V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 Kap. 3 1 Geschichtliche Grundlagen I: Siedlungs-, Kultur- und Staatenentwicklung bis zum 19. Jahrhundert Vorgeschichte der Besiedlung 1) Im Paläolithikum (vor ca. 70-80.000 Jahren) erfolgt eine Expansion sowohl innerhalb Afrikas als auch nach Asien entlang der Südküste (Reste dieser Expansion: prädrawidische Völker Indiens, Negritos, Malaysia, Philippinen). 2) Ausgehend von Südostasien wurde einerseits vor 60-70.000 Ostasien (Vietnam, China) erreicht, andererseits Neuguinea und Australien (vor ca. 55.000 Jahren). 3) vor 60 bis 40.000 Jahren: weitere Expansion in Ostasien, sowohl an der Küste als auch im Landesinneren (Nordchina, Korea, Japan, Mongolei, Jakutien usw.). 4) vor 30 bis 50.000 Jahren: erste Migration nach Amerika (Landbrücke?), 5) vor 30 bis 50.000 Jahren: Expansion nach Zentral- und Nordasien. Wesentliche Innovationen als Auslöser der steinzeitlichen Migrationen Übergang zum Ackerbau in räumlich unterschiedlichen Regionen: Außer dem sog. Fruchtbaren Halbmond (Weizen, Gerste) der westafrikanische Savanne (Hirse) und Mittelamerika (Mais): a) Nordchina (Hirse und Schwein) und b) Südostasien (Reis und Büffel), verbunden mit Haustier-Domestizierung. Ungefähr parallel zur Innovation von Ackerbau und Viehzucht erfolgt die Einführung der Keramik (in Europa zeitparallel, aber im Übrigen nicht; z.B. in Japan erste Keramik schon vor 12.000 Jahren, aber Ackerbau erst seit 2.000 Jahren). Vorkoloniale Phase Die Existenz von Ländern und Reichen im fernen Asien war im Abendland seit der Antike prinzipiell bekannt; allerdings bestanden keine genauen Vorstellungen, zumal es bis zum Hochmittelalter auch keine direkten Handelsbeziehungen mit Ostasien gab. Seit der Spätantike gab es einen Handelsaustausch zwischen dem Abendland und China über die Seidenstraße. Die Seidenstraße bestand aus mehreren Routen, die je nach den politischen Verhältnissen unterschiedlich bedeutend waren. Die Hauptroute erreichte in Kaschgar (westl. Tarimbecken, seit ca. 60 n.Chr. chinesisch) das Chinesische Reich und führte von dort aus nördlich und südlich der Tarim-Wüste am Nordrand des Nan-Shan-Gebirgs und südl. der Wüste Gobi nach Nordchina. China exportierte insb. Seide und Porzellan nach Europa und importierte Glas und Edelmetallwaren. Wichtigste Routen: a) südl. Route: Antiochia (östl. Mittelmeer) – Palmyra (heute nördl. Syrien) – Persien – nördl. Afghanistan – Turkestan – Kaschgar usw.; b) mittl. Verbindung: Konstantinopel – Schwarzes Meer – Kaukasus-Senke – Kaspisee – Buchara – Kaschgar usw.; c) nördl. Route: Kiew/Schwarzes Meer – nördl. des Kaspi- und Aralsees – Kasachstan – Gulja – Urumchi usw. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 2 In der „Metageographie“ des mittelalterlichen Abendlandes besaß der Kontinent Asien unter den drei Weltkontinenten eine zentrale Stellung, vor Allem als Herkunftskontinent der Weltreligionen, speziell als Ort des christlichen Heilsgeschehens. Auf mittelalterlichen Weltkarten gibt es keine genaue Darstellung Ostasiens, meist wird dort das Paradies eingezeichnet. Eine wesentliche Veränderung brachten die Berichte wie diejenigen des Franziskanermönchs Wilhelm von RUBRUK und vor allem die des venezianischen Reisenden Marco POLO im 13. Jh. über große Reiche von legendärem Reichtum im Süden und Osten von Asien. Seit dem 13. Jahrhundert gab es mehr Kontakte aufgrund intensiverer Handelsbeziehungen (a) über die Seidenstraße(n), jetzt ausgehend von Venedig und b) durch die Vermittlung der Araber über die südasiatische Seeroute. Im 13. und 14. Jh. Jahrhundert reisten meist in diplomatischer Mission (Ziel: Koalition des Hl. Stuhls mit China gegen den Islam sowie Missionierung Chinas) mehrere Mönche nach China; sie berichteten anschließend über ihre Erfahrungen: Plano de CARPINI 1245/47, Wilhelm von RUBRUK (Ruysbroek) 1252/55, MONTECORVINO (1291 ausgewandert, gründete das erste Erzbtm. in China, gest. 1328), Odorico von PORDENONE (1316/30), MARIGNOLLI (1338/53). Wichtig für das mittelalterliche Ostasien-Bild Europas: MARCO POLO (1254-1324). Er stammt aus einer venezianischen Kaufmannsfamilie, die seit längerem Handelsverbindungen zum zentralasiatischen Mongolenreich unterhielt. Angeblich 1271-1295 Aufenthalt in China, insb. am Hof in Peking (P OLO : „Khanbaligh“ = Stadt des (Kublai-)Khans, d.h. der Mongolenstadt, der späteren Verbotenen Stadt). Er berichtete ausführlich über seine Tätigkeit am Hof des Mongolenkaisers, über seine Reisen und über das, was er gesehen und von anderen über die Länder im Osten Asiens gehört hatte (z.B. Japan = „Zipangu“). Besonders beeindruckten die damaligen Zeitgenossen der angebliche Reichtum mit einer Fülle von Edelsteinen und Gold und seine Berichte über riesige Städte mit einer Million Einwohner. Er erhielt darauf den Aufschneider-Spitznamen „Il Millione“. Bis heute ist umstritten, ob der Bericht authentisch oder eine Mischung aus Zitaten aus (heute nur noch teilweise erhaltenen) Reiseberichten und Fantasie ist. Möglicherweise hat Marco Polo während seiner angeblichen Reisezeit im (genuesischen) Gefängnis gesessen und dort seinen fiktiven Reisebericht verfasst. Dafür spricht, dass der Informationsgehalt nach Reisegebieten sehr unterschiedlich ist. Z.B. standen ihm für die angebliche Rückreise durch Südasien offenbar keine ergiebigen Quellen zur Verfügung. Im Übrigen waren fiktive Reiseberichte nichts Ungewöhnliches (z.B. von MANDEVILLE über Südasien). Solche Reiseberichte regten immer wieder die Phantasie abendländischer Kaufleute und Landesherrn an. Eine führende Rolle übernahmen die neuen Nationalstaaten mit ihrer straffen staatlichen Ordnung, d.h. nicht das reiche und kulturell führende Italien, sondern insb. Portugal und sekundär Spanien. Ziel: Entdeckung des Seewegs nach „Indien“ (d.h. alle Länder hinter dem Orient). Besondere Magneten: a) Indien, b) China. Als die Europäer im 16. Jahrhundert Ost- und Südost-Asien für Handelsrouten erschlossen, waren die großen südostasiatischen Reiche weitgehend zerfallen, z.B. das ca. 6 Jahrhunderte bestehende Khmer-Reich mit der Hauptstadt Angkor (ca. 9-15. Jh.). Die politische Ordnung war fragmentiert in zahllose kleine Herrschaftsbereiche (Sultane im islamischen Bereich, Könige usw.), so dass die europäischen Eroberer nur in Ostasien (insb. China und Japan) auf mächtige Reiche stießen. In Südostasien interferierten chinesische und indische Einflüsse (Buddhismus, Hinduismus). Politisches System: Königreiche mit feudaler Hierarchie: halbgöttlicher König, dann Aristokratie, V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 3 dann Priester, Armee und Beamte, schließlich Bauern als breite Basis. Die Königreiche waren auf zentrale Städte bezogen, die immer zugleich religiöse und politische Zentren waren (z.B. Bangkok). Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Islamisierung durch Araber und Inder (Indonesien, Malaysia). Geschichte der kolonialen und imperialistischen Durchdringung mit 3 Phasen: 1) „merkantiler Kolonialismus“ (ca. 1500-1850), 2) „industriell-imperialistischer Kolonialismus“ (ca. 1850-1920), 3) Spätkolonialismus und Übergang zur Weltwirtschaft (ca. seit 1920) Zwischen der „Entdeckung“ durch europäische Reiseberichte im Hochmittelalter und um 1500 (Portugiesen) einerseits sowie dem Beginn des 19. Jahrhunderts andererseits gab es keine flächenhafte Kolonialisierung, sondern lediglich Handelsstützpunkte, d.h. lokale Handelsenklaven, die meist durch (ungleiche) Verträge von lokalen Herrschern abgetreten worden waren. (1) Phase des „Merkantilen Kolonialismus“ Auslöser der globalen Entdeckungsfahrten um 1500 waren die (übertriebenen) Berichte über den Reichtum Ostasiens und die erwarteten Möglichkeiten für die jungen Feudalstaaten Europas (Portugal, Spanien, Niederlande, England), durch den Handel mit Gewürzen, Edelmetallen, aber auch mit Seide und Porzellan Reichtümer anzuhäufen. Insbesondere: Portugiesen (im 16. Jh. führend): Malakka 1511, Macau 1557, Bantam (Java) 1598; Spanier: Manila 1571 (Dependence von Neu-Spanien = Mexiko); Niederländer (17. Jh.): Bantam (Java) 1684, Batavia 1619, Formosa 1624, Malakka 1641; Briten (18./19. Jh. führend): Malakka 1785, Penang 1786, Singapur 1819, Hongkong 1842. Die Präsenz der Europäer war nur punktuell; das Leben der indigenen Völker wurde kaum beeinflusst. Historische Entwicklung des Verhältnisses Europas zu Asien?1 Das aufgeklärte 18. Jh. war interessiert an Kenntnissen über Asien. Das durch Reiseschriftsteller, Historiker, Geographen u.a. gezeichnete Asienbild war weniger durch Überlegenheitsansprüche, Missionierung und Rassismus geprägt; die asiatischen Reiche wurden als kulturell mindestens ebenbürtig mit Europa aufgefasst. Asien gilt als Wiege der Weltreligionen, als Kontinent mächtiger und wohlhabender Reiche, technischer Innovationen und hoher kultureller Leistungen. Zu Beginn des 19. Jhs. wandelt sich das Bild: zunächst entwickelt sich ein „inklusiver Eurozentrismus“, der unter dem Eindruck der Frühindustrialisierung allmählich die Ebenbürtigkeit in Frage stellt und in der ersten Hälfte des 19. Jhs. zu einem „exklusiven Europazentrismus“ wird, der die Überlegenheit als Prämisse setzt und allmählich in einen aggressiven Imperialismus und Kolonialismus umschlägt. Erste Hälfte des 19. Jahrhunderts: Merkantiler Kolonialismus schien eher an Bedeutung zu verlieren, denn 1 OSTERHAMMEL, Jürgen (1998): Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert. München: Beck. 560 S. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 4 1) erstens belasteten die militärischen Sicherungskosten die früher hohen Handelserträge, so dass beispielsweise die großen holländischen und britischen Ostindischen Handels-Kompanien (frühe TNCs!) vor der Pleite standen; 2) zweitens waren in den aufblühenden neuen Industrien der Textil- und Bekleidungsindustrie und des Bergbaus und der Eisenindustrie in den europäischen Ländern deutlich höhere Kapitalrenditen zu erzielen. (2) Industriell-imperialistische Kolonisierung: Ab ca. 1850 grundlegende Veränderung der Situation: Aufblühender Industriekapitalismus der europäischen Staaten, insb. Englands, führte zu einer ganz neuen Qualität der kolonialen Expansion. Wirtschaftliche Hintergründe: - Suche nach billigeren Rohstoffen für die Industrie, - billigere Nahrungsmittel für die Arbeitskräfte (indirekter Effekt: niedrigere Arbeitskosten!), - auf weitere Sicht: neue Absatzmärkte. Diese Interessen konnten nicht mehr durch private Handelsgesellschaften erfüllt werden, desh. staatliche Politik mit militärischer Unterstützung. Aber nicht nur wirtschaftliche Motive: Imperialistische Nationalstaaten begannen ab 1850 Wettlauf um Kolonien als Symbole der Macht. Es begann die flächenhafte Aufteilung Ost- und Südostasiens durch die Kolonialmächte: A) Frühe Kolonialmächte 1. Portugal: Macau 1557, Timor 1610 (verloren im 17. Jh.: Malakka, Bantam u. Molukken an die Holländer; Formosa an China); 2. Spanien: Philippinen, ab 1565 erobert und missioniert, dem spanischen Vizekönig von Mexiko unterstellt (1898 an USA); Portugal und Spanien sind an der industriell-imperialistischen Kolonisierung kaum beteiligt und verlieren ihre Besitzungen im 19. Jh. großenteils. 3. Niederlande: Ausgehend von dem frühen Stützpunkt Batavia auf Java sukzessive Ausdehnung der Herrschaft auf das ganze heutige Indonesien (außer Timor), als letzte Teile Bali und einige Sultanate von Sumatra zu Beginn des 20. Jh. einverleibt. B) Kolonialmächte des 18. Jahrhunderts 4. England: Ausgehend von ersten Handelsenklaven auf der malaiischen Halbinsel (Malakka 1785, Penang/Georgetown 1786, Singapur 1819): V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 - 5 Malaya, Sarawak, Nord-Borneo (Protektorate als indirekte Herrschaft mit Raja James Brooke 1841-1888 in Sarawak), Borneo 1852/89, Hongkong 1842, Papua Neuguinea 1883/84, Weihaiwei (Ostspitze Shantung-Halbinsel) 1898. 5. Frankreich: Indochina Beginn mit Saigon 1859, dann sukzessive Protektorate über Cochin 1867, Kambodscha 1863, Annam (Mittel-Vietnam mit Hauptstadt Hué 1884, Tonkin (Nord-Vietnam) 1884, Laos 1893, 1887 „indochinesische Union“, zeitweilig einschl. Ostteil des Königreichs Siam. 6. Russland: Erschließung Sibiriens bis: Amurgebiet 1858 russisch, Wladiwostok 1860, Port Arthur 1898. Expansion Russlands endete mit der Niederlage gegen Japan im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05. 7. Dänemark: Nikobaren (1756-1869) C) Kolonialmächte des 19. Jahrhunderts (= „Spätkommer“) 8. Deutschland: Kaiser-Wilhelm-Land und Bismarck-Archipel 1884/85, Tsingtao (Enklave auf der südöstlichen Shantung-Halbinsel) 1898. Ferdinand Freiherr VON RICHTHOFEN (1833-1905) (einer der Begründer der wissenschaftlichen Geographie des 19. Jhs.), führte im Auftrage Preußens ab 1860 zahlreiche Reisen (insg. 12 Jahre) in Ostasien durch (charakteristische Verbindung von politisch-kolonialistischem und wissenschaftlichem Interesse!) und verfasste 1882 sein dreibändiges Werk „China“. 9. Japan: Kurilen-Inseln 1875 (von Russland!), Ryukyu-Inseln 1876, Taiwan 1895 (von China), Süd-Sachalin 1905 (von Russland), Korea 1910. 10. USA: Philippinen 1898 (durch eine nur zwei Stunden dauernde Seeschlacht in der Bucht von Manila gegen die spanische Kriegsflotte und Kauf vom bankrotten Spanien). Nachdem der US-amerikanische Admiral DEWEY die Seeschlacht unerwartet schnell gewonnen hatte, telegraphierte er an den Präsidenten: „Habe die Philippinen erobert - was machen wir nun damit?“ Nicht oder nur marginal in die Kolonisierung einbezogen: 1. Japan Kurzer Rückblick auf die ältere Geschichte: V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 6 Japan stand schon in vorgeschichtlicher Zeit in engem Kulturkontakt mit China (und Korea). Schon im 5. Jh. wurden chinesische Schriftzeichen verwendet, ab dem 6. Jh. breitete sich der Buddhismus aus. Im 7. Jahrhundert erfolgten auf kaiserliche Anordnung Reformen, die nach chinesischem Vorbild eine „modernes“ absolutistische Staatsordnung mit einer starken kaiserlichen Zentralgewalt begründeten (Taiho-Kodex 701). Kaiserliche Residenzen: Nara 710, Kyoto 794. Nach einem Bürgerkrieg begann 1192 die Herrschaft der Shogune (= Kronfeldherren als oberste Feudalherren), die de facto die Macht übernahmen und wiederholte Versuche des Kaisers zur Rückgewinnung militärisch zurückschlugen. Immer wieder kam es zu Kämpfen zwischen den Shogunen, der kaiserlichen Partei und mächtigen regionalen Vasallen, so dass die Zentralgewalt in einzelnen Landesteilen immer wieder in Frage gestellt wurde. Um 1600 gelang es dem Daimyo (entspricht einem Fürsten) IEYASU aus dem Geschlecht der TOKUGAWA, konkurrierenden Anwärter auf das Shogunat militärisch auszuschalten, so dass er sich 1603 vom Kaiser zum Shogun ernennen lassen konnte. Nachdem durch die Portugiesen (ab 1543), Spanier und die Holländer (ab 1609) die Handels- und Missionskontakte zunahmen, verbot das Tokugawa-Shogunat 1612 den christlichen Glauben, verfolgte alle Christen und verwies 1624 zunächst die Spanier, 1635 die Portugiesen und 1639 schließlich alle Nanban (Barbaren aus dem Süden) des Landes. Grund: Die Europäer hatten sich in die Bürgerkriege der Landesfürsten eingemischt und missioniert, wobei der Ausschließlichkeitsanspruch des Christentums und die Unterordnung unter den Papst für die japanischen Herrscher nicht akzeptabel waren. Nur die Holländer (Vereenigde Oostindische Companie) durften auf der künstlichen Insel Dejima (Deshima) vor Nagasaki eine kleine Faktorei (mit strenger Reglementierung und unter Aufsicht des Shogunats) betreiben. Grund: Die VOC hatte nur kommerzielle, aber keine missionarischen InteressenDies war zwischen 1641 und 1854 der einzige Ort in Japan, an dem sich Ausländer aufhalten durften, d.h. einziges „Fenster“ des selbstisolierten Japan zur Außenwelt, denn allen Japanern war bei Todesstrafe verboten, das Land zu verlassen. Bericht des in niederländischen Diensten stehenden (aus Lemgo stammenden) Schiffsarztes Engelbert KAEMPFER (1690): „Wir werden hier nicht wie ehrliche Menschen, sondern wie Übeltäter, Kundschafter oder Gefangene behandelt ... Wir dürfen keine Sonn- und Feiertage feiern, keine geistlichen Gesänge und Gebete hören lassen. ... Dabei müssen wir noch viel andere beschimpfende Zumutungen ausstehen. ... Die einzige Ursache, welche die Holländer bewegt, alle diese Leiden so geduldig zu ertragen, ist bloß die Liebe des Gewinns und des kostbaren Marks (Silber) der japanischen Gebirge.“ 1603-1867 sog. Tokugawa-Zeit: Herrschaft der Schogune (Kronfeldherren, Kaiserliche Militärbefehlshaber): 1603 Verleihung der erblichen Würde eines Kronfeldherren = Shogun an Tokugawa; Verlegung des Regierungssitzes nach Edo (Tokyo). - Feudalsystem; zentralisiert; strikte ständische Gesellschaftsgliederung: 1) Stand der Samurai (Soldaten, Staatsbeamte usw.), 2) Bauern, 3) Handwerker, 4) Kaufleute. - Städte (Burgstädte mit Handelsviertel), - ausgebautes Verkehrsnetz, einheitliches Münz- und Maßsystem, - hoher Bildungsstand, relativ wenige Analphabeten, - Staat schloß sich nach außen ab; Verbot des Außenhandels, - steigende Bevölkerungszahl und stagnierende Agrarproduktion führten 1780ff. zu Hungersnöten und 1830ff. zu Bauernaufständen. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 7 Am Ende der Tokugawa-Zeit zunehmender Druck zur Öffnung des Landes. 1853 drang eine amerikanische Delegation unter Kapitän Perry mit 4 Kanonenbooten gewaltsam in die Tokio-Bucht und überbrachte dem japanischen Kaiser einen Brief des US-Präsidenten mit der Forderung Japan für den internationalen Handel zu öffnen. Reaktion: Schock, Angst und Ärger angesichts der offenkundigen Überlegenheit der westlichen Mächte. Nach dem Kanagawa-Vertrag von 1854 wurden Vertragshäfen nach Shanghaier Muster eingerichtet: Yokohama (vor Edo/Tokio), Kobe und Nagasaki. 1863 Beschießung von Kagoshima durch ein britisches Geschwader. 1865 Flottendemonstration der Westmächte in der Bucht von Edo. 1867 Rücktritt des 15. TokugawaShoguns. 1868 Übernahme der Regierung durch den 16jährigen Kaiser Matsuhito (Regierungsname: Meiji Tenno). 1867/68 „Meiji-Restauration“, d.h. Beseitigung der feudalen Territorialherrschaften (Rückfall der Lehen an den Kaiser) durch Übernahme der Regierung durch den Kaiser unter Kaiser Mutsuhito (Regierungsname: Meiji Tenno). Elemente der dadurch ausgelösten forcierten „Modernisierung von oben“: - Modernisierung von Militär, Justiz, Verwaltung, Technik und Wissenschaft nach westlichem, darunter auch preußischem Vorbild; - ehem. Lehnsherren werden kaiserliche Regierungsbeamte in den neu geschaffenen Präfekturen und Distrikten; Kaiserhof wird von Kioto nach Edo verlegt (jetzt: Tokio = „östl. Hauptstadt“); - 1889 konstitutionelle Monarchie nach dem Vorbild Preußens; - 1872 Beginn der Industrialisierung: erste Eisenbahn, zunächst Aufbau von Konsumgüterindustrien für den Binnenmarkt. 1875ff. japanischer Imperialismus: 1877/79 Japan besetzt die Bonin- u. Ryukyo-Inseln; 1894 chinesisch-japanischer Krieg um die Oberhoheit in Korea 1895 China tritt Formosa (Taiwan) an Japan ab; 1904/05 russisch-japanischer Krieg (Japan siegreich); Protektorat über Korea und Süd-Mandschurei, 1910 Annexion Koreas; 1915 Japan richtet an das neutrale China seine „21 Forderungen“, die de facto auf ein Protektorat über China hinauslaufen und von der chinesischen Regierung akzeptiert werden; 1931 Besetzung der Mandschurei (radikale Militärs!), 1937 Krieg gegen China (1937-45), Besetzung Chinas und Südostasiens, 1938/40: Proklamation der „Neuen Ordnung Ostasiens“ unter der „göttlichen Mission“ Japans, 1941 Eintritt in Weltkrieg nach Überfall auf Pearl Harbour, weitgehende Eroberung Ost- und Südostasiens durch Japan, 1945 Zusammenbruch (Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9.8.1945, 9.9.1945 letzte Kapitulation der Chinaarmeen). 1945-51 amerikanische Besatzungszeit mit politischer Modernisierung. Kulturelle Denktraditionen und Werthaltungen mit religiöser Wurzel: - aktive Pflichterfüllung: Konfuzius: Jeder Mensch empfängt Wohltaten, die er wieder zurückzahlen muss; dies kann beispielsweise durch Pflichterfüllung in der Gemeinschaft geleistet werden. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 8 - Askese, Verzicht auf eigene Wünsche, geistige Disziplin (Grundlage im Buddhismus) - Wertschätzung von Tradition, Ahnen, aber auch von Kaiser und Nation (im Shintoismus begründet). Gründe für die starke Bindung des Einzelnen an die Gemeinschaft: - Historische Erfahrungen: Anlage und Pflege von Terrassen und Bewässerungssystemen sowie häufige Naturkatastrophen verlangten kollektives Handeln. - Fehlen von geistigen Strömungen wie Renaissance und Aufklärung, die im Westen die Entfaltung der individuellen Persönlichkeit und der individuellen Freiheit betonten. - Erziehungstradition zugunsten der Gruppe: Geborgenheit und Harmonie in der Gruppe sind wichtige Ziele, Entfaltung des Einzelnen mit Zustimmung und Unterstützung der Gruppe. - Gruppenleitung hat Autorität und Verantwortung; die Mitglieder müssen Einordnung, Loyalität und Pflichterfüllung zeigen; d.h. zwar patriarchalisch-autoritäre Struktur, aber nicht despotisch, da die Grundlage der Sozialbeziehung wechselseitiges Vertrauen ist. 2. China Die Han-Chinesen kamen aus den innerasiatischen Steppen und gingen auf den Lössgebieten zum Bewässerungsfeldbau über. Um 500 v.Chr. kannten die Chinesen einen ertragreichen Bewässerungsfeldbau mit domestizierten Büffeln, Düngung und Unkrautbekämpfung. Zwischen dem 8. und 13. Jh. breiteten die Han-Chinesen sich mit ihrer Ackerbau-Zivilisation nach Süden ins Yangtse-Gebiet aus, dort konnte die Landwirtschaft weiter intensiviert werden (Nassreis, mehrere Ernten pro Jahr, hoher Arbeitskräfteeinsatz). Damit war die chinesische Zivilisation ihren Nachbarn weit überlegen und wirkte als kultureller Diffusionskern. Andererseits begünstigte die Erfordernis zentraler wasserwirtschaftlicher Organisation (für Bewässerung in den semiariden Gebieten im Westen sowie Dammbau als Hochwasserschutz im Tiefland) die Entstehung einer zentralen Staatsmacht. Karl WITTFOGEL: „hydraulische Ökonomie und Gesellschaft“ führt zum orientalischen Despotismus, da der Bau und die Erhaltung eine zentrale Macht voraussetzte und umgekehrt der Staatsapparat von Nahrungsmittelüberschüssen abhängig war. Bis zum Spätmittelalter/Renaissance war die chinesische Zivilisation der westlichen eindeutig überlegen: In China wurden das Papier und im 9. Jh. der Buchdruck (mit ganzseitigem Blockdruck, aber auch mit beweglichen Lettern) erfunden. Das Schießpulver war in China seit dem 11. Jh. in Gebrauch. Weitere chinesische Erfindungen: Schubkarren, Steigbügel, das Kummet (Geschirr für Zugtiere), Porzellan, Spinnmaschine (12. Jh.), Hüttenwesen usw. Warum gab es dennoch im alten China keine dynamische Entwicklung? Gründe: Fehlen institutionell verankerter individueller Eigentumsrechte, Fehlen von freien Märkten (Nebeneinander von Subsistenzwirtschaft und überlokaler Staatswirtschaft), Wertesystem der Gesellschaft (Verachtung von Handarbeit und Handel; zyklische Zeitvorstellung ohne Fortschritt), despotische Gesellschaftsordnung, Fehlen von gelehrten Schulen, Akademien, gelehrten Gesellschaften etc. Ostasien wurde dominiert durch das chinesische Reich, das sich selbst als Mittelpunkt der Welt empfand („Reich der Mitte“) und um sich eine Einflusssphäre aufgebaut hatte. Ebenso wie Indien war China selbst darüber hinaus nicht global expansionistisch wie die europäischen Mächte, sondern geopolitisch weitgehend statisch und uninteressiert an Außenkontakten und Außenhandel. Andererseits hielt die chinesische Politik über Jahrhunderte hinweg an diesem geopolitische Motiv fest, indem um das riesige Reich (als Mitte der Welt) ein konzentrisches System von Vasallen- und Pufferstaaten mit einer weiteren Einflusssphäre errichtet wurde. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 9 China bewahrte im Großen und Ganzen trotz seiner politischen Schwäche seine territoriale Integrität. Das Land war seit Beginn der Kolonisierung durch die europäischen Mächte zwar das eigentliche Ziel (wegen der seit Marco Polo immer wiederkehrenden und teilweise übertriebenen Berichte über legendäre Reichtümer), aber die politische und militärische Macht reichte bis zum 19. Jh. aus, den Kolonisierungsbestrebungen zu widerstehen. Kurzer Rückblick auf die ältere Geschichte: Besondere Bedeutung des chinesischen Kaisers: nicht einer neben anderen Herrschern, sondern „Sohn des Himmels“: Als Repräsentant des Himmels war er beauftragt, die Menschen gemäß den himmlischen Weisungen zu regieren und die Erde in die Ordnung des Kosmos zu integrieren. Kult, Politik und Kultur fielen in seiner Person zusammen. „Am Himmel gibt es keine zwei Sonnen, und auf der Erde gibt es keine zwei Könige“. Als Mittler zwischen Himmel und Erde bildete der chinesische Herrscher zugleich die irdische Mitte. Von hier aus strahlt seine Tugend in alle Himmelsrichtungen aus; durch Gerechtigkeit und Frieden verwandelt er die Erde in eine geordnete Welt. Es gibt deshalb auch keinen Unterschied zwischen China und der Welt; der chinesische Herrscher regiert als Himmelssohn die gesamte Welt. Völker, die es versäumen, sich dem natürlichen Weltherrscher zu unterstellen, um in den Genuss seiner Weisheit und Güte zu gelangen, handeln gegen ihre eigenen Interessen. Denn wenn sie nicht kommen, um sich zu „wandeln“, bleiben sie, was sie von Natur aus sind: unkultivierte Barbaren. Natürlich stimmten Anspruch und Wirklichkeit nicht immer überein. Die benachbarten Völker waren keineswegs so von der Tugend und Kultur der Chinesen beeindruckt, dass sie sich freiwillig unterwarfen; im Gegenteil: Immer wieder führten die Chinesen Grenzkriege, und teilweise übernahmen die aus dem Inneren Asiens stammenden Eroberer die Macht in China. Aber auch nach militärischen Niederlagen erwies sich letztlich die chinesische Kultur gegenüber den Eroberern als überlegen. Aus der mythologischen Weltsicht resultierte nicht eine Koexistenz gleichberechtigter Staaten, sondern eine im wesentlich kulturell begründete Welthierarchie: Die hierarchische Ordnung war nicht ökonomisch und nur teilweise militärisch, sondern kulturell geprägt: Wesentliches Merkmal war die Teilhabe an der vom Himmelssohn vermittelten Kultur. Chinesische Weltordnung: a) „Reich der Mitte“ = zivilisierte Weltmitte, b) Vasallenstaaten im unmittelbaren kulturellen und militärischen Einflussbereich Chinas, insb. Korea und Vietnam, c) alliierte Barbaren, mit China kulturell und militärisch locker verbunden, Ryukyu-Inseln, Thailand, Birma, Nepal; d) unzivilisierte Barbaren: Japan, Philippinen, Indonesien, Europa, Zentralasien. Institutionelles Gerüst dieser Ordnung: Tributsystem, d.h. Vasallen entsenden regelmäßig Gesandtschaften an den chinesischen Hof und erbringen Reverenz und Tributgeschenke. Insofern war das für die Tribut-Angelegenheiten zuständige Ritenministerium (Li-pu) de facto das kaiserliche Außenministerium. Wichtigste Dynastien der jüngeren Geschichte: V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 10 960-1279 Sung-Dynastie (4. Reichseinigung), ca. 50-80 Mio Ew.; wirtschaftliche Blütezeit, gegenüber Europa überlegen (Papier, Kompass, Bank- u. Kreditwesen mit Papiergeld). 1280-1368 Yüan-Dynastie (Mongolen), proklamiert v. Kublai Chan; = mongolische Militärherrschaft. 1368-1644 Ming-Dynastie, Mongolen werden vertrieben durch eine Allianz chinesischer Bauern mit der chinesischen Bildungselite; ehem. buddhistischer Novize wird Kaiser; 16. Jh. wirtschaftliche Blütezeit. 1644-1912 Ta Ch'ing-Dynastie (Mandschu) (die „Große Klare“). Nach dem Selbstmord des letzten Ming-Kaisers proklamieren die Mandschuren eine neue Dynastie und verbünden sich mit der Oberschicht Nordchinas; die Mandschu-Kaiser werden aufgeklärte Herrscher und zu Sachwaltern der konfuzianischen Tradition. 1912 bürgerliche Revolution und Republik unter SUN YATSEN . 1949 Aus dem Bürgerkrieg gehen die Kommunisten unter MAO TSE- TUNG als Sieger hervor und gründen die sozialistische Volksrepublik. Erster Stützpunkt der europäischen Mächte: Macau 1557 (port.). Die frühkolonialen Kontakte durch Portugiesen und Holländer, später dann auch Briten, stießen in China auf Unverständnis und Misstrauen. Im Bewusstsein der eigenen kulturellen Überlegenheit erwartete man Unterwerfung und Tribut; die ökonomische Raffgier nach Edelmetallen wurde als Ausdruck unzivilisierter Barbarei gedeutet. LANDES 2: „Paradox des Überlegenheitskomplexes“: Überheblichkeit führt zu Misstrauen und Ablehnung alles Fremden und Neuen, vor allem auch westlicher Technologien, weil es potenziell die eigene Überlegenheit bedroht; dies führt zu Erstarrung (Inflexibilität) und Realitätsverlust. Ein Jahrhundert nach Japan mauerte sich auch China hinter einem „Bambusvorhang“ ein: Per kaiserlichen Edikten wurde 1724 christliche Mission untersagt, und 1757 wurde der Außenhandel auf Kanton beschränkt. Als „Fenster zum Westen“ wurde Macau seit Ende 18. Jh. abgelöst durch Kanton, das zwar chinesisch blieb, wo aber Ausländern gestattet wurde, Faktoreien zu errichten. Da die dortigen europäischen Gesandtschaften die Tributregeln befolgten, wurden die europäischen Länder Portugal, Holland und England zu den Tributvölkern gezählt. 1793 reiste der britische Gesandte Lord Macartney im Auftrag des britischen Königs Georg III. nach China, um eine „Öffnung“ Chinas durch Verhandlungen zu erwirken. Im Unterschied zu früheren Gesandtschaften verweigerte er das kou-t'ou-Zeremoniell und damit die Anerkennung der Oberhoheit des chinesischen Kaisers. Allein deshalb musste seine Mission ebenso wie die späterer Gesandter erfolglos bleiben. Gedicht des Kaisers CH’IEN LUNG aus diesem Anlass (1793): „Heute huldigt England uns. Verdienst und Tugend meiner Vorväter müssen bis an seine fernen Küsten gedrungen sein. Obgleich ihr Tribut alltäglich ist, begrüße ich ihn von Herzen. Das Kuriose 2 LANDES , David S. (1999): Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind. Berlin: Siedler. Lizenzausg. Darmstadt: Wiss. Buchges. 684 S. (Orig.: The wealth and poverty of nations. Why some are so rich and some so poor. New York: Norton 1998. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 11 und überheblich Geniale ihrer Maschinen kann ich nicht loben. Obgleich sie wenig bringen, mach ich ihnen in meiner Huld gegen Menschen aus fernen Ländern großzügige Gegengeschenke. Denn bewahren will ich mir Gesundheit und Macht.“ (LANDES 1999, S. 345). Der chinesische Kaiser CH'EN LUNG ließ dann 1793 über einen Gesandten dem englischen König Georg III. Folgendes mitteilen (DRAKAKIS-SMITH, 20): „Unser himmlisches Reich besitzt alle Dinge in reichem Überfluss, und es fehlt an nichts innerhalb seiner Grenzen. Es gibt deshalb kein Bedürfnis, Güter der auswärtigen Barbaren im Austausch mit unseren Produkten zu importieren. Aber weil Tee, Seide und Porzellan offenbar absolute Notwendigkeiten für europäische Nationen und für Sie selbst sind, haben wir gestattet, dass Ihre Wünsche erfüllt werden und Ihr Land an unserer Wohltätigkeit teilhaben kann." Kontrast zum glanzvollen kaiserlichen Hof: Armut und Elend des Volkes. Bericht des Missionars Evariste HUC, der 1839-51 China bereiste (LANDES 1999, 355): „Unzweifelhaft findet man in keinem anderen Land ein solches Ausmaß an verheerender Armut wie im Reich der Mitte. Nicht ein Jahr geht vorbei, ohne das irgendwo in China unglaublich viele Menschen verhungern; und wie viele lediglich von einem Tag zum andern dahinleben, lässt sich gar nicht abschätzen. Kaum kommt eine Dürre, eine Überschwemmung oder irgend etwas anderes, was die Ernte in einer Provinz vernichtet, sind im Nu zwei Drittel der Bevölkerung vom Hunger bedroht. Man sieht, wie sie sich zu rie sigen Haufen zusammentun – zu regelrechten Bettlerheeren – und gemeinsam, Männer, Frauen und Kinder, in Städten und Dörfern ein wenig Nahrung zu finden suchen. ... Viele werden auf dem Weg vor Schwäche ohnmächtig und sterben, bevor sie den Ort erreichen, wo sie Hilfe zu finden hofften. Man sieht ihre Leichen auf den Feldern und am Straßenrand, und man geht vorbei, ohne davon Notiz zu nehmen – so sehr hat man sich an den grausigen Anblick gewöhnt.“ Im 19. Jahrhundert wurde die innere Schwäche der (letzten chinesischen) Mandschu-Dynastie immer deutlicher. Sie konnte den zunehmend aggressiven Versuchen zur „Öffnung“ des Landes immer weniger Widerstand entgegensetzen. 1839 ergriff die chinesische Regierung Gegenmaßnahmen gegen den zunehmenden Abfluss von Silber und gegen den zunehmenden Opiumhandel, der die Volksgesundheit der chinesischen Bevölkerung ruinierte. Dies war für die britischen Kaufleute Anlass, um die chinesische Regierung in einen Krieg zu verwickeln: Der englische König entsandte ein gut ausgerüstetes militärisches Expeditionskorps = 1840/2 erster Opiumkrieg gegen England, der Friede von Nanking 1842 wurde der erster einer langen Reihe „ungleicher Verträge“, die dem Chinesischen Reich aufgezwungen wurden. Die westlichen Mächte (außer England auch USA, Frankreich, Belgien, Schweden, Norwegen Portugal, Russland, Preußen) nutzten oft nebensächliche Vorkommen, um China Verträge mit Zugeständnissen aufzuzwingen, die zwar formell die territoriale Integrität meistens unangetastet ließen, jedoch oft vorsahen: eigene Gerichtsbarkeit, Zollhoheit, Polizeihoheit, freie Schiffahrt auf chinesischen Gewässern. Nach dem ersten Opium-Krieg errichteten die Briten 1842 die Kronkolonie Hongkong und zogen einen großen Teil des Kantoner Außenhandels dorthin ab. Seit der Mitte des 19. Jh. wurden entlang der chinesischen Küste aufgrund einer Reihe von sog. ungleichen Verträgen sog. „Vertragshäfen“ („Treaty ports“) eingerichtet. Wichtigste Stadt: Shanghai an der Mündung des Yangtze und bald größte europäische Enklave in China vor Tientsin und Hankow. Später auch Tsingtau (deutsch) und Port Arthur (russisch). V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 12 In den Vertragshäfen erfolgten die Niederlassungen europäischen Mächte in gesonderten Vierteln, teils international (z.B. Shanghai, z.T. mit nationalen Gesandtschaftsvierteln wie z.B. Kanton (brit. u. franz.), Tientsin (8 Gesandtschaften). Darüber hinaus exterritoriale Enklaven: Macau, Hongkong, Taiwan 1895 jap., Kuangchouwan 1898 franz., Port Arthur 1898 russ., Weihaiwei 1898 brit., Tsingtao 1898 dt.; Bau von Eisenbahnen im ausländischem Besitz! System der Vertragshäfen: Europäische Kolonialmächte übten politischen und notfalls auch militärischen Druck aus, um das Land für den Handel (und die Mission) zu öffnen. Dem Kaiser wurden Verträge mehr oder weniger aufgezwungen, um Niederlassungen zu erlauben. Daraufhin wurden entweder an geeigneten Standorten (z.B. Flussmündung) neue Hafenstädte gegründet oder bestehende Städte ergänzt. Vertragshäfenstädte wurden zu Umschlagsplätzen („Entrepôt“) und militärischen Stützpunkten ausgebaut. Es siedelte sich eine dünne Schicht aus Verwaltungsbeamten, Kaufleuten, Militärs, Missionare. In deren Windschatten folge eine zweite Immigration vor allem von südchinesischen Auswanderern, insb. von Kleinhändlern. Vertragshäfenstädte wurden westliche Enklaven mit westlicher Infrastruktur in China; damit wurden sie zugleich zu Modernisierungsinseln! Vertragshäfenstädte wurden zu Magneten der chinesischen Binnenmigration, insb. für niedere Dienstleistungen. Teilweise suchten auch chinesische Eliten bei Unruhen Schutz bei den ausländischen Mächten. Insgesamt hatten sie eine sehr ambivalente Wirkung; denn sie waren zugleich ein Instrument einer ziemlich gewaltsamen Modernisierung. Heute sind viele große Metropolen Ost- und Südostasiens Städte mit einer VertragshafenVergangenheit: Shanghai, Tientsin, Hongkong, Kanton, Bangkok, Saigon/Ho-Chi-Min-Stadt, Singapur, Djakarta. (In Japan nur abgeschwächt wirksam, da die ungleichen Verträge ab ca. 1900 aufgehoben wurden). In China bestand das System bis zur Zwischenkriegszeit unseres Jahrhunderts, in Südostasien de facto bis zur Nachkriegszeit. Chinesische Einstellung: (auch militärische) Schwäche, Hoffnung, durch Verträge und die Zulassung punktueller ausländischer Enklaven den Druck auffangen zu können. Kolonialmächte: zunehmender Druck angesichts der chinesischen Schwäche und Wettlauf um Handels- und Militärstützpunkte; die flächenhafte Aufteilung Chinas nach dem Muster Afrikas erschien den imperialistischen Mächten nur noch eine Frage der Zeit. 1911/12 bürgerliche Revolution, initiiert durch SUN YATSEN mit einer Gruppe moderner Intellektueller, die in Japan studiert hatten und mit Unterstützung großer Teile des Militärs die kaiserliche Regierung der Manchu vertrieben und die Republik einführten. 3. Kgr. Siam, 4. Sultanate in Nord-Borneo = teilweise Pufferstaaten, z.B. Siam zwischen britischen und französischen Kolonialinteressen. Formen der industriell-imperialistischen Kolonisierung: - unterschiedliche politische Systeme: Briten mit „indirect rule“ durch lokale Eliten (oder Pufferschicht), dagegen Franzosen und Niederländer mit direkter Herrschaft. V Blotevogel „Ost- und Südostasien“ SS 2001 Kap. 3 13 - Landwirtschaft: Anlage von Plantagen für tropische Produkte, z.B. für Kautschuk und Palmöl in Malaya; in Südostasien aber weniger flächenhafte Besiedlung mit Europäern als Lateinamerika und Südafrika! - Bergbau: Erschließung von Ressourcen für die Industrie der europäischen Kolonialmächte: nicht mehr nur Edelmetalle wie früher, sondern jetzt wichtiger: z.B. Zinn. - Bevölkerung: Bedarf an Arbeitskräften für Bergbau und Plantagenwirtschaft führte zu umfangreichen Migrationen unterschiedlicher Ethnien, insb. von (Süd-)Chinesen und Indern. - Struktur der Volkswirtschaften: - dominiert von ausländischen Unternehmen, meist aus dem Kolonialland, - einseitige Ausrichtung auf ein oder wenige Exportgüter (z.B. Thailand Reis, Malaya Zinn, - Absatzmärkte für europäische Waren: Japan und China mit wichtigen Binnenmärkten, desh. immer Versuche zur „Öffnung“ dieser Märkte, in anderen Ländern nur schmale einheimische Eliten und europäische Bevölkerung mit Kaufkraft. - Kolonialstädte (z.B. Batavia, Singapur, Georgetown, Saigon, Manila, Hongkong, europäische Handelsenklaven in Shanghai usw.): Kombination von Funktionen: - politische und militärische Kontrolle und Verwaltung, - Handels- und Verkehrszentren, - Konsumgüterproduktion für regionale Märkte. - Die beiden letztgenannten Funktionen wurden vielfach von chinesischen Unternehmen dominiert, teilweise auch von Indern. (= ökonomische und politische Puffergruppe zwischen indigenen Völkern und der britischen Kolonialmacht, deshalb von den Briten durchaus gefördert!) - Urbanisierung: Merkantiler Kolonialismus führte zu einem Nebeneinander der einheimischen politisch-religiösen Zentren und der europ. Handelszentren! Ab 1850/1920 völlige Umordnung des Städtesystems: Nun werden die Kolonialstädte zu den großen führenden Zentren, weil in ihnen politische, ökonomische und kulturelle Funktionen konzentriert sind (auch wenn der Bergbau und die Plantagenwirtschaft dezentral verteilt sind). Folge: Primatstadt-Struktur! Innerstädtische Struktur der Kolonialstädte: krasse Segregation der Gruppen: isolierte Europäerviertel, Einwanderergruppen („Chinatown“), Hüttenviertel der indigenen Bevölkerung.