Rechtswissenschaftliches Institut Lektion 7 - Vorbereitung und Versuch Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht unter Einschluss des internationalen Strafrechts Prof. Dr. iur. Frank Meyer Rechtswissenschaftliches Institut Einführung 15.09.2016 Seite 2 Rechtswissenschaftliches Institut Übersicht: Deliktsstadien Straflos • Tatentschluss • Vorbereitungshandlungen (Ausnahme: strafbar, vgl. Art. 260bis StGB) • Beginn der unmittelbaren Tatausführung (Schwellentheorie) Strafbar • Strafbarer Versuch • Vollendung • Beendigung 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 3 Rechtswissenschaftliches Institut Strafrechtliche Relevanz der Deliktsstadien gesetzlicher Regelfall: Anknüpfung der Strafbarkeit an Vollendung Vorverlagerung der Strafbarkeitsschwelle auf Ausführungsbeginn mit allgemeiner Versuchsstrafbarkeit Verselbstständigung bestimmter Versuchs- und Vorbereitungshandlungen als eigenständige Delikte Planung und Vorbereitung grundsätzlich nicht strafbar 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 4 Rechtswissenschaftliches Institut Ausnahme von Straflosigkeit der Vorbereitung spezielle Straftatbestände, die gezielt bestimmte Vorbereitungshandlungen kriminalisieren klar deliktische Vorstufen zu späterem Hauptdelikt aus kriminalpräventiven Gründen v.a. im Staatsschutzrecht und bei Fälschereidelikten genutzt international zunehmend vor allem auch bei Terrorismusdelikten Art. 260bis StGB als allgemeine Scharniernorm 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 5 Rechtswissenschaftliches Institut Generalnorm des Art. 260bis StGB Strafbare Vorbereitungshandlungen 1 Mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer planmässig konkrete technische oder organisatorische Vorkehrungen trifft, deren Art und Umfang zeigen, dass er sich anschickt, eine der folgenden strafbaren Handlungen auszuführen: a. Vorsätzliche Tötung (Art. 111); b. Mord (Art. 112); […] 2 Führt der Täter aus eigenem Antrieb die Vorbereitungshandlung nicht zu Ende, bleibt er straflos. 3 […] 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 6 Rechtswissenschaftliches Institut Strafbarer Versuch 15.09.2016 Seite 7 Rechtswissenschaftliches Institut Strafgrund des Versuchs Objektive Theorien: konkrete objektive Gefährdung des tatbestandlich geschützten Rechtsguts Subjektive Theorien: Betätigung eines für die Rechtsordnung gefährlichen rechtsfeindlichen Willens Eindruckstheorie (h.M.): Erschütterung des Vertrauens in die Geltung der Rechtsordnung 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 8 Rechtswissenschaftliches Institut Faustformel des Bundesgerichts Strafgrund liegt vor, wenn Täter • sämtliche subjektiven Tatbestandsmerkmale erfüllt • und seine Tatentschlossenheit manifestiert hat, • ohne dass alle objektiven Tatbestandsmerkmale verwirklicht sind. (z.B. BGE 137 IV 113 E. 1.4.2) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 9 Rechtswissenschaftliches Institut Gesetzliche Grundlage Art. 22 StGB 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern. 2 Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos. 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 10 Rechtswissenschaftliches Institut Umfang der Strafbarkeit des Versuchs Verbrechen und Vergehen Versuch von Übertretungen nur bei ausdrücklicher Regelung, Art. 105 Abs. 2 StGB tauglicher und untauglicher Versuch 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 11 Rechtswissenschaftliches Institut Voraussetzungen einer Versuchsstrafbarkeit Voraussetzungen des strafbaren Versuchs Keine Vollendung 15.09.2016 Delikt ist ein Verbrechen oder Vergehen Tatentschluss und ggf. besondere Absichten Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Beginn der Ausführung (Schwellentheorie) Seite 12 Rechtswissenschaftliches Institut Aufbau der Versuchsprüfung I. Vorprüfung 1. Keine Vollendung der Tat 2. Versuchsstrafbarkeit (Verbrechen oder Vergehen) II. Tatbestand 1. Tatentschluss (= Subjektiver Tatbestand) a) Vorsatz bzgl. aller objektiven Tatbestandsmerkmale b) besondere subjektive Tatbestandsmerkmale 2. Beginn der Ausführung (= Objektiver Tatbestand) III. Rechtswidrigkeit und IV. Schuld V. Fakultative Strafmilderung/Absehen von Strafe 1. Rücktritt, Art. 23 Abs. 1 Alt. 1 StGB 2. Tätige Reue, Art. 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 13 Rechtswissenschaftliches Institut Tatentschluss (1/2) Wissen und Willen bezüglich aller objektiven Tatumstände (Absicht im technischen Sinn nicht erforderlich) nicht erfasst: • Wahndelikt (jemand glaubt irrtümlich, sein Verhalten erfülle einen nicht existierenden Straftatbestand) • umgekehrter Subsumtionsirrtum (jemand glaubt irrtümlich, sein Verhalten erfülle einen existierenden Straftatbestand) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 14 Rechtswissenschaftliches Institut Tatentschluss (2/2) Vorliegen allfälliger besonderer Absichten und Beweggründe Abgrenzungsschwierigkeiten bei mehraktigen und qualifizierten Delikten 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 15 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Ausführung (Art. 22 Abs. 1 StGB) objektiver Tatbestand des Versuchs Merkmal dient Abgrenzung zur i.d.R. straflosen Vorbereitungshandlung) Beurteilungsmassstab (str.) • subjektive Theorie • formell-objektive Theorie (Verwirklichung mind. eines Tatbestandsmerkmals) • materiell-objektive Theorie («natürliche» Zusammengehörigkeit mit Tatbestandshandlung) • individuell (subjektiv)-objektive Betrachtungsweise (h.L. und BGer) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 16 Rechtswissenschaftliches Institut Beurteilungsmassstab subjektive Beurteilung Art. 22 StGB objektive Beurteilung individuell-objektive Beurteilung: strafbarer Versuch 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 17 Rechtswissenschaftliches Institut Individuell-objektive Betrachtungsweise von aussen her (objektiv) zu beurteilen, ob Täter aufgrund des nach seinen Vorstellungen erstellten Tatplans (individuell) die Schwelle zum strafbaren Versuch überschritten hat (Schwellentheorie) zur Ausführung zählt danach schon jede Tätigkeit, welche nach dem Plan, den sich der Täter gemacht hat, auf dem Weg zum Erfolg den letzten entscheidenden Schritt darstellt, von dem in der Regel nicht mehr zurückgewichen wird; es sei denn wegen äusserer Umstände, die eine Weiterverfolgung der Absicht erschweren oder verunmöglichen (BGE 87 IV 155 E. 1). 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 18 Rechtswissenschaftliches Institut Beispielsfall 1 A ist verärgert über B, weil dieser im Internet Lügengeschichten über ihn verbreitet. Er will sich rächen und lauert ihm an dessen heimischer Bushaltestelle auf, um ihn nach dessen Aussteigen mit Fäusten zu attackieren. Er weiss, dass B werktags stets mit der Linie 31 um 18.15 Uhr von der Arbeit zurückkehrt. Am folgenden Mittwoch begibt er sich pünktlich und einsatzbereit zur Bushaltestelle. Um 18.15 Uhr trifft pünktlich der Bus ein. B ist an diesem Tag wegen eines grippalen Infekts jedoch gar nicht zur Arbeit gegangen. A zieht tatenlos von dannen. Hat sich A einer versuchten Körperverletzung strafbar gemacht? 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 19 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Ausführung bei mittelbarer Täterschaft e.A.: Beginn bei Einwirkung des mittelbaren Täters auf Tatmittler a.A. 1: Beginn, wenn sich der mittelbare Täter der Einflussmöglichkeiten auf das Geschehen begibt; den Tatmittler also aus seiner Herrschaftssphäre entlässt a.A. 2: Beginn bei Vornahme der Tathandlung durch Tatmittler (Verhalten des mittelbaren Täters und des Tatmittlers bilden eine Einheit) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 20 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Ausführung bei Mittäterschaft e.A.: Beginn muss für jeden einzelnen Mittäter gesondert festgestellt werden (Einzellösung) a.A.: Beginn für alle Mittäter, wenn auch nur einer von ihnen unmittelbar zur Verwirklichung des Tatbestandes ansetzt (Gesamtlösung) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 21 Rechtswissenschaftliches Institut Beginn der Ausführung beim Unterlassungsdelikt e.A.: Beginn, wenn Täter die erste Rettungsmöglichkeit ungenutzt verstreichen lässt («Theorie des erstmöglichen Eingriffs») a.A.: Beginn, wenn Täter die letzte Rettungsmöglichkeit verstreichen lässt («Theorie des letztmöglichen Eingriffs») h.M.: Beginn, wenn sich die – wirkliche oder vom Täter angenommene – Gefahr für das Rechtsgut bei Verzögerung des rettenden Eingriffs steigert («Theorie der unmittelbaren Rechtsgutsgefährdung») 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 22 Rechtswissenschaftliches Institut Rücktritt – Tätige Reue 15.09.2016 Seite 23 Rechtswissenschaftliches Institut Aufbau der Versuchsprüfung I. Vorprüfung 1. Keine Vollendung der Tat 2. Versuchsstrafbarkeit (Verbrechen oder Vergehen) II. Tatbestand 1. Tatentschluss (= Subjektiver Tatbestand) a) Vorsatz bzgl. aller objektiven Tatbestandsmerkmale b) besondere subjektive Tatbestandsmerkmale 2. Beginn der Ausführung (= Objektiver Tatbestand) III. Rechtswidrigkeit und IV. Schuld V. Fakultative Strafmilderung/Absehen von Strafe 1. Rücktritt, Art. 23 Abs. 1 Alt. 1 StGB 2. Tätige Reue, Art. 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 24 Rechtswissenschaftliches Institut Rücktritt vom Versuch und tätige Reue StGB privilegiert Täter, der freiwillig Versuch nicht zu Ende führt bzw. eine ernsthafte Umkehrleistung erbringt, solange Delikt nicht vollendet ist Rücktritt und strafbefreiend tätige Reue nicht zwingend Rechtsfolge: • fakultative Strafmilderung (i.V.m. Art. 48a StGB) oder Absehen von Strafe (Art. 23 Abs. 1, 3 StGB); • als ermessensleitend wird «sittliche Qualität» des Rücktrittsmotivs angesehen, wobei keine gesicherten Kriterien existieren 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 25 Rechtswissenschaftliches Institut Grund der Privilegierung Goldene Brücke in die Legalität • Täter soll Umkehr erleichtert werden, um Deliktsverwirklichung nach Versuchsbeginn zu verhindern Gnadentheorie/Prämientheorie • Belohnung für die freiwillige Rückkehr zum rechtlich richtigen Verhalten Eindruckstheorie (h.M.) • Erschütterung der Rechtsordnung wird durch Abbruch der Tat und implizite Anerkennung der Rechtsordnung kompensiert • tritt Täter zurück, erscheint er weniger strafbedürftig 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 26 Rechtswissenschaftliches Institut Anforderungen an Rücktritt / tätige Reue Gesetz differenziert zwischen Versuchsstadien (vollendeter oder unvollendeter Versuch) Anforderungen an Umkehrleistung hängen vom Versuchsstadium ab in keinem Fall darf Versuch fehlgeschlagen sein Umkehr muss freiwillig (aus eigenem Antrieb) erfolgen Prüfung im Anschluss an die Schuld 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 27 Rechtswissenschaftliches Institut Prüfungsschema Rücktritt / tätige Reue kein Fehlschlag Erbringung der erforderlichen Umkehrleistung • Abgrenzung vollendeter (beendeter) – unvollendeter (unbeendeter) Versuch zur Bestimmung der erforderlichen Umkehrleistung • Verzicht auf weitere Ausführung oder Abwendung des Erfolgs bzw. ernsthaftes Bemühen Freiwilligkeit 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 28 Rechtswissenschaftliches Institut Gegenüberstellung Stadien des strafbaren Versuchs 15.09.2016 unvollendeter Versuch vollendeter Versuch Art. 22 Abs. 1 1. Alternative Art. 22 Abs. 1 2. Alternative Rücktritt, Art. 23 Abs. 1 1. Alternative Tätige Reue, Art. 23 Abs. 1 2. Alternative Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 29 Rechtswissenschaftliches Institut Unvollendeter (unbeendeter) Versuch Art. 22 StGB: 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern. 2 […] Täter hat noch nicht alles getan, was seiner Vorstellung nach zur Verwirklichung des tatbestandsmässigen Erfolgs notwendig ist. 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 30 Rechtswissenschaftliches Institut Vollendeter (beendeter) Versuch Art. 22 StGB: 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern. Täter hat bereits alles getan, was nach seiner Vorstellung für die Verwirklichung des tatbestandsmässigen Erfolgs notwendig war. Der Erfolg tritt dennoch nicht ein. 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 31 Rechtswissenschaftliches Institut Umkehrleistung Art. 23 StGB 1 Führt der Täter aus eigenem Antrieb die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende Rücktritt oder trägt er dazu bei, die Vollendung der Tat zu verhindern, Tätige Reue so kann das Gericht die Strafe mildern oder von einer Bestrafung absehen. 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 32 Rechtswissenschaftliches Institut Der fehlgeschlagene Versuch Quelle: http://www.spox.com/de/sport/fussball/wm/wm2014/endrunde/ko-runde/1407/News/lionelmessi-ist-stolz-auf-fortschritt-der-albiceleste-argentinien-deutschland-finale.html 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 33 Rechtswissenschaftliches Institut Fehlgeschlagener Versuch vorgenommene Handlung verwirklicht tatbestandsmässigen Erfolg nicht Täter erkennt, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln den tatbestandsmässigen Erfolg nicht mehr oder nicht ohne zeitliche relevante Zäsur herbeiführen kann (z.B.: Dieb findet nur leeren Safe vor) Rücktritt und tätige Reue sind in diesem Fall stets ausgeschlossen 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 34 Rechtswissenschaftliches Institut Beurteilungszeitpunkt fehlgeschlagener Versuch sowie unvollendeter / vollendeter Versuch (1/2) Tatplantheorie • abzustellen ist auf den vor Beginn der Tatausführung gefassten Tatplan • verwirklicht Täter alle «geplanten» Handlungen, liegt ein vollendeter Versuch vor; unabhängig von ihrer objektiven Eignung zur Verwirklichung des tatbestandsmässigen Erfolgs oder späterer Einsicht, dass Handlungen nicht hinreichend waren Einzelaktstheorie • abzustellen ist separat auf jeden für erfolgstauglich gehaltenen Einzelakt 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 35 Rechtswissenschaftliches Institut Beurteilungszeitpunkt fehlgeschlagener Versuch sowie unvollendeter / vollendeter Versuch (2/2) Rücktrittshorizont (h.M.) • kein Abstellen auf ursprünglich gefassten Tatplan, sondern Beurteilung nach der letzten Ausführungshandlung nach Massgabe der Einschätzung des Täters über die Notwendigkeit und Erfolgsaussichten weiterer Handlungen • Rücktrittshorizont auch für Beurteilung des Fehlschlags massgeblich 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 36 Rechtswissenschaftliches Institut Aufbau der Versuchsprüfung I. Vorprüfung 1. Keine Vollendung der Tat 2. Versuchsstrafbarkeit (Verbrechen oder Vergehen) II. Tatbestand 1. Tatentschluss (= Subjektiver Tatbestand) a) Vorsatz bzgl. aller objektiven Tatbestandsmerkmale b) besondere subjektive Tatbestandsmerkmale 2. Beginn der Ausführung (= Objektiver Tatbestand) III. Rechtswidrigkeit und IV. Schuld V. Fakultative Strafmilderung/Absehen von Strafe 1. Rücktritt, Art. 23 Abs. 1 Alt. 1 StGB 2. Tätige Reue, Art. 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 37 Rechtswissenschaftliches Institut Rücktritt (1/2): Voraussetzungen Versuch darf nicht fehlgeschlagen sein Täter muss sich dazu entschliessen, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende zu führen (d.h. Tatentschluss aufgeben) Entschluss aus eigenem Antrieb, d.h. freiwillig • freiwillig, wenn Täter denkt «Ich will nicht zum Ziele kommen, selbst wenn ich es könnte» • unfreiwillig, wenn Täter denkt «Ich kann nicht zum Ziele kommen, selbst wenn ich es wollte» (vgl. sog. Franksche-Formel; wiedergegeben bei Donatsch/Tag, S. 140) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 38 Rechtswissenschaftliches Institut Rücktritt (2/2): Beispiele unfreiwilliger Entschluss (kein Rücktritt): (8 • Dieb wird beim Aufbohren des Tresors überrascht und flieht freiwilliger Rücktritt: • Während des Aufbohrens des Tresors wird der Dieb vom Mut verlassen, er denkt an seine Kinder und seine Frau. Schliesslich verlässt er den Tatort. Bildquelle: http://www.don-mcduck.de/storys/beagletrap.php 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 39 Rechtswissenschaftliches Institut Beispielsfall 2 Fred will aus Rache die kleine Anneliese töten und überrascht diese im Garten beim Spielen. Als sie aufschaut, richtet er die Pistole auf ihren Kopf und steht kurz davor abzudrücken. In letzter Sekunde kommt der Verstand bei Fred jedoch noch zurück. Er senkt die Waffe und verschont Anneliese. Um welche Art des Versuches handelt es sich hierbei und ist Fred von der Tat wirksam zurückgetreten? 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 40 Rechtswissenschaftliches Institut Aufbau der Versuchsprüfung I. Vorprüfung 1. Keine Vollendung der Tat 2. Versuchsstrafbarkeit (Verbrechen oder Vergehen) II. Tatbestand 1. Tatentschluss (= Subjektiver Tatbestand) a) Vorsatz bzgl. aller objektiven Tatbestandsmerkmale b) besondere subjektive Tatbestandsmerkmale 2. Beginn der Ausführung (= Objektiver Tatbestand) III. Rechtswidrigkeit und IV. Schuld V. Fakultative Strafmilderung/Absehen von Strafe 1. Rücktritt, Art. 23 Abs. 1 Alt. 1 StGB 2. Tätige Reue, Art. 23 Abs. 1 Alt. 2 StGB 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 41 Rechtswissenschaftliches Institut Tätige Reue (1/3): Voraussetzungen Tätige Reue kommt nach Vollendung (Beendigung) des Versuchs und vor dem Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolges infrage Versuch darf nicht fehlgeschlagen sein Vollendung der Tat muss durch einen Beitrag des Täters verhindert worden sein bleibt Erfolg aus anderen Gründen aus, muss Täter sich ernsthaft um das Ausbleiben bemüht haben Entschluss aus eigenem Antrieb (Freiwilligkeit; wie beim Rücktritt) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 42 Rechtswissenschaftliches Institut Tätige Reue (2/3) Vollendung/ Beendigung des Versuchs Vollendung des Delikts Tätige Reue 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 43 Rechtswissenschaftliches Institut Tätige Reue (3/3): Beispiel Brandstifter löscht den von ihm gelegten Brand, bevor dieser das Ausmass einer Feuerbrunst erreicht (Art. 221 StGB). 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 44 Rechtswissenschaftliches Institut Beispielsfall 3 Dieses Mal geht Fred wieder mit seiner Pistole zu Anneliese in den Garten, um sie zu töten. Er zielt auf sie und trifft sie am Oberkörper. Anneliese bricht daraufhin zusammen, wobei sie – schwer blutend und keuchend – weiterhin atmet. Von diesem Anblick stark mitgenommen, alarmiert Fred sogleich die Sanität, damit die zusammengebrochene Anneliese doch noch gerettet werden kann. Um zu verhindern, dass Anneliese verblutet, zieht Fred schnell sein Hemd aus und bildet damit einen Druckverband. Nach ein paar Minuten trifft die Sanität ein und leistet der Anneliese erste Hilfe. Schliesslich wird sie gerettet. Kann das Handeln von Fred als tätige Reue qualifiziert werden? 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 45 Rechtswissenschaftliches Institut Beispielsfall 4 Jakob gefällt schon seit langem das Steinbockgeweih, welches im Wohnzimmer seines Nachbarn hängt. Da er nicht Jäger werden kann, wird er wohl nie ein solches bekommen können. Deshalb beschliesst er, dieses von seinem Nachbarn zu stehlen. Dafür schleicht er sich durch den Garten, steigt die Treppen zur Veranda hinauf und tritt durch die offene Verandatüre ins Wohnzimmer ein. Als er jedoch vor dem Geweih steht, bekommt er es plötzlich mit der Angst zu tun und rennt wieder zurück nach Hause. Hat sich Jakob strafbar gemacht? 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 46 Rechtswissenschaftliches Institut Untauglicher Versuch 15.09.2016 Seite 47 Rechtswissenschaftliches Institut Untauglicher Versuch Art. 22 StGB 1 Führt der Täter, nachdem er mit der Ausführung eines Verbrechens oder Vergehens begonnen hat, die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende oder tritt der zur Vollendung der Tat gehörende Erfolg nicht ein oder kann dieser nicht eintreten, so kann das Gericht die Strafe mildern. 2 Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos. 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 48 Rechtswissenschaftliches Institut Untauglicher Versuch Tat kann in der vom Täter vorgestellten Art überhaupt nicht verwirklicht werden. Untauglichkeit kann sich ergeben aus dem gewählten • Tatobjekt • Tatmittel • ausnahmsweise auch Tatsubjekt 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 49 Rechtswissenschaftliches Institut Rechtsfolgen des untauglichen Versuchs Fakultative Strafmilderung (Art. 22 Abs. 1 Var. 3 StGB) Straflosigkeit bei Handeln aus grobem Unverstand (Art. 22 Abs. 2 StGB) • offensichtlich völlig untauglich • vorgestellte Wirkung irreal bzw. Ausdruck völligen Unverstandes über Lebenswirklichkeit und anerkannte Erfahrungssätze • Verkennung der Untauglichkeit aus besonderer Dummheit (Formulierung in BGE 70 IV 50) 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 50 Rechtswissenschaftliches Institut Strafgrund des untauglichen Versuchs gesetzgeberischer Entscheid, den untauglichen Versuch unter Strafe zu stellen Legitimation der Strafbarkeit in Lehre umstritten h.M.: Eindruckstheorie • auch der untaugliche Versuch hinterlässt einen rechtserschütternden Eindruck. • dieser ist aber im Gegensatz zum vollendeten / unvollendeten Versuch geringer, was z.B. die Straflosigkeit bei Handeln aus grobem Unverstand erklärt 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 51 Rechtswissenschaftliches Institut Beispielsfall 5 Im Februar und März hat Paula ihrem Ehemann zweimal ein Butterbrot mit Rattengift, Konfitüre und Butter zubereitet und ihm dieses mit der Absicht, ihn dadurch zu töten, zum Essen gegeben. Glücklicherweise hatte sie sich jedoch bei der Menge des Rattengiftes verschätzt, weshalb die Dosis zu schwach war, um ihn zu töten. Sie reichte aber aus, um eine körperliche Schädigung herbeizuführen. Strafbarkeit von Paula? 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 52 Rechtswissenschaftliches Institut Literatur zur Nachbereitung STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 4. Auflage 2011, § 12, S. 324-363 (alternativ) SEELMANN, Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl. 2012, S. 120-138 15.09.2016 Strafrecht Allgemeiner Teil, Lehrstuhl Prof. Dr. iur. Frank Meyer Seite 53