Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen

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Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen
Beziehungen in Großbritannien
Damian Grimshaw, Claire Shepherd and Jill Rubery
September 20101
KURZFASSUNG
Elf Jahre nach der Einführung des ersten gesetzlichen Mindestlohns (NMW) in
Großbritannien gehen heute die meisten Experten davon aus, dass er einen positiven
Beitrag zur Lohngerechtigkeit geleistet hat – und zwar sowohl zur Verbesserung der
Situation der am schlechtesten bezahlten Beschäftigten als auch zur Verringerung der
Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen. Ihm wird auch eine positive
Wirkung bei der Förderung des sozialen Dialogs im Bereich der Lohnsetzung
zugeschrieben, was insbesondere mit der erkennbaren Effektivität der unabhängigen
tripartistischen Niedriglohnkommission in Verbindung gebracht wird. Heutzutage
unterstützen alle wichtigen Gewerkschaften und die meisten großen
Arbeitgeberverbände den NMW und erkennen an, dass er den dringend erforderlichen
Schutz in einem Arbeitsmarkt bietet, in dem Tarifverhandlungen nur eine geringe
Bedeutung haben und außerdem stark zersplittert sind.
Zielsetzung dieses Berichts ist es, weitere Informationen zu den beiden Aspekten
Entgeltgerechtigkeit und sozialer Dialog zu geben, um die Bedeutung dieser Themen
für Politik und Praxis in der weiteren Umsetzung des NMW zu betonen. Wir wissen
nur sehr wenig darüber, wie Arbeitgeber und Gewerkschaften ihre Strategien bei den
Lohnverhandlungen als Antwort auf den NMW verändern. Gibt es zum Beispiel einen
Konsens zwischen den Sozialpartnern, dass der niedrigste Lohn in ihrer Branche oder
ihrem Betrieb höher sein sollte als der Mindestlohn für Erwachsene? Wie „verkaufen“
die Gewerkschaften die Idee, dass die Position von Niedrigstverdienern verbessert
werden muss, an ihre Mitglieder, wenn dies dazu führt, dass sich die
Gehaltsunterschiede zu qualifizierteren oder dienstälteren Mitgliedern verringern? Wo
ein einzelner Arbeitgeber willens ist, eine ‚Kluft’ zwischen der untersten Gehaltsstufe
und der gesetzlichen Lohnuntergrenze aufrechtzuerhalten, ist dies möglich, wenn keine
breiteren branchenbezogenen Vereinbarungen existieren? Und welche Strategien
entwickeln
Gewerkschaften
(und
möglicherweise
Arbeitgeber),
um
Entgeltgerechtigkeit zu erreichen, während sich der NMW immer noch verändert?
Entwicklungen beim NMW
Durch Studien, die sie selbst in Auftrag gegeben hat, ist die Niedriglohnkommission
sehr erfolgreich dabei gewesen, Empfehlungen zu geben, wie die Regelungen zum
administrativen Umgang mit dem Mindestlohn verändert werden sollten. Beispiele für
rechtliche Änderungen sind die Einführung von neuen Lohnsätzen für 16- bis 17Jährige und Auszubildende sowie die Anpassung der Vorgaben, was im
Zusammenhang mit dem NMW als Lohn zählt, wie beispielsweise der Ausschluss von
Nebenkosten und Trinkgeldern. Zudem wurde ein früherer zu zaghafter Ansatz
korrigiert, indem empfohlen wurde, das Niveau des Mindestlohns zwischen 2003 und
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Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle
Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische
Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.
2006 explizit stärker zu erhöhen, als die durchschnittlichen Löhne gestiegen sind. Es
gibt signifikante Hinweise dafür, dass innerhalb der Kommission auf einen Konsens
gesetzt wurde und auf die Förderung eines echten sozialen Dialogs, obwohl die
gegenwärtige Wirtschaftskrise und die Erholung von dieser eine echte
Bewährungsprobe darstellen.
Die Veränderung des Kontextes der industriellen Beziehungen
Die Entwicklungen im Bereich der industriellen Beziehungen bieten zum einen eine
zunehmende Rechtfertigung dafür, dass der Schutz durch den gesetzlichen
Mindestlohn in Großbritannien erforderlich ist. Zum anderen tendieren sie aber dazu,
Bemühungen, den NMW zur Verbesserung der Situation von Niedrigverdienern
einzusetzen, zu konterkarieren. Vier von fünf Beschäftigten im privaten Sektor sind
nicht durch tarifliche Regelungen geschützt und es gibt zahlreiche Anzeichen dafür,
dass sie für die Ausbeutung in Niedriglohnsektoren anfällig sind. Außerdem ist der
gewerkschaftliche Organisationsgrad innerhalb den Gruppen mit niedriger Entlohnung
durchgehend sehr gering – und zwar unter Männer und Frauen sowie Vollzeit- und
Teilzeitkräften. Ein Hauptproblem ist die geringe Nutzung von Mechanismen,
tarifliche Standards für allgemeinverbindlich zu erklären (im Vergleich zu anderen
europäischen Ländern). Gegenwärtig gibt es nur ein Beispiel dafür, nämlich die
Ausweitung des Tarifvertrags für den staatlichen Gesundheitsdienst auf
Vertragspartner aus dem privaten Sektor.
Auswirkungen auf die Entgeltgerechtigkeit
Zunächst hatte der NMW wenig Einfluss auf Entgeltgerechtigkeit. Jedoch zeigt unsere
Analyse der britischen Lohndaten, dass es nach 2001 erhebliche Fortschritte bei der
Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles gab und bei der Situation der
Beschäftigten, die besonders niedrige Löhne haben. Diese Verbesserungen wurden in
einer Phase erreicht, in der sich das relative Niveau des NMW erhöht hat:
o Der Durchschnittsverdienst von Frauen in Vollzeitbeschäftigung stieg im
Vergleich zu Männern zwischen 2002 und 2007 von 74% to 78%
o Frauen in Teilzeitbeschäftigung hatten die höchsten Zugewinne, wenngleich
auf niedrigerem Niveau: mit einer Steigerung von 56% auf 64% des
durchschnittlichen Lohns von Männern in Vollzeitbeschäftigung
o Der Lohn im untersten Dezil aller Arbeitnehmer stieg von 2002 bis 2007 von
46% auf 48%, was ausschließlich auf Steigerungen bei weiblichen
Beschäftigten ist, besonders in Teilzeit-Jobs, zurückzuführen ist
o Der Anteil von Beschäftigten in Niedriglohnjobs (definiert als weniger als zwei
Drittel des Medianlohnes) hat sich allerdings nicht verändert, er liegt seit 1999
etwa bei 21 bis 22% aller Beschäftigten.
Forschungsergebnisse
Der Bericht gibt auf der Basis von drei Fallstudien zu Tarifverträgen auf
Unternehmensebene in der Gebäudereinigung, im Sicherheitssektor und im
Einzelhandel Einblicke bezogen auf Entgeltgerechtigkeit und den sozialen Dialog. Die
Analyse stützt sich auf Lohninformationen, die Dokumentation von
Lohnvereinbarungen und 15 Interviews mit führenden Gewerkschafts- und
Arbeitgebervertretern, die an Lohnverhandlungen beteiligt sind, sowie Vertretern von
Verbänden und kleinen bis mittelgroßen Firmen. Die zentralen Ergebnisse dieser
Fallstudien sind folgende:
1. Gebäudereinigung
o Ausweitung eines Branchentarifvertrags im öffentlichen Sektor auf
privatwirtschaftliche Firmen, die ausgelagerte Reinigungsdienste leisten,
unterstützt durch Gewerkschaften und mehrere sehr erfolgreich agierende
globale Firmen
o Eine gewerkschaftliche Strategie, die sich stark auf die Bekämpfung von
Niedriglöhnen konzentrierte, hat dazu beigetragen, den Abstand zwischen den
niedrigsten Lohnraten und dem NMW zu vergrößern
o Gewerkschaft und Arbeitgeber unterstützen Vereinbarungen, die sich vor allem
auf Verbesserungen im Niedriglohnsektor beziehen, etwa durch
Pauschalzahlungen und die Abschaffung der niedrigsten Löhne
o Eine der größten Hürden in diesem Prozess ist die Kundenseite (in diesem Fall
die einzelnen Krankenhäuser des staatlichen Gesundheitsdienstes), weil sie die
Verallgemeinerung der Lohnvereinbarungen verzögern kann
2. Sicherheitssektor
o Von manchen Arbeitgebern gibt es Unterstützung für einen
branchenbezogenen Mindestlohn, um einen allein auf Kostensenkung
orientierten Wettbewerb um Aufträge einzudämmen
o In der Betriebsfallstudie war der Erfolg in der Aufrechterhaltung und
Vergrößerung des Unterschieds zwischen den niedrigsten Löhnen und dem
NMW gemischt
o Ein kundenbezogenes System von Lohnverhandlungen bedeutet, dass
manche Kunden Fortbildungen und eine höhere Entlohnung unterstützen,
die meisten jedoch auf niedrige Kosten setzen
o Trotz einer sehr stark auf die Verbesserung der Lage von
Niedriglohnbeschäftigten fokussierten Strategie war die Gewerkschaft nur
begrenzt erfolgreich dabei, die einzelbetriebliche Lohnregelung auf mehrere
Kundenunternehmen zu übertragen.
o Die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades ist ein zentraler
Ansatzpunkt für die Strategie der Gewerkschaft, die Situation von
Niedriglohnbeschäftigten zu verbessern.
3. Einzelhandel
o Die Gewerkschaft wurde vom Arbeitgeber dabei unterstützt, die
Entlohnung junger Beschäftigter deutlich zu verbessern
o Bei Erwachsenen sind die Unterschiede zwischen der niedrigsten Löhnen
und dem NMW kleiner geworden und der niedrigste Lohn liegt deutlich
unter der Niedriglohnschwelle aller Beschäftigten in Großbritannien
o Die Niedriglohnstrategie der Gewerkschaft konzentriert sich hauptsächlich
auf Vereinbarungen, die den unteren Lohnbereich betreffen – wie etwa die
Abschaffung der untersten Lohngruppen
o Die Firma hat Verringerungen der Prämien für unregelmäßige
Arbeitsstunden und die Abschaffung der Überstundenbezahlung
ausgehandelt.
Themen für Politik und Praxis
die absolut niedrigsten Löhne und verkleinern die Lohnunterschiede ganz unten,
tragen aber nicht dazu bei, Beschäftigte durch eine höhere Bezahlung aus dem
Niedriglohnsektor herauszuholen. Außerdem konterkariert die sinkende Tarifbindung
die Steigerungen des Mindestlohns, indem ein wichtiges institutionelles Instrument
geschwächt wird, das zur Verringerung der Lohnunterschiede beigetragen hat. Die
meisten Beschäftigten im privaten Sektor sind nach unten nur durch den gesetzlichen
Mindestlohn geschützt. Viele Beschäftigte in Niedriglohnbranchen profitieren nicht
von Lohnvereinbarungen, die typischerweise in kollektiven Verhandlungen festgelegt
werden. Schließlich sind Niedriglohnjobs im Bereich unternehmensbezogener
Dienstleistungen wie zum Beispiel Reinigung und Sicherheit in erheblichem Maße
abhängig der Bereitschaft der Kundenunternehmen, angemessene Preise für die
vertraglichen Leistungen zu bezahlen. Der besondere Fall der ausgelagerten
Reinigungsdienste im staatlichen Gesundheitsdienst demonstriert, wie der
Lohnstandard in einer Branche auch ohne übertriebenen Wettbewerb funktionieren
kann. In anderen Bereichen der Wirtschaft behindert der Fokus der Kunden auf
Kostensenkung die Bemühungen von Arbeitgebern (und Gewerkschaften), Löhne und
Qualifikationen zu verbessern, was die Anstrengungen, auf Verbesserungen bezüglich
des NMW aufzubauen, zurückwirft.
Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen
Beziehungen in Deutschland
Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf
September 20102
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergründe
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Lohnspreizung in Deutschland stark zugenommen
und der Niedriglohnsektor ist beträchtlich gewachsen. Dies betrifft sowohl Vollzeitals auch Teilzeitkräfte (sowie Beschäftigte in Minijobs). Von Niedriglöhnen
betroffen sind nicht nur spezifische Personengruppen wie zum Beispiel Jüngere oder
niedrig Qualifizierte, sondern zunehmend auch die mittleren Altersgruppen und
qualifizierte Beschäftigte. Die Lohnunterschiede zwischen großen und kleineren
Unternehmen sowie zwischen den Branchen, die mehr oder weniger an
Tarifvereinbarungen gebunden sind, sind gewachsen. Der Grund dafür ist, dass das
deutsche Tarifsystem, das immer schon anfällig für Außenseiterkonkurrenz war,
durch Interventionen der Politik weiter geschwächt worden ist. Um ein weiteres
Wachstum des Niedriglohnsektors und eine fortschreitende Fragmentierung des
Lohnspektrums zu verhindern, ist in den letzten Jahren ein Kurswechsel erwogen
worden – insbesondere die Einführung von Mindestlöhnen.
Neue Gesetze für Mindestlöhne...
Die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns, wie in den anderen vier
Ländern in dieser komparativen Studie, wird bis jetzt abgelehnt. 2005 formulierte die
damalige Große Koalition einen recht komplizierten Kompromiss zu Mindestlöhnen
mit zwei Hauptlinien für branchenspezifische Mindestlöhne:
o In Tarifverträgen vereinbarte Mindestlöhne auf Branchenebene können
auf Antrag beider Sozialpartner für allgemeinverbindlich erklärt werden;
o Eine Reform des 1952 formulierten Mindestarbeitsbedingungengesetzes
kann auf Branchen ohne Tarifverträge angewendet werden, um auch
diesen die Möglichkeit einer Einführung von Mindestlöhnen zu geben.
Nur die erste Möglichkeit wurde bisher in einigen Branchen genutzt, in denen sich
die Sozialpartner in Tarifverhandlungen auf einen Mindestlohn geeinigt haben. Es
gibt jedoch eine Reihe von Stolpersteinen. Manche der neu vereinbarten
Mindestlöhne sind sehr niedrig, weil ‚arbeitgeberfreundliche Gewerkschaften’ einen
Tarifabschluss mit niedrigen Löhnen unterzeichneten. Außerdem gibt es in vielen
Niedriglohnbranchen keine Mindestlöhne, weil die Sozialpartner sich nicht einigen
konnten. Zudem ist der Prozess der Umsetzung, selbst dort wo die Sozialpartner
erfolgreich Mindestlohnabkommen für die Branche zugestimmt haben, schwierig und
zeitaufwändig. Zudem sind die Sozialpartner mit ‚feindlichen’ politischen
Interventionen der derzeitigen Bundesregierung und der Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) konfrontiert, die verhindern wollen, dass
Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt werden. Letztlich könnte das
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Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle
Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische
Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.
Nebeneinander unterschiedlich hoher Mindestlöhne in verschiedenen Branchen in
Kombination mit einer mangelnden Kenntnis des tatsächlichen Lohnniveaus in
Zukunft zu Problemen mit der Einhaltung und Kontrolle führen. Die Durchsetzung
eines einheitlichen und wohlbekannten staatlichen Standards wäre zweifellos leichter.
...aber noch ein steiniger Weg
Die Analyse der Hürden auf dem Weg zur Einführung branchenspezifischer
Mindestlöhne in Deutschland in den letzten Jahren zeigt ziemlich eindeutig, dass der
eingeschlagene Weg ein sehr steiniger ist. Die bestehenden institutionellen
Mechanismen zur Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne eröffnen der
Politik, den Arbeitgebern und den konkurrierenden Gewerkschaften zahlreiche
beabsichtigte und unbeabsichtigte Möglichkeiten, ihre praktische Umsetzung zu
blockieren. Mindestlöhne in Deutschland sind somit nur sehr schleppend zu
realisieren – ein Flickenteppich verschiedener Mindestlöhne in Kombination mit
großen unregulierten Zonen in der Lohnpolitik ohne bindende Mindeststandards wird
in der nahen und mittelfristigen Zukunft das Ergebnis sein.
Mindestlohn, Tarifverhandlungen und ‚ripple effects’ („Welleneffekte“) in
ausgewählten Branchen
Die Studie präsentiert die Grundzüge der Interaktion zwischen Entwicklungen in
branchenspezifischen Mindestlöhnen, Lohnstrukturen und sozialem Dialog in drei
ausgewählten Branchen: Reinigung, Baugewerbe und Leiharbeit. Die
Hauptergebnisse basieren auf relevanten Dokumenten (relevante Gesetzgebung,
Tarifvereinbarungen)
und
Interviews
mit
Gewerkschaftsund
Arbeitnehmervertretern.
In den Branchen, in denen die Sozialpartner einen Mindestlohn vereinbart haben,
wurden die Tarifverhandlungen gestärkt. Mindestlöhne werden als Teil des
tariflichen ‚wage grid’ in den Branchen verhandelt. Jede Steigerung des Mindestlohns
hebt automatisch auch die Löhne in den höheren Lohngruppen an, zumindest in den
Betrieben, die tariflich gebunden sind. Die Beschaffenheit und Stärke dieses ‚ripple
effects’ („Welleneffekts“) der branchenspezifischen Mindestlöhne hängt jedoch
erstens von der Einhaltung der Tarifabschlüsse innerhalb der Firmen, zweitens vom
Grad der Tarifbindung und drittens von der Qualifikationsstruktur innerhalb der
Branchen ab. In der Praxis ist es schwierig, den Einfluss dieser drei Effekte
voneinander zu trennen, denn wir wissen nicht von allen Branchen, ob die
Beschäftigten nur den Mindestlohn erhalten, weil dies ihrer Tätigkeit entspricht oder
weil die Firma nicht tarifgebunden ist oder weil die Beschäftigten nicht korrekt
gemäß ihrer Jobanforderungen und Fähigkeiten in der Lohnskala eingestuft wurden.
Die empirischen Ergebnisse für das Baugewerbe zeigen deutlich, dass die Einhaltung
des ganzen tariflichen ‚wage grid’ in Westdeutschland hoch, in Ostdeutschland
jedoch sehr niedrig ist. Hier ist der Mindestlohn in der Regel der Standardlohn. Somit
ist der ‘ripple effect’ („Welleneffekt“) in Westdeutschland hoch, vor allem durch die
hohe Tarifbindung, und niedrig in Ostdeutschland. Dies erklärt auch die
unterschiedlichen Verhaltensweisen der ost- und westdeutschen Arbeitgebervertreter
in den Tarifverhandlungen. Unsere Interviewpartner haben berichtet, dass die
westdeutschen Arbeitgeber vor allem an den Verhandlungen über die tariflichen
Löhne interessiert sind, während die ostdeutschen Arbeitgeber nur auf die Höhe des
Mindestlohns achten.
In der Reinigungsbranche werden die meisten Beschäftigten nur nach Mindestlohn
bezahlt. Der Grund dafür ist, dass die meisten Jobs ein eher niedriges
Qualifikationsniveau haben. Eine ähnliche Situation würde sich in der
Zeitarbeitsbranche ergeben, wenn auch hier Mindestlöhne eingeführt würden.
Vorliegenden Informationen zufolge werden viele qualifizierte Beschäftige in der
Zeitarbeitsbranche nicht ihrer Qualifikation entsprechend bezahlt, sondern auf dem
Niveau für niedrig qualifizierte Arbeiten.
Schlussfolgerungen
o Die
Größe
des
‚ripple
effects’
(„Welleneffektes“)
des
branchenspezifischen Mindestlohns auf das tarifliche ‚wage grid’ variiert
stark zwischen den verschiedenen Branchen. Er ist stark in Branchen mit
hoher Tarifbindung und einem großen Anteil qualifizierter Beschäftigter.
o Mindestlöhne sind bisher nur in Branchen eingeführt worden, in denen
Tarifverhandlungen bereits langjährig etabliert sind oder sich in den
letzten Jahren entwickelt haben. In den Branchen, in denen sich
Tarifverhandlungen erst kürzlich durch die Verhandlungen zu
Mindestlohn entwickelt haben, könnte sich der Einfluss auf das gesamte
‚wage grid’ und Tarifverhandlungen mit der Zeit erhöhen.
o Branchen mit schwachen oder fragmentierten Tarifverträgen haben bisher
noch keine Mindestlöhne eingeführt. In solchen Branchen würden wir
einen ‚allein stehenden’ Mindestlohn erwarten – ohne andere
Tarifabschlüsse, die mit den Mindeststandards in Verbindung gebracht
werden könnten.
Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen
Beziehungen in Kroatien
Danijel Nestić und Ivana Rašić Bakarić
September 20103
ZUSAMMENFASSUNG
Im Jahr 2008 führte Kroatien ein neues Mindestlohngesetz ein, welches das vorherige
System der Mindestlohnregulierung, das auf der Allgemeinverbindlichkeitserklärung
von Tarifverträgen basierte, ablöste. Das Gesetz hob das Niveau des Mindestlohns an,
führte einen niedrigeren Mindestlohnsatz für arbeitsintensive Branchen ein und
etablierte eine spezifische Formel für die jährliche Anhebung des Mindestlohnes .
Zusätzlich wurde durch eine neue gesetzliche Regulierung versucht, die Durchsetzung
des Mindestlohnes zu verbessern. Allerdings war die Umsetzung des Gesetzes nicht
unumstritten. Vor allem hinsichtlich der jährlichen Anpassungsformel waren sich die
Sozialpartner nicht einig. Die Bemühungen zur Festlegung eines präzisen
Anpassungsmechanismus haben Beratungsmechanismen und den sozialen Dialog
verdrängt und das Vertrauen zwischen den Sozialpartnern geschwächt.
Die Studie untersucht in diesem Kontext die weitreichenden Auswirkungen des neuen
Regulierungssystems für Mindestlöhne auf die industriellen Beziehungen und vice
versa. Sie konzentriert sich auf die Entwicklungen in den Tarifverhandlungen dreier
Branchen – Baugewerbe, Bekleidungsindustrie und Einzelhandel. Die empirischen
Erhebungen beinhalteten Interviews mit Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern
sowie zentralen Personen aus Regierungsgremien, die verantwortlich für die
Verbesserung des sozialen Dialogs sind. Außerdem wurden Lohndaten in
Tarifverträgen gesammelt und ausgewertet.
Mindestlohnstrategie und Lohntrends
Der Mindestlohn in Kroatien wird definiert als monatlicher Betrag, der die Vergütung
von Vollzeitarbeit betrifft. Das neue Gesetz von 2008 enthält eine temporäre
Ausnahmeregelung – namentlich einen geringeren Mindestlohn, der für die Textil-,
Bekleidungs- Holzverarbeitungs- und Lederindustrie gilt. In der Zeit zwischen 1998
und 2007 wurde der Mindestlohn an einem relativen Niveau festgemacht; dem KaitzIndex (der den Mindestlohn in Relation zum Durchschnittslohn der Gesamtwirtschaft
misst), und der um 33% schwankte. Dies änderte sich 2008 mit der neuen Regelung.
Das relative Niveau des Mindestlohns stieg zwischen 2008 und 2009 auf ungefähr
36%. Die Zahl der Mindestlohnbeschäftigten stieg im Ergebnis von geschätzten 3%
der Beschäftigten vor 2008 auf aktuell etwa 5%. Die Häufigkeit von Mindestlöhnen ist
bei Frauen, Jüngeren, Niedrigqualifizierten und solchen mit befristeten Verträgen
höher als in anderen Gruppen.
Interaktionen mit dem System industrieller Beziehungen
Die Praxis der Tarifverhandlungen entwickelt sich langsam, ungeachtet der scheinbar
robusten institutionellen Regulierung. Tripartistischer sozialer Dialog auf nationaler
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Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle
Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische
Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.
Ebene ist effektiv und sein Einfluss auf die Regelwerke ist spürbar. Zweigliedriger
sozialer Dialog ist allerdings sehr viel weniger wirkungsvoll. Er findet meist auf
Firmenebene statt und ist gerade in kleinen Firmen sehr schwach. Es gibt wenige
Vereinbarungen auf Branchenebene außerhalb des öffentlichen Sektors. Für die
Wirtschaft als Ganzes ist der Anteil von Beschäftigten, deren Lohn auf Tarifverträgen
beruht, ziemlich hoch – schätzungsweise bei 60% insgesamt, mit 70% im öffentlichen
Sektor und 40% im privaten Sektor. Diese hohen Werte resultieren vor allem daraus,
dass die Regierung die Tarifverträge in vielen Branchen für allgemeinverbindlich
erklärt hat. Der Anteil der Beschäftigten, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, wird
auf 34% geschätzt (mit nur 17% im privaten Sektor) und ist tendenziell rückläufig.
Schwächen im Verhandlungsprozess resultieren aus einer Tradition von
konfliktreichen Beziehungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite rechtlichen
Rahmenbedingungen, der Anreize für Aktivitäten der Sozialpartner auf zahlreichen
Ebenen reduziert. Spezielle Probleme resultieren aus der weit verbreiteten Nutzung
von Ausweitungsmechanismen (Ausweitung der Verträge auf alle Beschäftigten in
einer Firma oder auf alle Firmen in einer Branche) und daraus, dass wichtige
Regelungen auch nach Auslaufen von Tarifverträgen nachwirken.
Der Mindestlohn und sozialer Dialog in drei Branchen
Diese Länderstudie erläutert die Hauptmerkmale der Wechselwirkungen zwischen dem
sich ändernden gesetzlichen Mindestlohn, den in Tarifverhandlungen festgelegten
Strukturen und der Beschaffenheit des sozialen Dialogs in drei ausgewählten
Branchen: Baugewerbe, Bekleidungsindustrie und Einzelhandel. Die Ergebnisse
basieren auf Dokumenten (relevante Gesetzgebung, Tarifverträge) und Interviews mit
Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern.
Baugewerbe
o Es gibt einen Tarifvertrag auf Branchenebene, der regelmäßig aktualisiert wird.
Er ist mit der Unterstützung beider Sozialpartner für allgemeinverbindlich
erklärt worden, was offenbar zur Verdrängung firmeninterner Verhandlungen
führt.
o Der branchenweite Tarifvertrag setzt den niedrigsten Basislohn auf dem Niveau
des gesetzlichen Mindestlohns an.
o Die Praxis der Ergänzung des Basislohns durch eine Vielzahl von
Zusatzleistungen (Senioritätsprämien, Zuschläge für schwierige oder
gefährliche Arbeit, etc.) erhöht den Gesamtlohn um 30-60%.
o Der Anteil der Beschäftigten mit Mindestlohn ist relativ klein, hat sich jedoch
in der Wirtschaftskrise vergrößert.
o Es gibt eine weit verbreitete Praxis von inoffiziellen Zusatzzahlungen
(‚Umschlaglöhnen‘) in kleinen Baufirmen.
o Sowohl Gewerkschafts- als auch Arbeitgebervertreter berichten von
erheblichen Stellenverlusten und Lohnkürzungen in der Rezession, obwohl die
Regelungen und Bedingungen aus dem branchenweiten Tarifvertrag
beibehalten wurden; Arbeitgeber geben an, Löhne nicht unter das tariflich
geregelte Niveau gekürzt zu haben.
Bekleidungsindustrie
o Es existiert kein branchenweiter Tarifvertrag.
o Der soziale Dialog hat sich relativ gut entwickelt, teils dank einer gemeinsamen
Anstrengung zur Lobbyarbeit in der Regierung.
o Die Gewerkschaft bevorzugt Verträge auf Firmenebene als beste Möglichkeit
zur Anpassung von Löhnen und Arbeitsbedingungen an die spezifische
Situation sowie zur bestmöglichen Absicherung der Beschäftigten.
o Der Standardlohn im Tarifvertrag der in der Fallstudie untersuchten Firma liegt
mit fast 40% erheblich unter dem gesetzlichen Mindestlohn, jedoch erhalten
die Beschäftigten noch eine Zusatzleistung, die auf einem Leistungskoeffizient
und dem Dienstalter basiert.
o Der Anteil der Beschäftigten mit Mindestlohn ist in der im Rahmen der Studie
untersuchen Firma mit etwa 25% hoch. Viele der Beschäftigten erfüllen die
üblichen Leistungsanforderungen, jedoch ist ihr Basislohn so niedrig, dass ihr
Arbeitsentgelt noch immer unter die Mindestlohngrenze fällt und die Firma es
deshalb aufstocken muss.
Einzelhandel
o Die Erfahrungen mit dem sozialen Dialog im Einzelhandelssektor sind
gemischt, mit erfolgreichen Partnerschaften in manchen Firmen und der
Unterdrückung von Gewerkschaften in anderen.
o Ein Tarifvertrag auf Branchenebene wurde 1998 abgeschlossen, 2005 ergänzt
und auf alle Firmen im Sektor ausgeweitet. Es gibt eine kleine Zahl von
Tarifverträgen auf Firmenebene.
o Gewerkschaftsvertreter beklagen, dass es mit der Implementierung des
Branchentarifvertrags Probleme gebe, obwohl er nur einen relativ niedrigen
Schutz bietet. Besondere Schwierigkeiten werden in der Praxis unbezahlter
Überstunden gesehen.
o Der niedrigste Basislohn für die einfachsten Arbeiten im Branchentarifvertrag
liegt mehr als 40% unter dem gesetzlichen Mindestlohn und die Kluft ist in der
letzten Dekade größer geworden. Wie in der Bekleidungsindustrie füllen
verschiedene Zusatzleistungen die Lücke, wie zum Beispiel Prämien, die sich
am Dienstalter orientieren, für unregelmäßige Arbeitszeiten etc.
o Die Zahl der Beschäftigten mit Mindestlohn ist immer noch eher niedrig,
zumindest in größeren Firmen.
Diskussion der Schlüsselergebnisse
Die Regulierungs- und Produktmarktbedingungen haben in allen drei Branchen großen
Einfluss auf die Beschaffenheit und Qualität des sozialen Dialogs auf der Branchenund Firmenebene. Im Baugewerbe und im Einzelhandel gibt es eine starke
Inlandskonkurrenz zwischen einer kleinen Zahl führender Firmen. Branchenstandards
werden durch einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag auf Branchenebene
festgesetzt. Jedoch bieten diese Tarifverträge im Vergleich zum gesetzlichen
Mindestlohn nur eine begrenzte Verbesserung der Gehälter und Arbeitsbedingungen
für die Niedrigstbezahlten. Dies liegt u.a. am Misstrauen der Arbeitgeber hinsichtlich
einer als unflexibel empfundenen Gesetzgebung und daran, dass die industriellen
Beziehungen konfliktreich sind. Umstritten ist, inwiefern die gegenwärtig starke
Bedeutung gesetzlicher Interventionen bezogen auf Löhne und Beschäftigung die
Spielräume für Verbesserungen im Rahmen von Lohnverhandlungen schmälert.
Allerdings untergräbt die gesetzliche Mindestlohnregelung nach Ansicht sowohl der
Gewerkschafts- als auch der Arbeitgebervertreter nicht den Antrieb für
Tarifverhandlungen. Ein größeres Problem ist die Notwendigkeit, die Durchsetzung
der gesetzlichen und tariflichen Bedingungen zu verbessern. In der gegenwärtigen
Krise sind Beschäftigte und Gewerkschaften bereit, flexiblere Vereinbarungen zu
akzeptieren, um Jobs zu sichern – und solche Kompromisse werden zur Zeit auf der
Firmenebene verhandelt. Die Rezession hat die Wichtigkeit des Mindestlohns erhöht,
besonders in der Bekleidungsindustrie. Arbeitgeber argumentieren, dass sie einem
starken gesetzlichen Druck ausgesetzt sind, mehr für einfachste Tätigkeiten zu
bezahlen, gleichzeitig jedoch mit Billigproduzenten auf der ganzen Welt konkurrieren
müssen. Sie fordern weitere Maßnahmen durch die Regierung wie zum Beispiel die
Reduzierung der Sozialabgaben für Mindestlohnbeschäftigte und die Einführung von
Steuergutschriften sowie Einkommensbeihilfen.
Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen
Beziehungen in Spanien
Josep Banyuls, Ernest Cano and Empar Aguado
September 20104
ZUSAMMENFASSUNG
Der Mindestlohn hat traditionell eine marginale Rolle auf dem spanischen
Arbeitsmarkt und in dessen Modell industrieller Beziehungen gespielt. Seit seiner
Einführung wurde er eher als Teil der Sozialpolitik und Instrument
makroökonomischer Strategie wahrgenommen denn als eine Form von
Arbeitsmarkintervention. Auch für die Sozialpartner hat er nur eine sekundäre Rolle
in ihren Strategien zur Entgeltgerechtigkeit gespielt. Allerdings haben die
Steigerungen des relativen Mindestlohnniveaus zwischen 2005 und 2009 die Debatte
über seine Rolle auf dem Arbeitsmarkt reanimiert, insbesondere über seine potentiell
negativen Effekte auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese jüngsten
Entwicklungen werfen zudem Fragen auf, die sich auf seine Auswirkungen auf den
sozialen Dialog, auf Tarifverhandlungen sowie Trends bezüglich der Lohnstrukturen
beziehen.
Dieser Bericht zielt darauf, die Wechselwirkungen zwischen dem derzeitigen
Mindestlohnsystem und dem Modell industrieller Beziehungen in Spanien in den
Blick zu nehmen. Im Einzelnen werden die Auswirkungen der
Verhandlungsstrategien von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung sowie
Trends in den Lohnstrukturen im Niedriglohnsektor analysiert.
Mindestlohnstrategien und Lohntrends
Ein gesetzlicher Mindestlohn wurde in Spanien erstmals im Jahr 1963 eingeführt. Von
Anfang an wurde er vor allem als Instrument der Sozialpolitik angesehen und eine
Reihe von Sozialleistungen wurde mit einem Index an ihn gekoppelt. Im Jahr 2004
wurde die Verbindung zu Sozialleistungen von der Regierung abgeschafft und sie
proklamierte als neues politisches Ziel die Anhebung des Mindestlohnniveaus.
Insofern markiert das Jahr 2004 den Beginn einer neuen Phase. Die neu gewählte
sozialdemokratische Regierung stellte eine Reihe von Gesetzen vor, um die
niedrigsten Einkommen zu verbessern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken.
Darunter waren die Anhebung beitragsfreier Renten und das mittelfristige Ziel, den
Mindestlohn auf ein Niveau entsprechend 60% des Durchschnittslohns anzuheben,
wie es in der Europäischen Sozialcharta empfohlen wird. Die negativen Effekte auf
die Sozialausgaben wurden durch die Entscheidung minimiert, einen alternativen
Richtwertindikator für Sozialtransfers einzuführen – den öffentlichen MehrzweckEinkommensindikator (IPREM). Seit 2004 hat der Mindestlohn deshalb
ausschließlich als Arbeitsmarktintervention funktioniert und seine Auswirkungen auf
den Arbeitsmarkt sind direkt mit seiner Höhe, Verbreitung und Durchsetzung
verbunden.
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Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle
Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische
Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.
Die Auswirkungen der jüngsten Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns sind im
steigenden Wert des Kaitz-Index (dem Verhältnis zwischen Mindestlohn und
Durchschnittseinkommen) des Landes sichtbar. Daten für die Periode zwischen 2002
und 2007 aus dem Lohnstrukturgutachten deuten einen Anstieg von 31% auf 39% an.
Die Schnittmenge mit dem spanischen Modell industrieller Beziehungen
Das Modell industrieller Beziehungen in Spanien verfügt über einige spezifische
Besonderheiten, denen man Beachtung schenken muss, um die möglichen Effekte des
Mindestlohns auf die Tarifverhandlungen besser zu verstehen. Einer der wichtigsten
Aspekte ist seine Vielfältigkeit. Eine stark fragmentierte Tarifstruktur generiert eine
sehr hohe Anzahl von Lohnabkommen. Die Verträge sind gemäß verschiedener
Funktionen (Firma oder Branche) und der regionalen Reichweite (Ort, Provinz,
autonome Region, multiple Region und national) strukturiert. Neben den
Branchenvereinbarungen gibt es auch eine große Zahl von Verträgen auf
Firmenebene. Die Abstimmung zwischen den verschiedenen Verhandlungsebenen ist
komplex, häufig schwach und widersprüchlich. In diesem Kontext gibt es eine
Vielzahl von Lohn- und Arbeitsbedingungen, sogar innerhalb einer Branche, die zu
vielen fragmentierten und unkoordinierten Tarifverträgen führt. In diesem Kontext
könnte ein steigender Mindestlohn potenziell einen positiven Beitrag zu
Entgeltgerechtigkeit leisten, indem die Lohnuntergrenze erhöht und das
geschlechtsspezifische Lohngefälle verkleinert wird.
Der Mindestlohn, Tarifverhandlungen und Lohnniveaus in drei Branchen
Die Analyse von drei verschiedenen Niedriglohnbranchen – Einzelhandel,
Gastgewerbe und Reinigungsbranche – deutet darauf hin, dass der steigende
Mindestlohn bisher keine spürbaren Effekte auf Strategien und Praxis der
Sozialpartner in den Tarifverhandlungen oder die Lohnstruktur der Beschäftigten mit
den niedrigsten Löhnen hatte. Die Entwicklung der Löhne in den untersuchten
Branchen ist bis zu einem gewissen Grad einer branchenspezifischen Dynamik
gefolgt, die aus Inflationstrends und landesüblichen Praktiken, die sich in den
Tarifverhandlungen bereits verfestigt haben, resultiert. Die Sozialpartner scheinen
sich dem Anstieg des Mindestlohns zwischen 2005 und 2009 nicht angepasst zu
haben. Eine Erklärung hierfür ist, dass der Mindestlohn im Vergleich zu den in den
Tarifverhandlungen vereinbarten Mindestsätzen nach wie vor ein relativ niedriges
Niveau hat. Dies ist der Grund dafür, dass der Mindestlohn in den drei untersuchten
Branchen bislang offenbar keinen ‚ripple effect’ („Welleneffekt“) auf niedrige Löhne
entfaltet hat. Zudem weisen unsere Daten darauf hin, dass es keine Veränderungen in
den Lohnunterschieden zwischen tariflichen Tätigkeitsgruppen gegeben hat.
Eine zweite Erklärung ist, dass die spanische Regierung, im Gegensatz zu anderen
Ländern wie zum Beispiel Großbritannien, weniger Gebrauch von staatlichen
Einkommenszuschüssen für Niedriglohnbeschäftigte macht. Von daher gibt es
wesentlich stärkeren Druck auf soziale Akteure, die Löhne auf einem Niveau zu
halten, das vereinbar mit der Höhe des Mindesteinkommensniveaus ist. Die Kluft
zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und der tariflichen Lohnuntergrenze für
Reinigungskräfte, Verkäufer und Kellner liegt in der Region Valencia zum Beispiel
zwischen 35 und 50% - und damit erheblich höher als in den anderen Ländern, die in
unserer Vergleichsstudie untersucht wurden.
Vor diesem Hintergrund scheint der Mindestlohn noch immer ein sehr schwacher
politischer Hebel zu sein, um die Entgeltgerechtigkeit und
Tarifverhandlungsstrategien zu beeinflussen. Faktoren, die einen größeren Einfluss
auf Lohnfindung und Entgeltgerechtigkeit in diesen Niedriglohnbranchen haben, sind
erstens die Beschaffenheit des Wettbewerbs auf den Produktmärkten. In allen drei
Branchen sind die Firmen mit einem intensiven Preiswettbewerb konfrontiert, der
wiederum den Druck zur Lohnmäßigung und -senkung erhöht. Zwei weitere
zusammenhängende Faktoren sind zum einen die mangelnde Anerkennung von
Qualifikationen und zum anderen die Tatsache, dass die Branchen weiblich dominiert
sind. Die Unterbewertung sowohl der Qualifikationen von Frauen als auch von
Tätigkeiten mit hohem Frauenanteil scheint die Legitimation niedriger Löhne zu
untermauern.
Ein abschließender Faktor bezieht sich darauf, dass das spanische Modell industrieller
Beziehungen stark fragmentiert ist. Es gibt Unterschiede in den Tarifverhandlungen
zwischen den Branchen und innerhalb der Branchen sowie in regionaler Hinsicht.
Ohne Koordination und Fortschritt im sozialen Dialog über ‚Brot und Butter-Themen’
hinaus ist es innerhalb dieser Gegebenheiten schwierig, durch die Entwicklung und
Umsetzung von Interventionen in Kombination mit einem steigenden Mindestlohn
dazu beizutragen, mehr Entgeltgerechtigkeit zu befördern.
Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen
Beziehungen in Ungarn
László Neumann
September 20105
ZUSAMMENFASSUNG
Hintergrund
Ungarn führte 1991 für alle Beschäftigten einen gesetzlichen Mindestlohn ein. Der
Mindestlohn ist also ungefähr so alt ist wie der Rest der Institutionen
(Arbeitslosengeld, staatliche Arbeitsvermittlung, Abfindung, Reformen im
Arbeitsrecht etc.), die zur Zeit des Übergangs aus dem staatlichen Sozialismus zur
Marktwirtschaft geschaffen worden sind. Die Terminierung der Einführung des
Mindestlohns ist außerdem insofern interessant, als dass sie zur gleichen Zeit
stattfand, als frühere zentralistische administrative Einschränkungen der Löhne nach
und nach aufgehoben wurden und die zentralisierte Lohnbestimmung durch freie
Lohnverhandlungen ersetzt wurde. Neue Institutionen für den nationalen sozialen
Dialog wie zum Beispiel der dreigliedrige Nationale Interessen Schlichtungsrat
(Országos Érdekegyeztető Tanács (OÉT) wurden eingerichtet, um die neuen
Lohnvereinbarungsprozesse zu moderieren. Die wichtigste Funktion des OÉT ist die
Bestimmung der jährlichen Rate für den Mindestlohn durch einen Konsens zwischen
Sozialpartnern und Regierung.
Veränderungen im Mindestlohnsystem und im sozialen Dialog
In den letzten zwei Dekaden haben in Ungarn grundlegende Entwicklungen im
Mindestlohns und den damit verbundenen Prozessen im sozialen Dialog
stattgefunden. Während der 1990er Jahre stieg der gesetzliche Mindestlohn mit einer
langsamen und gleichmäßigen Steigerungsrate ungefähr proportional zur
Inflationsrate. In den Jahren 2000 und 2001 entschied sich die damalige Mitte-RechtsRegierung dann für den radikalen Schritt, den Mindestlohn praktisch zu verdoppeln –
was auch als ‚Mindestlohn-Schock’ bezeichnet wird. Zur gleichen Zeit untergrub sie
den dreigliedrigen Verhandlungsprozess, indem sie eine neue einseitige
Regierungskompetenz einführte, um den Mindestlohn zu bestimmen. Im Jahr 2002
übernahm dann eine sozial-liberale Koalition die Regierung und führte das
dreigliedrige Prozedere wieder ein. Jedoch überprüfte das Verfassungsgericht in den
Jahren 2008/09 die Berechtigung der Sozialpartner, an der vorbereitenden
Gesetzgebung zum Mindestlohn mitzuwirken, und entschied, dass dies mit der
Verfassung unvereinbar sei. Mitbestimmungsrechte und die Konsensprozedur
innerhalb der OÈT sind daraufhin formal widerrufen worden. Eine letzte Entwicklung
betrifft die Einführung eines separaten Mindestlohns für qualifizierte Beschäftigte im
Jahr 2006, was zu einem zweigleisigen System von Mindestlöhnen geführt hat.
Das Niveau und die schlichte Existenz des Mindestlohns sind Quelle erbitterter
Dispute zwischen den Sozialpartnern gewesen. Gewerkschaften fordern ein höheres
Niveau – in dem Sinne, dass der Mindestlohn entweder mit dem Existenzminimum
5
Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle
Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische
Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.
gleichziehen müsse oder mit der von der Europäischen Sozialcharta empfohlenen
Höhe (60% des Durchschnittslohns). In den letzten Jahren haben sich die
Gewerkschaften erfolgreich für einen eigenen gesetzlichen Mindestlohn für
qualifizierte Beschäftigte eingesetzt, um dem schwachen Schutz derjenigen
entgegenzuwirken, die in Firmen arbeiten, die nicht tariflich gebunden sind. Für ihren
Teil kämpfen die Arbeitgeber für stärker begrenzte Erhöhungen des gesetzlichen
Mindestlohns und haben im Zuge der Rezession vorgeschlagen, den Mindestlohn
nicht zu erhöhen, um Jobs und die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit zu erhalten.
Ein weiterer Akteur in der Debatte sind Mainstream-Ökonomen, die zuletzt die
Abschaffung des Mindestlohns gefordert haben mit der Begründung, dass dies die
Konkurrenzfähigkeit wiederherstellen, Jobs schaffen und die durch Löhne angeheizte
Inflation begrenzen würde. Diese starke Behauptung folgt größtenteils der Erfahrung
mit dem Mindestlohn-Schock von 2000/2001, der einen generellen Anstieg der
Löhne, makroökonomische Ungleichgewichte und strenge Sparmaßnahmen zur Folge
hatte. Schließlich hat auch die Regierung eine gemischte Meinung zu den
konkurrierenden ökonomischen Wirkungen. Sie teilt die Befürchtungen der
Arbeitgeber hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit und Inflation und hat ein Interesse
daran, den Anstieg der Mindestlöhne zu dämpfen, da hieran die Ausgaben für
verschiedene Sozialleistungen gekoppelt sind. Trotzdem argumentiert sie auch dafür,
dass Bedarf besteht, den Mindestlohn einzusetzen, um die Schattenwirtschaft
einzudämmen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Arbeitgeber vorgeben, ihren
Beschäftigten den Mindestlohn zu zahlen, um Steuern zu sparen, ihnen aber
tasächlich einen höheren (nicht angegebenen) Lohn auszahlen (so genannte
‚Umschlaglöhne’).
Entgeltgerechtigkeitseffekte
Der Mindestlohn ist in Ungarn relativ niedrig angesetzt. Bis zu den radikalen
Erhöhungen in den Jahren 2000 und 2001 lag der Kaitz-Index bei gerade einmal 29%
(der Mindestlohn als Prozentsatz des Durchschnittsbruttolohns). Das Niveau stieg bis
2002 auf 41%, ist aber seither sporadisch gefallen und wurde 2009 auf 36% beziffert.
Die Lohnverteilung von 2008 zeigt eine klare Doppelspitze beim doppelten
Mindestlohn (was die minimalen Aufwendungen für Sozialabgaben widerspiegelt)
und auf dem Niveau des höheren Mindestlohns für qualifizierte Beschäftigte. Manche
Gruppen sind mit höherer Wahrscheinlichkeit in Mindestlohnbeschäftigung, darunter
Frauen, Jüngere, gering Qualifizierte und diejenigen aus Regionen mit hoher
Arbeitslosigkeit.
Der Mindestlohn und der soziale Dialog in drei Branchen
Dieser Länderreport präsentiert die wesentlichen Merkmale der Interaktion zwischen
den sich ändernden gesetzlichen Mindestlöhnen, Lohnverhandlungsstrukturen und
der Beschaffenheit des sozialen Dialogs in drei ausgewählten Branchen –
Einzelhandel, Baugewerbe und private Sicherheitsdienstleistungen. In allen drei
Branchen gibt es einen hohen Anteil an kleinen und mittelgroßen Firmen, der
gewerkschaftliche Organisationsgrad ist gering, unstetige Beschäftigung ist verbreitet
und Schwarzarbeit sowie inoffizielle Zahlungen (‚Umschlaglöhne‘) sind üblich. Die
Ergebnisse basieren auf Dokumenten (relevanten Gesetzesvorschriften, kollektiven
Vereinbarungen) und Interviews mit Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern.
Unterschiedliche
Gehaltssicherung
Erfahrungen
mit
Branchentarifverträgen
und
o Im
Baugewerbe
ist
die
erfolgreiche
Aushandlung
eines
Branchentarifvertrags stark auf die Bemühungen der Regierung
zurückzuführen, Schwarzarbeit zu bekämpfen, weshalb der Tarifvertrag
auch sofort für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Trotzdem weigerte
sich im Jahr 2009 der Arbeitgeberverband, den Tarifvertrag neu zu
verhandeln, und stimmte für 2010 lediglich einer Anpassung der Löhne
entsprechend dem Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns zu.
o Im privaten Sicherheitsgewerbe sind sowohl die Arbeitgeberorganisation
als auch die Gewerkschaft relativ neu und schwach, und ihre
Legitimierung wird von rivalisierenden Organisationen (erwähnenswert
die Kammer der Leibwächter, Schutz von Eigentum und Privatdetektive,
die den Privileg einer verpflichtenden Mitgliedschaft genießen) in Frage
gestellt. Obwohl ein Branchentarifvertrag zu Tariflöhnen abgeschlossen
wurde, ist er noch vor seiner Ausweitung widerrufen worden. Es gibt also
viele Löcher in der Lohnabsicherung.
o Auch der Einzelhandel ist nur schwach durch Gewerkschaften organisiert,
insbesondere weil diese in kleinen Unternehmen nur selten präsent sind.
Weil die größte Arbeitgeberorganisation der Branche von ihren
Mitgliedern nicht dazu autorisiert wurde, einen Tarifabschluss oder eine
Lohnvereinbarung für die Branche zu treffen, beruht die Lohnpolitik der
Gewerkschaft auf zwei Säulen: zum einen der Schaffung und Erhaltung
bestmöglicher rechtlicher Bedingungen und zum anderen der Förderung
der Koordination (und expliziter Unterstützung) dezentraler
Lohnverhandlungen auf Firmenebene.
Öffentliche Auftragsvergabe führt zu Kostensenkung
o Baugewerbe und Sicherheitsbranche sind beide mit einem ähnlichem
Marktumfeld konfrontiert: Preise werden als Konsequenz eines stark
kostengetriebenen Wettbewerbs im Rahmen der öffentlichen
Auftragsvergabe gedrückt
o Private Sicherheitsfirmen werden dazu ermutigt, ihre Arbeit zu so
niedrigen Preisen anzubieten, dass sie häufig die Kosten für den
Mindestlohn oder die damit verbundenen Sozialabgaben nicht aufbringen
können.
Uneinheitliche Bedingungen und Probleme der Lohnabsicherung innerhalb der
Branchen
o Es gibt eine lange Kette von Subauftragnehmern im Bau- und im
Sicherheitsgewerbe. Die Hauptauftragnehmer und großen Firmen zahlen
höhere Löhne. Gewerkschaften werden nur von wenigen dieser Unternehmen
anerkannt.
o Im Sicherheitsgewerbe werden von Firmen häufig Stundenlöhne unterhalb
des Mindestlohns gezahlt: Wachmänner zum Beispiel leisten in der Regel
Bereitschaftsdienste, die eine Arbeitszeit von monatlich 240 Stunden
erlauben, werden jedoch nur für 176 Stunden bezahlt.
o Bis vor kurzem sah das Gewerbegesetz vor, dass Beschäftigte im
Einzelhandel, die mit Konsumenten in Kontakt kommen (zum Beispiel
Kassierer/innen), als qualifizierte Beschäftigte anzusehen seien.
Einzelhandelsbeschäftigte profitierten also doppelt, sowohl von den großen
Steigerungen des Mindestlohns in den Jahren 2001 und 2002 als auch von der
Einführung eines Mindestlohns für Qualifizierte im Jahr 2006. Allerdings
wurde kürzlich durch eine Gesetzesänderung diese Definition abgeschafft und
legitimierte damit die früheren Bemühungen der Arbeitgeber, solche Jobs als
teilqualifizierte oder ungelernten Tätigkeiten umzudefinieren.
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