 3 GG und der Bundesausgleich für bundesveranlasste besondere Einrichtungen
von Ländern und Gemeinden nach Art. 106 Abs. 8 GG bieten ebenfalls Bundesfinanzierungsinstrumente, die Aufgabenlasten der Länder mindern und ihnen die Wahrnehmung
ihrer Aufgaben erleichtern.
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 263
(2) Auswirkungen der Finanzleistungen
Freilich betreffen die Verteilungswirkungen dieser Bundesfinanzleistungen besondere Lasten und Bedarfe, die im Länderfinanzausgleich und bei den Bundesergänzungszuweisungen unberücksichtigt bleiben. Sie stehen daher (im Maßstab wie in der Rechtsfolge)
außerhalb dieses Verteilungssystems (BVerfGE 101, 158 [225 f.]).
b) Die für den Bundesgesetzgeber maßgeblichen Rechtsquellen und deren
Umsetzung
Das variable Steuerzuweisungs- und -ausgleichssystem stützt sich in seiner Konkretheit
wie in seiner Zeitwirkung auf drei aufeinander aufbauende Rechtserkenntnisquellen :
aa) Rechtsquellen
Das Grundgesetz gibt in der Stetigkeit des Verfassungsrechts die allgemeinen Prinzipien
für die gesetzliche Steuerzuteilung und den gesetzlichen Finanzausgleich vor; der Gesetzgeber leitet daraus langfristige , im Rahmen kontinuierlicher Planung fortzuschreibende Zuteilungs- und Ausgleichsmaßstäbe ab; in Anwendung dieses den Gesetzgeber
selbst bindenden Maßstab gebenden Gesetzes (Maßstäbegesetz) entwickelt das Finanzausgleichsgesetz sodann kurzfristige, auf periodische Überprüfung angelegte Zuteilungsund Ausgleichsfolgen (BVerfGE 101, 158 [216 f.]; dort [218] auch dazu, dass das Maßstab
gebende Gesetz in zeitlichem Abstand vor seiner konkreten Anwendung im Finanzausgleichsgesetz beschlossen und sodann in Kontinuitätsverpflichtungen gebunden werden
muss, die seine Maßstäbe gegen aktuelle Finanzierungsinteressen, Besitzstände und Privilegien abschirmen).
bb) Die vier Stufen der Verteilung des Finanzaufkommens
Wie bereits angedeutet, steht der mehrfach geänderte Art. 107 GG in einem engen Zusammenhang mit Art. 106 GG.
(1) Erste Stufe (Umsatzsteuerverteilung)
Sie ist erst vollziehbar, nachdem der Gesetzgeber die verfassungsrechtlich vorgegebenen
Grundsätze des Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nrn. 1 und 2 GG inhaltlich verdeutlicht und insbesondere den Tatbestand der “laufenden Einnahmen“ und der “notwendigen Ausgaben“
so bestimmt und berechenbar geformt hat, dass daraus Verteilungsschlüssel abgeleitet
werden können.
(2) Zweite Stufe (Unterdurchschnittlichkeit der Einnahmen; Art. 107 Abs. 1 Satz 4,
Hs. 2 GG)
Auf der zweiten Stufe ist der Gesetzgeber ermächtigt, die Unterdurchschnittlichkeit der
Einnahmen berechenbar zu definieren und das Gesamtvolumen der Ergänzungsanteile
näher zu bestimmen.
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 264
(3) Dritte Stufe (horizontaler Finanzausgleich)
Die dritte Stufe verlangt vom Gesetzgeber ebenfalls zunächst eine Maßstabgebung ,
aus der dann die konkreten Ansprüche und Verbindlichkeiten abgeleitet werden können. Nach Art. 107 Abs. 2 Satz 2 GG genügt es nicht, dass das Finanzausgleichsgesetz
die Ausgleichsansprüche und die Ausgleichsverbindlichkeiten regelt, vielmehr sind die
“Voraussetzungen“ für Ausgleichsansprüche und Ausgleichsverbindlichkeiten sowie die
“Maßstäbe“ für die Höhe der Ausgleichsleistungen im Gesetz zu bestimmen (BVerfGE
101, 158 [215 f.]; vgl. auch BVerfGE 72, 330 [395 ff.] dazu, dass Art. 107 Abs. 2 GG den
horizontalen Finanzausgleich und die Bundesergänzungszuweisungen dem freien Aushandeln der Beteiligten entzieht, sie gewissen normativen Vorgaben unterstellt und sie in die
Verantwortung des Bundesgesetzgebers gibt).
(4) Vierte Stufe (Sonderlasten)
Auf der vierten Stufe schließlich wird der Gesetzgeber ermächtigt, für benannte und begründete Sonderlasten Ergänzungszuweisungen vorzusehen (BVerfGE 101, 158 [216 f.];
dort [235 f.] auch dazu, dass im Ergebnis dem Gesetzgebungsauftrag der Art. 107 Abs.
3 GG und Art. 107 Abs. 2 GG nur ein Gesetz genügt, das sich nicht auf die Regelung von Verteilungs- und Ausgleichsfolgen beschränkt, sondern vielmehr Zuteilungsund Ausgleichsmaßstäbe benennt, die den rechtfertigenden Grund für diese Verfassungskonkretisierung und Verfassungsergänzung erkennen lassen; vgl. allgemein zu Begründungsverpflichtungen des Gesetzgebers A.II.3.d) (vgl. S. 28) ).
(5) Schlusskorrektur?
Dem Gesetzgeber ist es zwar von Verfassungs wegen nicht von vornherein verwehrt, das
Ergebnis des von ihm festgelegten Verfahrens, das auf einen angemessenen Ausgleich zielt
und diesen an sich zu bewirken in der Lage ist, aus besonderen Gründen noch einmal
zu korrigieren.
Doch verletzt eine solche Korrektur dann das verfassungsrechtliche Willkürverbot ,
wenn der Gesetzgeber selbst gesetzte Maßstäbe für die - stufenweise - Bewirkung des
angemessenen Ausgleichs ohne irgendwie einleuchtenden Grund wieder verlässt und dies
Ergebnisse hervorruft, die zu den selbstgesetzten Maßstäben und Ausgleichsschritten im
Widerspruch stehen (BVerfGE 86, 148 [251 ff.]; vgl. auch BVerfGE 101, 158 [231 ff.]; dort
[215 und 219] auch allgemein zu gesetzgeberischen Konkretisierungs- und Ergänzungspflichten).
cc) Einzelfragen auf den einzelnen Stufen
Die Fülle an zu beachtenden allgemeinen Maßstäben bedingt eine noch größere Fülle an
Schwierigkeiten im Einzelnen.
(1) Erste Stufe (Umsatzsteuerverteilung)
Insoweit darf auf die vorstehenden Darlegungen zu Art. 106 GG verwiesen werden.
(2) Zweite Stufe (Unterdurchschnittlichkeit der Einnahmen)
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 265
Entschließt der Gesetzgeber sich dazu, von der Ermächtigung des Art. 107 Abs. 1 Satz 4
GG Gebrauch zu machen und für einen Teil des Länderanteils am Aufkommen der Umsatzsteuer Ergänzungsanteile für steuerschwächere Länder vorzusehen, steht erst nach der
Zuteilung dieser Ergänzungsanteile die eigene Finanzausstattung der einzelnen Länder
fest (BVerfGE 72, 330 [385]; vgl. auch BVerfGE 116, 327 [379]).
(2a) Kriterium der Einwohnerzahl
Da der horizontale Finanzausgleich nach Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG in erster Linie ein
Ausgleich des Finanzaufkommens ist und dazu dient, den Ländern staatliche Selbständigkeit durch eine aufgabengerechte Finanzausstattung zu ermöglichen, was verlangt, die
absoluten Erträge der Länder im Hinblick auf das Verteilungsziel des Länderfinanzausgleichs angemessen vergleichbar zu machen, wodurch erst die Erträge als Indikatoren für
die Finanzkraft der Länder im Hinblick auf die Erfüllung der ihnen verfassungsrechtlich
zugewiesenen Aufgaben dienen, ist das geeignete und grundsätzlich angemessene Kriterium hierfür die Einwohnerzahl. Sie ist der gegebene Bezugspunkt, wenn es um den
Vergleichsmaßstab für die Fähigkeit der Länder geht, ihre Aufgaben zu erfüllen.
(2b) “Strukturelle Eigenart“ von Ländern
Nur wo die Angemessenheit dieses Kriteriums aus unverfügbar vorgegebener struktureller
Eigenart von Ländern, wie sie den Stadtstaaten eigentümlich ist, von vornherein entfällt,
ist es gerechtfertigt, die tatsächliche Einwohnerzahl als Bezugspunkt für die Vergleichbarmachung des Finanzaufkommens zu modifizieren (BVerfGE 86, 148 [238 f.]; vgl. auch
BVerfGE 101, 158 [229]; dort [230 f.] auch dazu, dass die Einbeziehung der neuen Länder
in den Länderfinanzausgleich es erforderlich macht, die Finanzkraft der Stadtstaaten der
Finanzkraft dünn besiedelter Flächenstaaten gegenüberzustellen und zu prüfen, ob eine
Ballung der Bevölkerung in einem Land oder eine unterdurchschnittliche Bevölkerungszahl einen abstrakten Mehrbedarf pro Einwohner rechtfertigen kann).
(3) Dritte Stufe (Horizontaler Finanzausgleich)
Der Finanzausgleich zwischen den Ländern (Art. 107 Abs. 2 GG) ist kein Mittel, das
Ergebnis der in Art. 107 Abs. 1 GG geregelten primären Steuerverteilung durch ein
neues System zu ersetzen, das etwa allein vom Gedanken der finanziellen Gleichheit der
Länder geprägt wird, ihre Eigenstaatlichkeit und Eigenverantwortung jedoch nicht mehr
berücksichtigt. Seine Zielrichtung ist vielmehr, solche Unterschiede in der Finanzkraft
der Länder, die durch die primäre Verteilung des Steueraufkommens nicht aufgehoben,
sondern möglicherweise erst offenbar werden, aber gleichwohl im Hinblick auf die bundesstaatliche Solidargemeinschaft als unangemessen gelten müssen, in gewissem Umfang
- wenn auch nicht voll - auszugleichen (BVerfGE 86, 148 [214 f.]; vgl. auch BVerfGE 101,
158 [222] sowie BVerfGE 116, 327 [380]).
(3a) “Reihenfolge“ der Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder
Ausgleichsverpflichtungen dürfen insbesondere nicht dazu führen, dass die Reihenfolge der Finanzkraft der ausgleichspflichtigen Länder verändert wird (a.a.O. [250]
bzw. [222] bzw. [380]), was wohl auch bedingt, dass die Reihenfolge der Finanzkraft der
ausgleichsberechtigten Länder im Grundsatz nicht verändert werden darf.
Brunn - Kapitel C.IX.10.
Seite 266
(3b) “Finanzkraft“
Dabei ist der Begriff der Finanzkraft in Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG umfassend zu
verstehen; er darf nicht allein auf die Steuerkraft reduziert werden (BVerfGE 72, 330 [397
ff.]; dort [402 ff.] sowie in BVerfGE 101, 158 [225] auch zu den Sonderbelastungen aus
der Unterhaltung und Erneuerung von Seehäfen und den denkbaren Folgen).
(3c) Finanzkraft von Gemeinden
Was insbesondere das Gebot des Art. 107 Abs. 2 Satz 1, Hs. 2 GG betrifft, Finanzkraft
und Finanzbedarf der Gemeinden (Gemeindeverbände) zu berücksichtigen, so ist dieses
dem Ziel eines angemessenen Ausgleichs der unterschiedlichen Finanzkraft der Länder zuund untergeordnet; es verpflichtet den Gesetzgeber, die Finanzkraft der Gemeinden einzubeziehen , soweit dem nicht spezifische Gründe aus den Verhältnissen der Gemeinden
entgegenstehen (BVerfGE 86, 148 [216 ff.]; vgl. auch BVerfGE 101, 158 [230]).
(4) Vierte Stufe (Bundesergänzungszuweisungen)
Bundesergänzungszuweisungen sind als Ergänzung , nicht als Ersatz oder Fortsetzung
des horizontalen Finanzausgleichs angelegt (BVerfGE 116, 327 [381]). Sie sollen ergänzende Korrekturen ermöglichen, wenn die Steuerverteilung innerhalb der Ländergesamtheit
und auch der angemessene Ausgleich unter den Ländern zu einer Finanzausstattung führen, die nach dem bundesstaatlichen Prinzip solidarischen Einstehens füreinander noch
als änderungsbedürftig erscheint (BVerfGE 101, 158 [232 f.]; vgl. auch BVerfGE 116,
327 [377 ff.] “abschließender Bestandteil des mehrstufigen Systems zur Verteilung des
Finanzaufkommens im Bundesstaat“).
(4a) Freiheiten für den Gesetzgeber (zulässige Varianten)
Bei der nach diesem Maßstab erfolgenden Verteilung der Bundesergänzungszuweisungen
steht es dem Bundesgesetzgeber frei, entweder die Finanzkraft der leistungsschwachen
Länder allgemein anzuheben oder Sonderlasten von Ländern zu berücksichtigen oder
beides miteinander zu verbinden (BVerfGE 72, 330 [403 f.]; vgl. auch BVerfGE 101, 158
[234] sowie BVerfGE 116, 327 [381]; dort [381 f.] auch dazu, ob Sonderlasten einzelner
Länder auch dann berücksichtigt werden dürfen, wenn deren Finanzkraft nach Durchführung des Länderfinanzausgleichs den Länderdurchschnitt erreicht oder überschritten
hat; “Begründungspflicht“).
(4b) “Leistungsschwäche“
Die in Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG vorausgesetzte Leistungsschwäche ist die mangelnde
Fähigkeit eines Landes, mit den nach dem horizontalen Finanzausgleich zugewiesenen
Mitteln die von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben wahrzunehmen. Gründe für eine
Leistungsschwäche können eine unterdurchschnittliche Finanzkraft nach Durchführung
des horizontalen Finanzausgleichs oder Sonderbedarfe bzw. Sonderlasten sein (BVerfGE
116, 327 [384]).
Alle diese Gründe für eine Leistungsschwäche müssen vom Gesetzgeber benannt und
begründet werden (BVerfGE 122, 1 [38]; dort auch zum föderativen Gleichbehandlungsgebot; “Länder als es staatliche Gebietskörperschaften grundsätzlich gleichen Ranges“).
Brunn - Kapitel C.IX.11.
Seite 267
(4c) Einzelfragen
Im Einzelnen hat sich das Bundesverfassungsgericht u.a. mit den Fragen befasst,
• ob der Gesetzgeber Bundesergänzungszuweisungen zum Ausgleich hoher Kosten der
politischen Führung gewähren darf (BVerfGE 101, 158 [235]),
• ob eine Haushaltsnotlage zum entscheidenden Tatbestand einer Leistungsschwäche
werden darf (BVerfGE 116, 327 [383 ff.]),
• ob maßgeblich berücksichtigt werden darf, ob das betreffende Land die eigenen
Handlungsmöglichkeiten ausgeschöpft hat (a.a.O. [390]),
• ob und wie darauf zu reagieren ist, dass in mehreren Ländern solche Haushaltsnotlagen aufgetreten sind (a.a.O. [388]), und schließlich,
• ob (zunächst) das Land einer Darlegungs- und Begründungslast insoweit unterliegt,
als es die Ausschöpfung aller eigenen Potentiale in überzeugungskräftiger, auch in
tatsächlicher Hinsicht belegter Weise zu begründen hat, und welche Folgen es hat,
wenn diesen Anforderungen genügt worden ist (a.a.O. [390 f.]).
11. Finanzverwaltung (Art. 108 GG)
Art. 108 Abs. 1 bis 5 und Abs. 7 GG regelt die verfassungsrechtliche Verteilung der
Steuerverwaltungshoheit auf Bund und Länder in Ergänzung des VIII. Abschnitts des
Grundgesetzes als lex specialis gegenüber den Art. 83 ff. GG (BVerfGE 106, 1 [20]).
a) Verhältnis der einzelnen Absätze des Art. 108 GG zu den Art. 83 ff. GG
Was speziell Art. 108 Abs. 1 Satz 2 GG betrifft, so begründet er Gesetzgebungskompetenzen des Bundes im Verhältnis zu den Ländern und enthält einen speziellen organisatorischen Gesetzesvorbehalt im Verhältnis des Parlaments zur Regierung, indem er die
allgemeine Organisationsgewalt der Bundesregierung gem. Art. 86 Satz 2 GG beschränkt.
Ähnliches gilt für Art. 108 Abs. 2 Satz 2 GG, der für den Bereich des Aufbaus der
Länderfinanzbehörden einen auch spezifisch bundesstaatlich geprägten Gesetzesvorbehalt
enthält, wie er auch außerhalb der Finanzverwaltung nach den allgemeinen Regeln der
Art. 84 Abs. 1 GG und Art. 85 Abs. 1 GG gilt (a.a.O. [22]).
Die genannten Absätze sowie Abs. 4 Satz 1 begründen keinen Parlamentsvorbehalt im
Sinne eines generellen oder grundsätzlichen Verbots der Rechtsetzungsdelegation auf der
Grundlage des - vgl. hierzu C.III.1. - Art. 80 Abs. 1 GG (a.a.O.). Für ein Delegationsverbot liefern die genannten Vorschriften keine hinreichenden Anhaltspunkte (a.a.O.
[23]).
b) Oberfinanzdirektionen
Die einfachgesetzliche Ausformung der engen personellen und organisatorischen Verflechtung von Bundes- und Länderfinanzverwaltungen zum einen in Gestalt des “janusköpfigen“ Oberfinanzpräsidenten , der sowohl Bundesbeamter als auch Landesbeamter ist,
und zum anderen durch die Funktion der Oberfinanzdirektion als gemeinsame Mittelbehörde der Bundes- und Landesfinanzverwaltung kann als einfachgesetzliche Ausprägung
Brunn - Kapitel C.IX.13.
Seite 268
der in Art. 108 Abs. 4 Satz 1 GG verankerten Kooperationsermächtigung angesehen werden, wonach ein Zusammenwirken von Bundes- und Landesfinanzbehörden vorgesehen
werden kann, wenn und soweit dadurch der Vollzug der Steuergesetze erheblich verbessert
oder erleichtert wird. Die Oberfinanzdirektion soll nämlich aufgrund ihrer Doppelfunktion der Einheitlichkeit des Gesetzesvollzugs und damit einer gleichmäßigen Besteuerung
dienen und zugleich die Verwaltungseffizienz fördern (a.a.O. [20 f.]), woraus aber keine verfassungsrechtliche Verpflichtung folgt, diese besondere Form beizubehalten (a.a.O.
[22]).
12. Art. 109 GG (Haushaltswirtschaft)
Art. 109 GG ist in den letzten Jahren und Jahrzehnten erheblich umgestaltet worden.
Weil Art. 109 GG in der Praxis offenbar gut gehandhabt wird, war Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts hierzu selten; in den letzten Jahren sind die Entscheidungen
BVerfGE 127, 165 (190 ff.) sowie BVerfGE 129, 170 (182)) hervorzuheben, die indessen
für das Bundesgesetz, welches in Art. 109 Abs. 4 GG vorgesehen ist (und auch für das
Bundesgesetz des Art. 109 Abs. 5 GG), nicht ergiebig sind.
a) “Schuldenbremse“
Neuerdings ist in der Entscheidung BVerfGE 139, 64 (125, 139 f.; dort [125 f., 139] auch
zu Art. 143 d GG) Maßgebliches zu Art. 109 Abs. 3 GG (“Schuldenbremse“) verlautbart
worden, wobei es im Schwerpunkt um die Alimentation der Beamten und Richter ging
(im Einzelnen nachfolgend D.VII.2. und D.VII.3.).
b) Verantwortung des Haushaltsgesetzgebers für das “gesamtwirtschaftliche
Gleichgewicht“
Von den älteren Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist die Entscheidung
BVerfGE 79, 311 maßstabsbildend: Infolge der Einfügung des Art. 109 Abs. 2 GG in
das Grundgesetz haben die öffentlichen Haushalte von Verfassungs wegen nicht mehr
nur eine Bedarfsdeckungsfunktion .
aa) Verantwortung für die Auswirkungen des Haushalts
Dem Haushaltsgesetzgeber ist zugleich eine Verantwortung für die Auswirkungen des
Haushalts auf die Gesamtwirtschaft auferlegt worden; er hat in und bei seinen Bedarfsdeckungsentscheidungen den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts
Rechnung zu tragen (a.a.O. [329 ff.]; dort [330 f.] auch dazu, dass wegen der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung eine Kreditaufnahme des Bundes Art. 115 Abs. 1 Satz 2 GG in
einem engen Sachzusammenhang mit Art. 109 Abs. 2 GG steht).
bb) “Gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht“ als unbestimmter Verfassungsbegriff
Was den Begriff des “gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts“ angeht, so liegt hier ein
unbestimmter Verfassungsbegriff vor, der einen in die Zeit hinein offenen Vorbehalt für
die Aufnahme neuer, gesicherter Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaften als zuständiger Fachdisziplin enthält (a.a.O. [338 f.]; dort [343 ff.] auch zum Einschätzungs- und
Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers sowie zu seinen Darlegungsverpflichtungen).
Brunn - Kapitel C.IX.14.
Seite 269
13. Art. 109 a GG (Haushaltsnotlagen)
Zum neuen - seit dem Jahre 2009 geltenden - Art. 109 a GG liegt - soweit ersichtlich noch keine Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vor, die für das Bundesgesetz,
welches in Art. 109 a Abs. 1 GG vorgesehen ist, von größerer Bedeutung wäre.
14. Art. 110 (Haushaltsplan)
Das Budgetrecht stellt ein zentrales Element der demokratischen Willensbildung dar; die
Hoheit über den Haushalt ist der Ort konzeptioneller politischer Entscheidungen über den
Zusammenhang von wirtschaftlichen Belastungen und staatlich gewährten Vergünstigungen. Deshalb wird die parlamentarische Aussprache über den Haushalt - einschließlich
des Maßes der Verschuldung - als politische Generaldebatte verstanden (BVerfGE 129,
124 [177 f.]; vgl. auch BVerfGE 130, 318 [343 f.] sowie BVerfGE 135, 155 [416]).
[1] Zum einen dient das Budgetrecht als Instrument umfassender parlamentarischer Regierungskontrolle . Zum anderen aktualisiert der Haushaltsplan den tragenden Grundsatz
der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten als eine wesentliche
Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie (BVerfGE 129, 124 [177]; vgl. auch BVerfGE
131, 152 [204 f.]).
Die notwendige Bedingung für die Sicherung politischer Freiräume im Sinne des Identitätskerns der Verfassung (Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, Art. 79 Abs. 3 GG) besteht
darin, dass der Haushaltsgesetzgeber seine Entscheidungen über Einnahmen und Ausgaben frei von Fremdbestimmung seitens (u.a.) der Organe und anderer Mitgliedstaaten
der EU trifft und dauerhaft “Herr seiner Entschlüsse“ bleibt (BVerfGE 129, 124 [179 f.]
sowie BVerfGE 135, 317 [401]).
[2] Die Absätze 1 und 2 des Art. 110 GG bilden die Grundlage der für das parlamentarische Budgetrecht - nachfolgend a) - wesentlichen verfassungsrechtlichen Haushaltsgrundsätze - nachfolgend b) - der Vollständigkeit und Wahrheit, der Ausgeglichenheit
und der Vorherigkeit des Haushaltsgesetzes - nachfolgend c) - in Verbindung mit dem
Haushaltsplan (BVerfGE 119, 96 [118]).
Um die Vollständigkeit des Haushaltsplans zu gewährleisten, kann eine verfassungsrechtliche Pflicht bestehen, nach Maßgabe des Art. 110 Abs. 3 GG eine Änderungsvorlage
zum Haushaltsplan ( Nachtragshaushalt ) einzubringen (BVerfGE 135, 317 [416]).
a) Die besondere Bedeutung des Gesetzgebers
Die Kompetenz zur Feststellung des Haushaltsplanes liegt nach Art. 110 Abs. 2 GG ausschließlich beim Gesetzgeber; dessen herausragende Stellung findet darin Ausdruck, dass
Bundestag und Bundesrat berechtigt und verpflichtet sind, nach Art. 114 GG (nachfolgend 16.) den Haushaltsvollzug der Bundesregierung zu kontrollieren (grundlegend:
BVerfGE 45, 1 [32]; vgl. auch BVerfGE 92, 130 [137] “Vorrang des Haushaltsgesetzgebers
gegenüber der Exekutive“; BVerfGE 129, 124 [178] sowie BVerfGE 130, 318 [343]).
aa) Herausragende Stellung des Bundestages
Dem Bundestag kommt im Verhältnis zu den anderen an der Feststellung des Haushaltsplans beteiligten Verfassungsorganen eine überragende verfassungsrechtliche Stellung zu. Er trifft mit der Entscheidung über den Haushaltsplan, der ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleidender Hoheitsakt in Gesetzesform ist, eine wirtschaftliche
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Grundsatzentscheidung für zentrale Bereiche der Politik während des Planungszeitraums
(BVerfGE 70, 324 [355]; vgl. auch BVerfGE 130, 318 [342]).
Insbesondere ist es Sache des Gesetzgebers, abzuwägen, ob und in welchem Umfang
zur Erhaltung demokratischer Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume auch für die
Zukunft Bindungen in Bezug auf das Ausgabenverhalten geboten und deshalb - spielgelbildlich - eine Verringerung der Spielräume in der Gegenwart hinzunehmen ist (BVerfGE
135, 317 [404 f.] “Vermeidung irreversibler rechtlicher Präjudizierungen künftiger Generationen“).
bb) Wahrnehmung durch das Plenum
Budgetrecht und haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Deutschen Bundestages
werden grundsätzlich durch Verhandlung und Beschlussfassung im Plenum wahrgenommen, durch den Beschluss über das Haushaltsgesetz, durch finanzwirksame Gesetze oder
durch einen sonstigen, konstitutiven Beschluss des Plenums (BVerfGE 130, 318 [347]; vgl.
auch BVerfGE 135, 317 [427 f.]).
cc) Missgriff des Gesetzgebers durch “Griff in die Kasse der Sozialversicherung“
Der Gesetzgeber darf sich seiner Regelungskompetenz für die Sozialversicherung nicht
bedienen, um dadurch Mittel für die Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben aufzubringen. Die Finanzmasse der Sozialversicherung ist tatsächlich und rechtlich von den
allgemeinen Staatsfinanzen getrennt ; ein Einsatz der Sozialversicherungsbeiträge zur
Befriedigung des allgemeinen Finanzbedarfs des Staates ist ausgeschlossen (BVerfGE 75,
108 [148]).
Dagegen dürfte in der Vergangenheit immer einmal wieder verstoßen worden sein.
b) Die vier Haushaltsgrundsätze im Einzelnen
In den Jahren 1967 und 1969 (“Große Koalition“) sind erhebliche Veränderungen der
Art. 109 GG und Art. 110 GG vorgenommen worden.
aa) Grundsatz der Vollständigkeit
Der Verfassungsgrundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplans hat seinen Sinn nicht
nur in der finanzwirtschaftlichen Funktion des Haushaltsplans selbst und in dem Umstand, dass das Haushaltsbewilligungsrecht eines der wesentlichsten Instrumente der parlamentarischen Regierungskontrolle ist; er aktualisiert auch den fundamentalen Grundsatz der Gleichheit der Bürger bei der Auferlegung öffentlicher Lasten und ist damit eine
wesentliche Ausprägung rechtsstaatlicher Demokratie (BVerfGE 55, 274 [302 f.]).
(1) Zweck (vollständiger Überblick über Finanzvolumen und Aufgabenlast)
Er zielt darauf ab, das gesamte staatliche Finanzvolumen der Budgetplanung und
-entscheidung von Parlament und Regierung zu unterstellen. Nur dadurch ist gewährleistet, dass das Parlament in regelmäßigen Abständen den vollen Überblick über das dem
Staat verfügbare Finanzvolumen und damit auch über die dem Bürger auferlegte Abgabenlast erhält, soweit sie der Verantwortung des Parlaments unterliegen. Nur so können
Brunn - Kapitel C.IX.14.
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Einnahmen und Ausgaben vollständig den dafür vorgesehenen Planungs-, Kontroll- und
Rechenschaftsverfahren unterworfen werden.
Demgemäß ist der Grundsatz der Vollständigkeit des Haushaltsplanes berührt, wenn der
Gesetzgeber Einnahmen- und Ausgabenkreisläufe außerhalb des Budgets organisiert
(BVerfGE 82, 159 [179]; vgl. auch BVerfGE 113, 128 [147] sowie BVerfGE 119, 96 [118]).
(2) Nachtragshaushalt
Erweisen sich die vorhandenen Haushaltsansätze als zu gering oder ergeben sich sachliche Bedürfnisse, die das Haushaltsgesetz nicht berücksichtigt hat, kann im Interesse der
Vollständigkeit eine verfassungsrechtliche Pflicht bestehen, nach Maßgabe von Art. 110
Abs. 3 GG einen Nachtragshaushalt einzubringen (BVerfGE 135, 317 [416]).
bb) Grundsatz der Haushaltswahrheit
Aus dem Verfassungsgebot der Haushaltswahrheit folgt die Pflicht zur Schätzgenauigkeit
mit dem Ziel, die Wirksamkeit der Budgetfunktionen im parlamentarischen Regierungssystem zu gewährleisten. Die für die Einnahmen- und Ausgabenschätzungen erforderlichen
Prognosen (allgemein A.II.3.a) (vgl. S. 21) ) müssen aus der Sicht ex ante sachgerecht
und vertretbar ausfallen:
(1) Prognosen und Prognosegrundlagen
Wie andere Prognosen sind auch die vielfach erforderlichen Einnahmen- und Ausgabenschätzungen nicht schon dann als Verstoß gegen das Wahrheitsgebot zu bewerten, wenn
sie sich im Nachhinein als falsch erweisen. Was als - im vorstehenden Verständnis - sachgerecht und vertretbar zu gelten hat, kann nur aufgrund einer Gesamtbewertung der
konkreten Entscheidungssituation unter Berücksichtigung des betroffenen Sach- und Regelungsbereichs, der Bedeutung der zu treffenden Entscheidung und deren Folgen sowie
der verfügbaren Tatsachengrundlagen für die Prognose bestimmt werden (BVerfGE 119,
96 [129 f.]; vgl. auch BVerfGE 135, 317 [416 f.]).
(2) Pflichtverletzungen
Welche Verhaltensanforderungen an die beteiligten Verfassungsorgane im Einzelnen aus
dieser Pflicht der Haushaltswahrheit folgen, lässt sich kaum generell und abstrakt bestimmen. Jedenfalls ist die Pflicht verletzt durch bewusst falsche Etatansätze, aber auch
durch “gegriffene“ Ansätze, die trotz nahe liegender Möglichkeiten besserer Informationsgewinnung ein angemessenes Bemühen um realitätsnahe Prognosen zu erwartender
Einnahmen oder Ausgaben vermissen lassen (BVerfGE 119, 96 [130] sowie BVerfGE 135,
317 [416 f.]).
cc) Verfassungsgebot der Ausgeglichenheit
Das Gebot des Ausgleichs von Einnahmen und Ausgaben beschränkt sich auf eine
formale , rechnerische Regel und dient so lediglich einer sinnvollen Darstellung des
vollständigen Haushalts.
Unter Einnahmen sind danach auch Einnahmen aus Krediten zu verstehen, so dass auch
ein Haushalt mit einem erheblichen Anteil an Einnahmen aus Krediten im Sinne des
Art. 110 Abs. 1 Satz 2 GG ausgeglichen sein kann und sein muss (BVerfGE 119, 96 [119];
vgl. indessen auch BVerfGE 119, 96 [155, 158] abweichende Meinung).
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dd) Verfassungsgebot der Vorherigkeit
Das Gebot der Vorherigkeit zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in
zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das
gesamte Haushaltsjahr gewährleisten.
(1) Verpflichtungen vor und nach Ablauf der Pflicht
Alle am Gesetzgebungsverfahren mitwirkenden Verfassungsorgane sind verpflichtet,
an der Erfüllung des Vorherigkeitsgebots mitzuwirken, also auch die Regierung, der die
ausschließliche haushaltsgesetzliche Initiativkompetenz zukommt. Diese Kompetenz umfasst (das Recht und) die Pflicht zur rechtzeitigen Einbringung.
Diese Pflichten aller Verfassungsorgane bestehen auch nach Fristablauf fort mit dem Ziel,
das noch fehlende Haushaltsgesetz so zügig wie möglich zu verabschieden, um mit dessen
rückwirkender Inkraftsetzung die Rechte des Parlaments wieder herzustellen (BVerfGE
119, 96 [120 f.]; dort auch zu Folgen einer Pflichtverletzung: sie lässt die Wirksamkeit des
Haushaltsgesetzes unberührt).
(2) Gebot der Vorherigkeit und Nachtragshaushalt
Im Hinblick auf den Schutzzweck des Vorherigkeitsgebots ist dessen entsprechende Anwendung auf die Einbringung eines Nachtragshaushalts nicht angezeigt, obgleich im Gegensatz zu den eindeutig bestimmten Anforderungen an das Vorherigkeitsgebot hinsichtlich des Haushaltsgesetzes gem. Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG die Voraussetzungen einer
verfassungswidrigen Verspätung eines Nachtragshaushalts in keiner Weise normativ klar
und bestimmt sind (BVerfGE 119, 96 [122 f.]).
(3) Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zwischen Verfassungsorganen
In jedem Falle gelten hier die allgemeinen Grundsätze zu den Anforderungen an die gebotene gegenseitige Rücksichtnahme zwischen Verfassungsorganen , und die Maßstäbe
können nicht wesentlich anders ausfallen als diejenigen Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht auch sonst - also unter dem allgemeinen Aspekt der Organtreue und unter
dem spezielleren des bundesfreundlichen Verhaltens im Verhältnis zwischen dem Bund
und den Ländern - an die gebotene gegenseitige Rücksichtnahme im Verhältnis zwischen
Verfassungsorganen anlegt.
Nach diesen Grundsätzen dürfen Kompetenzen weder missbräuchlich noch im Widerspruch zu prozeduralen Anforderungen zu Lasten eines anderen Verfassungsorgans ausgeübt werden (a.a.O. [124 ff.]).
c) Haushaltsgesetz und Haushaltsplan
Haushaltsgesetz und Haushaltsplan bilden eine Einheit (BVerfGE 20, 56 [91]).
aa) Haushaltsgesetz (Art. 110 Abs. 2 GG)
Es stellt nicht lediglich ein im Haushaltsplan enthaltenes Zahlenwerk fest, sondern enthält
zugleich die Bewilligung der im Haushaltsplan ausgeworfenen Mittel, also die Ermächtigung an die Regierung, diese Mittel für die in den Titeln des Haushaltsplans festgelegten
Brunn - Kapitel C.IX.14.
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Zwecke auszugeben (BVerfGE 20, 56 [90 ff.]; dort [89 f.] auch dazu, dass Haushaltsgesetze im Normenkontrollverfahren auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz geprüft
werden können).
Der einzelne Bürger kann aus dem Haushaltsgesetz regelmäßig keine unmittelbaren
Ansprüche auf Gewährung einer Leistung herleiten (BVerfGE 38, 121 [125 f.]).
bb) Haushaltsplan (Art. 110 Abs. 1 und Abs. 2 GG)
Der Haushaltsplan, der durch das Haushaltsgesetz festgestellt wird, ist ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt in Gesetzesform. Er ist als “staatliches
Gesamtprogramm für die staatliche Wirtschaftsführung und damit zugleich für die Politik des Landes während der Etatperiode“ zu charakterisieren. Denn diese Umschreibung
erfasst zutreffend die Eigenart des Haushaltsplans, welcher - zeitlich begrenzt und
ausgabenbezogen - ein Regierungsprogramm in Gesetzesform enthält und die Regierungspolitik in Zahlen widerspiegelt (BVerfGE 79, 311 [328 f.]; vgl. auch BVerfGE 129,
124 [178] sowie BVerfGE 130, 318 [343]).
(1) Grundsatz der Budgetöffentlichkeit und Ausnahmen
Es gilt der Grundsatz der Budgetöffentlichkeit als Verfassungsgrundsatz ; er folgt aus
dem allgemeinen Öffentlichkeitsprinzip der Demokratie (BVerfGE 70, 324 [358]; dort allerdings auch zu Ausnahmen wegen Geheimhaltungsbedürftigkeit; demgegenüber BVerfGE 70, 324 [380 ff.] abweichende Meinung; vgl. auch BVerfGE 131, 152 [206]).
Auch wenn von einer Publizierung der gesetzlich festgestellten Einzelpläne im Bundesgesetzblatt abgesehen werden kann, sind die gesamten Einzelpläne in die Kraft des
Gesetzes einzubeziehen (BVerfGE 20, 56 [93]).
(2) Nicht erfasste Einnahmen und Ausgaben (vom Bund “beherrschte“ juristische
Personen und privatrechtlich organisierte Gesellschaften)
Einnahmen und Ausgaben des Bundes sind lediglich solche der Gebietskörperschaft
Bund. Nicht erfasst sind die Einnahmen und Ausgaben von bundesunmittelbaren juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder von privatrechtlich organisierten Gesellschaften, die im Eigentum des Bundes stehen oder an denen der Bund beteiligt ist.
Zwar lässt der Wortlaut des Art. 110 Abs. 1 GG eine Auslegung zu, nach der zum Bund
im Sinne dieser Vorschrift alle Verwaltungseinheiten der unmittelbaren und mittelbaren
Bundesverwaltung zu rechnen wären, unabhängig von ihrer Rechtsform. Verfassungstradition und Entstehungsgeschichte des Art. 110 Abs. 1 GG haben aber das Bundesverfassungsgericht dazu bewogen, den Begriff des Bundes hier eng auszulegen (BVerfGE 129,
356 [366]).
d) Ablauf des Verfahrens und Rechte sowie Pflichten von Beteiligten
Allein die durch Art. 111 Abs. 1 GG bestimmte enge Begrenzung des Spielraumes der
Bundesregierung während des etatlosen Zustandes zeigt die verfassungsrechtlichen Verpflichtungen aller beteiligten Verfassungsorgane auf - wie bereits erwähnt (b)dd)) -, daran
mitzuwirken, dass der Haushaltsplan regelmäßig vor Ablauf des vorherigen Rechnungsjahres verabschiedet werden kann (BVerfGE 45, 1 [32 f.]).
Brunn - Kapitel C.IX.14.
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aa) Bundestag und Bundesregierung als Hauptakteure
Im Bereich des Haushaltswesens stehen sich die Bundesregierung als bestimmendes Organ
der Exekutive und der Bundestag gegenüber (a.a.O. [46 ff.]).
Weil auch ein Nachtragshaushalt dem Einbringungsmonopol der Bundesregierung nach
Art. 110 Abs. 3 GG unterfällt, kann der Bundestag nicht von sich aus eine Erhöhung
einer Titelsumme über den Weg eines Nachtragshaushalts beschließen (BVerfGE 70, 324
[357]).
bb) Überstaatliche Vereinbarungen und Verantwortung des Bundestages
Der Deutsche Bundestag darf seine Budgetverantwortung nicht durch
haushaltspolitische Ermächtigungen auf andere Akteure übertragen.
unbestimmte
(1) Verbot des “Auslieferns“ an “finanzwirksame Mechanismen“
Insbesondere darf er sich, auch durch Gesetz, keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern, die - sei es aufgrund ihrer Gesamtkonzeption, sei es aufgrund einer Gesamtwürdigung der Einzelmaßnahmen - zu nicht überschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive Zustimmung führen können.
(2) Völkervertragliche “Mechanismen“
Namentlich dürfen keine dauerhaften völkervertragsrechtlichen Mechanismen begründet werden, die auf eine Haftungsübernahme für Willensentscheidung anderer Staaten
hinauslaufen, vor allem, wenn sie mit schwer kalkulierbaren Folgewirkungen verbunden
sind.
Jede ausgabenwirksame solidarische Hilfsmaßnahme des Bundes größeren Umfangs im
internationalen oder unionalen Bereich muss vom Bundestag im Einzelnen bewilligt
werden, und darüber hinaus muss gesichert sein, dass hinreichender parlamentarischer
Einfluss auf die Art und Weise des Umgangs mit den zur Verfügung gestellten Mitteln
besteht (BVerfGE 129, 124 [178 ff.]; dort [182 f.] auch zum Einschätzungsspielraum des
Gesetzgebers, was die Wahrscheinlichkeit anbelangt, für Gewährleistungen einstehen zu
müssen; vgl. auch BVerfGE 130, 318 [344 f.] sowie BVerfGE 135, 317 [402 f.]; dort [424
f.] auch zu den Anforderungen aus Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 20 Abs. 1 und 2 GG i.V.m.
Art. 79 Abs. 3 GG “haushaltspolitische Gesamtverantwortung“).
cc) Einfluss von Fraktionen und Abgeordneten
In der parlamentarischen Demokratie muss gewährleistet sein, dass grundsätzlich sowohl
jede Fraktion - insbesondere die Opposition - als auch die einzelnen Abgeordneten
ihre Vorstellungen über die Verwendungsmöglichkeiten der Haushaltsmittel darlegen und
dadurch die Entscheidung über den Haushaltsplan beeinflussen können (BVerfGE 66, 26
[38]).
Freilich ist das Recht des einzelnen Abgeordneten auf Mitwirkung durch die Befugnis des
Deutschen Bundestages begrenzt , in dem von der Verfassung vorgezeichneten Rahmen
seine Arbeit und die Erledigung seiner Aufgaben zu organisieren (BVerfGE 130, 318
[349]).
Brunn - Kapitel C.IX.15.
Seite 275
Diese Befugnis zur Selbstorganisation erlaubt es aber nicht, den Abgeordneten Rechte
vollständig zu entziehen; soweit Abgeordnete durch Übertragung von Entscheidungsbefugnissen auf einen beschließenden Ausschuss von der Mitwirkung an der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung ausgeschlossen werden sollen, ist dies nur zum Schutz
anderer Rechtsgüter mit Verfassungsrang und unter strikter Wahrung des Grundsatzes
der Verhältnismäßigkeit zulässig (a.a.O. [349 f.]).
15. Art. 111 GG und Art. 112 GG (Ausgaben vor Etatgenehmigung bzw.
überplanmäßige und außerplanmäßige Ausgaben)
Die Ermächtigungen der Art. 111 GG und Art. 112 GG ersetzen die Ermächtigung des
Haushaltsgesetzes zur Ausgabe von Mitteln (BVerfGE 20, 56 [90]).
a) Art. 111 GG
Art. 111 GG soll nicht das Haushaltsbewilligungsrecht des Gesetzgebers vorübergehend
ersetzen, sondern lediglich für den - vom Grundgesetz als kurzfristige Ausnahmesituation
gedachten - etatlosen Zustand eine vorläufige Haushaltsführung ermöglichen (BVerfGE
45, 1 [32 f.]; vgl. auch BVerfGE 66, 26 [38]).
aa) Vorläufige Haushaltsführung der Bundesregierung
Eine vorläufige Haushaltsführung der Bundesregierung soll nur die Ausgaben leisten, die
nötig sind, um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten, gesetzlich beschlossene
Maßnahmen durchzuführen, rechtlich begründete Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen
oder um Bauten, Beschaffungen oder sonstige Leistungen fortzusetzen oder Beihilfen für
diese Zwecke weiter zu gewähren, sofern in dem Haushaltsplan eines Vorjahres bereits
derartige Beträge bewilligt worden sind.
bb) Enge Begrenzung des Spielraums der Bundesregierung
Diese enge Begrenzung des Spielraums der Bundesregierung während des etatlosen Zustandes korrespondiert mit der verfassungsrechtlichen Verpflichtung aller beteiligten Verfassungsorgane, daran mitzuwirken, dass der Haushaltsplan regelmäßig vor Ablauf des
vorherigen Rechnungsjahres verabschiedet werden kann (BVerfGE 45, 1 [32 f.]; vgl. auch
BVerfGE 102, 176 [187]).
b) Art. 112 GG
Die in Art. 112 GG enthaltenen Grundsätze gelten auch im etatlosen Zustand (BVerfGE
45, 1 [37]).
aa) Notkompetenz und zusätzliche Prüfungs- und Verfahrenspflichten des Finanzministers
Der Grundsatz, dass Verfassungsorgane bei Inanspruchnahme ihrer verfassungsmäßigen
Kompetenzen Rücksicht zu nehmen haben auf die Interessen der anderen Verfassungsorgane , bewirkt bei der Ausübung der (subsidiären) Notkompetenz (BVerfGE 135, 317
Brunn - Kapitel C.IX.16.
Seite 276
[417]) des Bundesministers der Finanzen aus Art. 112 GG zusätzliche Prüfungs- und
Verfahrenspflichten vor und bei ihrer Wahrnehmung.
Es besteht eine besondere Kommunikations- und Konsultationspflicht zum Zwecke der
Prüfung, ob eine im Hinblick auf die zeitliche Dringlichkeit des Bedürfnisses rechtzeitige
Bewilligung durch den Gesetzgeber möglich ist (BVerfGE 45, 1 [37 ff.]; dort auch zu
“anders nicht zu meisternden Schwierigkeiten im Verwaltungsablauf“ sowie zu Unterrichtungspflichten des Finanzministers gegenüber der Bundesregierung und den Folgen einer
Pflichtverletzung).
bb) Subsidiarität der Notkompetenz
Mit anderen Worten darf dem Bundesminister der Finanzen der Weg des Art. 112 GG
nicht freigegeben werden, wenn zeitgerecht durch einen Ergänzungs- oder Nachtragshaushalt oder im Wege des Art. 111 GG die Rechtsgrundlage für die Ausgabe hätte
beschafft werden können (a.a.O. [48 ff.]; dort auch zu “politisch besonders heiklen und
folgenreichen Bereichen“).
16. Art. 114 GG (Rechnungslegung und Rechnungsprüfung)
Während der voranstehende Art. 113 GG offenbar in der Praxis kaum eine Rolle spielt
und deswegen auch keine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts notwendig war, ist
Art. 114 GG vor allem in jüngerer Zeit vom Bundesverfassungsgericht bewertet worden.
[1] Sehr früh ist entschieden worden, dass die Befugnis des Bundesrechnungshofs zur
Rechnungsprüfung (Art. 114 Abs. 2 GG) nicht die verfassungsgerichtlichen Verfahren
zur Überprüfung eines Bundeshaushaltsgesetzes zu ersetzen vermag; grundsätzlich sind
nämlich Haushaltsgesetz und Haushaltsplan nicht Gegenstand, sondern Maßstab für die
Rechnungsprüfung.
[2] Eine verbindliche Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmungen des Haushaltsgesetzes liegt außerhalb der dem Rechnungshof durch Art. 114 Abs. 2 GG zugewiesenen Aufgabe. Wenngleich der Rechnungshof Haushaltsansätze und ihre Verwendung als
verfassungswidrig beanstanden kann, so sind doch solche Beanstandungen ohne Einfluss
auf die Gültigkeit der Bestimmungen des Haushaltsgesetzes (BVerfGE 20, 56 [95 f.]).
a) Die gewöhnlichen Aufgaben des Bundesrechnungshofs
Die Finanzkontrolle des Bundesrechnungshofs (hierzu BVerfGE 137, 108 [151]) besteht
aus der Prüfung der Rechnung (Rechnungsprüfung - nachfolgend aa) -) sowie der Prüfung
der Wirtschaftlichkeit und Ordnungsmäßigkeit der Haushalts- und Wirtschaftsführung
(rechnungsunabhängige Prüfung - nachfolgend bb) -); im Übrigen werden seine Befugnisse
durch Bundesgesetz (Art. 114 Abs. 2 Satz 3 GG) geregelt.
aa) Rechnungsprüfung
Die Rechnungsprüfung hat unter den Maßstäben der Finanzkontrolle besondere Bedeutung. Diese Aufgabe des Bundesrechnungshofs ist nicht nur durch die Verfassung selbst
festgelegt, sie hat auch besonderes rechtliches Gewicht. Denn während die Funktion
des Haushaltskreislaufs im Übrigen von der Aufgabenerfüllung des Bundesrechnungshofs
prinzipiell unabhängig ist, ist die Rechnungsprüfung Voraussetzung der Entlastung der
Brunn - Kapitel C.IX.16.
Seite 277
Bundesregierung durch Bundestag und Bundesrat gem. Art. 114 Abs. 1 GG (BVerfGE
127, 165 [213]).
bb) Rechnungsunabhängige Prüfung (Bundesexekutive als Prüfungsadressatin)
Die rechnungsunabhängige Prüfung der gesamten Haushalts- und Wirtschaftsführung am
Maßstab der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit bezieht sich auch auf die der Mittelbewirtschaftung vorausgehenden Verwaltungsentscheidungen. Adressat ist die Bundesexekutive , nicht Prüfungsadressat ist hingegen der Gesetzgeber hinsichtlich des Inhalts der
von ihm erlassenen Gesetze.
Die Festlegung des Gesetzesinhalts ist nicht Teil der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes. Die Auswirkungen gesetzlicher Regelungen können lediglich Inhalt von
Beratungen nach § 88 Abs. 2 BHO sein. Daher bezieht sich insbesondere die Wirtschaftlichkeitskontrolle im Rahmen der rechnungsunabhängigen Prüfung auf die Ergebnisse der
Tätigkeit der Bundesverwaltung und nicht auf die Wirtschaftlichkeit von Gesetzesinhalten (a.a.O. [213 f.]).
cc) Weitere Aufgaben (insbesondere: spezielle Beratung des Parlaments)
Gemäß Art. 114 Abs. 2 Satz 3 GG kann der Gesetzgeber den Bundesrechnungshof weitere
Aufgaben übertragen. Dazu gehört insbesondere die Beratung des Parlaments, die vor
dem Hintergrund der 1969 eingeführten jährlichen Berichtspflicht gegenüber Bundestag
und Bundesrat (Art. 114 Abs. 2 Satz 2 GG) und der damit verbundenen stärkeren Orientierung des Bundesrechnungshof auf die gesetzgebenden Körperschaften hin zu sehen
ist.
Die Beratung kann die Wirtschaftlichkeit von Gesetzesinhalten zum Gegenstand haben
und damit einen bedeutsamen Beitrag zur Gesetzesfolgenabschätzung leisten (a.a.O.
[215]).
b) Bundesrechnungshof und Länderbereich
Angesichts der Verflechtung von Bundes- und Länderfinanzen in verschiedenen Teilbereichen der Finanzverfassung, namentlich bei den Gemeinschaftsaufgaben und den
Finanzhilfen, bedarf der Bundesrechnungshof eines Instrumentariums der Informationsbeschaffung, um seine Aufgabe der Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung des
Bundes zu erfüllen. Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG schließt daher Erhebungen des Bundesrechnungshofs im Länderbereich nicht grundsätzlich aus (BVerfGE 127, 165 [211]).
aa) Grenzen der Erhebungen
Die Grenzen der Befugnisse des Bundesrechnungshofs im Verhältnis zu den Ländern sind
der Verfassung im Wege der Auslegung (allgemein hierzu A.III.2. (vgl. S. 47) ) des Art.
114 Abs. 2 Satz 1 GG zu entnehmen. Dabei muss das Interesse des Bundesrechnungshofs
an effektiver Aufgabenerfüllung mit dem Anliegen der Länder an der Wahrung ihrer
Haushaltsautonomie (Art. 109 Abs. 1 GG) in Ausgleich gebracht werden.
In der bundesstaatlichen Kompetenzordnung können Effektivitätsgesichtspunkte nur
dann ausschlaggebend sein, wenn die auszulegende Kompetenzvorschrift und ihr Zusammenhang mit weiteren Vorschriften hierfür ausreichende Anhaltspunkte bieten. Das ist
Brunn - Kapitel C.IX.17.
Seite 278
bei Art. 114 Abs. 2 Satz 1 GG nicht der Fall. Den Aufgaben des Bundesrechnungshofs
steht die verfassungsrechtliche Absicherung gegenläufiger Länderinteressen durch Art.
109 Abs. 1 GG gegenüber, ohne dass den Vorschriften eine Vorrangregel entnommen
werden könnte (a.a.O. [211 ff.]).
bb) Einzelbefugnisse (u.a. Durchführung von Erhebungen)
Mithin hat der Bundesrechnungshof die Befugnis, zum Zwecke der Feststellung von
Rechtsverletzungen seitens einer Landesbehörde bei den obersten Landesbehörden - nur
mit deren Zustimmung oder Zustimmung des Bundesrates auch bei nachgeordneten Behörden - Erhebungen durchzuführen und Berichte anzufordern. Er kann sich von diesen
Behörden Akten übersenden lassen, wenn konkrete Anhaltspunkte für einen Rechtsverstoß vorliegen.
Diese Erhebungen müssen die Prüfung der Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes oder die Beratung des Bundesgesetzgebers bezwecken (a.a.O. [221]).
Außerdem kann er Entsprechendes gegenüber den übrigen Landesverwaltungen vornehmen (a.a.O. [221 f.]).
17. Art. 115 GG (Kreditbeschaffung)
Art. 115 GG ist im Jahr 2009 beträchtlich umgestaltet worden; die zur alten Fassung
ergangene Rechtsprechung (vgl. insbesondere BVerfGE 67, 256; BVerfGE 79, 311 sowie BVerfGE 119, 96) kann indessen immer noch sinngemäß fruchtbar gemacht werden.
Ebenfalls im Jahr 2009 ist das in Art. 115 Abs. 1 GG vorgesehene Bundesgesetz in Kraft
gesetzt worden, welches bereits verändert worden ist.
[1] Zuvörderst sichert die Vorschrift das Haushaltsrecht, insbesondere das Ausgabenbewilligungsrecht des Parlaments, begründet jedoch keine Kompetenzen des Bundes im
Verhältnis zu den Ländern oder besondere Befugnisse des Staates im Verhältnis zum
Einzelnen. Art. 115 Abs. 1 GG entfaltet seine Wirkung gerade und nur im Inter-OrganVerhältnis zwischen Parlament und Regierung (BVerfGE 67, 256 [281]).
[2] Der Zweck der Norm ist, dass der Bund nicht durch parlamentarisch unkontrollierte
Eingehung lang- und kurzfristiger Schulden in unübersehbare Rückzahlungsverpflichtungen verstrickt werden kann, die künftige Haushalte nachhaltig belasten (a.a.O. [280 f.];
dort auch zur Frage, ob Zwangsanleihen erfasst werden).
[3] Wenig lässt sich zusätzlich aus dem Demokratieprinzip (nachfolgend D.III.) ableiten:
Zwar entspricht der Demokratie der Gedanke der Herrschaft auf Zeit und die Achtung der
Entscheidungsfreiheit auch künftiger Generationen. Es gehört aber ebenso zu den Aufgaben des demokratischen Gesetzgebers, über die Amtsperioden hinauszusehen, Vorsorge
für die dauerhafte Befriedigung von Gemeinschaftsinteressen zu treffen und damit auch
die Entscheidungsgrundlagen nachfolgender Amtsträger inhaltlich vorauszubestimmen.
Wie weit ihm dabei - im Interesse künftiger Generationen - Grenzen gezogen sind,
hat das Grundgesetz in Art. 115 GG selbst festgelegt und damit das Demokratieprinzip
insoweit verfassungskräftig konkretisiert (BVerfGE 79, 311 [343]; dort [339 ff.] auch zu
Darlegungsverpflichtungen und -lasten des Haushaltsgesetzgebers, die auch heute noch
Bedeutung erlangen können).
Brunn - Kapitel C.IX.17.
Seite 279
a) Art. 115 Abs. 1 GG als Konkretisierung des demokratischen
Parlamentsvorbehalts
Auch die neu gefasste Vorschrift des Art. 115 Abs. 1 GG erweist sich als Konkretisierung
des demokratischen Parlamentsvorbehalts.
aa) Pflicht des Parlaments, wesentliche Entscheidungen (Entwicklung des Gesamtschuldenstands) selbst zu treffen
Sie sichert das Budgetrecht auch für künftige Haushaltsjahre und verpflichtet das Parlament, die für die Entwicklung des Gesamtschuldenstands wesentlichen Entscheidungen
selbst zu treffen (allgemein zu dieser Verpflichtung nachfolgend D.V.3.b) (vgl. S. 341) )
und sie nicht durch allgemein formulierte Ermächtigungen der Exekutive zu überlassen.
bb) Kontrollmöglichkeiten
Zugleich gewährleistet Art. 115 Abs. 1 GG die Aufmerksamkeit des Parlaments sowie der
interessierten Öffentlichkeit für aktuelle und/oder potentielle Belastungen des Staatshaushalts und ermöglicht eine - nicht zuletzt auch verfassungsgerichtliche - Kontrolle
(BVerfGE 130, 318 [346]).
b) Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigung, die zumindest bestimmbar
den Höchstbetrag festlegen muss
Nach Art. 115 Abs. 1 Satz 1 GG bedürfen die Kreditaufnahme sowie die Übernahme
von Bürgschaften, Garantien oder sonstigen Gewährleistungen - hierzu nachfolgend c)
und d) - jedenfalls “einer der Höhe nach bestimmten oder bestimmbaren“ gesetzlichen
Ermächtigung.
Der parlamentarische Gesetzgeber muss danach den finanziellen Umfang der Ermächtigung zur Kreditaufnahme oder Gewährleistungsübernahme durch einen bestimmten
- oder wenigstens bestimmbaren - Höchstbetrag selbst festlegen (BVerfGE 130, 318
[346]).
c) Insbesondere: Gewährleistungsübernahme
Das Grundgesetz stellt in Art. 115 Abs. 1 GG die Gewährleistungsübernahme - die als
Haftung für die Verbindlichkeiten Dritter eine “potentielle Neuverschuldung“ darstellt
- der unmittelbaren Staatsverschuldung insofern ausdrücklich gleich. Die Exekutive
soll nicht im Wege der Kreditaufnahme und/oder der Gewährleistungsermächtigung das
Budgetrecht des Parlaments aushöhlen oder umgehen können (BVerfGE 130, 318 [345
f.]).
aa) Pflicht zu “flankierenden Rahmenbedingungen“
Soweit mit dem Risiko einer schwerwiegenden Reduzierung des Spielraums für künftige
haushaltspolitische Entscheidungen gerechnet werden muss, darf sich der Gesetzgeber
nicht auf die Festlegung der vorerwähnten Höhe beschränken ; vielmehr muss er auch
flankierende Rahmenbedingungen festlegen, die gewährleisten, dass die haushaltspolitische Gesamtverantwortung des Bundestages gewahrt bleibt.
Brunn - Kapitel C.IX.17.
Seite 280
bb) Gesetzliche Bindungen von Inanspruchnahmen und Mitwirkungen des Bundestags
Letzteres kann durch gesetzliche Bindung der Inanspruchnahme an risikobegrenzende
Kriterien und dadurch geschehen, dass die wesentlichen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme der Gewährleistungsermächtigungen ihrerseits an
die Mitwirkung des Bundestages gebunden bleiben.
Bestimmtheit der gesetzlichen Inanspruchnahme-Voraussetzung und Notwendigkeit der
Mitwirkung des Bundestages stehen dabei in einem wechselbezüglichen Verhältnis; die
Wahrung der haushaltspolitischen Gesamtverantwortung des Bundestages erfordert
grundsätzlich, dass der Bundestag einen insgesamt bestimmenden Einfluss nimmt
(BVerfGE 130, 318 [346 f.]; vgl. bereits BVerfGE 129, 124 [183 f.]).
d) Insbesondere: Gewährleistungsermächtigungen im Rahmen
internationaler Übereinkünfte
Gewährleistungsermächtigungen gem. Art. 115 Abs. 1 GG, mit denen völkervertragliche
Vereinbarungen umgesetzt werden, können nach Art und Umfang zu massiven Beeinträchtigungen der Haushaltsautonomie führen.
Während herkömmliche Gewährleistungsermächtigungen für gewöhnlich keine außergewöhnlichen Risiken für die Haushaltsautonomie mit sich bringen und daher das Grundgesetz insoweit keine Begrenzung vorsieht, haben Gewährleistungsermächtigungen, die die
Bundesrepublik Deutschland im Rahmen internationaler Übereinkünfte zur Erhaltung
der Liquidität von Staaten der Währungsunion eingeht, durchaus das Potential , die
Möglichkeiten politischer Gestaltung des Bundestages in verfassungsrechtlich unzulässigem Umfang einzuschränken (BVerfGE 129, 124 [171]; dort [170] - sowie in BVerfGE 135,
317 [403 f.] - auch dazu, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber durch die tatbestandliche Konkretisierung und sachliche Verschärfung der Regeln für die Kreditaufnahme von
Bund und Ländern klargestellt hat, dass eine verfassungsrechtliche Bindung der Parlamente und damit eine fühlbare Beschränkung ihrer Handlungsfähigkeit notwendig ist, um
langfristig die demokratische Gestaltungsfähigkeit für das Gemeinwesen zu erhalten;
dort [179] insbesondere zu “finanzwirksamen Mechanismen“, welche zu unüberschaubaren
haushaltsbedeutsamen Belastungen führen können).
Brunn - Kapitel D.I.1.
Seite 281
D. “Verfassungsfeste“ Grundsätze (Art. 79 Abs. 3 GG) sowie
Demokratie-, Sozialstaats- , Rechtsstaats- und
Gewaltenteilungsgrundsätze (Art. 20 GG)
Wie bereits eingangs (A.I.2.b) (vgl. S. 4) ) angesprochen, kann sogar der verfassungsändernde Gesetzgeber durch die Verfassung gehindert sein, entsprechende Grundgesetzänderungen vorzunehmen (wodurch sich im Übrigen die “Ur-Verfassung“ des Jahres
1949 die eigene Verfassungsgemäßheit “bescheinigt“ hat). Deshalb hier ein kursorischer
Überblick über die in Betracht zu ziehenden “ewigen“ Grundsätze:
I. Überblick über (möglicherweise) veränderungsfeste Verfassungsgebote.
1.
Art. 79 Abs. 3 GG (Kriterien) . . . . . . .
a) Allgemeines (Übersicht; BVerfGE 109, 279) .
b) “Ausnahmevorschrift“ . . . . . . . .
.
.
.
.
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.
.
aa) Respektierung des verfassungsändernden Gesetzgebers durch
das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . .
2.
bb) Keine Gleichsetzung des Menschenwürdegehalts eines Grundrechts mit der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) .
“Niedergelegte“ Grundsätze . . . . . . . . . . . . . . .
a) Menschenwürde und Menschenrechte (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m.
Abs. 3 GG)
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
c)
d)
e)
282
282
282
282
282
283
283
aa) Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG) . . . . . . . . . . . . . .
283
bb) Wesensgehaltsgarantie Art. 19 Abs. 2 GG . . . . . . . . . .
Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) . . . . . . . . .
Sozialstaatsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . .
Grundlegende Gerechtigkeitspostulate (grundlegende Elemente des
Rechtsstaatsprinzips, insbesondere Rechtsgleichheit und Willkürverbot) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gewaltenteilungsgrundsatz . . . . . . . . . . . . .
283
283
284
284
284
aa) Wahrung der Gewichtsverteilung zur Vermeidung von Übergewichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
bb) Unantastbarkeit des Kernbereichs jeder Gewalt
285
. . . . . . .
cc) Zugunsten der Länder garantierte Unentziehbarkeit von Aufgaben mit substantiellem Gewicht (im Bereich aller drei Staatsfunktionen) durch das Gebot der Bundesschaftlichkeit (Art. 20
Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
285
Ohne die verfassungsgerichtliche Auslegung wäre die (vor allem Gesetzgebungs-)Praxis
angesichts der “lapidaren“ Fassung des Art. 79 Abs. 3 GG wohl kaum in der Lage, die
hierdurch gezogenen Grenzen zu erkennen und zu beachten.
Brunn - Kapitel D.I.1.
Seite 282
1. Art. 79 Abs. 3 GG (Kriterien)
Ausführliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 79 Abs. 3 GG (zumal
eine Verletzung bejahende oder auch nur in Betracht ziehende) ist spärlich; verfassungsändernde Gesetze dürfen (zumindest) - erstens - die Menschenwürde nicht verletzen und
- zweitens - die “Staatsstrukturprinzipien“ des Art. 20 GG nicht antasten (BVerfGE 113,
273 [296]).
Relativ ausführlich hat sich das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2004 (im Zusammenhang mit Art. 13 Abs. 3 GG) geäußert:
a) Allgemeines (Übersicht; BVerfGE 109, 279)
Art. 79 Abs. 3 GG verbietet Verfassungsänderungen, durch welche die in Art. 1 GG
und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden. Zu ihnen gehört das Gebot
der Achtung und des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), aber auch das
Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder
menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit (Art. 1 Abs. 2 GG). In
Verbindung mit der in Art. 1 Abs. 3 GG enthaltenen Verweisung auf die nachfolgenden
Grundrechte sind deren Verbürgungen insoweit der Einschränkung durch den Gesetzgeber
grundsätzlich entzogen, als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und Abs.
2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind.
Ebenso sind grundlegende Elemente des Rechts- und des Sozialstaatsprinzips, die in Art.
20 Abs. 1 und 3 GG zum Ausdruck kommen, zu achten.
b) “Ausnahmevorschrift“
Art. 79 Abs. 3 GG ist eine eng auszulegende Ausnahmevorschrift , die den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht hindert, die positivrechtlichen Ausprägungen dieser
Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren.
aa) Respektierung des verfassungsändernden Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht
Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht des verfassungsändernden Gesetzgebers zu
respektieren, einzelne Grundrechte zu ändern, einzuschränken oder sogar aufzuheben,
sofern er die in Art. 1 GG und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht berührt.
Aus sachgerechten Gründen erfolgende Modifikationen der positiv-rechtlichen Ausprägung dieser Grundsätze sind diesem Gesetzgeber nicht verwehrt.
Was im Rahmen einzelner Grundrechte zum Gewährleistungsinhalt des Art. 1 Abs. 1
GG gehört, ist durch Auslegung der jeweiligen Grundrechtsnorm eigenständig zu
bestimmen.
bb) Keine Gleichsetzung des Menschenwürdegehalts eines Grundrechts mit der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG)
Verfassungsänderungen sind nicht an der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG
zu messen. Diese Garantie bindet den einfachen, aber nicht den verfassungsändernden
Gesetzgeber. Eine Antastung des Wesensgehalts im Sinne von Art. 19 Abs. 2 GG kann
Brunn - Kapitel D.I.2.
Seite 283
zwar im Einzelfall zugleich den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen. Der Wesensgehalt ist aber nicht mit dem
Menschenwürdegehalt eines Grundrechts gleichzusetzen. Eine mögliche Kongruenz im
Einzelfall ändert nichts daran, dass Maßstab für eine verfassungsändernde Grundrechtseinschränkung allein der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Menschenwürdegehalt
eines Grundrechts ist (BVerfGE 109, 279 [310 f.]; dort [311 f.] auch zur Menschenwürdegarantie).
2. “Niedergelegte“ Grundsätze
Auslegungsschwierigkeiten rufen insbesondere die Begriffe “niedergelegt“ und “berührt“
hervor, welche im Grundgesetz eher unüblich sind.
a) Menschenwürde und Menschenrechte (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 i.V.m.
Abs. 3 GG)
Zu den “in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen“ i.S.v. Art. 79 Abs. 3 GG (vgl.
auch BVerfGE 123, 267 [343] “Ewigkeitsgarantie“ sowie die - umstrittene, Art. 13 Abs. 3
GG betreffende - Entscheidung BVerfGE 109, 279 [310 f.]; demgegenüber - nachvollziehbar - BVerfGE 109, 279 [382, 383 f.] abweichende Meinung) gehört - erstens - (nicht nur)
der in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Menschenwürde (nachstehend II.).
aa) Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG)
Auch das in Art. 1 Abs. 2 GG (nachstehend E.I.2. (vgl. S. 479) ) enthaltene Bekenntnis
zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage der menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit erlangt insoweit Bedeutung; in
Verbindung mit der in Art. 1 Abs. 3 GG (nachstehend E.I.3.) enthaltenen Verweisung
auf die nachfolgenden Grundrechte (ausführlich zu Grundrechten nachfolgend E.II. bis
XVI.) sind deren Verbürgungen insoweit einer Einschränkung grundsätzlich entzogen,
als sie zur Aufrechterhaltung einer dem Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 GG entsprechenden
Ordnung unverzichtbar sind.
bb) Wesensgehaltsgarantie Art. 19 Abs. 2 GG
Den einfachen (nicht aber unbedingt den verfassungsändernden) Gesetzgeber bindet die
Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (hierzu E.I.3.d) (vgl. S. 490) ). Eine Antastung dieses Wesensgehalts kann zwar - wie gerade dargelegt - im Einzelfall zugleich
den von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdegehalt eines Grundrechts beeinträchtigen. Der Wesensgehalt ist aber nicht mit dem Menschenwürdegehalt eines
Grundrechts gleichzusetzen (BVerfGE 109, 279 [310 f.]).
b) Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG)
Zu den “festesten“ Prinzipien dürfte - zweitens - das in Art. 20 Abs. 1 GG angesprochene Demokratieprinzip (nachfolgend III.) gehören, welches große Bedeutung für die
Zusammensetzung der Verfassungsorgane (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) hat, welche die
Staatsgewalt(en) ausüben, die vom Volk auszugehen hat (Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG).
Brunn - Kapitel D.I.2.
Seite 284
Schwierige Aufgaben hat dabei der Wahlrechtsgesetzgeber zu bewältigen (nachfolgend
D.III.3. und D.III.4.), wobei entscheidend ist, dass ein hinreichend effektiver Gehalt an
demokratischer Legitimation, ein bestimmtes Legitimationsniveau , erreicht wird (BVerfGE 89, 155 [171 f.]; vgl. auch BVerfGE 135, 317 [386] für Vorgänge, welche demokratische
Grundsätze berühren, die Art. 79 Abs. 3 GG auch dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzieht), weil das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch
Wahlen und Abstimmungen die öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen,
der elementare Bestandteil des Demokratieprinzips ist. Der Anspruch auf freie und
gleiche Teilhabe an der öffentlichen Gewalt ist in der Würde des Menschen verankert.
Er gehört zu den durch Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG als
unveränderbar festgelegten Grundsätzen des deutschen Verfassungsrechts (BVerfGE 123,
267 [341]; dort [344] auch zur “Ewigkeitstheorie“).
c) Sozialstaatsgrundsatz
Zu den (in Teilen) unantastbaren Grundprinzipien gehört - drittens -, was zumindest das
“Existenzminimum anbelangt, - wegen seiner Verbindung mit der Menschenwürde und
den Menschenrechten - auch der Sozialstaatsgrundsatz (nachfolgend D.IV.).
d) Grundlegende Gerechtigkeitspostulate (grundlegende Elemente des
Rechtsstaatsprinzips, insbesondere Rechtsgleichheit und Willkürverbot)
Auch grundlegende Gerechtigkeitspostulate dürfen - viertens (nachfolgend D.V.) - nicht
außer Acht gelassen werden. Dazu gehören der Grundsatz der Rechtsgleichheit (hierzu
E.III.1.) und das Willkürverbot; ebenso sind grundlegende Elemente des Rechts- (und
des Sozial-) staatsprinzips, die in Art. 20 Abs. 1 und Abs. 3 GG zum Ausdruck kommen,
zu achten (BVerfGE 84, 90 [121]; vgl. auch BVerfGE 109, 279 [310]; dort auch dazu, dass
der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht gehindert ist, die positivrechtlichen Ausprägungen der genannten Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu “modifizieren“).
Soweit in der - fragwürdigen - Entscheidung BVerfGE 30, 1 (26 ff.; vgl. demgegenüber die
abweichende Meinung a.a.O. [33 ff., 40 f.] sowie neuerdings BVerfGE 137, 108 [145] “sehr
enge Interpretation von Art. 79 Abs. 3 GG“; stattdessen - andeutungsweise - möglicherweise maßgeblich: “unverhältnismäßige Beschränkungen“ sowie “substantielle Erosion“)
verneint worden ist, dass bestimmte aus Art. 20 GG ableitbare Grundsätze (wie etwa
der Grundsatz des möglichst umfassenden Gerichtsschutzes) zu den unveränderbaren und
“niedergelegten“ Grundsätzen zu rechnen seien, kann dies hier dahinstehen, weil hiervon
zwar womöglich der verfassungsändernde Gesetzgeber nicht betroffen wäre, wohl aber
der einfache Gesetzgeber.
Entsprechendes gilt für die Darlegungen, mit denen Art. 16 a Abs. 2 Satz 3 GG für
unbedenklich befunden worden ist (BVerfGE 94, 49 [104]).
e) Gewaltenteilungsgrundsatz
Nur selten dürften für den Gesetzgeber Anlass und Notwendigkeit bestehen, sich bei neuer Rechtsetzung über Inhalt und Grenzen des - fünftens - Gewaltenteilungsgrundsatzes
(im Einzelnen nachfolgend D.VI.) Gewissheit zu verschaffen; der Respekt der Gewalten
voreinander lässt kaum befürchten, dass zukünftig in nennenswerter Zahl durch Gesetze
(verfassungswidrige) “Übergriffe“ in den Kernbereich einer Gewalt, welche zweifelsfrei
Brunn - Kapitel D.II.0.
Seite 285
die Verfassung verletzen würden (D.VI.1.b) (vgl. S. 353) ), beabsichtigt oder ermöglicht
werden. Gleichwohl sollen die wichtigsten Erkenntnisse des Verfassungsgerichts hierzu
bereits hier vorgestellt werden:
aa) Wahrung der Gewichtsverteilung zur Vermeidung von Übergewichten
Der im Grundgesetz niedergelegte Grundsatz der Gewaltenteilung zielt zwar nicht auf eine
strikte Trennung der Staatsfunktionen ab. Gleichwohl muss aber die in der Verfassung
vorgenommene Gewichtsverteilung zwischen den drei Gewalten gewahrt werden, damit
keine Gewalt ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht über eine andere
erhält.
bb) Unantastbarkeit des Kernbereichs jeder Gewalt
Ebenso wenig darf eine Gewalt der für die Erfüllung ihrer verfassungsgemäßen Aufgaben
erforderlichen Zuständigkeiten beraubt werden. Der Kernbereich ihrer Entscheidungsbefugnisse ist unantastbar . Damit ist ausgeschlossen, dass eine der Gewalten die ihr
von der Verfassung zugeschriebenen typischen Aufgaben verliert (BVerfGE 139, 321
[362]; vgl. auch BVerfGE 139, 194 [223 ff.] für Kontrollfunktion des Parlaments im parlamentarischen Regierungssystems; dort [225 ff.] auch für die getrennten Legitimationen,
die jeweils vom Bundesvolk und dem Landesvolk vermittelt werden).
cc) Zugunsten der Länder garantierte Unentziehbarkeit von Aufgaben mit substantiellem Gewicht (im Bereich aller drei Staatsfunktionen) durch das Gebot der Bundesschaftlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG)
Das Gebot der Bundesstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) gebietet im Übrigen in seinem
verfassungsänderungsfesten Kern , dass den Ländern im Bereich aller drei Staatsfunktionen Aufgaben von substantiellem Gewicht als “Hausgut“ unentziehbar verbleiben
(BVerfGE 137, 108 [144]).
II. Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG)
1.
2.
3.
Zusammenfassung des 1. Senats aus
a) Anknüpfung an historische
Verlagerungen . . . . . .
b) “Objektformel“ . . . . .
dem Jahre 2004 (BVerfGE 109, 279)
Erfahrungen sowie Schwerpunkt. . . . . . . . . . . .
. . . . . . . . . . . .
286
286
aa) Schutz eines Straftäters (Verbot der Behandlung als bloßes
Objekt der Verbrechensbekämpfung) . . . . . . . . . . . . .
286
bb) (Allgemeine) Grenzen der Objektformel . . . . . . . . . . .
c)
“Heimliches“ staatliches Vorgehen und Beobachten . . . . .
Vorläufige (neuere) Zusammenfassung aus dem 2. Senat (2 BvR 1111/13)
Unionsrecht und geltend gemachte Verletzungen der Menschenwürde
(“Identitätskontrolle“) . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
287
287
287
288
Unter welchen Umständen die Menschenwürde (im Einzelnen auch nachstehend E.I.)
verletzt sein kann, lässt sich nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des
konkreten Falles.
Brunn - Kapitel D.II.1.
Seite 286
Bei allen Ungewissheiten wird es wohl dabei bleiben, dass der (strafrechtliche) Schuldgrundsatz - weil im Rechtsstaatsprinzip und in der Menschenwürde verankert - zur Verfassungsidentität im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG zu rechnen ist (BVerfGE 140, 317
(343]).
1. Zusammenfassung des 1. Senats aus dem Jahre 2004 (BVerfGE 109,
279)
Die Menschenwürde ist tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Verfassungswert.
Der Gewährleistungsgehalt dieses auf Wertungen verweisenden Begriffs bedarf der Konkretisierung. Dies geschieht in der Rechtsprechung in Ansehung des einzelnen Sachverhalts mit dem Blick auf den zur Regelung stehenden jeweiligen Lebensbereich und unter
Herausbildung von Fallgruppen und Regelbeispielen. Dabei wird der Begriff der Menschenwürde häufig vom Verletzungsvorgang her beschrieben.
a) Anknüpfung an historische Erfahrungen sowie
Schwerpunkt-Verlagerungen
Anknüpfend an die Erfahrungen in der Zeit des Nationalsozialismus standen in der Rechtsprechung zunächst Erscheinungen wie Misshandlung, Verfolgung und Diskriminierung
im Zentrum der Überlegungen. Es ging insbesondere, wie das Bundesverfassungsgericht
in einer seiner ersten Entscheidungen formulierte, um den Schutz vor “Erniedrigung,
Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw.“ (vgl. BVerfGE 1, 97 [104]).
Später wurde die Menschenwürdegarantie im Hinblick auf neue Gefährdungen maßgebend, so in den 1980er Jahren für den Missbrauch der Erhebung und Verwertung von
Daten (vgl. BVerfGE 65, 1).
Im Zusammenhang der Aufarbeitung des Unrechts aus der Deutschen Demokratischen
Republik wurde die Verletzung von Grundsätzen der Menschlichkeit unter anderem bei
der Beschaffung und Weitergabe von Informationen zum Gegenstand der Rechtsprechung
(vgl. BVerfGE 93, 213 [243]).
Gegenwärtig bestimmen insbesondere Fragen des Schutzes der personalen Identität und
der psychisch-sozialen Integrität die Auseinandersetzungen über den Menschenwürdegehalt.
b) “Objektformel“
Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt betont, dass es mit der Würde des Menschen nicht vereinbar ist, ihn zum bloßen Objekt der Staatsgewalt zu machen (vgl. BVerfGE 30, 1 [25 f. und 39 ff.]; BVerfGE 96, 375 [399]).
aa) Schutz eines Straftäters (Verbot der Behandlung als bloßes Objekt der Verbrechensbekämpfung)
So darf ein Straftäter nicht unter Verletzung seines verfassungsrechtlich geschützten
sozialen Wert- und Achtungsanspruchs behandelt und dadurch zum bloßen Objekt der
Verbrechensbekämpfung und Strafvollstreckung gemacht werden (vgl. BVerfGE 45, 187
[228]; BVerfGE 72, 105 [116]).
Brunn - Kapitel D.II.3.
Seite 287
bb) (Allgemeine) Grenzen der Objektformel
Allerdings sind der Leistungskraft der Objektformel auch Grenzen gesetzt (vgl. BVerfGE
30, 1 [25]). Der Mensch ist nicht selten bloßes Objekt nicht nur der Verhältnisse und
der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern auch des Rechts, dem er sich zu fügen hat.
Die Menschenwürde wird nicht schon dadurch verletzt, dass jemand zum Adressaten von
Maßnahmen der Strafverfolgung wird, wohl aber dann, wenn durch die Art der ergriffenen
Maßnahme die Subjektqualität des Betroffenen grundsätzlich in Frage gestellt wird.
Das ist der Fall, wenn die Behandlung durch die öffentliche Gewalt die Achtung des
Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen um seiner selbst willen zukommt. Solche
Maßnahmen dürfen auch nicht im Interesse der Effektivität der Strafrechtspflege und der
Wahrheitserforschung vorgenommen werden.
c) “Heimliches“ staatliches Vorgehen und Beobachten
Dabei führt ein heimliches Vorgehen des Staates (ausführlich neuerdings BVerfGE 141,
220 [269 ff.]) an sich noch nicht zu einer Verletzung des absolut geschützten Achtungsanspruchs. Wird jemand zum Objekt einer Beobachtung, geht damit nicht zwingend eine
Missachtung seines Wertes als Mensch einher.
Bei Beobachtungen ist aber ein unantastbarer Kernbereich privater Lebensgestaltung
zu wahren. Würde der Staat in ihn eindringen, verletzte dies die jedem Menschen unantastbar gewährte Freiheit zur Entfaltung in den ihn betreffenden höchstpersönlichen
Angelegenheiten. Selbst überwiegende Interessen der Allgemeinheit können einen Eingriff
in diesen absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht rechtfertigen
(BVerfGE 109, 279 [311 ff.]; dort [313 f.] insbesondere auch dazu, dass der Schutz der
Menschenwürde in Art. 13 Abs. 1 GG konkretisiert wird, und dort [314] dazu, dass der
hierdurch gewährleistete Schutz nicht “durch Abwägung mit den Strafverfolgungsinteressen nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes relativiert werden“ darf).
2. Vorläufige (neuere) Zusammenfassung aus dem 2. Senat (2 BvR
1111/13)
In einer Kammerentscheidung, die zudem auch die Ausstrahlungswirkung auf den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts (BVerfGE 27, 344 [351] sowie BVerfGE 79,
256 [268]) in den Blick genommen hat, hat das Gericht - für den Strafvollzug - wie folgt
zusammengefaßt (2 BvR 1111/13 [30]; dort [39] auch zu gerichtlichen Sachverhaltsaufklärungspflichten):
Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen
Gewalt (Art. 1 Abs. 1 GG). Der öffentlichen Gewalt ist danach jede Behandlung verboten,
die die Achtung des Wertes vermissen lässt, der jedem Menschen unabhängig von seiner
gesellschaftlichen Stellung, seinen Verdiensten oder der Schuld, die er auf sich geladen
hat, allein aufgrund seines Personseins zukommt (vgl. BVerfGE 1, 97 [104]; BVerfGE 87,
209 [228]; BVerfGE 107, 275 [284]; BVerfGE 109, 279 [313]).
Dem Recht auf Achtung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) kommt in der Verfassung
ein Höchstwert zu; es ist als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte
zu betrachten (vgl. BVerfGE 45, 187 [227] sowie BVerfGE 87, 209 [228]).
Dies entspreche auch der zu berücksichtigenden Rechtsprechung des EGMR (a.a.O. [31]
unter Hinweis auf BVerfGE 111, 307 [317]; BVerfGE 116, 69 [90]; BVerfGE 120, 180 [200
f.] sowie BVerfGE 128, 326 [370 f.]).
Brunn - Kapitel D.III.0.
Seite 288
3. Unionsrecht und geltend gemachte Verletzungen der Menschenwürde
(“Identitätskontrolle“)
Wird insoweit die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das
Bundesverfassungsgericht - ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit
von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten
des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht gerügt wurde einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle
(BVerfGE 140, 317 [334]; dort [366] auch zu “norminternen Direktiven“ des Art. 1 Abs.
1 GG).
Was das Verhältnis der Mitgliedstaaten (und damit auch der Bundesrepublik) untereinander anbelangt, so gilt insoweit insbesondere, dass sie nicht die Hand zu Menschenrechtsverletzungen reichen dürfen (a.a.O. [359]).
III. Demokratieprinzip und Volkssouveränität (Art 20 Abs. 1, 1. Alt. i.V.m.
Abs. 2 Satz 1 GG)
1.
2.
Volkssouveränität . . . . .
a) Zurechnungszusammenhang
schaft im Bund . . . .
b) Länderbereich (Art. 28 Abs.
Staatsvolk . . . . . . . .
a) Wahlvolk . . . . . .
b)
. . . . . . .
zwischen Volk und
. . . . . . .
1 Satz 1 GG) . .
. . . . . . .
. . . . . . .
. . . .
staatlicher
. . . .
. . . .
. . . .
. . . .
294
294
294
294
295
aa) Neuregelung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG . . . . . . . . . .
295
bb) Unionsbürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Deutscheneigenschaft i.S.v. Art. 116 GG . . . . . . . . .
295
295
aa) Art. 116 Abs. 1 GG (Flüchtlinge und Vertriebene)
3.
. .
Herr. .
. .
. .
. .
. . . . .
295
bb) Art. 116 Abs. 2 GG (Wiedereinbürgerung von Ausgebürgerten)
c)
Verlust der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG) . . . . .
Wahlen als Legitimationsgrundlage . . . . . . . . . . . .
a) Periodische Wahlen als “Quelle der Staatsgewalt“ . . . . . .
296
296
296
296
aa) Freie Wahlen als Grundvoraussetzung für das Offenhalten der
gebotenen Möglichkeit, von einer Minderheit zur Mehrheit zu
werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
296
(1) Freiheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
297
(2) Chancengleichheit auch und gerade für Minderheiten . .
297
(3) Wahlgesetzgebung als Tätigwerden “in eigener Sache“
.
297
. . . . . . . .
297
cc) Wahlen als “exklusive“ Legitimationsgrundlagen . . . . . . .
297
bb) Erfordernis der Erneuerung der Legitimation
(1) Verbot der “Entsendung“ von Abgeordneten durch Staat
oder Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
298
(2) Alternative der Repräsentation durch Auslosung . . . . .
298
Brunn - Kapitel D.III.0.
b)
Seite 289
Verbot der (staatlichen) Beeinflussung von Wählern und Wahlen
aa) Freie Meinungsbildung und Stimmabgabe des Wählers
c)
. . .
bb) (Unzulässige) Wahlbeeinflussung . . . . . . . . . . . . . . .
Freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) “Dialog“ zwischen Parlament und den gesellschaftlichen Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
d)
bb) Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Einführung in die Grundsätze des Art. 38 GG (Zusammenhänge mit
Art. 20 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Art. 38 Abs. 1 GG
(1) Allgemeinheit
298
298
299
299
299
299
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
299
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
(2) Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit
. . . . . . . .
300
(3) Bundesparlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
(4) Repräsentationsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
300
bb) Art. 38 Abs. 2 GG (Beeinflussung des passiven Wahlrechts
durch den Gleichheitsgrundsatz) . . . . . . . . . . . . . . . .
300
cc) Art. 38 Abs. 3 GG (Ausgestaltungsauftrag des Gesetzgebers)
301
dd) Rechte des Wahlberechtigten aus Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2
GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
301
(1) Subjektives Recht (“status activus“)
. . . . . . . . . . .
(2) Mittelbare Betroffenheit (Verletzung der Verfassungsidentität) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.
298
ee) Zunehmende Bedeutung des Art. 20 Abs. 1 GG . . . . . . .
Wahlgesetzgeber und Verwirklichung der Wahlrechtsgrundsätze (Wahrnehmung des Gesetzgebungsauftrags gem. Art. 38 Abs. 3 GG) . . .
a) Zielsetzungen und zulässige Mittel der Zielerreichung
. . . .
301
301
302
302
303
aa) Verfassungsrechtliche Zweckvorgaben . . . . . . . . . . . . .
303
(1) Die (zumindest) sieben Zielvorgaben für den Gesetzgeber
303
(2) Gleiche Gewichtung der Vorgaben . . . . . . . . . . . . .
304
(3) Übertragung auf andere Wahlen . . . . . . . . . . . . . .
304
bb) Mehrheits- und/oder Verhältniswahlen . . . . . . . . . . . .
304
(1) Freiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
(2) Insbesondere: Verbindung der Systeme (Grabensystem) .
304
cc) Allgemeine “Nachbesserungspflichten“ des Wahlgesetzgebers
305
dd) Die Zusammenhänge zwischen den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit und den Grundsätzen der Chancengleichheit der Parteien (insbesondere bei der Errichtung von Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht) . . . . . . . . . . . . . . . .
305
Brunn - Kapitel D.III.0.
Seite 290
(1) Eng bemessener Spielraum des Gesetzgebers für Differenzierungen (“strenger Maßstab“) . . . . . . . . . . . . . .
305
(2) Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung als
Rechtfertigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
305
(2a)
Keine einheitliche Bewertung der Volksvertretungen bezüglich ihrer Funktionsfähigkeit . . .
306
Gesetzgeberische Pflicht zur Orientierung an der
politischen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . .
306
(3) Spezielle Prüf- und Änderungspflichten des Gesetzgebers
bei veränderten tatsächlichen Gegebenheiten (insbesondere:
Sperrklauseln) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
306
(2b)
(3a)
Verbot der “Festschreibung“ tatsächlicher und
rechtlicher Verhältnisse . . . . . . . . . . . . .
306
Verlässliche Prognosen als gesetzgeberische Aufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Die Wahlrechtsgrundsätze in ihren Grundzügen . . . . . .
307
307
(3b)
b)
aa) Allgemeinheit der Wahl
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Verbot des gruppengerichteten Wahlrechtsausschlusses
.
307
(2) Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
307
bb) Unmittelbarkeit der Wahl
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Verbot von “Wahlmännern“
. . . . . . . . . . . . . . . .
(2) Transparenzgebot und Verbot widersinniger Wirkungszusammenhänge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(2a)
(2b)
c)
307
308
308
308
Widersinnige Wirkungszusammenhänge im Abstrakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308
Widersinnige Wirkungszusammenhänge im Besonderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
308
cc) Freiheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
(1) Unbeeinflusste Wahlrechtsausübung . . . . . . . . . . . .
309
(2) Freies Wahlvorschlagsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
dd) Geheimheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Insbesondere: Wahlrechtsgleichheit (i.V.m. “Chancengleichheit“) .
309
309
aa)
Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (insbesondere gleicher Zähl- und Erfolgswert) als Grundanforderung an alle
Wahlsysteme (Mehrheits- und Verhältniswahl) . . . . . . . .
310
(1) Gebot der Folgerichtigkeit und Verbot der strukturwidrigen
Elemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310
(2) Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet (Grundsatz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
310
Brunn - Kapitel D.III.0.
Seite 291
(3) Einfluss von Zähl- und Erfolgswertgleichheit auf das Sitzzuteilungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
311
(4) Unterschiede bei Mehrheits- und Verhältniswahl . . . . .
311
(4a)
Weitergehende Einflußnahmemöglichkeiten des
Wählers bei der Verhältniswahl . . . . . . . . .
311
Verhältniswahl und Gebot des gleichen Erfolgswerts jeder Stimme . . . . . . . . . . . . . . .
311
Pflichten des Gesetzgebers im Zusammenhang
mit Stimmenanrechnungen auf einer Landesliste
312
(5) Gestaltungsfreiheit für Rechenverfahren zur Sitzverteilung
bei der Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312
bb) Rechtfertigungen für Differenzierungen (insbesondere Funktionsfähigkeit des Parlaments) im Allgemeinen und Speziellen
312
(1) Kollisionen mit Verfassungswerten (zulässige Differenzierungsgründe) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312
(2) Spezieller Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für Differenzierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
312
(4b)
(4c)
cc) Insbesondere: Differenzierungen bei der Wahlkreiseinteilung
(1) Verteilung der Wahlkreise auf die Länder . . . . . . . . .
313
(2) “Geringfügigkeitsvorbehalt“
313
. . . . . . . . . . . . . . . .
dd) Sonderfälle der (zulässigen und unzulässigen) “Überhangmandate“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Verfehlung des Ziels eines vollen Ausgleichs
5.
. . . . . . .
(2) Entstehung von Überhangmandaten (Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Legitimierungsbedürftige Wahrnehmung (vornehmlich behördlicher und
richterlicher) staatlicher Aufgaben . . . . . . . . . . . . .
a) Allgemeines (“Sachlich-inhaltliche Legitimation“, “Legitimationsniveau“ und “amtsgebundene Legitimation“) . . . . . . . .
b)
313
313
313
314
314
314
aa) Personelle sowie sachlich-inhaltliche Legitimation (“ununterbrochene Legitimationskette) . . . . . . . . . . . . . . . . . .
314
bb) Legitimationsniveau (insbesondere Legitimation von - “herausgehobenen“ - Richtern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
(1) Legitimation von Richtern . . . . . . . . . . . . . . . . .
315
(2) Amtsgebundene Legitimation
. . . . . . . . . . . . . . .
315
(3) Ministerielle Auswahlkompetenz? . . . . . . . . . . . . .
Legitimation für Exekutiv-Aufgaben . . . . . . . . . .
315
316
aa) Unterscheidung Regierungs- und Verwaltungshandeln . . . .
316
(1) Außen- und integrationspolitische Tätigkeit der Regierung
allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
316
Brunn - Kapitel D.III.0.
Seite 292
(2) Verkehr mit anderen Staaten im Speziellen . . . . . . . .
bb) “Innerdienstliche Entscheidungen“ (mit Außenwirkungen)
6.
.
316
317
(1) Die Besonderheit von Entscheidungen mit zugleich Innenwie Außenwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
(2) Gesetzgeber und Grenzen von Mitbestimmungsregelungen
(“Drei Stufen-Modell“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
cc) Besonderes Bestellungsorgan . . . . . . . . . . . . . . . . . .
318
dd) Legitimation im Bereich funktionaler Selbstverwaltung . . .
318
ee) “Offenheit“ für andere Formen der Organisation und Ausübung
von Staatsgewalt außerhalb der unmittelbaren Staats- bzw. Gemeindeverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
c)
Beleihung Privater mit hoheitlichen Befugnissen . . . . . .
Die Parteien und der Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . .
a) Reichweite und Grenzen des Art. 21 Abs. 3 GG . . . . . .
b) Der Rang der Parteien als “verfassungsrechtliche Institutionen“ .
c)
Die Beteiligung an Wahlen (als unverzichtbares Element) und die
Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . .
aa) Chancengleichheit bei Wahlen und deren Vorbereitung . . .
318
319
319
319
320
320
320
(1) Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit
und Gleichheit der Wahl . . . . . . . . . . . . . . . . . .
320
(2) Differenzierungsverbot
320
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(3) Zuweisung staatlicher Finanzmittel
. . . . . . . . . . . .
321
(3a)
Zuweisungen an andere Parteien . . . . . . . .
321
(3b)
Zuweisungen an Dritte
. . . . . . . . . . . . .
321
(3c)
Zweckwidrige Verwendung staatlicher Mittel .
321
bb) Einwirkungen von Staatsorganen auf die Chancengleichheit
321
cc) Insbesondere: Öffentliche Äußerungen (des Bundespräsidenten
und) der Bundesregierung (bzw. deren Mitgliedern) und Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322
(1) Bundesregierung und deren Informations- und Öffentlichkeitsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
322
(2) Pflicht zur Beachtung des “Neutralitätsgebots“
. . . . .
322
(3) Äußerungen einzelner Mitglieder der Bundesregierung . .
323
[1] Zu dem gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht antastbaren Gehalt des Demokratieprinzips
(Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG; BVerfGE 137, 108 [143 f.]) gehört, dass die Wahrnehmung staatlicher Aufgaben und die Ausübung staatlicher Befugnisse (nachstehend 5.)
sich auf das Staatsvolk (nachstehend 2.) zurückführen lassen und grundsätzlich ihm gegenüber verantwortet werden (BVerfGE 89, 155 [182]; vgl. auch BVerfGE 123, 267 [341
ff.] sowie BVerfGE 135, 155 [221 f.]). Ergänzend bestimmt Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG der
Sache nach, dass das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland Träger und Subjekt der
Staatsgewalt ist (BVerfGE 83, 37 [50 f.]).
Brunn - Kapitel D.III.1.
Seite 293
Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG enthält eine Staatszielbestimmung und ein Verfassungsprinzip
. Aufgrund seines Prinzipiencharakters ist Art. 20 Abs. 2 GG entwicklungsoffen ; das
Ausgehen der Staatsgewalt vom Volk muss zwar für das Volk wie auch die Staatsorgane
jeweils konkret erfahrbar und praktisch wirksam sein; bei veränderten Verhältnissen
können aber Anpassungen notwendig werden (BVerfGE 107, 59 [91]).
[2] Soweit im Hinblick auf das vorbezeichnete Volk von Selbstbestimmung (Volkssouveränität; nachstehend 1.) zu sprechen ist oder gesprochen wird, verwirklicht sich diese
hauptsächlich in der Wahl (nachstehend 3. und 4.) von Organen (eines Herrschaftsverbandes), die öffentliche Gewalt ausüben.
Die Organe müssen durch Mehrheitsentscheidung der Bürger gebildet werden, die wiederkehrend Einfluss auf die politische Grundausrichtung - personell und sachlich - nehmen können. Eine freie öffentliche Meinung und eine politische Opposition müssen fähig
sein, den Entscheidungsprozess in seinen wesentlichen Zügen kritisch zu beobachten und
Verantwortlichen sinnvoll zuzurechnen (BVerfGE 123, 267 [366]; dort [367] auch zu plebiszitären Abstimmungen in Sachfragen).
Was die vorbezeichneten Wahlen angeht, so muss das Volk in einer Demokratie vornehmlich Gesetzgebung (und Regierung) in freier und gleicher (nachstehend 4.) Wahl
bestimmen können (a.a.O. [367] “Kernbestand“; dort auch zum Mehrparteiensystem nachstehend 6. zu den Parteien - und zum Recht “auf organisierte politische Opposition
“).
[3] Was die demokratische Legitimierung der Übertragung von Staatsgewalt auf EU Organe anbelangt (ausführlich vorstehend C.III.3.), so geht Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG
zwar davon aus, dass die demokratischen Grundsätze in der Europäischen Union nicht in
gleicher Weise wie im Grundgesetz verwirklicht werden können, aber die Ermächtigung
zur europäischen Integration erlaubt eine andere Gestaltung politischer Willensbildung,
als sie das Grundgesetz für die deutsche Verfassungsordnung bestimmt. Dies gilt bis zur
Grenze der unverfügbaren Verfassungsidentität (Art. 79 Abs. 3 GG).
Auch und gerade im Anwendungsbereich des Art. 23 GG schließt Art. 38 GG aus, die
durch eine Wahl bewirkte Legitimation und Einflussnahme auf die Ausübung von Staatsgewalt durch die Verlagerung von Aufgaben und Befugnissen des Bundestags so zu entleeren, dass das demokratische Prinzip - soweit es durch Art. 79 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 20
Abs. 1 und 2 GG für unanfechtbar erklärt wird - verletzt wird (BVerfGE 89, 155 [182]; vgl.
auch BVerfGE 97, 350 [369] sowie BVerfGE 131, 152 [217] dazu, dass die Wahrnehmung
der deutschen Mitgliedsrechte in den europäischen Organen durch die Beteiligungsrechte
des Bundestages, Art. 23 Abs. 2 und Abs. 3 GG, parlamentarisch mitverantwortet wird).
[4] Der Grundsatz der demokratischen Selbstbestimmung und der gleichheitsgerechten
Teilhabe an der öffentlichen Gewalt bleibt auch durch den Friedens- und Integrationsauftrag des Grundgesetzes sowie den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit (A.III.3. (vgl. S. 56) sowie B.II.2.d) (vgl. S. 118) ) unangetastet (BVerfGE
123, 267 [344]; vgl. auch BVerfGE 141, 1 [21 f.]; “Demokratie ist Herrschaft auf Zeit“).
Freilich geht das Grundgesetz (Präambel, Art. 24 bis Art. 26 GG) von der Eingliederung
des von ihm verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengesellschaft aus;
auch das Demokratieprinzip ist im Lichte dieser Einordnung zu sehen (BVerfGE 63,
343 [370] für Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Hoheitsakte durch deutsche
Behörden und Gerichte).
Brunn - Kapitel D.III.2.
Seite 294
1. Volkssouveränität
Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG gestaltet den Grundsatz der Volkssouveränität (BVerfGE
137, 108 [143] “Demokratie und Volkssouveränität ... sind Rechtsprinzipien, die ihren
praktischen Niederschlag in der Verfassungswirklichkeit finden müssen“) aus. Er legt fest,
dass das Volk die Staatsgewalt, deren Träger es ist, außer durch Wahlen (nachstehend 3.
und 4.) und Abstimmungen durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden
Gewalt und der Rechtsprechung (nachfolgend VI. zum Grundsatz der Gewaltenteilung)
ausübt.
Das setzt voraus, dass das Volk einen effektiven Einfluss auf die Ausübung von Staatsgewalt durch diese Organe hat. Deren Akte müssen sich daher auf den Willen des Volkes
zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden.
a) Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft im
Bund
Dieser Zurechnungszusammenhang zwischen Volk und staatlicher Herrschaft wird vor
allem durch die Wahl des Parlaments (nachfolgend 3. und 4.), durch die von ihm beschlossenen Gesetze als Maßstab der vollziehenden Gewalt, durch den parlamentarischen
Einfluss auf die Politik der Regierung sowie durch die grundsätzliche Weisungsgebundenheit der Verwaltung (nachfolgend 5.) gegenüber der Regierung hergestellt (BVerfGE 83,
60 [71 f.] sowie BVerfGE 135, 155 [221 f.] und BVerfGE 137, 185 [232] “Ausgehen von
Staatsgewalt“ vom Volk muss für das Volk wie auch die Staatsorgane jeweils konkret erfahrbar und praktisch wirksam sein; vgl. auch - was die soeben “ausgeklammerte“ Rechtsprechung und deren Träger anbelangt - BVerfGE 93, 37 [67], wonach uneingeschränkte
personelle Legitimation ein Amtsträger dann besitzt, wenn er verfassungsgemäß sein Amt
im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament erhalten hat, was zur Folge
hat, dass zumindest die Bundesverfassungsrichter, Bundesrichter sowie gewählten Richter der Länder ausreichend demokratisch legitimiert sind; vgl. im Übrigen nachfolgend
D.III.5.a)bb) (vgl. S. 314) sowie D.VII.3.b) (vgl. S. 433) ).
b) Länderbereich (Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG)
Gem. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG sind die Grundentscheidung des Art. 20 Abs. 2 GG für die
Volkssouveränität und die daraus folgenden Grundsätze der demokratischen Organisation und Legitimation von Staatsgewalt auch für die verfassungsmäßige Ordnung in den
Ländern verbindlich (BVerfGE 83, 60 [71]; dort [71 f.] auch dazu, dass für die Beantwortung der Frage, ob ein - gemessen am Grundsatz der Volkssouveränität - hinreichender
Gehalt an demokratischer Legitimation erreicht wird, entscheidend ein bestimmtes Legitimationsniveau ist; vgl. auch BVerfGE 119, 331 [366] sowie BVerfGE 135, 317 [428
f.]).
2. Staatsvolk
Das Staatsvolk, von dem die Staatsgewalt in der Bundesrepublik Deutschland ausgeht,
wird nach dem Grundgesetz von den Deutschen , also den deutschen Staatsangehörigen
(BVerfGE 113, 273 [295] “Die Staatsangehörigkeit ist die rechtliche Voraussetzung für
den gleichen staatsbürgerlichen Status ...“) und den ihnen nach Art. 116 Abs. 1 GG
gleichgestellten Personen, gebildet.
Brunn - Kapitel D.III.2.
Seite 295
a) Wahlvolk
Damit wird für das Wahlrecht (nachstehend 3. und 4.), durch dessen Ausübung das
Volk in erster Linie die ihm zukommende Staatsgewalt wahrnimmt, nach der Konzeption
des Grundgesetzes die Eigenschaft als Deutscher vorausgesetzt (grundlegend: BVerfGE
83, 37 [51 f.]; vgl. auch BVerfGE 123, 267 [405 f.] sowie BVerfGE 119, 331 [366] für
“Landesvolk“; vgl. zu Stadtstaaten und Bezirksversammlungen auch BVerfGE 83, 60 [75
f.]).
aa) Neuregelung des Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG
Was Wahlen in Kreisen und Gemeinden anbelangt, so ist Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG in
das Grundgesetz eingefügt worden, und hiernach dürfen auch Personen wählen, die die
Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der EU besitzen.
bb) Unionsbürgerschaft
Die Unionsbürgerschaft (Art. 17 Abs. 1 Satz 2 EG) ist - ungeachtet ihrer sonstigen
Bedeutung (BVerfGE 89, 155 [184 f.]) - freilich nur ein abgeleiteter und die nationale
Staatsangehörigkeit ergänzender Status (BVerfGE 113, 273 [298]).
b) Deutscheneigenschaft i.S.v. Art. 116 GG
Die im Kapitel XI. (Übergangs- und Schlussbestimmungen) angesiedelte Vorschrift des
Art. 116 GG ist nur vor dem Hintergrund der NS- und Kriegszeit sowie der “Nachkriegswirren“ zu begreifen; sie dürfte größtenteils “vollzogen“ sein.
aa) Art. 116 Abs. 1 GG (Flüchtlinge und Vertriebene)
Neben den deutschen Staatsangehörigen sind in Art. 116 Abs.1 GG alternativ die “Flüchtlinge oder Vertriebenen deutscher Volkszugehörigkeit“ (beachte auch die wohl obsolete
Vorschrift des Art. 119 GG) oder deren “Ehegatten oder Abkömmlinge“ zu Deutschen
im Sinne des Grundgesetzes, also - neben der Wahlfähigkeit - auch etwa zu Inhabern
der “Deutschengrundrechte“ (nachfolgend E.VIII. , E.IX. , E.XI. und E.XII.) bestimmt
worden.
Sie müssen freilich “Aufnahme“ in einem bestimmten Gebiet “gefunden“ haben; weil
dies - erstens - nach der Entscheidung BVerfGE 17, 224 (231) auch und gerade nach
dem Inkrafttreten des Grundgesetzes geschehen sein kann und - zweitens - die Norm
auch und gerade Abkömmlinge (Kinder und Kindeskinder) bevorzugen kann, ist in der
jahrzehntelangen “Anerkennungspraxis“ die Frage (und deren teilweise geradezu absurde
Beantwortung) in den Vordergrund getreten, wie das lange zurückliegende, für die Anerkennung vorausgesetzte “Bekenntnis zum Deutschtum“ (a.a.O. [228]; vgl. auch BVerfGE
59, 128 [151]) eines meist längst verstorbenen “Bekenners“ belegt werden kann, wenn
erstmals bspw. sein Enkel als “Spätaussiedler“ Aufnahme (sucht und) findet.
Weil immer noch Spätaussiedler Aufnahme suchen, besteht hier dringender gesetzgeberischer Handlungsbedarf.
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 296
bb) Art. 116 Abs. 2 GG (Wiedereinbürgerung von Ausgebürgerten)
Demgegenüber hat - soweit ersichtlich - Art. 116 Abs. 2 GG, der der Wiedergutmachung
nationalsozialistischen Unrechts dient (BVerfGE 54, 53 [69 ff.), keinerlei Anwendungsschwierigkeiten bereitet (vgl. BVerfGE 8, 81 [85 f.] sowie BVerfGE 23, 98 [108 ff.]).
c) Verlust der Staatsangehörigkeit (Art. 16 Abs. 1 GG)
Art. 16 Abs. 1 GG (vgl. im Einzelnen E.XV. ) unterscheidet zwischen der Entziehung der
Staatsangehörigkeit (BVerfGE 116, 24 [36 ff.]) und einem sofortigen Verlust und stellt an
beide Verlustformen unterschiedliche verfassungsrechtliche Anforderungen.
Die Entziehung ist nach Art. 16 Abs. 1 Satz 1 GG ausnahmslos verboten.
Im Gegensatz dazu kann ein sonstiger Verlust der Staatsangehörigkeit nach Art. 16 Abs.
1 Satz 2 GG (etwa als Folge einer “erschlichenen“ Einbürgerung, a.a.O. [46 ff.]) unter
Umständen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden (BVerfGE 135, 48 [58 f.]; dort [77
f.] auch zum Verbot der Inkaufnahme der Staatenlosigkeit, Art. 16 Abs. 1 Satz 2 GG).
3. Wahlen als Legitimationsgrundlage
Wie bereits angedeutet (vor 1. und 1.), verwirklicht sich in modernen Territorialstaaten
die Selbstbestimmung eines Volkes hauptsächlich in der Wahl von Organen eines Herrschaftsverbandes, die die öffentliche Gewalt ausüben. Die Organe müssen durch Mehrheitsentscheidung der Bürger gebildet werden, die wiederkehrend Einfluss auf die politische Grundausrichtung - personell und sachlich - nehmen können. Eine freie öffentliche
Meinung und eine politische Opposition müssen fähig sein, den Entscheidungsprozess in
seinen wesentlichen Zügen kritisch zu beobachten und Verantwortlichen sinnvoll zuzurechnen (BVerfGE 123, 267 [366]; dort [367] auch zur Ergänzung des “Kernbestandes“
durch plebiszitäre Abstimmungen in Sachfragen sowie zum Mehrparteiensystem und dem
Recht “auf organisierte politische Opposition“).
Darüber hinaus weisen Wahlen auch eine “real- wie personalplebiszitäre Dimension“ auf,
welche die mit der Wahl verbundene politische Richtungsentscheidung auch konkret erfahrbar macht (BVerfGE 137, 108 [143 f.] “Verantwortungszuordnung“).
a) Periodische Wahlen als “Quelle der Staatsgewalt“
Mit allgemeinen, freien und gleichen Wahlen (insbesondere nachfolgend 4.) der Abgeordneten (nachfolgend D.VII.1.) des Bundestages (vorstehend A.II.1.) betätigt das Bundesvolk seinen politischen Willen unmittelbar und regiert sich regelmäßig mittels einer
Mehrheit in der so zustande gekommenen repräsentativen Versammlung, aus der heraus
der Kanzler und damit die Bundesregierung bestimmt werden. Immer wieder geht mit
periodisch wiederholten Wahlen vom Volk neu die Staatsgewalt aus (BVerfGE 123, 267
[340] “Quelle der Staatsgewalt“).
aa) Freie Wahlen als Grundvoraussetzung für das Offenhalten der gebotenen Möglichkeit, von einer Minderheit zur Mehrheit zu werden
In der freiheitlichen Demokratie des Grundgesetzes geht alle Staatsgewalt vom Volke
aus und wird von ihm in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 297
Gesetzgebung der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt (Art. 20 Abs.
1 und 2 GG).
(1) Freiheit der Wahl
Wahlen vermögen demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG nur zu
verleihen, wenn sie frei sind. Dies erfordert nicht nur, dass der Akte der Stimmabgabe
frei von Zwang und unzulässigem Druck bleibt, wie es Art. 38 Abs. 1 GG gebietet, sondern
auch, dass die Wähler ihr Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung
gewinnen und fällen können (nachfolgend b)).
(2) Chancengleichheit auch und gerade für Minderheiten
Im Wahlakt muss sich die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin vollziehen,
nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin. In einem freiheitlichen Staat, in
dem der Mehrheitswille in den Grenzen der Rechtsstaatlichkeit entscheidet, müssen Minderheitsgruppen die Möglichkeit haben, zur Mehrheit zu werden. Demokratische Gleichheit fordert, dass der jeweils herrschenden Mehrheit und der oppositionellen Minderheit
bei jeder Wahl aufs Neue grundsätzlich die gleichen Chancen im Wettbewerb um die
Wählerstimmen offengehalten werden. Die Gewährleistung gleicher Chancen im Wettbewerb um Wählerstimmen ist ein unabdingbares Element des vom Grundgesetz gewollten
freien und offenen Prozesses der Meinungs- und Willensbildung des Volkes (BVerfGE
138, 102 [109 f.]).
(3) Wahlgesetzgebung als Tätigwerden “in eigener Sache“
Jegliche Wahlgesetzgebung unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle
, weil mit Regelungen, die die Bedingungen der politischen Konkurrenz berühren, die
parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in eigener Sache tätig wird und gerade bei der
Wahlgesetzgebung die Gefahr besteht, dass die jeweilige Parlamentsmehrheit sich statt
von allgemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Machterhalts leiten lässt
(BVerfGE 140, 1 [30]).
bb) Erfordernis der Erneuerung der Legitimation
Was speziell das vorstehend erwähnte Erfordernis der Erneuerung der Legitimation durch
periodisch wiederholte Wahlen anbelangt, so gehört es (auch) zu den grundlegenden
Prinzipien des freiheitlichen demokratischen Rechtsstaats , dass die Volksvertretungen
in regelmäßigen, in im Voraus bestimmten Abständen durch Wahlen abgelöst und neu
legitimiert werden (grundlegend: BVerfGE 13, 54 [91] sowie BVerfGE 18, 151 [154]).
cc) Wahlen als “exklusive“ Legitimationsgrundlagen
Im demokratisch verfassten Staat des Grundgesetzes können nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Abgeordneten ihre Legitimation zur Repräsentation nur aus der Wahl durch das Volk beziehen. Ein Abgeordnetensitz kann
mithin nur aufgrund einer - wie auch immer ermittelten - demokratischen Mehrheit
erworben werden (BVerfGE 97, 317 [323]).
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 298
(1) Verbot der “Entsendung“ von Abgeordneten durch Staat oder Parteien
Dies erscheint zwar selbstverständlich, soweit dadurch ausgeschlossen wird, dass Abgeordnetensitze durch Instanzen zwischen Wähler und Gewählten - etwa durch Ernennung
durch die Regierung oder durch Entsendung durch Parteien - (BVerfGE 47, 253 [279 f.]
sowie BVerfGE 95, 335 [350]) vergeben werden.
(2) Alternative der Repräsentation durch Auslosung
Indessen könnte dem Repräsentationsprinzip und dem Gedanken des Volkswillens auch
durch die Möglichkeit Rechnung getragen werden, Abgeordnetensitze durch ein mechanisches Auswahlverfahren (“Verlosung“) zu erwerben.
Die Folge wäre ein Deutscher Bundestag, welcher die wahlberechtigten Bürger nach dem
“Gesetz der großen Zahl“ viel genauer repräsentieren würde als bei der heutigen Form von
Wahlen. Das Übergewicht der Beamten und Juristen würde entfallen; auch - die immer
wieder als so gut wie nicht in den Parlamenten vertreten beklagten - Studenten, Hausfrauen, Krankenschwestern, Arbeitslosen, Arbeiter, Rentner etc. wären entsprechend ihrem
Bevölkerungsanteil vertreten. Sie könnten sich auch - je nach ihrer politischen Grundausrichtung und möglicherweise angeleitet durch Parteien - zu Fraktionen zusammenfügen;
auch die Wahl des Bundeskanzlers und seiner Regierung wäre möglich, indem verschiedene Parteien dem so zusammengesetzten Bundestag ihre Kandidaten vorstellten und sie
zur Wahl stellten.
Bei der alltäglichen Gesetzgebungsarbeit bedürften die Abgeordneten indessen - als “Gegengewicht der Ministerien“ - eines deutlich erweiterten Apparates an personellen und
sächlichen Mitteln, die gewissermaßen den “Sachverstand“ erweitern könnten.
Indessen sind diese Ideen - ungeachtet ihrer verfassungsrechtlichen Anzweifelbarkeit (vgl.
nachfolgend D.VII.1.d)cc) (vgl. S. 390) ) - schon deswegen illusorisch, weil die Parteien
niemals einen solchen Wechsel durch den verfassungsändernden Gesetzgeber zuließen.
b) Verbot der (staatlichen) Beeinflussung von Wählern und Wahlen
Wie nachstehend (4. b) cc)) im Einzelnen dargelegt, müssen Wähler (und Wahlbewerber)
möglichst unbeeinflusst und autonom (insbesondere frei von staatlicher Beeinflussung)
ihre Entschlüsse vorbereiten und treffen können.
aa) Freie Meinungsbildung und Stimmabgabe des Wählers
Vor dem bisher dargelegten Hintergrund ist es zwingend, dass - erstens - die Wähler ihr
Urteil in einem freien, offenen Prozess der Meinungsbildung gewinnen und fällen können
sowie - zweitens - der Akt der Stimmabgabe von Zwang und unzulässigem Druck frei
bleibt (BVerfGE 73, 40 [85]).
bb) (Unzulässige) Wahlbeeinflussung
Selbstverständlich ist daher mit Art. 20 Abs. 2 GG unvereinbar eine auf Wahlbeeinflussung gerichtete, parteiübergreifende Einwirkung von Staatsorganen als solchen zu
Gunsten oder zu Lasten einzelner oder aller am Wahlkampf beteiligten politischen Parteien oder Bewerber; eine solche verstößt gegen das Gebot der Neutralität des Staates
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 299
im Wahlkampf und verletzt die Integrität der Willensbildung des Volkes durch Wahlen
und Abstimmungen.
Mit anderen Worten ist es den Staatsorganen von Verfassungs wegen versagt, sich in
amtlicher Funktion im Hinblick auf Wahlen mit politischen Parteien oder Wahlbewerbern zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu
bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen
(grundlegend: BVerfGE 44, 125 [141 ff.]).
c) Freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten
Demokratie setzt darüber hinaus, soll sie sich nicht in einem rein formalen Zurechnungsprinzip erschöpfen, freie und offene Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten
voraus.
aa) “Dialog“ zwischen Parlament und den gesellschaftlichen Kräften
Dies gilt nicht nur für den Wahlakt selbst, in dem sich die Willensbildung vom Volk zu
dem Staatsorgan hin und nicht umgekehrt vollziehen muss; als gleichermaßen wichtig für
die Legitimität demokratischer Ordnung erweist sich der beständige Dialog zwischen
Parlament und gesellschaftlichen Kräften. Das Recht des Bürgers auf Teilhabe an der
politischen Willensbildung äußert sich nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen, sondern
auch in der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung.
bb) Öffentlichkeitsarbeit
Um den Bürger hierzu zu befähigen, bedarf es nicht zuletzt der Öffentlichkeitsarbeit
von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften (vgl. noch nachstehend D.III.6.c)cc)
(vgl. S. 322) zu “fragwürdiger“ Öffentlichkeitsarbeit). Die für eine lebendige Demokratie wesentliche Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten kann ohne ein
Mindestmaß an kontinuierlicher Befassung und Auseinandersetzung der Bürger mit den
politischen Entwicklungen kaum gelingen (BVerfGE 132, 24 [50 f.]).
d) Einführung in die Grundsätze des Art. 38 GG (Zusammenhänge mit Art.
20 GG)
Bei unbefangener Betrachtung des Art. 38 GG - ausführlich nachfolgend 4. - scheint er
keine besonderen Probleme aufzuwerfen.
aa) Art. 38 Abs. 1 GG
Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG stellt Wahlrechtsgrundsätze auf, welche ohne Weiteres verständlich erscheinen ; Allgemeinheit und Gleichheit sichern die vom Demokratieprinzip (Art.
20 Abs. 1 GG) vorausgesetzte Egalität der Staatsbürger (BVerfGE 99, 1 [13]), weil die
Gleichbewertung aller Aktivbürger bei der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte zu
den wesentlichen Grundlagen der freiheitlich demokratischen Grundordnung im Sinne
des Grundgesetzes gehört (BVerfGE 11, 351 [360]); mit anderen Worten entspricht es
dem Demokratiegebot, dass jedem Staatsangehörigen, der aufgrund seines Alters (Art.
38 Abs. 2 GG) und ohne den Verlust seines aktiven Wahlrechts wahlberechtigt ist, ein
gleicher Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt zusteht (BVerfGE 123, 267 [342]).
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 300
(1) Allgemeinheit
Was speziell den Grundsatz der Allgemeinheit
der Wahl angeht (nachfolgend
D.III.4.b)aa) (vgl. S. 307) ), so ist offensichtlich, dass seine Funktion hauptsächlich darin
besteht, Diskriminierungen bei der Wahlberechtigung und Wählbarkeit zu verhindern,
und dass er dem Gesetzgeber insbesondere verbietet, bestimmte Gruppen aus politischen,
wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen
(BVerfGE 15, 165 [167]; dort auch - insoweit fragwürdig - zur Briefwahl).
(2) Unmittelbarkeit, Freiheit und Geheimheit
Auch die Begriffe “Unmittelbarkeit der Wahl“, “Freiheit der Wahl“ und “Geheimheit
der Wahl“ (nachfolgend D.III.4.b)bb) (vgl. S. 307) ) erschließen sich gewissermaßen von
selbst; mit dem Erfordernis der Unmittelbarkeit soll - anders als im US-amerikanischen
Recht mit seinem Wahlmänner-Prinzip - erreicht werden, dass zwischen Wähler und Kandidat keine weitere Instanz mit Entscheidungsbefugnis eingeschaltet werden darf (BVerfGE 7, 63 [68] die Wähler müssen “das letzte Wort“ haben); mit der Freiheit wäre es unvereinbar, wenn unzulässige Beeinflussungen von außen den Wahlentschluss beeinträchtigen
könnten (a.a.O. [69]); und das Prinzip der Geheimheit der Wahl bewahrt den Wähler auch Privaten gegenüber - vor der Offenbarung, wie er wählen will, wie er wählt und wie
er gewählt hat.
(3) Bundesparlament
Die Erwähnung der “Abgeordneten des Deutschen Bundestages“ bedeutet, dass hierin
(nur) eine Beschränkung auf das Bundesparlament (und nicht eine Erstreckung auf andere
Vertretungskörperschaften) liegt (vgl. BVerfGE 129, 300 [317] dazu, dass sich für die
deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments etwa der Grundsatz der Gleichheit
der Wahl aus Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlgleichheit
ergibt).
(4) Repräsentationsprinzip
Mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG (Vertreter des ganzen Volkes) wird das Repräsentationsprinzip gewissermaßen “festgeschrieben“.
bb) Art. 38 Abs. 2 GG (Beeinflussung des passiven Wahlrechts durch den Gleichheitsgrundsatz)
Was Art. 38 Abs. 2 GG anbelangt, so stand zumindest seit der Entscheidung BVerfGE 11, 351 (364) fest, dass der Grundsatz der gleichen Wahl (ebenso wie das aktive
Wahlrecht und das Wahlvorschlagsrecht) auch die Ausgestaltung des passiven Wahlrechts maßgeblich bestimmt; mit anderen Worten haben alle Aktivbürger, denen Art.
38 Abs. 2 GG die Wählbarkeit ausdrücklich garantiert, auch als Wahlbewerber ein
Recht auf Chancengleichheit, das eine Differenzierung nur aus zwingenden Gründen zulässt (BVerfGE 41, 399 [413]), was allerdings nicht ausschließt, dass Einzelbewerber nur
mit anderen Einzelbewerbern verglichen werden, nicht aber mit einem Bewerber, der von
einer politischen Partei aufgestellt ist (BVerfGE 6, 121 [130] heutzutage fragwürdig).
Brunn - Kapitel D.III.3.
Seite 301
cc) Art. 38 Abs. 3 GG (Ausgestaltungsauftrag des Gesetzgebers)
Auch die Bedeutung des Ausgestaltungsauftrags in Art. 38 Abs. 3 GG (ausführlich nachfolgend 4.) scheint auf den ersten Blick klar zu sein; die Ermächtigung deckt nur die
Ausfüllung des von Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG gesteckten Rahmens durch ein Ausführungsgesetz, wobei dem Gesetzgeber - wie in vielen anderen Fällen auch - mit Blick
auf die Bandbreite der nach Art. 38 Abs. 3 GG zu treffenden Entscheidungen und die
Vielzahl verfassungskonformer Ausgestaltungsvarianten zwar ein Entscheidungsspielraum
eingeräumt ist (BVerfGE 95, 335 [349 ff.]; freilich verlangt Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG
aber stets, dass “die Abgeordneten“ gewählt werden, was eine “bloße“ Parteienwahl ausschließt).
Aber weil von der Ausgestaltung des Wahlrechts und den mit Wahlen verbundenen höchst
bedeutsamen Folgen vor und nach stattgefundenen Wahlen keine Unklarheiten bestehen dürfen, bedarf die Materie des Wahlrechts im besonderen Maße der Rechtsklarheit
(BVerfGE 79, 161 [168]).
dd) Rechte des Wahlberechtigten aus Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG
Während sich das Bundesverfassungsgericht in den ersten Jahrzehnten seiner Rechtsprechung im Hinblick auf gesetzgeberische Wahlrechtsverstöße deutlich “zurückgehalten“
hat, ist in jüngerer und jüngster Zeit festzustellen, dass das Bundesverfassungsgericht
zunehmend differenziert (Verfassungs-)Recht spricht und den Bundesgesetzgeber nicht
“verschont“.
(1) Subjektives Recht (“status activus“)
Art. 38 Abs. 1 und Abs. 2 GG gewährleisten den wahlberechtigten Deutschen das subjektive Recht, an der Wahl der Abgeordneten des Deutschen Bundestages teilzunehmen.
Er verbürgt, dass dem Bürger das Wahlrecht zum Deutschen Bundestag zusteht und bei
der Wahl die verfassungsrechtlichen Wahlgrundsätze eingehalten werden (BVerfGE 89,
155 [171]; vgl. auch BVerfGE 129, 124 [167]).
Das Wahlrecht wird auch beeinträchtigt, wenn fällige Wahlen hinausgeschoben werden
(BVerfGE 1, 14 [33]).
Die Ausübung des Wahlrechts stellt sich essentiell als Teilhabe an der Staatsgewalt, als
ein Stück Ausübung von Staatsgewalt im status activus dar (BVerfGE 122, 304 [307]).
(2) Mittelbare Betroffenheit (Verletzung der Verfassungsidentität)
Darüber hinaus kann der materielle Gewährleistungsgehalt des Art. 38 GG verletzt sein,
wenn das Wahlrecht in einem für die politische Selbstbestimmung des Volkes wesentlichen
Bereich leerzulaufen droht, d.h. wenn die demokratische Selbstregierung des Volkes mittels des Deutschen Bundestages - dauerhaft derart eingeschränkt wird, dass zentrale
politische Entscheidungen nicht mehr selbständig getroffen werden können (BVerfGE
134, 366 [381] sowie BVerfGE 135, 317 [386]).
Insbesondere muss ein Verlust der nachhaltigen (dauerhaften) Haushaltsautonomie vermieden werden (BVerfGE 129, 124 [170 ff.]). Vor allem darf der Deutsche Bundestag seine
Budgetverantwortung nicht durch unbestimmte haushaltspolitische Ermächtigungen auf
andere Akteure übertragen, er darf sich keinen finanzwirksamen Mechanismen ausliefern,
die zu unüberschaubaren haushaltsbedeutsamen Belastungen ohne vorherige konstitutive
Zustimmung führen können (a.a.O. [179]).
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 302
Mit anderen Worten schützt Art. 38 GG die wahlberechtigten Bürger vor einem Substanzverlust ihrer verfassungsstaatlich gefügten Herrschaftsgewalt durch weitreichende
oder gar umfassende Übertragungen von Aufgaben und Befugnissen des Bundestages,
vor allem auf supranationale Einrichtungen (BVerfGE 129, 124 [168]; vgl. auch BVerfGE
134, 366 [396 f.]).
Mit nochmals anderen Worten ist eine Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG festgelegten
Verfassungsidentität (etwa durch Zustimmungsgesetzes zu Gemeinschaftsrecht oder zu
sonstigem zwingenden Völkerrecht) aus der Sicht des Demokratieprinzips zugleich ein
Übergriff in die verfassungsgebende Gewalt des Volkes (BVerfGE 123, 267 [340 ff.]; dort
[331 f.] auch zu verfassungsprozessualen Fragen, insbesondere zu den gem. Art. 93 Abs.
1 Nr. 4a GG genannten rügefähigen Rechten).
ee) Zunehmende Bedeutung des Art. 20 Abs. 1 GG
Für den Bundesgesetzgeber ist es zunehmend schwieriger geworden, die Vorgaben der
Verfassung und der dazu ergangenen Rechtsprechung zu erfüllen, was damit zusammenhängt, dass die Rechtsprechung zunehmend dazu übergegangen ist, als Prüfungsmaßstab
nicht nur den Art. 38 GG heranzuziehen (bzw. den aus Art. 3 GG ableitbaren speziellen
Wahlgleichheitsgrundsatz), sondern auch die Art. 20 Abs. 1 GG und Art. 21 GG für das
Wahlrecht fruchtbar zu machen.
Insbesondere erweist es sich zunehmend als “Quadratur des Kreises“, die grundsätzlich
zulässige (BVerfGE 1, 208 [246]; dort aber bereits zum Gebot der “Folgerichtigkeit“) Verknüpfung von Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahlrecht mit ihren abstrakten und
konkreten Gefahren zu beherrschen; hier kann es zunächst sein Bewenden haben mit
einer Aufzählung der schwer zu durchschauenden Begriffe wie “Zählwertgleichheit“, “Erfolgswertgleichheit“, “Chancengleichheit der Parteien“ “Wahlkreiseinteilungen“, “Sperrklauseln“ (funktionsfähiges Repräsentationsorgan), zulässige und unzulässige “Wahlwerbung“, “Ausgleich von Übergangmandaten“, “Kommunikationsfunktion der Wahl“ und
“Beobachtungs- bzw. Überprüfungspflicht des Gesetzgebers“.
Während in den unmittelbar nachfolgenden Kapiteln versucht wird, diese Begriffe zuzuordnen und ihren wesentlichen Kern (nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts) herauszuarbeiten, soweit es die Vorbereitung und die Durchführung einer Wahl
anbelangt, wird der Status der durch Wahlen erzeugten Abgeordneten - wegen der Parallelen und Unterschiede zu Beamten und Richtern - erst später (nachfolgend D.VII.1.)
dargestellt:
4. Wahlgesetzgeber und Verwirklichung der Wahlrechtsgrundsätze
(Wahrnehmung des Gesetzgebungsauftrags gem. Art. 38 Abs. 3 GG)
Die Ausgestaltung des Wahlrechts ist Sache des Gesetzgebers.
Im Rahmen dieses Auftrages (Art. 38 Abs. 3 GG) obliegt es dem Gesetzgeber, durch die
Verfassung legitimierte Ziele (nachfolgend a)) und den Grundsatz der Gleichheit der Wahl
(nachfolgend c)) gegeneinander abzuwägen. Er hat daher auch die Belange der Funktionsfähigkeit des Parlaments (nachfolgend a)dd)), das Anliegen weitgehender integrativer
Repräsentanz und die Gebote der Wahlrechtsgleichheit sowie der Chancengleichheit der
politischen Parteien (nachfolgend D.III.6. (vgl. S. 319) ) zum Ausgleich zu bringen.
Dabei darf eine differenzierende Regelung nicht an einem Ziel orientiert sein, das ein
Gesetzgeber bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf; Entsprechendes
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 303
gilt, wenn die Regelung zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet ist oder das Maß des
zur Erreichung des Ziels Erforderlichen überschreitet.
Dies gilt auch für die Entscheidung über den Einsatz von Sperrklauseln (nachfolgend
a)aa) und dd)) im Rahmen des Verhältniswahlrechts. Ob es zur Sicherung der Funktionsfähigkeit einer zu wählenden Volksvertretung einer Sperrklausel bedarf, ist auf der Basis
einer Prognose - hierzu allgemein A.II.3.a)dd) (vgl. S. 25) - über die Wahrscheinlichkeit
des Einzugs von Splitterparteien, dadurch künftig zu erwartender Funktionsstörungen
und deren Gewicht für die Aufgabenerfüllung der Volksvertretung zu entscheiden. Diese
Prognoseentscheidung hat der Gesetzgeber im Rahmen des ihm übertragenen Auftrags
zur Gestaltung des Wahlrechts zu treffen (zusammenfassend: BVerfGE 135, 259 [299, 301
f.] abweichende Meinung m.w.N.).
a) Zielsetzungen und zulässige Mittel der Zielerreichung
Ohne eine sorgfältige Beachtung (zumindest) der maßstäblichen Entscheidungen BVerGE
131, 316 sowie BVerfGE 135, 259 kann zukünftig kein verfassungsgemäßes Wahlrecht
mehr geschaffen werden.
aa) Verfassungsrechtliche Zweckvorgaben
Vermutlich wird man bei genauerer Untersuchung der einschlägigen Rechtsprechung noch
weitere Zwecke entdecken; die folgende Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
(1) Die (zumindest) sieben Zielvorgaben für den Gesetzgeber
Die Wahl muss - erstens - den Abgeordneten demokratische Legitimation verschaffen.
Mit Rücksicht auf dieses Ziel muss der Gesetzgeber in Rechnung stellen, wie sich die
Ausgestaltung des Wahlsystems auf die Verbindung zwischen Wählern und Abgeordneten
auswirkt und wie sie den durch die Wahl vermittelten Prozess der Willensbildung vom
Volk zu den Staatsorganen (vorstehend D.III.3.c) (vgl. S. 299) ) beeinflusst.
Eine zu wählende Volksvertretung muss - zweitens - insbesondere für die Aufgaben
der Gesetzgebung und Regierungsbildung funktionsfähig sein (BVerfGE 131, 316 [335];
dort auch zur Sicherstellung der Funktion einer Wahl als Vorgang der Integration
politischer Kräfte sowie zur Möglichkeit der Orientierung am gliedstaatlichen Aufbau
der Bundesrepublik).
Der Wahlgesetzgeber darf - drittens - das jedem Bürger zustehende Recht auf freie und
gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung nicht beeinträchtigen; aus der
Gewährleistung allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl in Art. 38
Abs. 1 GG folgt die verfassungsrechtliche Verpflichtung des Gesetzgebers, ein Wahlverfahren zu schaffen, in dem der Wähler vor dem Wahlakt erkennen kann, welche Personen
sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie sich die eigene Stimmabgabe auf
Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken kann.
Das Verfahren der Mandatszuteilung muss deshalb - viertens - grundsätzlich frei von
willkürlichen oder widersinnigen Effekten sein.
Zudem verbietet - fünftens - der Grundsatz der Wahlfreiheit eine Gestaltung des Wahlverfahrens, die die Entschließungsfreiheit des Wählers in einer innerhalb des gewählten
Wahlsystems vermeidbaren Weise verengt (a.a.O. [336]).
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 304
Der Wahlgesetzgeber muss - sechstens - Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet gewährleisten (a.a.O. [337]). Dabei hat er insbesondere auch zu berücksichtigen, dass
alle Wahlberechtigten auf der Grundlage möglichst gleich großer Wahlkreise - dies insbesondere im Zusammenhang mit einer Mehrheitswahl - mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (a.a.O.).
Schließlich versteht es sich von selbst, dass - siebtens - der Gesetzgeber zu Vorkehrungen
verpflichtet ist, die eine geheime Stimmabgabe (BVerfGE 5, 77 [82]; vgl. auch BVerfGE
12, 33 [35 f.] sowie BVerfGE 12, 132 [134]) sicherstellen.
(2) Gleiche Gewichtung der Vorgaben
Grundsätze für eine unterschiedliche Gewichtung der vorbezeichneten Wahlrechtsgrundsätze bestehen nicht ; allen Wahlrechtsgrundsätzen ist gemeinsam, dass sie grundlegende Anforderungen an demokratische Wahlen stellen. Ihnen kommt gleichermaßen
die Funktion zu, bei politischen Wahlen und Abstimmungen i.S.v. Art. 20 Abs. 2 Satz 2
GG das demokratische Prinzip wirksam zur Geltung zu bringen (BVerfGE 99, 1 [13]).
(3) Übertragung auf andere Wahlen
Deshalb gelten sie als allgemeine Rechtsprinzipien für Wahlen zu allen Volksvertretungen im staatlichen - selbstverständlich auch im Unionsrahmen (ausführlich BVerfGE
135, 259 [280 ff.]) - und kommunalen Bereich (BVerfGE 47, 253 [276 f.]; vgl. auch BVerfGE 120, 82 [102]); indessen dürfen (müssen) sie nicht unbesehen auf andere Wahlen
übertragen werden (BVerfGE 41, 1 [11 f.]).
bb) Mehrheits- und/oder Verhältniswahlen
Seit Jahrzehnten versucht der Gesetzgeber, die jeweiligen Vorteile der beiden Systeme zu
kombinieren, wozu er berechtigt war und ist.
(1) Freiheit des Gesetzgebers
Ob der Gesetzgeber in Erfüllung des Auftrags zur Regelung eines Wahlsystems nach
Art. 38 Abs. 3 GG das Verfahren der Wahl zum Deutschen Bundestag als Mehrheitsoder als Verhältniswahl ausgestaltet, steht ihm grundsätzlich “offen“.
(2) Insbesondere: Verbindung der Systeme (Grabensystem)
Unter dem Gesichtspunkt der repräsentativen Demokratie kommt keinem der beiden
Wahlsysteme ein Vorrang zu, weswegen der Gesetzgeber auch beide Gestaltungen miteinander verbinden kann, indem er einen Teil der Mitglieder des Deutschen Bundestages
nach dem Mehrheits- und den anderen nach dem Verhältniswahlprinzip wählen lässt
(Grabensystem), eine Erstreckung des Verhältniswahlprinzips auf die gesamte Sitzverteilung unter Vorbehalt angemessener Gewichtung der Direktmandate gestattet oder sich
für eine andere Kombination entscheidet (BVerfGE 131, 316 [335 f.]; dort [335] auch dazu, dass dem Gesetzgeber grundsätzlich ein weiter Gestaltungsspielraum zukommt und
das Bundesstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber auch erlaubt, sich bei
der Ausgestaltung des Wahlrechts an dem gliedstaatlichen Aufbau der Bundesrepublik
Deutschland zu orientieren; dort [336] freilich auch zu Grenzen der Gestaltungsmacht,
insbesondere zur Beeinträchtigung des Rechts auf freie und gleiche Teilhabe an der demokratischen Selbstbestimmung).
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 305
cc) Allgemeine “Nachbesserungspflichten“ des Wahlgesetzgebers
Der Wahlgesetzgeber ist (gewissermaßen permanent) verpflichtet, eine (jede) die Wahlgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des Wahlrechts zu überprüfen
und ggf. zu ändern , wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung dieser Norm durch
neuere Entwicklungen (BVerfGE 95, 335 [405] für - hinreichend deutlich erkennbare - gewandelte Sachlage) in Frage gestellt wird etwa durch eine Änderung der vom Gesetzgeber
vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder dadurch, dass sich die
beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte Prognose als irrig
erwiesen hat (BVerfGE 120, 82 [108]; vgl. auch BVerfGE 129, 300 [321 f.] sowie BVerfGE
132, 39 [50]; speziell zu Sperrklauseln nachfolgend dd) (3)).
dd) Die Zusammenhänge zwischen den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit und den Grundsätzen der Chancengleichheit der Parteien (insbesondere bei der
Errichtung von Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht)
Eng zusammenhängend mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und der Gleichheit
(zusammenfassend: BVerfGE 135, 259 [284]; im Einzelnen noch nachfolgend b) und c))
ist das Recht der politischen Parteien (nachfolgend D.III.6.) auf Chancengleichheit
(a.a.O. [285]).
Weil die vorgenannten Wahlrechtsgrundsätze ihre Prägung durch das Demokratieprinzip
(vorstehend D.III.1.) erfahren, muss auch im Bereich der Chancengleichheit der Parteien Gleichheit in einem strikten und formalen Sinn verstanden werden. Wenn die
öffentliche Gewalt in den Parteienwettbewerb in einer Weise eingreift, die die Chancen
der politischen Parteien verändern kann, sind ihrem Ermessen daher besonders enge
Grenzen gezogen (a.a.O.), was zweifelsfrei auch für den Gesetzgeber zutrifft.
(1) Eng bemessener Spielraum des Gesetzgebers für Differenzierungen (“strenger
Maßstab“)
Aus dem engen Zusammenhang zwischen Wahlrechtsgleichheit und Chancengleichheit der
Parteien folgt zwingend, dass die verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Einschränkungen den gleichen Maßstäben folgt.
Zwar kann nicht von einem absoluten Differenzierungsverbot ausgegangen werden,
aber aus dem formalen Charakter der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit
der Parteien folgt, dass dem Gesetzgeber bei der Ordnung des Wahlrechts nur ein eng
bemessener Spielraum für Differenzierungen verbleibt. Bei der Prüfung, ob eine Differenzierung innerhalb der Wahlrechtsgleichheit gerechtfertigt ist, ist grundsätzlich ein strenger Maßstab anzulegen. Differenzierungen bedürfen zu ihrer Rechtfertigung stets eines
besonderen, sachlich legitimierten (in der Vergangenheit als “zwingend“ bezeichneten)
Grundes.
Das bedeutet nicht , dass sich die Differenzierung als von Verfassungs wegen notwendig
darstellen muss. Differenzierungen im Wahlrecht können vielmehr auch durch Gründe
gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind,
das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann.
(2) Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung als Rechtfertigung
Hierzu zählen insbesondere die mit der Wahl verfolgten Ziele. Dazu gehört - wie bereits
erwähnt (vorstehend aa)) - die Sicherung des Charakters der Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes und, damit zusammenhängend,
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 306
die Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung. Eine (zu) große
Zahl kleiner Parteien und Wählervereinigungen in einer Volksvertretung kann zu ernsthaften Beeinträchtigungen ihrer Handlungsfähigkeit führen. Eine Wahl hat nicht nur das
Ziel, überhaupt eine Volksvertretung zu schaffen, sondern sie soll auch ein funktionierendes Vertretungsorgan hervorbringen.
(2a) Keine einheitliche Bewertung der Volksvertretungen bezüglich ihrer
Funktionsfähigkeit
Die Frage, was der Sicherung der Funktionsfähigkeit dient und dafür erforderlich ist, kann
indes nicht für alle zu wählenden Volksvertretungen einheitlich beantwortet werden,
sondern bemisst sich nach den konkreten Funktionen des zu wählenden Organs. Zudem
kommt es auf die konkreten Bedingungen an, unter denen die jeweilige Volksvertretung
arbeitet und von denen die Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Funktionsstörungen
abhängt.
(2b) Gesetzgeberische Pflicht zur Orientierung an der politischen Wirklichkeit
Weil sich das erlaubte Ausmaß differenzierender Regelungen vor allem danach richtet,
mit welcher Intensität in das gleiche Wahlrecht und die Chancengleichheit der Parteien
eingegriffen wird, hat sich der Gesetzgeber bei seiner Einschätzung und Bewertung nicht
an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern an der politischen Wirklichkeit zu
orientieren. Gegen die Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit
der Parteien wird verstoßen, wenn der Gesetzgeber mit der Regelung ein Ziel verfolgt,
das er bei der Ausgestaltung des Wahlrechts nicht verfolgen darf, oder wenn die Regelung
nicht geeignet und erforderlich ist, um die mit der jeweiligen Wahl verfolgten Ziele zu
erreichen.
(3) Spezielle Prüf- und Änderungspflichten des Gesetzgebers bei veränderten tatsächlichen Gegebenheiten (insbesondere: Sperrklauseln)
Daraus folgt, dass der Gesetzgeber - wie bereits vorstehend cc) dargelegt - verpflichtet ist, eine die Wahlrechtsgleichheit und die Chancengleichheit berührende Norm des
Wahlrechts zu überprüfen und zu ändern, wenn die verfassungsrechtliche Rechtfertigung
dieser Norm durch neue Entwicklungen in Frage gestellt wird, etwa durch eine Änderung
der vom Gesetzgeber vorausgesetzten tatsächlichen oder normativen Grundlagen oder
dadurch, dass sich die beim Erlass der Norm hinsichtlich ihrer Auswirkungen angestellte
Prognose als irrig erwiesen hat (“wesentliche Veränderung der Verhältnisse“).
(3a) Verbot der “Festschreibung“ tatsächlicher und rechtlicher Verhältnisse
Für Sperrklauseln im Verhältniswahlrecht (vgl. im Einzelnen noch nachfolgend c)) bedeutet dies, dass die Vereinbarkeit einer Sperrklausel mit dem Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien nicht ein- für allemal
abstrakt beurteilt werden kann. Eine Wahlrechtsbestimmung kann mit Blick auf eine Repräsentativkörperschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gerechtfertigt sein, mit Blick auf
eine andere oder zu einem anderen Zeitpunkt jedoch nicht, weshalb eine einmal als zulässig angesehene Sperrklausel nicht als für alle Zeiten verfassungsrechtlich unbedenklich
eingeschätzt werden darf.
Brunn - Kapitel D.III.4.
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(3b) Verlässliche Prognosen als gesetzgeberische Aufgaben
Mit anderen Worten sind maßgeblich für die Frage der weiteren Beibehaltung, Abschaffung oder (Wieder-)Einführung einer Sperrklausel allein die aktuellen Verhältnisse;
der Gesetzgeber ist freilich nicht daran gehindert, auch konkret absehbare künftige
Entwicklungen bereits im Rahmen der ihm aufgegebenen Beobachtung und Bewertung
der aktuellen Verhältnisse zu berücksichtigen, wobei maßgebliches Gewicht diesen nur
dann zukommen kann, wenn die weitere Entwicklung aufgrund hinreichend belastbarer tatsächlicher Anhaltspunkte schon gegenwärtig verlässlich zu prognostizieren ist
(BVerfGE 135, 259 [285 ff.]; dort [289] auch zur Überprüfung der Bewertung des Gesetzgebers durch das Bundesverfassungsgericht: Bei der aufgegebenen Prognoseentscheidung
darf der Gesetzgeber zur Rechtfertigung des Eingriffs nicht allein auf die Feststellung
der rein theoretischen Möglichkeit einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der
Volksvertretung abstellen; vgl. hierzu auch a.a.O. [301 ff.] abweichende Meinung).
b) Die Wahlrechtsgrundsätze in ihren Grundzügen
In der Folge wird es unternommen, die in Art. 38 Abs. 1 GG genannten fünf Wahlrechtsgrundsätze (allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahl) - vertiefter als
vorstehend D.III.3.d) (vgl. S. 299) - darzustellen, obgleich eine konkrete Zuordnung von
verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu diesen Wahlrechtsgrundsätzen nicht immer
einfach ist; gerade das Wahlrecht ist ein Beispielsfall dafür, dass ein sorgfältiger Gesetzgeber sich nicht mit einer kursorischen Untersuchung der vom Verfassungsgericht
erarbeiteten Maßstäbe begnügen darf, sondern intensiv in die Materie einsteigen muss
, will er vermeiden, dass - trotz seiner ernsthaften Bemühungen um die Wahrung der
Grundsätze - dieses seine Anstrengungen als ungenügend beurteilt.
aa) Allgemeinheit der Wahl
Der Grundsatz der allgemeinen Wahl (BVerfGE 132, 39 [47]) verbürgt, dass grundsätzlich
alle deutschen Staatsbürger (vorstehend 2.b) zu Art. 116 GG) aktiv und passiv wahlberechtigt sind.
(1) Verbot des gruppengerichteten Wahlrechtsausschlusses
Dem Gesetzgeber ist es insbesondere verboten, bestimmte Gruppen aus politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen
(BVerfGE 36, 139 [141]), wobei der Gesetzgeber zum Ausgleich vorgegebener Unterschiede zwischen konkurrierenden Bewerbern nicht verpflichtet ist (BVerfGE 78, 350 [358]).
(2) Beschränkungen
Freilich darf der Gesetzgeber das (aktive) Wahlrecht auf Deutsche beschränken, welche
im Geltungsbereich des Grundgesetzes sesshaft sind (BVerfGE 58, 202 [205]).
Ausgeschlossen werden dürfen Personen, denen es von vornherein an den dafür erforderlichen geistigen Fähigkeiten fehlt (BVerfGE 36, 139 [141 f.] fragwürdig). Das Wahlrecht
darf grundsätzlich auch vom Erreichen eines gewissen Alters abhängig gemacht werden
(BVerfGE 41, 1 [11 f.]), was sich konkret in Art. 38 Abs. 2 GG (BVerfGE 48, 64 [82])
niedergeschlagen hat.
Brunn - Kapitel D.III.4.
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bb) Unmittelbarkeit der Wahl
Wie bereits erwähnt (vorstehend D.III.3.d)aa) (vgl. S. 299) ), darf hiernach vor allem
zwischen Wähler und Kandidat keine Instanz mit Entscheidungsbefugnis eingeschaltet
werden.
(1) Verbot von “Wahlmännern“
Unmittelbarkeit der Wahl (BVerfGE 121, 266 [307]) bedeutet, dass die Wähler das letzte
und damit entscheidende Wort haben müssen (BVerfGE 7, 63 [68]). Das ist nur der
Fall, wenn die Mitglieder der Volksvertretung direkt (und ohne Zwischenschaltung von
Wahlmännern) gewählt werden; zwischen Wähler und Kandidaten darf keine weitere
Instanz mit Entscheidungsbefugnis eingeschaltet werden (BVerfGE 47, 253 [279 f.]).
Wenn es zulässig ist, dass die Wahl von Abgeordneten von der Wahl anderer (vorrangiger)
Listenbewerber abhängig gemacht wird, liegt bei nachträglichen Listenänderungen ein
Verstoß gegen die Unmittelbarkeit der Wahl vor (BVerfGE 3, 45 [50 f.].
(2) Transparenzgebot und Verbot widersinniger Wirkungszusammenhänge
Der vorstehend (D.III.4.a)aa)(1) (vgl. S. 303) ) erwähnte Grundsatz der Transparenz
(Erkennbarkeit, welche Personen sich um ein Abgeordnetenmandat bewerben und wie
sich die eigene Stimmabgabe auf Erfolg oder Misserfolg der Wahlbewerber auswirken
kann) ergibt sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 95,
335 [350]) auch aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz.
(2a) Widersinnige Wirkungszusammenhänge im Abstrakten
Widersinnige Wirkungszusammenhänge zwischen Stimmabgabe und Stimmerfolg
(D.III.4.a)aa)(1) (vgl. S. 303) ) können (nicht nur die Wahlrechtsgleichheit und
Chancengleichheit der Parteien - BVerfGE 121, 266 [300] -, sondern auch) gegen
den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl verstoßen, da es für den Wähler nicht
mehr erkennbar ist, wie sich seine Stimmabgabe auf den Erfolg oder Misserfolg der
Wahlbewerber auswirken kann.
(2b) Widersinnige Wirkungszusammenhänge im Besonderen
Solcher widersinniger Wirkungszusammenhang kann bei einem Sitzzuteilungsverfahren
vorliegen, das ermöglicht, dass ein Zuwachs an Stimmen zu Mandatsverlusten führt, oder
dass für den Wahlvorschlag einer Partei insgesamt mehr Mandate erzielt werden, wenn auf
ihn selbst weniger oder auf einen konkurrierenden Vorschlag mehr Stimmen entfallen.
Die Verteilung der Mandate auf die Parteien entsprechend dem Verhältnis der Summen
der Wählerstimmen darf im Grundsatz nicht dazu führen, dass die Sitzanzahl einer
Partei erwartungswidrig mit der auf diese oder eine konkurrierende Partei entfallenden
Stimmenzahl nicht korreliert (Effekt des negativen Stimmgewichts).
Deshalb sind gesetzliche Regelungen, die derartige Effekte nicht nur in seltenen und
unvermeidbaren Ausnahmefällen hervorrufen, mit der Verfassung nicht zu vereinbaren
(BVerfGE 131, 316 [346 f.]).
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 309
cc) Freiheit der Wahl
Wie vorstehend (D.III.3.d)aa)(2) (vgl. S. 300) ) bereits angedeutet, darf der Wahlentschluss nicht durch unzulässige Beeinflussungen von außen beeinträchtigt werden.
(1) Unbeeinflusste Wahlrechtsausübung
Von einer freien Wahl (BVerfGE 99, 1 [13]) kann nur die Rede sein, wenn der Wähler sein
Wahlrecht ohne öffentlichen (BVerfGE 44, 125 [139]) oder privaten Zwang (BVerfGE 66,
369 [380]) sowie ohne sonstige unzulässige Beeinflussungen von außen ausüben kann
(BVerfGE 7, 63 [69]).
(2) Freies Wahlvorschlagsrecht
Aus dem Grundsatz der Freiheit der Wahl folgt ein freies Wahlvorschlagsrecht (BVerfGE
41, 399 [417]). Der Gesetzgeber muss dafür Sorge tragen, dass die Auswahl der Kandidaten weder rechtlich noch faktisch ausschließlich den Führungsgremien der politischen
Parteien (nachfolgend 6.) überlassen wird (BVerfGE 47, 253 [282]; dort [283] auch zum
Bestehen einer Wahlalternative).
dd) Geheimheit der Wahl
Die Geheimheit der Wahl stellt den wichtigsten institutionellen Schutz der Wahlfreiheit
dar und wurzelt ebenso wie diese im Demokratieprinzip (BVerfGE 134, 25 [30] für Briefwahl und Erfordernis eines Wahlscheines; dort auch zur Pflicht des Gesetzgebers, etwaige
“kollidierende Grundentscheidungen“ einem angemessenen Ausgleich zuzuführen).
c) Insbesondere: Wahlrechtsgleichheit (i.V.m. “Chancengleichheit“)
[1] In den letzten Jahren ist als Schwerpunkt der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
eindeutig der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (BVerfGE 129, 300 [317 f.] sowie BVerfGE 135, 259 [284]) hervorgetreten. Er ist gegenüber dem allgemeinen Gleichheitssatz des
Art. 3 Abs. 1 GG der speziellere Grundsatz (BVerfGE 99, 1 [8 ff.]).
Es entspricht dem Demokratiegebot, dass jedem Staatsangehörigen, der aufgrund seines
Alters und ohne den Verlust seines aktiven Wahlrechts wahlberechtigt ist, ein gleicher
Anteil an der Ausübung der Staatsgewalt zusteht (BVerfGE 123, 267 [342]).
Weil die durch das Grundgesetz errichtete demokratische Ordnung im Bereich der Wahlen
die Stimmen aller Staatsbürger (unbeschadet der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede) gleich gewichtet, ist eine Differenzierung des Zählwertes und des Erfolgswertes der
Wählerstimmen grundsätzlich ausgeschlossen (BVerfGE 82, 322 [337]; vgl. zur Verpflichtung zur Einrichtung einer Wahlprüfung BVerfGE 85, 148 [157 f.]).
[2] Was insbesondere die Wahl der deutschen Abgeordneten des Europäischen Parlaments anbelangt, so ergibt sich der Grundsatz der Gleichheit der Wahl aus Art. 3 Abs.
1 GG in seiner Ausprägung als Gebot formaler Wahlrechtsgleichheit (BVerfGE 129, 300
[317] sowie BVerfGE 135, 259 [283 f.]). Freilich gilt der Grundsatz des “one man, one
vote“ (Verbot des Klassenwahlrechts) nur innerhalb eines Staatsvolkes (bzw. eines Landesvolkes), nicht in einem supranationalen Vertretungsorgan, wie dem EU-Parlament,
das eine Vertretung der miteinander vertraglich verbundenen Völker bleibt (BVerfGE
Brunn - Kapitel D.III.4.
Seite 310
123, 267 [371]), was zum Ergebnis hat, dass (zwar die aus kleinen Bundesländern stammenden Wähler bei Bundestagswahlen nicht bevorzugt werden dürfen, aber) die Wähler
aus kleinen EU-Staaten bei Wahlen zum EU-Parlament (gegenüber Wählern aus bevölkerungsreichen Staaten) dadurch bevorzugt werden dürfen, dass sie proportional “zu viele“
Abgeordnete entsenden dürfen.
[3] Auch im Hinblick auf die gem. Art. 21 Abs. 1 GG, Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verfassungsrechtlich verbürgte Chancengleichheit (BVerfGE 137, 29 [32]) der Parteien (nachfolgend 6.) hat Wahlrecht den gleichen Anforderungen zu genügen, wie sie der Grundsatz
der Wahlgleichheit für den einzelnen aktiven Wähler aufstellt (BVerfGE 95, 408 [417];
vgl. auch BVerfGE 135, 259 [285 f.]).
aa) Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit (insbesondere gleicher Zähl- und Erfolgswert)
als Grundanforderung an alle Wahlsysteme (Mehrheits- und Verhältniswahl)
Unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des Wahlverfahrens sind alle Wähler bei der
Art und Weise der Mandatszuteilung strikt gleich zu behandeln. Die Stimme eines jeden
Wahlberechtigten muss grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche
Erfolgschance haben. Alle Wähler sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen
Einfluss auf das Wahlergebnis nehmen können (BVerfGE 130, 212 [225]).
(1) Gebot der Folgerichtigkeit und Verbot der strukturwidrigen Elemente
Bei allem hat der Gesetzgeber zunächst zu beachten, dass er verpflichtet ist, das ausgewählte Wahlsystem in seinen Grundelementen folgerichtig zu gestalten (vorstehend
D.III.3.d)ee) (vgl. S. 302) ), und er es zu unterlassen hat, strukturwidrige Elemente
(vorstehend D.III.4.a)aa)(1) (vgl. S. 303) und D.III.4.a)bb)(2) (vgl. S. 304) ) einzuführen
(BVerfGE 130, 212 [229]).
Die Einhaltung dieser Grundsätze - etwa im Zusammenhang mit Mehrheitswahlen - allein
genügt jedoch nicht als Rechtfertigung für Differenzierungen (nachstehend bb)), die zu
ihrer Rechtfertigung stets eines besonderen, sachlich legitimierten Grundes bedürfen. Es
muss sich um Gründe handeln, die durch die Verfassung legitimiert und von mindestens
gleichem Gewicht wie die Gleichheit der Wahl sind (BVerfGE 131, 316 [338]; dort [364]
auch zu einer Verpflichtung zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung durch sachlich
legitimierte Gründe).
(2) Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet (Grundsatz)
Der für alle Wahlsysteme einheitliche Maßstab verlangt, dass der Wahlgesetzgeber Erfolgschancengleichheit im gesamten Wahlgebiet gewährleistet, wie bereits erwähnt worden ist (vorstehend D.III.4.a)aa)(1) (vgl. S. 303) ).
Bei der Aufteilung des Wahlgebiets in mehrere selbständige “Wahlkörper“ müssen deshalb die Umstände, die den möglichen Einfluss einer Stimme prägen, in allen Wahlkörpern annähernd gleich sein. Dies bedeutet, dass für die Wahl von Abgeordneten in EinPersonen-Wahlkreisen in Mehrheitswahl - d.h. nach dem Verteilungsprinzip, dass nur
die für den Kandidaten, der die absolute oder relative Mehrheit der Stimmen erhalten
hat, abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen, während die auf alle anderen
Kandidaten entfallenden Stimmen unberücksichtigt bleiben - als Gebot der Erfolgschancengleichheit zu fordern ist, dass alle Wahlberechtigten auf der Grundlage möglichst
gleichgroßer Wahlkreise und damit mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Vorgang
teilnehmen können (BVerfGE 131, 316 [337]).
Brunn - Kapitel D.III.4.
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(3) Einfluss von Zähl- und Erfolgswertgleichheit auf das Sitzzuteilungsverfahren
Das von dem Gesetzgeber festgelegte Sitzzuteilungsverfahren muss in allen seinen
Schritten seine Regeln auf jede Wählerstimme gleich anwenden und dabei auch die Folgen so ausgestalten, dass jeder Wähler den gleichen potentiellen Einfluss auf das Wahlergebnis erhält. Bei unterschiedlich starken Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die
Sitzzuteilung reicht es nicht , dass jeder Wähler - ex ante - gleichermaßen die Chance
einer stärkeren Einflussnahme hat, es muss vielmehr - wiederum ex ante betrachtet gewährleistet sein, dass alle Wähler durch ihre Stimmabgabe gleichen Einfluss auf die
Sitzverteilung nehmen können (BVerfGE 131, 316 [336 ff.]; vgl. auch BVerfGE 135, 259
[284]).
Es versteht sich von selbst, dass das Gebot der Erfolgschancengleichheit unterschiedlich
ausfällt, je nachdem, ob das Sitzzuteilungsverfahren - wie beim Verteilungsprinzip der
Mehrheitswahl - bereits mit dem Auszählen, Gutschreiben und Addieren der Wählerstimmen beendet ist, oder ob sich - wie beim Verteilungsprinzip der Verhältniswahl - noch
ein Rechenverfahren anschließt, welches das Verhältnis der Stimmen für Parteilisten zu
den Gesamtstimmen feststellt und dementsprechend die Sitzzuteilung regelt:
(4) Unterschiede bei Mehrheits- und Verhältniswahl
Bei der Mehrheitswahl kann jeder Wähler auf die Mandatsvergabe allein durch Abgabe
seiner gleichzuzählenden Stimme Einfluss nehmen, so dass sich - wie bereits erwähnt
(vorstehend (2)) - die Erfolgschancengleichheit in der Gewährleistung annähernd gleich
großer Wahlkreise und der gleichen Zählung und Gutschreibung jeder gültig abgegebenen
Wählerstimme erschöpft.
(4a) Weitergehende Einflußnahmemöglichkeiten des Wählers bei der Verhältniswahl
Bei der Verhältniswahl erhält jeder Wähler die weitergehende Möglichkeit, mit seiner
Stimme entsprechend dem Anteil der Stimmen für “seine“ Partei auch auf die Sitzzuteilung Einfluss zu nehmen. Die Erfolgschancengleichheit, die jeder Wählerstimme die
gleichberechtigte Einflussnahmemöglichkeit für das Wahlergebnis in allen Schritten des
Wahlverfahrens garantiert, gebietet hier grundsätzlich, dass jede gültig abgegebene Stimme bei dem Rechenverfahren mit gleichen Gewicht mitbewertet wird, ihr mithin ein anteilsmäßig gleicher Erfolg zukommt - Erfolgswertgleichheit - (BVerfGE 131, 316 [338];
vgl. auch BVerfGE 135, 259 [284] für Europawahl).
(4b) Verhältniswahl und Gebot des gleichen Erfolgswerts jeder Stimme
Der wesentliche Unterschied bei den beiden Wahlsystemen ist daher der, dass der gleiche
Erfolgswert einer jeden Stimme für die Zuteilung der Parlamentssitze eine maßgebliche
Bedeutung hat, während es für die Direktwahl der Wahlkreiskandidaten auf die Erfolgschance einer jeden Stimme ankommt (BVerfGE 121, 266 [297]).
Indessen hebt die Auslese der Wahlkreiskandidaten nach dem Prinzip der relativen Mehrheit im Wahlkreis den grundsätzlichen Charakter der Bundestagswahl als einer Verhältniswahl nicht auf (grundlegend: BVerfGE 6, 84 [90]; vgl. auch BVerfGE 121, 266 [297]
sowie BVerfGE 122, 304 [314]). Solche Verhältniswahlen sind jedenfalls auch dann unbedenklich , wenn sie nach “starren“ Listen erfolgen (BVerfGE 122, 304 [314]).
Brunn - Kapitel D.III.4.
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(4c) Pflichten des Gesetzgebers im Zusammenhang mit Stimmenanrechnungen auf einer Landesliste
Ein solches vom Gesetzgeber zu schaffendes bzw. geschaffenes Wahlsystem muss dem
Grundcharakter einer Verhältniswahl Rechnung tragen, indem es etwa für eine Anrechnung der von einer Partei in den Wahlkreisen errungenen Sitzen auf die der zugehörigen
Landesliste zugefallenen Sitze Sorge trägt (BVerfGE 131, 316 [357 ff.]).
(5) Gestaltungsfreiheit für Rechenverfahren zur Sitzverteilung bei der Verhältniswahl
Weder das Verteilungsverfahren nach Niemeyer noch das Höchstzahlverfahren nach
d’Hondt erscheint nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts als prinzipiell “richtig“
und damit zur Wahrung des Grundsatzes der Wahlrechtsgleichheit allein systemgerecht.
Diesem Grundsatz lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass eines der
genannten Systeme für die Berechnung und Verteilung der Mandate den Vorzug verdient,
und unter diesen Umständen ist es der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers überlassen,
für welches System er sich entscheiden will (BVerfGE 79, 169 [171] zweifelhaft).
bb) Rechtfertigungen für Differenzierungen (insbesondere Funktionsfähigkeit des Parlaments) im Allgemeinen und Speziellen
Differenzierungen sind nur unter Voraussetzungen gerechtfertigt, die das Bundesverfassungsgericht seit seiner Entscheidung im Jahre 1952 (BVerfGE 1, 208 [248 f.]) zunächst
in der Formel eines “zwingenden Grundes“ zusammengefasst hatte.
(1) Kollisionen mit Verfassungswerten (zulässige Differenzierungsgründe)
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verlangt allerdings nicht , dass sich
die Differenzierungen von Verfassungs wegen als zwangsläufig oder notwendig darstellen, wie dies etwa in Fällen der Kollision der Wahlrechtsgleichheit mit den übrigen
Wahlrechtsgrundsätzen oder anderen Grundrechten der Fall sein kann.
Es werden auch Gründe zugelassen, die durch die Verfassung legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlrechtsgleichheit die Waage halten kann. Dabei ist es
nicht erforderlich, dass die Verfassung diese Zwecke zu verwirklichen gebietet; in diesem
Zusammenhang rechtfertigt das Bundesverfassungsgericht Differenzierungen auch durch
“zureichende“, “aus der Natur des Sachbereichs der Wahl der Volksvertretung sich ergebende Gründe“.
Hierzu zählt insbesondere die - eingangs dieses Kapitels D.III.4.a)aa)(1) (vgl. S. 303) )
erwähnte - Verwirklichung der mit der Parlamentswahl verfolgten Ziele (BVerfGE 95, 408
[418]; vgl. auch BVerfGE 135, 259 [287]), namentlich der Sicherung des Charakters der
Wahl als eines Integrationsvorgangs bei der politischen Willensbildung des Volkes oder
der Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung (BVerfGE
132, 39 [50]).
(2) Spezieller Verhältnismäßigkeitsgrundsatz für Differenzierungen
Immer müssen differenzierende Regelungen zur Verfolgung ihrer Zwecke geeignet und
erforderlich sein. Ihr erlaubtes Ausmaß richtet sich daher auch danach, mit welcher Intensität in das - gleiche - Wahlrecht eingegriffen wird. Ebenso können befestigte Rechtsüberzeugung und Rechtspraxis Beachtung finden. Der Gesetzgeber muss sich bei seiner
Brunn - Kapitel D.III.4.
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Einschätzung und Bewertung nicht an abstrakt konstruierten Fallgestaltungen, sondern
an der politischen Wirklichkeit orientieren (BVerfGE 95, 408 [418 f.]; vgl. auch BVerfGE
131, 316 [339] sowie BVerfGE 135, 259 [287]; zur Feststellung eines Verstoßes gegen die
Wahlgleichheit durch das Bundesverfassungsgericht: BVerfGE 95, 408 [420]; vgl. auch
BVerfGE 129, 300 [322 f.] sowie BVerfGE 131, 316 [338 f.]).
cc) Insbesondere: Differenzierungen bei der Wahlkreiseinteilung
Weil - wie soeben dargelegt - der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit keinem absoluten
Differenzierungsverbot unterliegt, können Differenzierungen (allgemein und) speziell bei
der Wahlkreiseinteilung durch Gründe gerechtfertigt werden, die durch die Verfassung
legitimiert und von einem Gewicht sind, das der Wahlgleichheit die Waage halten kann.
(1) Verteilung der Wahlkreise auf die Länder
Speziell bei der Verteilung der Wahlkreise auf die Länder entsprechend ihren Bevölkerungsanteilen können daher Abbildungsunschärfen hinzunehmen sein. Die Bevölkerungsverteilung ist einem steten Wandel unterworfen, und eine aus Gründen der Wahlorganisation erforderliche Stichtagsregelung kann den unvermeidlichen Umstand in Kauf
nehmen, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse bis zum Wahltag wieder verändern können.
(2) “Geringfügigkeitsvorbehalt“
Darüber hinaus ist der Gesetzgeber auch nicht gehalten, bei seiner Gestaltungsentscheidung tatsächliche Gegebenheiten bereits dann zu berücksichtigen, wenn diese ihrer Natur
oder ihrem Umfang nach nur unerheblich oder von vorübergehender Dauer sind; vielmehr
darf er darauf abstellen, ob sich eine beobachtete Entwicklung in der Tendenz verfestigt
(BVerfGE 130, 212 [227 f.]; dort [229] auch dazu, dass Regelungen einer besonders strengen verfassungsgerichtlichen Überprüfung unterliegen können, welche die Bedingungen
der politischen Konkurrenz berühren, die parlamentarische Mehrheit gewissermaßen in
eigener Sache tätig wird).
dd) Sonderfälle der (zulässigen und unzulässigen) “Überhangmandate“
Durch die Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten wird im Grundsatz die Gesamtzahl der Sitze - unbeschadet der vorgeschalteten Personenwahl - so auf
die Parteilisten verteilt, wie es dem Verhältnis der Summen ihrer Zweitstimmen entspricht, während die Erststimme grundsätzlich nur darüber entscheidet, welche Personen
als Wahlkreisabgeordnete in den Bundestag einziehen. Auf diese Weise wird sichergestellt,
dass jeder Wähler im Grundsatz nur einmal Einfluss auf die zahlenmäßige Zusammensetzung des Parlaments nehmen kann.
(1) Verfehlung des Ziels eines vollen Ausgleichs
Allerdings führt die Form der Verbindung der Verhältniswahl mit dem Element der Personenwahl dazu, dass die Verrechnung der Wahlkreismandate mit den Listenmandaten
nicht stets einen vollen Ausgleich der Sitzzuteilung im Sinne des Proporzes bewirken
kann und soll. Soweit der Gesetzgeber klarstellt, dass die im jeweiligen Land in den
Wahlkreisen errungenen Sitze einer Partei verbleiben, ist dies im Grundsatz nicht zu
beanstanden.
Brunn - Kapitel D.III.5.
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(2) Entstehung von Überhangmandaten (Erhöhung der Gesamtzahl der Sitze)
Wird das Ziel des Verhältnisausgleichs durch den Rechenschritt unvollständig erreicht,
weil die Sitze, die einer Landesliste nach dem Verhältnis der Summen der Zweitstimmen
zustehen, nicht ausreichen, um alle errungenen Wahlkreismandate abzuziehen, so muss
sich die Gesamtzahl der Sitze des Bundestages erhöhen; es entstehen Überhangmandate
jenseits der proportionalen Sitzverteilung (BVerfGE 131, 316 [358 f.]).
5. Legitimierungsbedürftige Wahrnehmung (vornehmlich behördlicher und
richterlicher) staatlicher Aufgaben
Wie vorstehend (vor D.III.1.) dargelegt, bedarf jede Ausübung von Staatsgewalt einer demokratischen Legitimation, was jegliche exekutivische und richterliche Gewaltausübung
betrifft.
a) Allgemeines (“Sachlich-inhaltliche Legitimation“, “Legitimationsniveau“
und “amtsgebundene Legitimation“)
Nur das vom Volk gewählte Parlament kann den Organ- und Funktionsträgern der Verwaltung auf allen ihren Ebenen demokratische Legitimation vermitteln. Im Fall der
nicht durch unmittelbare Volkswahl legitimierten Amtswalter und Organe setzt die demokratische Legitimation der Ausübung von Staatsgewalt regelmäßig voraus, dass sich
die Bestellung der Amtsträger auf das Staatsvolk zurückführen lässt und ihr Handeln
eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt. In personeller Hinsicht ist
eine hoheitliche Entscheidung demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung desjenigen, der sie trifft, durch eine ununterbrochene Legitimationskette auf das Staatsvolk
zurückführen lässt.
Die sachlich-inhaltliche Legitimation wird, was die Exekutive betrifft, durch die Gesetzesbindung und Bindung an Aufträge und Weisungen der Regierung vermittelt (BVerfGE
137, 185 [232 f.]).
aa) Personelle sowie sachlich-inhaltliche Legitimation (“ununterbrochene Legitimationskette)
Organe und Amtswalter bedürfen zur Ausübung von Staatsgewalt einer Legitimation,
die auf die Gesamtheit der Staatsbürger, das Volk, zurückgeht, jedoch regelmäßig nicht
durch unmittelbare Volkswahl erfolgen muss. In diesem Bereich ist die Ausübung von
Staatsgewalt demokratisch legitimiert, wenn sich die Bestellung der Amtsträger personelle Legitimation vermittelnd - auf das Staatsvolk zurückführen lässt und das
Handeln der Amtsträger selbst eine ausreichende sachlich-inhaltliche Legitimation erfährt; uneingeschränkte personelle Legitimation besitzt ein Amtsträger dann, wenn er
verfassungsgemäß sein Amt im Wege einer Wahl durch das Volk oder das Parlament oder
dadurch erhalten hat, dass er durch einen seinerseits personell legitimierten, unter Verantwortung gegenüber dem Parlament handelnden Amtsträger oder mit dessen Zustimmung
bestellt worden ist - sogenannte “ununterbrochene Legitimationskette“ - (BVerfGE 93,
37 [67]; vgl. auch BVerfGE 135, 155 [221 f.] sowie BVerfGE 135, 317 [428 f.]; zu Richtern
nachstehend bb) sowie cc) und nachfolgend D.VII.3.b) (vgl. S. 433) ).
Brunn - Kapitel D.III.5.
Seite 315
bb) Legitimationsniveau (insbesondere Legitimation von - “herausgehobenen“ - Richtern)
Personelle und sachlich-inhaltliche Legitimation stehen in einem wechselbezüglichen Verhältnis der Art, dass eine verminderte Legitimation über den einen Strang durch verstärkte Legitimation über den anderen ausgeglichen werden kann, sofern insgesamt ein
bestimmtes Legitimationsniveau erreicht wird, welches umso höher sein muss, je intensiver die in Betracht kommenden Entscheidungen die Grundrechte berühren (BVerfGE
130, 76 [124] sowie BVerfGE 135, 155 [222]; dort [225 ff.] auch zu besonders zusammengesetzten Gremien).
(1) Legitimation von Richtern
Hieraus ist wohl zwingend abzuleiten, dass das Legitimationsniveau bei Richtern besonders hoch sein muss, was bei - gem. Art. 94 ff. GG (nachfolgend cc) und D.VII.3.b)aa)(2)
(vgl. S. 434) ) - gewählten Richtern zweifelsfrei erreicht wird; hieraus dürfte auch
folgen, dass - was die sog. hervorgehobenen Richterämter anbelangt - nur entweder vom
Parlament (bzw. einem Ausschuss) oder von den (ihrerseits gewählten) Richtern gewählte
Präsidenten und Vorsitzende ausreichend mit hinreichendem Legitimationsniveau personell und sachlich-inhaltlich legitimiert sind.
Die praktizierte Übung, (nicht nur die Richter zu ernennen, sondern sogar) die Personen
für die Innehabung von sog. “Beförderungsämtern“ durch Minister bzw. Senatoren auszuwählen (und sie - was den Bund betrifft - vom Bundespräsidenten ernennen zu lassen),
kann dieses hinreichende Legitimationsniveau nicht erreichen, weil sie etwas voraussetzt,
was sie zur Begründung vorgibt (gewissermaßen ein Zirkelschluss):
(2) Amtsgebundene Legitimation
Demokratische Legitimation ist nämlich die Ausübung der Staatsgewalt in ihrer jeweiligen Funktion . Der demokratische Legitimationszusammenhang, der eine ununterbrochene Legitimationskette für einen Amtswalter begründet, bezieht sich jeweils auf das
im Wege solcher Legitimation verliehene Amt, geht nicht darüber hinaus. Tätigkeiten, die von den Aufgaben des übertragenen Amtes nicht umfasst werden, sind dadurch
nicht mitlegitimiert; der Amtswalter handelt in diesem Bereich persönlich, nicht kraft
demokratischer Legitimation (BVerfGE 93, 37 [68]).
(3) Ministerielle Auswahlkompetenz?
Hieraus folgt, dass eine ministerielle Ernennungs- und Beförderungskompetenz hinsichtlich Richtern nur dann vorläge, wenn es gerade dieses Handeln wäre, wozu ein Minister
legitimiert ist. Mit anderen Worten müsste das Parlament, welches nach der Verfassung
die alleinige Kompetenz dafür hat, (Bundesverfassungsrichter und) Richter der obersten
Gerichtshöfe des Bundes zu wählen (die Minister haben bei der Wahl kein Stimmrecht,
sondern nur ein Organisationsrecht, bestenfalls ein Veto-Recht) , gerade hinsichtlich der
äußerst wichtigen personellen Auswahl für Beförderungsämter durch die Wahl des Regierungschefs, welcher den Minister bestellen kann, zu einem nicht unbedeutenden Anteil
auf sein Richter-Wahlrecht verzichtet und es insoweit an den Minister “abgetreten“ hat,
als dessen “Entscheidung“ von unterlegenen Wahlbewerbern angefochten werden kann
(so aber der Sache nach - gestützt auf Art. 33 Abs. 2 GG - leider 2 BvR 2453/15).
Brunn - Kapitel D.III.5.
Seite 316
Demgegenüber spricht diese Praxis insbesondere gewählten Richtern der obersten Gerichte des Bundes von vornherein die Kompetenz ab (und beschränkt sie auf ihren absoluten “Kernbereich“ Spruchtätigkeit), intern darüber zu befinden, wer ihnen (im Geschäftsjahr) in den Spruchkörpern “vorsitzt“ und wer für sie hinsichtlich der Wahrung der
Kernbereiche der Rechtsprechung nach außen (insbesondere gegenüber dem Haushaltsgesetzgeber) - als “Präsident/in - “spricht“ (bzw. auch, wer für eine wirksame “Richterkontrolle“ zu sorgen hat). Zu Recht würden sich Parlament und Exekutive solche bzw.
ähnliche “Bevormundungen“ nicht gefallen lassen.
In der Folge werden staatliche Aufgaben (der
nehmung demokratischer Legitimation bedarf;
legitimierenden Handelns scheiden dabei bloß
Tätigkeiten grundsätzlich aus (BVerfGE 83, 60
en“).
Exekutive) angesprochen, deren Wahraus dem Bereich des demokratisch zu
vorbereitende und rein konsultative
[74] für “Beiräte“ und “Expertengremi-
b) Legitimation für Exekutiv-Aufgaben
Wie bereits angesprochen, kann das Legitimationsniveau bei den verschiedenen Erscheinungsformen von Staatsgewalt im Allgemeinen und der vollziehenden Gewalt im
Besonderen unterschiedlich ausgestaltet sein (ausführlich in jüngerer Zeit: BVerfGE 135,
155 [221 ff.] für Filmförderungsanstalt sowie BVerfGE 136, 194 [261 ff.] für Deutschen
Weinfonds als Anstalt des öffentlichen Rechts).
aa) Unterscheidung Regierungs- und Verwaltungshandeln
Innerhalb der Exekutive ist dabei auch die Funktionenteilung zwischen - erstens - der
für die politische Gestaltung zuständigen, parlamentarisch verantwortlichen Regierung
und - zweitens - der zum Gesetzesvollzug verpflichteten Verwaltung zu berücksichtigen
(BVerfGE 93, 37 [67]; vgl. auch BVerfGE 107, 59 [87] “alles amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter“).
(1) Außen- und integrationspolitische Tätigkeit der Regierung allgemein
Weil das Regierungshandeln für den Bundestag als Gesetzgeber - abgesehen von Art.
59 Abs. 2 GG - nur selten von Bedeutung ist, kann es hier mit einem Hinweis darauf sein
Bewenden haben, wonach mit Blick auf die außen- und integrationspolitische Tätigkeit der Exekutive zu berücksichtigen ist, dass die sachlich-inhaltliche Legitimation nur
begrenzt durch parlamentarische Vorgaben ausgestaltet werden kann.
(2) Verkehr mit anderen Staaten im Speziellen
Der Verkehr mit anderen Staaten, die Vertretung in internationalen Organisationen, zwischenstaatlichen Einrichtungen und Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit (Art.
24 Abs. 2 GG) sowie die Sicherstellung der gesamtstaatlichen Verantwortung bei der
Außenvertretung Deutschlands fallen grundsätzlich in den Kompetenzbereich der Bundesregierung. Die zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben notwendigen Freiräume stehen einer
strikten parlamentarischen Determinierung entgegen. Die in dieser Hinsicht herabgesetzten Anforderungen an die sachlich-inhaltliche demokratische Legitimation können dadurch ausgeglichen werden, dass der jeweilige Amtswalter im Auftrag und nach Weisung
der Regierung handelt und die Regierung damit in die Lage versetzt, Verantwortung gegenüber dem Parlament und dem Volk zu übernehmen (BVerfGE 135, 317 [429 f.]; vgl.
auch BVerfGE 137, 185 [235] für Rüstungsexportkontrolle).
Brunn - Kapitel D.III.5.
Seite 317
bb) “Innerdienstliche Entscheidungen“ (mit Außenwirkungen)
Was im Übrigen das Legitimationsbedürfnis für exekutivisches amtliches Handeln mit
Entscheidungscharakter (BVerfGE 83, 60 [73]) anbelangt, so hat sich für die sog. “innerdienstlichen Entscheidungen“ eine sehr ausdifferenzierte Rechtsprechung entwickelt,
insbesondere was Mitentscheidungsrechte (Mitbestimmung) betrifft. Im Grundsatz gilt:
(1) Die Besonderheit von Entscheidungen mit zugleich Innen- wie Außenwirkung
Entscheidungen im internen Bereich von (Regierung und) Verwaltung stellen sich im
Verhältnis zu den Bürgern (meist) als Ausübung von Staatsgewalt dar. Ihnen kommt
indessen daneben eine auf den Binnenbereich des öffentlichen Dienstes bezogene Bedeutung zu. Denn die in dem jeweiligen Dienstbereich Beschäftigten , deren sich die
staatlichen Organe bedienen müssen, um die ihnen übertragenen Aufgaben nach den Anforderungen der Verfassung erfüllen zu können, werden durch sie in ihren spezifischen
Interessen als Dienst- oder Arbeitnehmer berührt; dies unterscheidet solche innerdienstliche Maßnahmen von anderen Maßnahmen, mit denen Staatsgewalt ausgeübt wird. Diese Besonderheiten darf der Gesetzgeber bei der Verwirklichung des demokratischen
Prinzips berücksichtigen, wenn er die Entscheidungsfindung für solche innerdienstlichen
Maßnahmen regelt (BVerfGE 93, 37 [68 f.]).
(2) Gesetzgeber und Grenzen von Mitbestimmungsregelungen (“Drei Stufen-Modell“)
Mitbestimmung darf sich einerseits nur auf innerdienstliche Maßnahmen erstrecken
und nur soweit gehen, als die spezifischen in dem Beschäftigungsverhältnis angelegten
Interessen der Angehörigen der Dienststelle sie rechtfertigen. Andererseits verlangt das
Demokratieprinzip für die Ausübung von Staatsgewalt bei Entscheidungen von Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrages jedenfalls , dass die Letztentscheidung eines
dem Parlament verantwortlichen Verwaltungsträgers gesichert ist (a.a.O. [70]; dort [74]
auch dazu, dass der Gesetzgeber die Auswirkungen von Mitbestimmungsregelungen beobachten und Fehlentwicklungen korrigieren muss; vgl. auch BVerfGE 107, 59 [88]). Für
die gesetzgeberische Ausgestaltung ist ein “Drei Stufen-Modell“ entwickelt worden:
• Bei der Regelung von Angelegenheiten, die in ihrem Schwerpunkt die Beschäftigten
in ihrem Beschäftigungsverhältnis betreffen, typischerweise aber nicht oder nur
unerheblich die Wahrnehmung von Amtsaufgaben gegenüber dem Bürger berühren,
gestattet das Demokratieprinzip eine weitreichende Mitwirkung der Beschäftigten.
• Maßnahmen, die den Binnenbereich des Beschäftigungsverhältnisses betreffen, die
Wahrnehmung des Amtsauftrags jedoch typischerweise nicht nur unerheblich berühren, bedürfen eines höheren Maßes an demokratischer Legitimation (verbindliche Letztentscheidung durch den Amtsträger).
• Innerdienstliche Maßnahmen, insbesondere organisatorische, personelle und - in
Einzelfällen - soziale Maßnahmen, die schwerpunktmäßig die Erledigung von
Amtsaufgaben betreffen, unvermeidlich aber auch die Interessen der Beschäftigten
berühren, sind stets von so großer Bedeutung für die Erfüllung des Amtsauftrags,
dass die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung für sie keine substantielle Einschränkung erfahren darf; solche Maßnahmen dürfen nicht auf Stellen zur
Alleinentscheidung übertragen werden, die Parlament und Regierung nicht verantwortlich sind (BVerfGE 93, 37 [71 ff.]).
Brunn - Kapitel D.III.5.
Seite 318
cc) Besonderes Bestellungsorgan
Sieht das Gesetz ein Gremium als Kreationsorgan für die definitive Bestellung eines
Amtsträgers vor, das nur teils aus personell legitimierten Amtsträgern zusammengesetzt ist, so erhält der zu Bestellende volle demokratische Legitimation für sein Amt nur
dadurch, dass die die Entscheidung tragende Mehrheit sich ihrerseits aus einer Mehrheit
unbeschränkt demokratisch legitimierter Mitglieder des Kreationsorgans ergibt. Die Vermittlung personeller demokratischer Legitimation setzt weiter voraus, dass die personell
demokratisch legitimierten Mitglieder eines solchen Kreationsorgans bei ihrer Mitwirkung an der Bestellung eines Amtsträgers ihrerseits auch parlamentarisch verantwortlich
handeln (BVerfGE 93, 37 [67 f.]; vgl. auch BVerfGE 107, 59 [88] “Prinzip der doppelten
Mehrheit“).
Man dürfte nicht fehl gehen in der Annahme, dass das Bundesverfassungsgericht Ähnliches entscheiden würde, wenn es um die personelle Zusammensetzung eines Richterwahlausschusses ginge, welcher nicht überwiegend aus Parlamentariern sowie ihrerseits durch
parlamentarische Wahl legitimierten Richtern zusammengesetzt ist).
dd) Legitimation im Bereich funktionaler Selbstverwaltung
Das Bundesverfassungsgericht hatte die Grundsätze zur Entfaltung des demokratischen
Prinzips für die unmittelbare Staatsverwaltung auf Bundes- und Landesebene sowie die
Selbstverwaltung in den Kommunen entwickelt (BVerfGE 107, 59 [88 f.]). Weil der Verfassungsgeber die im Jahre 1949 vorhandenen, historisch gewachsenen Organisationsformen
der funktionalen Selbstverwaltung (zwar nicht ausdrücklich geregelt, aber) zur Kenntnis
genommen und durch Erwähnung ihre grundsätzliche Vereinbarkeit mit der Verfassung
anerkannt hat (a.a.O. [90]), hat das Bundesverfassungsgericht erst verhältnismäßig spät
zu solchen Erscheinungsformen (vgl. auch C.III.2. (vgl. S. 171) ) ausdrücklich Stellung
genommen:
Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung und der gemeindlichen Selbstverwaltung
ist - wie auch nachstehend ee) behandelt - das Demokratiegebot des Art. 20 Abs. 2 GG
offen für Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt, die vom Erfordernis
lückenloser personeller demokratischer Legitimation aller Entscheidungsbefugten abweichen. Es erlaubt , für abgegrenzte Bereiche der Erledigung öffentlicher Aufgaben durch
Gesetz besondere Organisationsformen der Selbstverwaltung zu schaffen. Die funktionale
Selbstverwaltung ergänzt und verstärkt das demokratische Prinzip. Der Gesetzgeber
darf ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen
Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessensausgleich erleichtern und so dazu beitragen, dass die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden
(a.a.O. [91 f.]; dort [89] zu Wasserverbänden als historisch gewachsene und von der
Verfassung grundsätzlich anerkannte Organisationsformen).
Was verbindliches Handeln mit Entscheidungscharakter anbelangt, ist diese den Organen von Trägern der funktionalen Selbstverwaltung aus verfassungsrechtlicher Sicht
nur gestattet, weil und soweit das Volk auch insoweit sein Selbstbestimmungsrecht
wahrt, indem es maßgeblichen Einfluss auf dieses Handeln behält. Das erfordert, dass
die Aufgaben und Handlungsbefugnisse der Organe in einem von der Volksvertretung
beschlossenen Gesetz ausreichend vorherbestimmt sind und ihre Wahrnehmung der
Aufsicht personell demokratisch legitimierter Amtswalter unterliegt (a.a.O. [94]).
ee) “Offenheit“ für andere Formen der Organisation und Ausübung von Staatsgewalt
außerhalb der unmittelbaren Staats- bzw. Gemeindeverwaltung
Brunn - Kapitel D.III.6.
Seite 319
Außerhalb der unmittelbaren Staatsverwaltung (und der gemeindlichen Selbstverwaltung) ist das Demokratiegebot auch im Übrigen offen . Das “Ob“ und “Wie“ hängt
insoweit auch davon ab, ob die institutionellen Vorkehrungen eine nicht Einzelinteressen
gleichheitswidrig begünstigende, sondern gemeinwohlorientierte und von Gleichachtung der Betroffenen geprägte Aufgabenwahrnehmung ermöglichen und gewährleisten;
auch hier ist Bedacht zu nehmen auf parlamentarische Beobachtung und Kontrolle
(BVerfGE 135, 155 [222 f.] für Filmförderungsanstalt; dort [225] auch dazu, dass ein
“insgesamt notwendiges Maß an demokratischer Legitimation“ gewahrt sein kann, auch
wenn nicht sämtliche Entscheidungsträger “in vollem Umfang“ legitimiert sind).
c) Beleihung Privater mit hoheitlichen Befugnissen
Für den Fall der Beleihung Privater müssen u.a. die Möglichkeiten parlamentarischer
Kontrolle der Aufgabenwahrnehmung unbeeinträchtigt bleiben. Der parlamentarischen
Kontrolle kommt hier besondere Bedeutung zu, weil die Beleihung Privater nicht zu
einer Flucht aus der staatlichen Verantwortung für die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben führen darf. Die staatliche Gewährleistungsverantwortung für die ordnungsgemäße
Aufgabenerfüllung schließt auch für das Parlament eine entsprechende Beobachtungspflicht ein. Der demokratische Legitimationszusammenhang bleibt nur gewahrt , wenn
das Parlament an der Wahrnehmung dieser Beobachtungspflicht nicht gehindert ist
(BVerfGE 130, 76 [123 f.]; dort [124 ff.] auch dazu, dass sachlich-inhaltlich die Aufgabenwahrnehmung durch den Privaten durch dessen Bindung an das Gesetz in Verbindung
mit umfassenden Weisungsbefugnissen der verantwortlichen öffentlichen Träger legitimiert sein kann; dort [127 f.] auch zum Erfordernis wirksamer Fachaufsicht insbesondere
vermittels Informationsgewinnungs- und -durchsetzungsmittel).
6. Die Parteien und der Gesetzgeber
Art. 21 GG hat die Parteien als verfassungsrechtlich notwendige - aber keinesfalls in
den Bereich der organisierten Staatlichkeit einzufügende - Instrumente für die politische
Willensbildung des Volkes anerkannt und sie in den Rang einer verfassungsrechtlichen
Institution gehoben (BVerfGE 121, 30 [54]; dort [56 ff.] auch zu ihrer Grundrechtsträgerschaft).
Für den Gesetzgeber ist insoweit Art. 21 Abs. 3 GG (Gesetzgebungskompetenz) von
Bedeutung.
a) Reichweite und Grenzen des Art. 21 Abs. 3 GG
Diese ergeben sich aus dem Umfang der in Art. 21 Abs. 1 und Abs. 2 GG statuierten
Inhalte (der weit zu verstehen ist). Die Gesetzgebungsbefugnis umfasst insbesondere die
Befugnis zur Konkretisierung des Parteibegriffs (hierzu BVerfGE 91, 262 [267]; vgl. auch
BVerfGE 134, 131 [129]) und zur Regelung der Rechtsstellung im Rechtsverkehr und im
gerichtlichen Verfahren (BVerfGE 121, 30 [47]).
Sie umfasst ferner die innere Ordnung und die Rechnungslegungspflicht (insbesondere
“Parteienfinanzierung“; hierzu BVerfGE 85, 264 [285 ff.]; BVerfGE 104, 287 [300]; BVerfGE 111, 54 [98 f.] sowie BVerfGE 111, 382 [408]), weiterhin das Verfahren und den Vollzug
des Parteiverbots und schließlich - hier besonders bedeutsam - zur Schaffung von Bestimmungen, mit denen die Rolle der Parteien in ihrer Vermittlungsfunktion zwischen
Volk und Staatsorganen ausgestaltet wird (BVerfGE 121, 30 [47]):
Brunn - Kapitel D.III.6.
Seite 320
b) Der Rang der Parteien als “verfassungsrechtliche Institutionen“
Allerdings gehören die Parteien nicht zu den obersten Staatsorganen. Sie sind frei gebildete, im gesellschaftlich-politischen Bereich wurzelnde Gruppen, dazu berufen, bei der
politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken und in den Bereich der institutionellen Staatlichkeiten hineinzuwirken (grundlegend: BVerfGE 20, 56 [100 f.]; BVerfGE
52, 63 [82 f.] sowie BVerfGE 85, 264 [284 ff.]; vgl. auch BVerfGE 104, 14 [19]). Sie sind
keineswegs “sakrosankt“: Einschätzungen einer Partei etwa als rechtsextrem oder verfassungsfeindlich sind Teil der öffentlichen Auseinandersetzung, denen die betroffene Partei
- sofern sich die Äußerungen im Rahmen von Gesetz und Recht halten - mit den Mitteln
des Meinungskampfes begegnen muss (BVerfGE 137, 29 [33]).
c) Die Beteiligung an Wahlen (als unverzichtbares Element) und die
Chancengleichheit
Von Verfassungs wegen ist wesentliches und unverzichtbares Element ihre Beteiligung an
Wahlen (vorstehend D.III.3. und D.III.4.) bzw. deren Vorbereitung (BVerfGE 91, 262
[267 f.]; dort auch dazu, dass sich darin ihre Funktion nicht erschöpft).
aa) Chancengleichheit bei Wahlen und deren Vorbereitung
Hier (und auch im Übrigen) gewährleistet die Verfassung (und muss bereits der Gesetzgeber normativ sichern; BVerfGE 121, 108 [123] “Wettbewerbsverfälschung“) die Chancengleichheit (BVerfGE 104, 14 [19 f.]; vgl. auch BVerfGE 120, 82 [104]; BVerfGE 124,
1 [20]; BVerfGE 135, 259 [285 ff.] sowie BVerfGE 138, 102 [110 ff.]):
(1) Zusammenhang mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl
Die Gewährleistung gleicher Chancen im Wettbewerb um Wählerstimmen ist ein unabdingbares Element des vom Grundgesetz gewollten freien und offenen Prozesses der
Meinungs- und Willensbildung des Volkes. Damit die Wahlentscheidung in voller Freiheit gefällt werden kann, ist es unerlässlich, dass die Parteien, soweit irgend möglich,
gleichberechtigt am politischen Wettbewerb teilnehmen.
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit steht in engem Zusammenhang
mit den Grundsätzen der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 Satz
1 GG), die ihre Prägung durch das Demokratieprinzip erfahren. Aus diesem Grund ist
es - ebenso wie die durch die Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl
verbürgte gleiche Behandlung der Wähler - streng formal zu verstehen. Das Recht der
Parteien auf Chancengleichheit zieht so dem Ermessen des Gesetzgebers besonders enge
Grenzen.
(2) Differenzierungsverbot
Es enthält ein grundsätzliches Differenzierungsverbot, dessen Durchbrechung nur durch
einen zwingenden Grund zu rechtfertigen ist. Der Staat darf vor allem die vorgefundene
Wettbewerbslage nicht verfälschen. Denn der im Mehrparteiensystem angelegte politische
Wettbewerb soll Unterschiede hervorbringen - je nach Zuspruch der Bürger. Diesen darf
die öffentliche Gewalt nicht ignorieren oder gar konterkarieren.
Brunn - Kapitel D.III.6.
Seite 321
(3) Zuweisung staatlicher Finanzmittel
Das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit kann durch die Zuweisung
staatlicher Finanzmittel betroffen sein:
(3a) Zuweisungen an andere Parteien
Erfolgt die Zuweisung öffentlicher Mittel unmittelbar an politische Parteien, wirkt sich
dies in jedem Fall auf ihre Möglichkeit zur Teilnahme am politischen Wettbewerb aus.
Ungeachtet der sich aus der Struktur der Parteien als konkurrierender, aus eigener Kraft
wirkender und vom Staat unabhängiger Gruppierungen ergebenden Grenzen staatlicher
Parteienfinanzierung sind in diesen Fällen die verfassungsrechtlichen Anforderungen des
formalisierten Gleichheitssatzes strikt zu beachten.
(3b) Zuweisungen an Dritte
Erfolgt die Vergabe öffentlicher Finanzmittel an Dritte, kann - auch wenn der vorgesehene Verwendungszweck dieser Mittel politische Bezüge aufweist - nicht ohne weiteres
davon ausgegangen werden, dass durch die Zuweisung der Mittel in das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit eingegriffen wird. Dies gilt insbesondere, wenn die
Mittel Institutionen zugewendet werden, die von den Parteien rechtlich und tatsächlich
unabhängig sind, ihre Aufgaben selbständig und eigenverantwortlich wahrnehmen und
auch in der Praxis die gebotene Distanz zu den jeweiligen Parteien wahren (BVerfGE
140, 1 [23 f.]).
(3c) Zweckwidrige Verwendung staatlicher Mittel
Werden durch den Haushaltsgesetzgeber zugewiesene Mittel nicht bestimmungsgemäß
verwendet, ist zwischen der Bewilligung der Mittel und der Verwendung durch den Zuwendungsempfänger zu unterscheiden . Nicht jede zweckwidrige, Art. 21 Abs. 1 GG
missachtende Verwendung staatlicher Zuschüsse führt dazu, dass der Haushaltsgesetzgeber bereits durch die Bewilligung dieser Mittel das Recht der politischen Parteien auf
Chancengleichheit verletzt hat. Vielmehr muss in diesen Fällen die zweckwidrige Verwendung der staatlichen Mittel dem Haushaltsgesetzgeber zugerechnet werden können.
Dies ist der Fall, wenn bereits durch die Bewilligung der staatlichen Zuschüsse der
zweckwidrigen Verwendung der Mittel das Tor geöffnet und so der Weg für eine verfassungswidrige Parteienfinanzierung geebnet wird. Davon ist auszugehen, wenn Mittel
in einem überhöhten, durch die Zweckbindung nicht gerechtfertigten Umfang zur Verfügung gestellt oder unzureichende Vorkehrungen zur Verhinderung einer zweckwidrigen
Verwendung dieser Mittel getroffen werden. Verfassungswidrig ist ein gesetzliches Regelungskonzept, wenn die vorgesehenen Schutzmechanismen in einer Weise lückenhaft
oder sonst unzureichend sind, die eine gegen das Grundgesetz verstoßende Beeinträchtigung der Chancengleichheit politischer Parteien fördert, das Vollzugsdefizit also durch
die Struktur der Norm determiniert ist (BVerfGE 140, 1 [25]).
bb) Einwirkungen von Staatsorganen auf die Chancengleichheit
Das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit aus Art. 21 Abs. 1 GG kann auch
dadurch verletzt werden, dass Staatsorgane zugunsten oder zulasten einer politischen
Partei in den Wahlkampf einwirken. Deshalb ist es Staatsorganen als solchen von Verfassungs wegen versagt, sich im Hinblick auf Wahlen mit Parteien oder Wahlbewerbern
Brunn - Kapitel D.III.6.
Seite 322
zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen, insbesondere durch Werbung die Entscheidung des Wählers zu beeinflussen
(BVerfGE 137, 29 [32]).
Dies gilt auch für den politischen Meinungskampf und Wettbewerb im Allgemeinen
(BVerfGE 140, 225 [227]).
cc) Insbesondere: Öffentliche Äußerungen (des Bundespräsidenten und) der Bundesregierung (bzw. deren Mitgliedern) und Chancengleichheit
Seit der politische (insbesondere der rechtsgerichtete) Extremismus zugenommen hat,
hatte sich das Bundesverfassungsgericht öfter mit “kämpferischen“ Meinungsäußerungen
zu befassen (vgl. etwa BVerfGE 140, 225 ff. einstweilige Anordnung; vgl. zur - weitergehenden - Äußerungsbefugnis des Bundespräsidenten BVerfGE 136, 323 [330 ff.]).
(1) Bundesregierung und deren Informations- und Öffentlichkeitsarbeit
Die Bundesregierung ist das oberste Organ der vollziehenden Gewalt. Gemeinsam mit den
anderen dazu berufenen Verfassungsorganen obliegt ihr die Aufgabe der Staatsleitung.
Zwar vermitteln die einzelnen in der Verfassung aufgeführten Aufgaben und Zuständigkeiten der Bundesregierung und ihrer Mitglieder nur einen unvollständigen Ausschnitt
des Aufgabenbestandes, der sich aus dem politischen Leitungsauftrag der Bundesregierung ergibt. Das Grundgesetz setzt die Kompetenz der Bundesregierung zur Staatsleitung
im Sinne einer abschließenden Regelung nicht zugänglichen verantwortlichen Leitung des
Ganzen der inneren und äußeren Politik jedoch stillschweigend voraus.
Diese Kompetenz zur Staatsleitung schließt zwar als integralen Bestandteil die Befugnis
der Bundesregierung zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (allgemein vorstehend
D.III.3.c)bb) (vgl. S. 299) ) ein. Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden
Körperschaften ist nicht nur zulässig, sondern auch notwendig, um den Grundkonsens im
demokratischen Gemeinwesen lebendig zu erhalten. Darunter fällt namentlich die Darlegung und Erläuterung der Politik der Regierung hinsichtlich getroffener Maßnahmen
und künftiger Vorhaben angesichts bestehender oder sich abzeichnender Probleme sowie
die sachgerechte, objektiv gehaltene Information über den Bürger unmittelbar betreffende Fragen und wichtige Vorgänge auch außerhalb oder weit im Vorfeld der eigenen
gestaltenden politischen Tätigkeit (BVerfGE 138, 102 [113 f.]).
(2) Pflicht zur Beachtung des “Neutralitätsgebots“
Die Bundesregierung hat aber die Pflicht, das Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit und das daraus folgende Neutralitätsgebot zu beachten: Die zulässige Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung endet dort, wo die (unzulässige) Wahlwerbung
beginnt. Insbesondere dürfen nicht unter Einsatz öffentlicher Mittel Regierungsparteien
unterstützt und Oppositionsparteien bekämpft werden.
Was insbesondere die Behauptung einer Verfassungsfeindlichkeit angeht, so verbietet es
das Recht politischer Parteien auf Chancengleichheit der Bundesregierung, eine nicht verbotene politische Partei in der Öffentlichkeit nachhaltig verfassungswidriger Zielsetzung
und Betätigung zu verdächtigen, wenn ein solches Vorgehen bei verständiger Würdigung
der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher
der Schluss aufdrängt, dass es auf sachfremden Erwägungen beruht.
Brunn - Kapitel D.IV.0.
Seite 323
Diese Maßgaben gelten auch für die öffentliche Erörterung, ob gegen eine Partei ein Verbotsverfahren eingeleitet wird. Staatliche Stellen sind freilich nicht gehindert, das Für
und Wider dieser schwerwiegenden Maßnahme mit der gebotenen Sachlichkeit zur Debatte zu stellen. Erst wenn erkennbar wird, dass diese Debatte nicht entscheidungsorientiert,
sondern mit dem Ziel der Benachteiligung der betroffenen Partei geführt wird, kommt
eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG in Betracht.
(3) Äußerungen einzelner Mitglieder der Bundesregierung
Für das einzelne Mitglied der Bundesregierung kann nichts anderes gelten als für die
gesamte Bundesregierung. Bei seiner Mitwirkung an der Wahrnehmung der Aufgaben der
Bundesregierung nach Maßgabe des Art. 65 GG ist es ebenfalls an die Grundrechte sowie
an Gesetz und Recht gebunden (Art. 1 Abs. 3 GG und Art. 20 Abs. 3 GG). Soweit ein
Mitglied der Bundesregierung im Rahmen seiner Ressortzuständigkeit ihm übertragene
Regierungsaufgaben wahrnimmt, ist es daher in gleicher Weise wie die Bundesregierung
als Ganze zur Beachtung des Grundsatzes der Chancengleichheit politischer Parteien
gemäß Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GG verpflichtet. Auch dem einzelnen Bundesminister ist es
im Rahmen seiner Regierungstätigkeit von Verfassungs wegen untersagt, sich im Hinblick
auf Wahlen mit politischen Parteien zu identifizieren und sie unter Einsatz staatlicher
Mittel zu unterstützen oder zu bekämpfen (BVerfGE 138, 102 [114 ff., 116 f.]; dort [117
ff.] ausführlich zu den vielfältigen Formen der Teilnahme am “Meinungskampf“).
IV. Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1, 2. Alt. GG)
1.
2.
Bekenntnis zum Sozialstaat (Konkretisierung durch den - regelmäßig über
einen Gestaltungsraum verfügenden - Gesetzgeber) . . . . . . .
a) Adressaten von Leistungen (Hilfs- und Schutzbedürftige) . . .
325
325
aa) (Zulässige) Differenzierungen nach dem Grad der sozialen
Schutzbedürftigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
325
bb) Spezialregelungen für spezielle Bevölkerungsgruppen . . . .
b) Grundaufgaben (Betreuung, Pflege, Krankheit) . . . . . .
Menschenrecht und Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (auch) durch den Gesetzgeber . . . . . . . . . . .
a) Pflicht zur gesetzlichen Sicherung des unbedingt Erforderlichen .
326
326
aa) Umfang der grundrechtlichen Garantie . . . . . . . . . . . .
326
bb) Konkreter Leistungsanspruch (subjektives Recht des Hilfsbedürftigen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
(1) Gesetzesvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
b)
325
326
327
(2) Verfassungswidrigkeit bei defizitärer Gestaltung . . . . .
Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Vorgehen des Gesetzgebers
(“Ergebnisorientierung“ des Verfahrens) . . . . . . . . .
327
327
aa) Bemessung der (konkreten) Bedarfe der Hilfsbedürftigen . .
327
bb) Methoden zur Bemessung
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
327
(1) (Zulässige und unzulässige) “Schätzungen“ . . . . . . . .
327
(2) (Zulässige und unzulässige) Modelle . . . . . . . . . . . .
328
Brunn - Kapitel D.IV.1.
3.
cc) Härtefallregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
dd) Zusammenfassung der gesetzgeberischen Verpflichtungen (Begründungsfähigkeit) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
328
Sozialversicherung .
a)
4.
5.
.
.
.
.
.
.
Gesetzliche Krankenversicherung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
328
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
329
aa) Berechtigung einer Sicherung der finanziellen Stabilität . . .
329
bb) “Zwei Versicherungssäulen“
329
cc)
b)
Seite 324
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sonderfall der schwerwiegenden bzw. lebensbedrohlichen
Krankheiten und Leistungsansprüche der Beitragspflichtigen
329
(1) Einflüsse der staatlichen (gesetzgeberischen) Schutzpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
329
(2) Gesetzgeberische Pflichten im Zusammenhang mit Verfahren zur Bewertung von medizinischen Notwendigkeiten .
330
Arbeitslosenversicherung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
330
aa) Angemessener Ersatz für Ausfälle . . . . . . . . . . . . . . .
330
bb) Alternativen der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit
. . . . .
330
c)
Hinterbliebenenversorgung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
330
d)
Unfallversicherung
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
330
e)
Fürsorge für (insbesondere altersbedingt) Pflegebedürftige .
.
.
331
.
.
.
Steuerfreiheit des (zu “verschonenden“) Existenzminimums
.
.
.
.
331
a)
Bedarf (nach Erfüllung der Steuerschuld)
.
.
.
.
.
331
b)
Bemessung des zu verschonenden Existenzminimums .
.
.
.
.
331
c)
Sozialrechtlicher Mindestbedarf als Untergrenze
.
.
.
.
331
d)
Sonstige Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte im Steuerrecht
331
.
.
.
.
.
Anspruch auf Zutritt zu vom Staat geschaffenen Ausbildungseinrichtungen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
332
6.
Wiedergutmachung von Vermögensverlusten
.
.
.
.
.
.
.
.
.
332
7.
Resozialisierung von Straftätern
8.
Fremdrentengesetz .
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
332
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
.
333
Vielleicht noch mehr als das - nachfolgend D.V. dargestellte - Rechtstaatsprinzip determiniert das Sozialstaatsprinzip, welches etwa in Art. 6 Abs. 4 GG eine Einzelkonkretisierung erfahren hat (nachfolgend E.VI.4. (vgl. S. 726) ), das Handeln des modernen
Gesetzgebers. Insbesondere im Zusammenhang der Problematik eines “menschenwürdigen Existenzminimums“ kommt nämlich auch Art. 1 Abs. 1 GG ins Spiel.
Gleichwohl kann hier nicht allen Verästelungen nachgegangen, sondern nur Grundlegendes zum Sozialstaatsprinzip - das zwar hauptsächlich die Sozialversicherung (nachfolgend
D.IV.3.) bestimmt, aber auch für andere Materien (nachfolgend D.IV.4. bis 8.) Bedeutung
haben kann - ausgebreitet werden:
Brunn - Kapitel D.IV.1.
Seite 325
1. Bekenntnis zum Sozialstaat (Konkretisierung durch den - regelmäßig über
einen Gestaltungsraum verfügenden - Gesetzgeber)
Mit der Wendung vom “sozialen Bundesstaat“ enthält die Verfassung ein Bekenntnis
zum Sozialstaat, das zwar bei der Auslegung des Grundgesetzes wie bei der Auslegung
anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein kann, aber in erster Linie durch den
Gesetzgeber zu verwirklichen ist (grundlegend: BVerfGE 1, 97 [105]; vgl. auch BVerfGE
65, 182 [193]); das Sozialstaatsprinzip ist auch nicht geeignet, Grundrechte unmittelbar
(also ohne nähere Konkretisierung durch den Gesetzgeber) zu beschränken (BVerfGE 59,
231 [262 f.]).
[1] Das Sozialstaatsprinzip begründet die Pflichten des Staates, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen; bei der Erfüllung dieser Pflicht kommt dem Gesetzgeber ein Gestaltungsspielraum zu. Das Sozialstaatsprinzip stellt also dem Staat eine Aufgabe, sagt aber
nichts darüber, wie diese Aufgabe im Einzelnen zu verwirklichen ist (a.a.O. [263]; vgl.
auch BVerfGE 100, 271 [284]). Auf dem Weg des “Fortschritts zu sozialer Gerechtigkeit“
als einem leitenden Prinzip aller staatlichen Maßnahmen (BVerfGE 5, 85 [198]) darf der
Gesetzgeber beispielsweise auch mit Hilfe privater Wohlfahrtsorganisationen vorgehen
(BVerfGE 22, 180 [204]).
[2] Zwingend ist freilich, dass der Staat die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein seiner Bürger schafft (BVerfGE 82, 60 [80]; vgl. auch BVerfGE 110, 412
[445 f.] und nachfolgend 2.).
a) Adressaten von Leistungen (Hilfs- und Schutzbedürftige)
Was die Adressaten von Leistungen anbelangt, so gehört auf der einen Seite die Fürsorge für Hilfsbedürftige zu den selbstverständlichen Verpflichtungen eines Sozialstaats
(BVerfGE 43, 13 [19]), was notwendig die soziale Hilfe für Mitbürger einschließt, die wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen an ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung
gehindert sind (BVerfGE 44, 353 [375]).
aa) (Zulässige) Differenzierungen nach dem Grad der sozialen Schutzbedürftigkeit
Auf der anderen Seite gilt auch der Grundsatz, dass derjenige mit seinen Wünschen nach
staatlicher Hilfe zurücktreten muss, der “sich aus eigener Kraft zu helfen in der Lage ist“
(BVerfGE 17, 38 [56]).
Sind mit anderen Worten - zum einen - Differenzierungen nach dem Grade der sozialen
Schutzbedürftigkeit der Empfänger zu rechtfertigen (BVerfGE 13, 248 [259]), so darf,
wenn im Einzelfall ein Bedarf festgestellt wird, der Gesetzgeber - zum anderen - auch
Typisierungen (ausführlich nachstehend E.III.1.e) (vgl. S. 602) ) bestimmen oder vorsehen (BVerfGE 17, 1 [11]; vgl. auch BVerfGE 94, 241 [263]). “Unbilligkeiten“ im Einzelfall
können bisweilen unvermeidbar und hinzunehmen sein (BVerfGE 69, 272 [315]). Das Gebot der Gleichheit darf auch nicht durch eine “beliebige“ Sozialgestaltung “aufgelöst“
werden (BVerfGE 12, 354 [367]).
bb) Spezialregelungen für spezielle Bevölkerungsgruppen
Bei Beamten (nachfolgend D.VII.2.) und Richtern (nachfolgend D.VII.3.) sichern die
Grundsätze des Berufsbeamtentums, dass die Besoldung und Versorgung den Mindestanforderungen genügen, die sich auch aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben (BVerfGE 17,
337 [355]).
Brunn - Kapitel D.IV.2.
Seite 326
b) Grundaufgaben (Betreuung, Pflege, Krankheit)
Im Einzelnen muss - entsprechend den vorstehenden Darlegungen - die staatliche Gemeinschaft (über die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein hinaus)
denjenigen, die außer Stande sind, sich selbst zu unterhalten, helfen, sich soweit möglich in die Gesellschaft einzugliedern, ihre angemessene Betreuung in der Familie oder
durch Dritte fördern sowie die notwendigen Pflegeeinrichtungen schaffen (BVerfGE 40,
121 [133]). Die Errichtung und Verwaltung von Vormundschaften gehören deshalb ebenfalls zu vorrangigen Aufgaben der staatlichen Wohlfahrtspflege (BVerfGE 54, 251 [268
f.]).
Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates (BVerfGE 68, 193 [209]; vgl. auch BVerfGE 11,
30 [48] dazu, dass es eine nicht auf Kassenmitglieder beschränkte Aufgabe der Gesundheitsfürsorge ist, Maßnahmen zur ärztlichen Versorgung in dünn besiedelten Gebieten zu
treffen). Die Energieversorgung gehört zum Bereich der Daseinsvorsorge (BVerfGE 66,
248 [258]) ebenso wie die Einrichtung und Unterhaltung von Kindergärten , wodurch
grundrechtliche Schutz- und Förderpflichten erfüllt werden (BVerfGE 97, 332 [347 f.]).
2. Menschenrecht und Gewährleistung eines menschenwürdigen
Existenzminimums (auch) durch den Gesetzgeber
Seit jeher und neuerdings mehrfach bekräftigt steht das Grundrecht auf Gewährleistung
eines menschenwürdigen Existenzminimums im Vordergrund. Dieses ergibt sich aus Art.
1 Abs. 1 GG (hierzu ausführlich nachfolgend E.I.1.) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG; das Sozialstaatsgebot erteilt dem Gesetzgeber den Auftrag, jedem ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Dieses Grundrecht ist dem Grunde nach unverfügbar und muss
eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den
Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand
des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat (BVerfGE
125, 175 [222]; vgl. auch BVerfGE 137, 34 [72]).
Als Menschenrecht steht es deutschen und ausländischen Staatsangehörigen gleichermaßen zu (BVerfGE 132, 134 [159]).
a) Pflicht zur gesetzlichen Sicherung des unbedingt Erforderlichen
Es ist begrenzt auf die Mittel, “die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind“.
aa) Umfang der grundrechtlichen Garantie
Die grundrechtliche Garantie umfasst die physische Existenz des Menschen (also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit) wie auch die
Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem
Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben, weil
der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert (BVerfGE 125, 175 [223];
vgl. auch BVerfGE 132, 134 [160] sowie BVerfGE 137, 34 [76 f.]).
Brunn - Kapitel D.IV.2.
Seite 327
bb) Konkreter Leistungsanspruch (subjektives Recht des Hilfsbedürftigen)
Weil ein Hilfebedürftiger von Verfassungs wegen nicht auf freiwillige Leistungen des Staates oder Dritter verwiesen werden darf, deren Erbringung nicht durch ein subjektives
Recht des Hilfebedürftigen gewährleistet ist, muss die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert werden (BVerfGE 125, 175 [223]).
(1) Gesetzesvorbehalt
Erforderlich ist ein Parlamentsgesetz, das einen konkreten Leistungsanspruch des Bürgers
gegenüber dem zuständigen Leistungsträger enthält (a.a.O.).
(2) Verfassungswidrigkeit bei defizitärer Gestaltung
Kommt der Gesetzgeber seiner Pflicht nicht hinreichend nach, so ist das einfache Recht
im Umfang seiner defizitären Gestaltung verfassungswidrig (BVerfGE 132, 134 [160]).
b) Verfassungsrechtliche Vorgaben für das Vorgehen des Gesetzgebers
(“Ergebnisorientierung“ des Verfahrens)
Die Vorgehensweise des Gesetzgebers ist durch die Verfassung bereits im Wesentlichen
vorgegeben. Entscheidend ist, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich
für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden
(BVerfGE 137, 34 [73 f.]).
aa) Bemessung der (konkreten) Bedarfe der Hilfsbedürftigen
Zunächst hat der Gesetzgeber alle existenznotwendigen Aufwendungen in einem transparenten und sachgerechten Verfahren realitätsgerecht sowie nachvollziehbar auf der
Grundlage verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren zu bemessen; hierzu hat er zunächst die Bedarfsarten sowie die dafür anzuwendenden Kosten zu ermitteln
und auf dieser Basis die Höhe des Gesamtbedarfs zu bestimmen (BVerfGE 125, 175 [225];
vgl. auch BVerfGE 137, 34 [73]).
bb) Methoden zur Bemessung
Für die Bestimmung der konkreten Leistungen zur Existenzsicherung darf jedenfalls keine
Methode gewählt werden, die Bedarfe von vornherein ausblendet, wenn diese ansonsten
als existenzsichernd anerkannt worden sind (BVerfGE 132, 134 [163]), und weil der elementare Lebensbedarf eines Menschen grundsätzlich nur in dem Augenblick befriedigt
werden kann, in dem er besteht, ist das - zunächst sachgerecht - gefundene Ergebnis
fortwährend zu überprüfen und weiter zu entwickeln (BVerfGE 125, 175 [225]). Dies gilt
insbesondere bei - zulässigen - Festbeträgen.
(1) (Zulässige und unzulässige) “Schätzungen“
Zwar sind Schätzungen auf fundierter empirischer Grundlage nicht ausgeschlossen,
Schätzungen “ins Blaue hinein“ laufen jedoch einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider (BVerfGE 125, 175 [237 f.]). Besonderheiten bestimmter Personengruppen
Brunn - Kapitel D.IV.3.
Seite 328
können zwar berücksichtigungsfähig sein, aber eine entsprechende Differenzierung ist nur
möglich, wenn der Bedarf einer Gruppe an existenznotwendigen Leistungen von dem
anderer Bedürftiger - belegbar - signifikant abweicht (BVerfGE 132, 134 [164]).
(2) (Zulässige und unzulässige) Modelle
Realitätsgerecht können sowohl Statistik- wie auch “Warenkorbmodelle“ zulässig sein
(BVerfGE 125, 175 [234 f.]). Was in anderen Rechtsbereichen zulässig geregelt worden
ist (Einkommensgrenzen im Prozesskostenhilferecht, Pfändungsfreigrenzen, einkommensteuerliche Berücksichtigung von Aufwendungen für Kinder etc.), kann, muss aber nicht
für das Existenzminimum maßgeblich sein (a.a.O. [230] insbesondere bei zusammenlebenden Partnern). Speziell für Kinder muss der Bedarf besonders sachgerecht festgestellt
werden (a.a.O. [232, 245 f.]).
cc) Härtefallregelungen
Auch in diesem Zusammenhang kann es geboten sein, in Form von Härtefallregelungen
zusätzliche Leistungsansprüche zu gewähren (BVerfGE 125, 175 [253 f.] für atypischen
Bedarf ).
dd) Zusammenfassung der gesetzgeberischen Verpflichtungen (Begründungsfähigkeit)
Entscheidend ist, dass der Gesetzgeber - erstens - seine Entscheidung an den konkreten
Bedarfen der Hilfsbedürftigen ausrichtet und - zweitens - die Leistungen (zur Konkretisierung des grundrechtlichen Anspruchs) tragfähig begründet werden können (BVerfGE
137, 34 [73]; dort [73 f.] auch zu Verhandlungen und politischen Kompromissen).
3. Sozialversicherung
Einen besonders prägnanten Ausdruck des Sozialstaatsprinzips stellt die Sozialversicherung in ihrer heutigen Ausgestaltung dar, die sich längst nicht mehr auf die Abwehr
ausgesprochener Notlagen und die Vorsorge für die sozial schwächsten Bevölkerungskreise beschränkt (BVerfGE 28, 324 [348]). Sie beruht auf dem Prinzip der Solidarität und
des sozialen Ausgleichs (BVerfGE 22, 241 [253]), und der Gesetzgeber muss folgerichtig
auch und gerade das Interesse der Solidargemeinschaft - etwa im System der gesetzlichen
Rentenversicherung - berücksichtigen (BVerfGE 66, 66 [76]).
Die Verfassung garantiert indessen das bestehende System der Sozialversicherung (oder
doch seiner tragenden Organisationsprinzipien) nicht (BVerfGE 77, 340 [344]), und das
Gebot des sozialen Rechtsstaates enthält für den Einzelnen keinen Anspruch auf soziale
Leistungen (im Bereich etwa der Krankenversicherung) durch ein “so und nicht anders
aufgebautes Sozialversicherungssystem“ (BVerfGE 39, 302 [315]).
Vielmehr steht es grundsätzlich in der Gestaltungsmacht des Gesetzgebers, Art und Umfang sozialer Sicherungssysteme und den Kreis der hierdurch berechtigten Personen nach
sachgerechten Kriterien zu bestimmen (BVerfGE 98, 169 [204]; vgl. auch BVerfGE 97,
378 [389] zu Regelungen mit “unechter Rückwirkung“ und der Berücksichtigungsbedürftigkeit eines Vertrauens wegen Verschlechterung eines Krankenversicherungsschutzes). Im
Einzelnen gilt:
Brunn - Kapitel D.IV.3.
Seite 329
a) Gesetzliche Krankenversicherung
Der Schutz in Fällen von Krankheit ist in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der Grundaufgaben des Staates. Ihr ist der Gesetzgeber bislang im Wesentlichen
ausreichend nachgekommen.
aa) Berechtigung einer Sicherung der finanziellen Stabilität
Er durfte dabei auch auf die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung achten (BVerfGE 68, 193 [209, 218]; vgl. auch BVerfGE 82, 209 [230]
sowie BVerfGE 102, 68 [89 f.]).
bb) “Zwei Versicherungssäulen“
Soweit der Gesetzgeber - was er zulässig getan hat - eine Volksversicherung aus “zwei
Versicherungssäulen“ schafft, darf er die Personengruppen diesen beiden in einer ausgewogenen Lastenverteilung zuordnen und damit die finanzielle Stabilität und die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung sichern.
Dabei darf er auch zu dem Mittel greifen, durch die Einführung von Basistarifen zur Sicherstellung eines lebenslangen, umfassenden Schutzes der Mitglieder der privaten Krankenversicherung beizutragen; ein solcher Basistarif stellt sich als eine zulässige sozialstaatliche Indienstnahme der privaten Krankenversicherungsunternehmen zum gemeinen
Wohl dar (BVerfGE 123, 186 [235 ff., 249]).
cc) Sonderfall der schwerwiegenden bzw. lebensbedrohlichen Krankheiten und Leistungsansprüche der Beitragspflichtigen
Die Schutzwirkungen des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip
und des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gehen über den anerkannten, besonderen Extremfall
der lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Krankheit hinaus und vermitteln einen
weitergehenden subjektivrechtlichen Grundrechtsschutz.
(1) Einflüsse der staatlichen (gesetzgeberischen) Schutzpflichten
Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich an
der grundrechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor
die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen. Zugleich schützt das Grundrecht
aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip in einem auf Zwangsmitgliedschaft und Beitragspflicht beruhenden Versicherungssystems, bei dem der Einzelne typischerweise keinen unmittelbaren Einfluss auf die Höhe seines Beitrags und auf
Art und Ausmaß der aus seinem Versicherungsverhältnis geschuldeten Leistung hat, den
beitragspflichtigen Versicherten vor einer Unverhältnismäßigkeit von Beitrag und Leistung . Zwar ergibt sich daraus grundsätzlich kein verfassungsrechtlicher Anspruch auf
bestimmte Leistungen zur Krankenbehandlung. Gesetzliche oder auf Gesetz beruhende
Leistungsausschlüsse und Leistungsbegrenzungen sind aber daraufhin zu prüfen, ob sie
im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG gerechtfertigt sind.
Den Versicherten steht insoweit ein Anspruch auf eine verfassungsmäßige Ausgestaltung
und auf eine grundrechtsorientierte Auslegung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenkasse zu.
Brunn - Kapitel D.IV.3.
Seite 330
(2) Gesetzgeberische Pflichten im Zusammenhang mit Verfahren zur Bewertung von
medizinischen Notwendigkeiten
Gesetzlicher Ausgestaltung bedürfen insbesondere auch die grundsätzlich zulässigen
Verfahren zur Bewertung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens sowie der
medizinischen Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit neuer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Würde eine zur Behandlung einer Krankheit benötigte Leistung in einem
Entscheidungsprozess verweigert, der verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht genügt,
wären Versicherte in ihren Grundrechten verletzt (BVerfGE 140, 229 [237 f.]).
b) Arbeitslosenversicherung
Einem Versicherten muss kein Arbeitslosengeld gewährt werden, das auch unter Berücksichtigung vorheriger von ihm geleisteter Überstunden ihm annähernd die Aufrechterhaltung seines bisherigen Lebensstandards ermöglicht.
aa) Angemessener Ersatz für Ausfälle
Es genügt vielmehr, wenn dem Arbeitslosen angemessener Ersatz für den Ausfall geleistet
wird, den er dadurch erleidet, dass er gegenwärtig keinen tariflich bezahlten Arbeitsplatz
findet (BVerfGE 51, 115 [125]; vgl. auch BVerfGE 72, 9 [20 f.]).
bb) Alternativen der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit
Die staatliche Fürsorge bei Arbeitslosigkeit muss nicht auf finanzielle Unterstützung
der Arbeitslosen beschränkt sein. Sie kann auch darauf gerichtet sein, die Zahl der Arbeitsplätze etwa durch eine Mitfinanzierung der Lohnkosten zu vermehren und auf diese
Weise die Arbeitslosigkeit selbst zu bekämpfen (BVerfGE 100, 271 [284]).
c) Hinterbliebenenversorgung
Auch die Hinterbliebenenversorgung ist ein wesentlicher Bestandteil der Sozialversicherung. Zwar enthält die Sozialversicherung ein wesentliches Element sozialer Fürsorge, ist
aber in ihrer Struktur mindestens ebenso stark durch die versicherungsrechtliche Komponente geprägt, und die Hinterbliebenenrenten beruhen zu einem wesentlichen Teil auf
den Eigenleistungen der Versicherten (BVerfGE 28, 324 [348 f.]; vgl. auch BVerfGE 62,
323 [332] für Witwenrente, die zugleich dem Schutzgebot des Art. 6 Abs. 1 GG entspricht
und eine Konkretisierung des Sozialstaatsgebots bedeutet).
d) Unfallversicherung
Es wäre zu eng, die Entwicklung des Sozialstaatsprinzips auf das Regelungssystem der
gesetzlichen Unfallversicherung nur als Schutz sozial besonders Schwacher zu begreifen.
Die sozialstaatliche Pflicht zu einer umfassenden Sicherung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird auch durch das Interesse der Allgemeinheit an der Arbeitswelt als einer
wesentlichen Grundlage der Volkswirtschaft begründet: die dem Arbeitsleben in der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundenen Risiken können nicht von dem einzelnen
Arbeitnehmer getragen werden (BVerfGE 45, 376 [387]).
Brunn - Kapitel D.IV.4.
Seite 331
e) Fürsorge für (insbesondere altersbedingt) Pflegebedürftige
Die Fürsorge für Menschen, die vor allem im Alter zu den gewöhnlichen Verrichtungen
im Ablauf des täglichen Lebens aufgrund von Krankheit und Behinderung nicht in der
Lage sind, gehört im Geltungsbereich des Grundgesetzes zu den sozialen Aufgaben der
staatlichen Gemeinschaft. Dem Staat ist die Wahrung der Würde des Menschen in einer
solchen Situation der Hilfsbedürftigkeit besonders anvertraut (BVerfGE 103, 197 [221]).
4. Steuerfreiheit des (zu “verschonenden“) Existenzminimums
Der Gesetzgeber darf einem Bürger das selbst erzielte Einkommen bis zu dem Betrag
nicht entziehen, der als Existenzminimum bezeichnet wird (BVerfGE 82, 60 [85]; vgl.
auch BVerfGE 99, 246 [259] “Untergrenze“).
a) Bedarf (nach Erfüllung der Steuerschuld)
Mit anderen Worten muss dem der Einkommensteuer unterworfenen Steuerpflichtigen
nach Erfüllung seiner Einkommensteuerschuld von seinem Erworbenen so viel verbleiben,
als er zur Bestreitung seines notwendigen Lebensunterhalts und - unter Berücksichtigung
von Art. 6 Abs. 1 GG - desjenigen seiner Familien bedarf (BVerfGE 87, 153 [169 ff.]; dort
im Einzelnen zum Spielraum des Gesetzgebers).
b) Bemessung des zu verschonenden Existenzminimums
Dabei hängt die Höhe des steuerlich zu verschonenden Existenzminimums von den allgemeinen wirtschaftlichen Verhältnissen und dem in der Rechtsgemeinschaft anerkannten
Mindestbedarf ab (a.a.O. [170]).
Deshalb erfasst ein einheitlicher Durchschnittswert die verschiedenen Bedarfsgruppen
dann nicht realitätsgerecht , wenn - wie es oft auf dem Wohnungsmarkt der Fall ist - ein
erhebliches Preisgefälle für existenznotwendige Aufwendungen besteht (a.a.O. [172]).
c) Sozialrechtlicher Mindestbedarf als Untergrenze
In jedem Fall darf das von der Einkommensteuer zu verschonende Existenzminimum jedenfalls den Mindestbedarf nicht unterscheiten, den der Gesetzgeber im Sozialrecht festgelegt hat (BVerfGE 91, 93 [111, 114 f.]; vgl. auch BVerfGE 99, 246 [260] für Verpflichtung
zur realitätsgerechten Bemessung sowie BVerfGE 43, 108 [124 f.] für gleichmäßige bzw.
differenzierte Begünstigung von Kindern; hierzu auch BVerfGE 99, 246 [261 f.]).
d) Sonstige Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte im Steuerrecht
Auch im Übrigen kann der Sozialstaatsgrundsatz im Steuerrecht Geltung beanspruchen.
Die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte ist oft (nicht nur zulässig, sondern) geboten.
Insbesondere hat Steuerpolitik allgemein auf die Belange der wirtschaftlich schwächeren
Schichten der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen (BVerfGE 135, 126 [144]).
Deshalb ist der (ergänzenden) abweichenden Meinung der Entscheidung BVerfGE
139,136 (252 ff.) zuzustimmen, wonach die Erbschaftsteuer (ausführlich nachfolgend
Brunn - Kapitel D.IV.8.
Seite 332
E.III.1.h)bb)(2) (vgl. S. 619) ) ein Beitrag zur sozialen Chancengleichheit ist, die sich
in einer freien Ordnung nicht selbst herstellt, und deshalb (auch) ein Instrument des
Sozialstaats ist, um zu verhindern, dass Reichtum in den Händen weniger kumuliert .
Der Gesetzgeber ist folglich aufgrund seiner Bindung an den Sozialstaatsgrundsatz nicht
nur berechtigt, Ererbtes und Schenkungen steuerlich zu belasten, sondern auch besonderen Rechtfertigungsanforderungen unterworfen, je mehr von diesen Belastungen diejenigen ausgenommen werden, die besonders leistungsfähig (geworden) sind.
5. Anspruch auf Zutritt zu vom Staat geschaffenen
Ausbildungseinrichtungen
Auch wenn gilt, dass es der - regelmäßig - nicht einklagbaren Entscheidung des Gesetzgebers überlassen bleibt, ob und wie weit er im Rahmen der darreichenden Verwaltung
Teilhaberechte gewähren will, so können sich doch, wenn der Staat gewisse Ausbildungseinrichtungen geschaffen hat, aus dem Gleichheitssatz i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG und
dem Sozialstaatsprinzip Ansprüche auf Zutritt zu diesen Einrichtungen ergeben; das
gilt insbesondere, wo der Staat ein faktisches, nicht beliebig aufgebbares Monopol für
sich in Anspruch genommen hat und wo die Beteiligung an staatlichen Leistungen zugleich notwendige Voraussetzung für die Verwirklichung von Grundrechten ist (BVerfGE
33, 303 [331 f.]).
6. Wiedergutmachung von Vermögensverlusten
Das Sozialstaatsprinzip kann es sogar verlangen, dass die staatliche Gemeinschaft Lasten
mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und
nur zufällig einen bestimmten Personenkreis treffen (BVerfGE 27, 253 [283]; vgl. auch
BVerfGE 106, 201 [209]).
Indessen kann erst eine Lastenverteilung durch eine gesetzliche Regelung konkrete Ausgleichsansprüche der einzelnen Geschädigten begründen (BVerfGE 102, 254 [298]; dort
auch zum “besonders weiten Regelungs- und Gestaltungsspielraum“ des Gesetzgebers;
vgl. auch BVerfGE 117, 302 [315]).
7. Resozialisierung von Straftätern
Als Träger der aus der Menschenwürde folgenden und ihren Schutz gewährleistenden
Grundrechte muss der verurteilte Straftäter die Chance erhalten, sich nach Verbüßung
seiner Strafe wieder in die Gemeinschaft einzuordnen. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der
Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld in ihrer persönlichen und
sozialen Entfaltung behindert sind, wozu auch die Gefangenen und Entlassenen gehören.
Die Gemeinschaft selbst muss ein unmittelbares eigenes Interesse daran haben, dass die
Täter - als Folge einer Resozialisierung - nicht wieder rückfällig werden und erneut ihre
Mitbürger oder die Gemeinschaft schädigen (BVerfGE 35, 202 [235 f.]; vgl. auch BVerfGE
45, 187 [239]).
Brunn - Kapitel D.V.0.
Seite 333
8. Fremdrentengesetz
In der Vergangenheit hat der Gesetzgeber durch die Gleichstellung von Vertriebenen und
Flüchtlingen (vorstehend D.III.2.b) (vgl. S. 295) ), heimatlosen Ausländern und politisch
Verfolgten mit vergleichbaren Versicherten, die ständig im Gebiet der Bundesrepublik
oder West-Berlins lebten, Gebote des Sozialstaats verwirklicht (BVerfGE 43, 213 [226 f.];
vgl. auch BVerfGE 53, 164 [179]).
Entsprechendes könnte auch (auf allen möglichen Rechtsgebieten) für die Gegenwart und
die Zukunft gelten, soweit es sich um rechtmäßige “Neuankömmlinge“ im Bundesgebiet
handelt.
V. In Art. 20 GG “niedergelegte“ (oder zumindest vom einfachen
Gesetzgeber zu beachtende) Rechtsstaatsgrundsätze
1.
2.
3.
Überblick über die vom Gesetzgeber möglicherweise zu beachtenden
Rechtsstaatsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . .
Erfordernis des Gemeinwohlbezugs
. . . . . . . . . . . .
a) “Freiheit“ des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . .
b) Bindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bestimmtheitsgebot, Vorbehalt des Gesetzes, Vorrang des Gesetzes, Bindung an Gesetz und Recht sowie Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
a) Erfordernisse der Bestimmt-, Klar- und Wahrheit eines Gesetzes .
aa) Bestimmtheit
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
(1) Allgemeine Anforderungen an die Bestimmtheit eines Gesetzes (Gebot der Erkennbarkeit des Vorliegens der rechtsfolgenauslösenden Merkmale) . . . . . . . . . . . . . . . .
(1a)
(1b)
335
336
336
336
337
337
337
337
Auslegungsbedürftigkeit und Bestimmtheitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
338
Maßgeblichkeit des Normzwecks und der “Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte“ . . .
338
(2) Strengere Anforderungen bei Grundrechtsbezügen . . . .
338
(3) Insbesondere: Bestimmtheit bei Fristenregelungen . . . .
338
(4) Insbesondere: Bestimmtheit bei Verweisungen
339
(4a)
. . . . . .
Pflicht zur Vermeidung “tiefgestaffelter“ Verweisungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
339
Verfassungswidrigkeit einer “Bezugsnorm“ und
Einfluss auf die “Ausgangsnorm“ . . . . . . . .
339
(4c)
“Dynamische“ Verweisungen . . . . . . . . . .
339
(4d)
Verweisungen auf “überholte“ Bezugsnormen
(auch anderer Normsetzer) . . . . . . . . . . .
339
(4b)
(5) Insbesondere: Nachbesserungen wegen Unbestimmtheit .
340
Brunn - Kapitel D.V.0.
(5a)
(5b)
Seite 334
Zur Mängelbehebung nicht ausreichender
Anwendungserlass . . . . . . . . . . . . . . . .
340
Zur Mangelvermeidung nicht ausreichende Gesetzesbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . .
340
bb) Klarheit (Widerspruchsfreiheit)
b)
. . . . . . . . . . . . . . . .
340
cc) Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorbehalt des Gesetzes (Parlamentsvorbehalt) . . . . . . .
340
341
aa) “Wesentliche“ Entscheidungen (im Allgemeinen) . . . . . . .
341
(1) Sachbereich und Eigenart des Regelungsgegenstandes als
entscheidende Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . .
341
(1a)
Zulässiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
(1b)
Unzulässiges . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
342
(2) Gesetzgebung durch Generalklauseln, unbestimmte Rechtsbegriffe und Ermessensregelungen . . . . . . . . . . . . .
342
bb) “Wesentliche“ Entscheidungen speziell im “GrundrechtsverwirklichungsBereich“ (insbesondere in “mehrdimensionalen, komplexen
Grundrechtskonstellationen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
(1) “Einfache“ Grundrechtsverwirklichung
. . . . . . . . . .
(2) “Komplexe“ Grundrechtsverwirklichung (insbesondere: Bestimmung verfassungsimmanenter Schranken bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten) . . . . . . . . . . . . .
(2a)
342
342
Einschränkungen von grundrechtlichen Freiheiten und Ausgleich zwischen kollidierenden
Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
Pflicht zur Auswahl der “geeignetsten“ ausführenden Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . .
343
343
(2b)
c)
aa) Widerspruch zwischen Gesetz und rangniederer Norm
d)
. . .
343
bb) Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 2. Alt. GG) . .
343
343
aa) Bindungen der Exekutive und der Rechtsprechung
. . . . .
344
(1) Menschenrechtskonvention und Völkerrecht als Quellen von
Rechtsbindungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
344
(2) Gesetzmäßigkeit der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . .
344
(3) Gebot der Lauterkeit und Unparteilichkeit der Amtsträger
344
bb) Folgerungen der Gesetzes- und Rechtsbindung der Richter und
Gerichte für den Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . .
345
(1) Gesetzesbindung der dritten Gewalt
. . . . . . . . . . .
(2) “Vorsorgemöglichkeiten“ des Gesetzgebers
. . . . . . . .
345
345
Brunn - Kapitel D.V.1.
e)
Seite 335
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit .
.
.
.
.
aa) Allgemeiner Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
.
.
.
.
.
.
345
. . . . . . . . .
346
(1) Geeignetheit und Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . .
346
(2) Zusammenfassende Formel . . . . . . . . . . . . . . . . .
346
bb) Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne
. . . . . . . . . . . .
346
(1) Erfordernis einer “Gesamtabwägung“ . . . . . . . . . . .
346
(1a)
Abhängigkeit vom Maß der Eingriffsintensität
347
(1b)
Insbesondere: Überwachungs- und Ermittlungsbefugnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
347
(2) Ausnahmen für atypische Fälle
. . . . . . . . . . . . . .
347
cc) Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers (insbesondere im prognostischen Bereich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
348
dd) Insbesondere: Die aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (im
engeren Sinne) ableitbaren Anforderungen an gesetzliche Regelungen von Übe
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