Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen Beziehungen in Großbritannien Damian Grimshaw, Claire Shepherd and Jill Rubery September 20101 KURZFASSUNG Elf Jahre nach der Einführung des ersten gesetzlichen Mindestlohns (NMW) in Großbritannien gehen heute die meisten Experten davon aus, dass er einen positiven Beitrag zur Lohngerechtigkeit geleistet hat – und zwar sowohl zur Verbesserung der Situation der am schlechtesten bezahlten Beschäftigten als auch zur Verringerung der Lohnunterschiede zwischen Männern und Frauen. Ihm wird auch eine positive Wirkung bei der Förderung des sozialen Dialogs im Bereich der Lohnsetzung zugeschrieben, was insbesondere mit der erkennbaren Effektivität der unabhängigen tripartistischen Niedriglohnkommission in Verbindung gebracht wird. Heutzutage unterstützen alle wichtigen Gewerkschaften und die meisten großen Arbeitgeberverbände den NMW und erkennen an, dass er den dringend erforderlichen Schutz in einem Arbeitsmarkt bietet, in dem Tarifverhandlungen nur eine geringe Bedeutung haben und außerdem stark zersplittert sind. Zielsetzung dieses Berichts ist es, weitere Informationen zu den beiden Aspekten Entgeltgerechtigkeit und sozialer Dialog zu geben, um die Bedeutung dieser Themen für Politik und Praxis in der weiteren Umsetzung des NMW zu betonen. Wir wissen nur sehr wenig darüber, wie Arbeitgeber und Gewerkschaften ihre Strategien bei den Lohnverhandlungen als Antwort auf den NMW verändern. Gibt es zum Beispiel einen Konsens zwischen den Sozialpartnern, dass der niedrigste Lohn in ihrer Branche oder ihrem Betrieb höher sein sollte als der Mindestlohn für Erwachsene? Wie „verkaufen“ die Gewerkschaften die Idee, dass die Position von Niedrigstverdienern verbessert werden muss, an ihre Mitglieder, wenn dies dazu führt, dass sich die Gehaltsunterschiede zu qualifizierteren oder dienstälteren Mitgliedern verringern? Wo ein einzelner Arbeitgeber willens ist, eine ‚Kluft’ zwischen der untersten Gehaltsstufe und der gesetzlichen Lohnuntergrenze aufrechtzuerhalten, ist dies möglich, wenn keine breiteren branchenbezogenen Vereinbarungen existieren? Und welche Strategien entwickeln Gewerkschaften (und möglicherweise Arbeitgeber), um Entgeltgerechtigkeit zu erreichen, während sich der NMW immer noch verändert? Entwicklungen beim NMW Durch Studien, die sie selbst in Auftrag gegeben hat, ist die Niedriglohnkommission sehr erfolgreich dabei gewesen, Empfehlungen zu geben, wie die Regelungen zum administrativen Umgang mit dem Mindestlohn verändert werden sollten. Beispiele für rechtliche Änderungen sind die Einführung von neuen Lohnsätzen für 16- bis 17Jährige und Auszubildende sowie die Anpassung der Vorgaben, was im Zusammenhang mit dem NMW als Lohn zählt, wie beispielsweise der Ausschluss von Nebenkosten und Trinkgeldern. Zudem wurde ein früherer zu zaghafter Ansatz korrigiert, indem empfohlen wurde, das Niveau des Mindestlohns zwischen 2003 und 1 Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. 2006 explizit stärker zu erhöhen, als die durchschnittlichen Löhne gestiegen sind. Es gibt signifikante Hinweise dafür, dass innerhalb der Kommission auf einen Konsens gesetzt wurde und auf die Förderung eines echten sozialen Dialogs, obwohl die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die Erholung von dieser eine echte Bewährungsprobe darstellen. Die Veränderung des Kontextes der industriellen Beziehungen Die Entwicklungen im Bereich der industriellen Beziehungen bieten zum einen eine zunehmende Rechtfertigung dafür, dass der Schutz durch den gesetzlichen Mindestlohn in Großbritannien erforderlich ist. Zum anderen tendieren sie aber dazu, Bemühungen, den NMW zur Verbesserung der Situation von Niedrigverdienern einzusetzen, zu konterkarieren. Vier von fünf Beschäftigten im privaten Sektor sind nicht durch tarifliche Regelungen geschützt und es gibt zahlreiche Anzeichen dafür, dass sie für die Ausbeutung in Niedriglohnsektoren anfällig sind. Außerdem ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad innerhalb den Gruppen mit niedriger Entlohnung durchgehend sehr gering – und zwar unter Männer und Frauen sowie Vollzeit- und Teilzeitkräften. Ein Hauptproblem ist die geringe Nutzung von Mechanismen, tarifliche Standards für allgemeinverbindlich zu erklären (im Vergleich zu anderen europäischen Ländern). Gegenwärtig gibt es nur ein Beispiel dafür, nämlich die Ausweitung des Tarifvertrags für den staatlichen Gesundheitsdienst auf Vertragspartner aus dem privaten Sektor. Auswirkungen auf die Entgeltgerechtigkeit Zunächst hatte der NMW wenig Einfluss auf Entgeltgerechtigkeit. Jedoch zeigt unsere Analyse der britischen Lohndaten, dass es nach 2001 erhebliche Fortschritte bei der Verringerung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles gab und bei der Situation der Beschäftigten, die besonders niedrige Löhne haben. Diese Verbesserungen wurden in einer Phase erreicht, in der sich das relative Niveau des NMW erhöht hat: o Der Durchschnittsverdienst von Frauen in Vollzeitbeschäftigung stieg im Vergleich zu Männern zwischen 2002 und 2007 von 74% to 78% o Frauen in Teilzeitbeschäftigung hatten die höchsten Zugewinne, wenngleich auf niedrigerem Niveau: mit einer Steigerung von 56% auf 64% des durchschnittlichen Lohns von Männern in Vollzeitbeschäftigung o Der Lohn im untersten Dezil aller Arbeitnehmer stieg von 2002 bis 2007 von 46% auf 48%, was ausschließlich auf Steigerungen bei weiblichen Beschäftigten ist, besonders in Teilzeit-Jobs, zurückzuführen ist o Der Anteil von Beschäftigten in Niedriglohnjobs (definiert als weniger als zwei Drittel des Medianlohnes) hat sich allerdings nicht verändert, er liegt seit 1999 etwa bei 21 bis 22% aller Beschäftigten. Forschungsergebnisse Der Bericht gibt auf der Basis von drei Fallstudien zu Tarifverträgen auf Unternehmensebene in der Gebäudereinigung, im Sicherheitssektor und im Einzelhandel Einblicke bezogen auf Entgeltgerechtigkeit und den sozialen Dialog. Die Analyse stützt sich auf Lohninformationen, die Dokumentation von Lohnvereinbarungen und 15 Interviews mit führenden Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern, die an Lohnverhandlungen beteiligt sind, sowie Vertretern von Verbänden und kleinen bis mittelgroßen Firmen. Die zentralen Ergebnisse dieser Fallstudien sind folgende: 1. Gebäudereinigung o Ausweitung eines Branchentarifvertrags im öffentlichen Sektor auf privatwirtschaftliche Firmen, die ausgelagerte Reinigungsdienste leisten, unterstützt durch Gewerkschaften und mehrere sehr erfolgreich agierende globale Firmen o Eine gewerkschaftliche Strategie, die sich stark auf die Bekämpfung von Niedriglöhnen konzentrierte, hat dazu beigetragen, den Abstand zwischen den niedrigsten Lohnraten und dem NMW zu vergrößern o Gewerkschaft und Arbeitgeber unterstützen Vereinbarungen, die sich vor allem auf Verbesserungen im Niedriglohnsektor beziehen, etwa durch Pauschalzahlungen und die Abschaffung der niedrigsten Löhne o Eine der größten Hürden in diesem Prozess ist die Kundenseite (in diesem Fall die einzelnen Krankenhäuser des staatlichen Gesundheitsdienstes), weil sie die Verallgemeinerung der Lohnvereinbarungen verzögern kann 2. Sicherheitssektor o Von manchen Arbeitgebern gibt es Unterstützung für einen branchenbezogenen Mindestlohn, um einen allein auf Kostensenkung orientierten Wettbewerb um Aufträge einzudämmen o In der Betriebsfallstudie war der Erfolg in der Aufrechterhaltung und Vergrößerung des Unterschieds zwischen den niedrigsten Löhnen und dem NMW gemischt o Ein kundenbezogenes System von Lohnverhandlungen bedeutet, dass manche Kunden Fortbildungen und eine höhere Entlohnung unterstützen, die meisten jedoch auf niedrige Kosten setzen o Trotz einer sehr stark auf die Verbesserung der Lage von Niedriglohnbeschäftigten fokussierten Strategie war die Gewerkschaft nur begrenzt erfolgreich dabei, die einzelbetriebliche Lohnregelung auf mehrere Kundenunternehmen zu übertragen. o Die Erhöhung des gewerkschaftlichen Organisationsgrades ist ein zentraler Ansatzpunkt für die Strategie der Gewerkschaft, die Situation von Niedriglohnbeschäftigten zu verbessern. 3. Einzelhandel o Die Gewerkschaft wurde vom Arbeitgeber dabei unterstützt, die Entlohnung junger Beschäftigter deutlich zu verbessern o Bei Erwachsenen sind die Unterschiede zwischen der niedrigsten Löhnen und dem NMW kleiner geworden und der niedrigste Lohn liegt deutlich unter der Niedriglohnschwelle aller Beschäftigten in Großbritannien o Die Niedriglohnstrategie der Gewerkschaft konzentriert sich hauptsächlich auf Vereinbarungen, die den unteren Lohnbereich betreffen – wie etwa die Abschaffung der untersten Lohngruppen o Die Firma hat Verringerungen der Prämien für unregelmäßige Arbeitsstunden und die Abschaffung der Überstundenbezahlung ausgehandelt. Themen für Politik und Praxis die absolut niedrigsten Löhne und verkleinern die Lohnunterschiede ganz unten, tragen aber nicht dazu bei, Beschäftigte durch eine höhere Bezahlung aus dem Niedriglohnsektor herauszuholen. Außerdem konterkariert die sinkende Tarifbindung die Steigerungen des Mindestlohns, indem ein wichtiges institutionelles Instrument geschwächt wird, das zur Verringerung der Lohnunterschiede beigetragen hat. Die meisten Beschäftigten im privaten Sektor sind nach unten nur durch den gesetzlichen Mindestlohn geschützt. Viele Beschäftigte in Niedriglohnbranchen profitieren nicht von Lohnvereinbarungen, die typischerweise in kollektiven Verhandlungen festgelegt werden. Schließlich sind Niedriglohnjobs im Bereich unternehmensbezogener Dienstleistungen wie zum Beispiel Reinigung und Sicherheit in erheblichem Maße abhängig der Bereitschaft der Kundenunternehmen, angemessene Preise für die vertraglichen Leistungen zu bezahlen. Der besondere Fall der ausgelagerten Reinigungsdienste im staatlichen Gesundheitsdienst demonstriert, wie der Lohnstandard in einer Branche auch ohne übertriebenen Wettbewerb funktionieren kann. In anderen Bereichen der Wirtschaft behindert der Fokus der Kunden auf Kostensenkung die Bemühungen von Arbeitgebern (und Gewerkschaften), Löhne und Qualifikationen zu verbessern, was die Anstrengungen, auf Verbesserungen bezüglich des NMW aufzubauen, zurückwirft. Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen Beziehungen in Deutschland Gerhard Bosch und Claudia Weinkopf September 20102 ZUSAMMENFASSUNG Hintergründe Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Lohnspreizung in Deutschland stark zugenommen und der Niedriglohnsektor ist beträchtlich gewachsen. Dies betrifft sowohl Vollzeitals auch Teilzeitkräfte (sowie Beschäftigte in Minijobs). Von Niedriglöhnen betroffen sind nicht nur spezifische Personengruppen wie zum Beispiel Jüngere oder niedrig Qualifizierte, sondern zunehmend auch die mittleren Altersgruppen und qualifizierte Beschäftigte. Die Lohnunterschiede zwischen großen und kleineren Unternehmen sowie zwischen den Branchen, die mehr oder weniger an Tarifvereinbarungen gebunden sind, sind gewachsen. Der Grund dafür ist, dass das deutsche Tarifsystem, das immer schon anfällig für Außenseiterkonkurrenz war, durch Interventionen der Politik weiter geschwächt worden ist. Um ein weiteres Wachstum des Niedriglohnsektors und eine fortschreitende Fragmentierung des Lohnspektrums zu verhindern, ist in den letzten Jahren ein Kurswechsel erwogen worden – insbesondere die Einführung von Mindestlöhnen. Neue Gesetze für Mindestlöhne... Die Einführung eines nationalen gesetzlichen Mindestlohns, wie in den anderen vier Ländern in dieser komparativen Studie, wird bis jetzt abgelehnt. 2005 formulierte die damalige Große Koalition einen recht komplizierten Kompromiss zu Mindestlöhnen mit zwei Hauptlinien für branchenspezifische Mindestlöhne: o In Tarifverträgen vereinbarte Mindestlöhne auf Branchenebene können auf Antrag beider Sozialpartner für allgemeinverbindlich erklärt werden; o Eine Reform des 1952 formulierten Mindestarbeitsbedingungengesetzes kann auf Branchen ohne Tarifverträge angewendet werden, um auch diesen die Möglichkeit einer Einführung von Mindestlöhnen zu geben. Nur die erste Möglichkeit wurde bisher in einigen Branchen genutzt, in denen sich die Sozialpartner in Tarifverhandlungen auf einen Mindestlohn geeinigt haben. Es gibt jedoch eine Reihe von Stolpersteinen. Manche der neu vereinbarten Mindestlöhne sind sehr niedrig, weil ‚arbeitgeberfreundliche Gewerkschaften’ einen Tarifabschluss mit niedrigen Löhnen unterzeichneten. Außerdem gibt es in vielen Niedriglohnbranchen keine Mindestlöhne, weil die Sozialpartner sich nicht einigen konnten. Zudem ist der Prozess der Umsetzung, selbst dort wo die Sozialpartner erfolgreich Mindestlohnabkommen für die Branche zugestimmt haben, schwierig und zeitaufwändig. Zudem sind die Sozialpartner mit ‚feindlichen’ politischen Interventionen der derzeitigen Bundesregierung und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) konfrontiert, die verhindern wollen, dass Mindestlöhne für allgemeinverbindlich erklärt werden. Letztlich könnte das 2 Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. Nebeneinander unterschiedlich hoher Mindestlöhne in verschiedenen Branchen in Kombination mit einer mangelnden Kenntnis des tatsächlichen Lohnniveaus in Zukunft zu Problemen mit der Einhaltung und Kontrolle führen. Die Durchsetzung eines einheitlichen und wohlbekannten staatlichen Standards wäre zweifellos leichter. ...aber noch ein steiniger Weg Die Analyse der Hürden auf dem Weg zur Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne in Deutschland in den letzten Jahren zeigt ziemlich eindeutig, dass der eingeschlagene Weg ein sehr steiniger ist. Die bestehenden institutionellen Mechanismen zur Einführung branchenspezifischer Mindestlöhne eröffnen der Politik, den Arbeitgebern und den konkurrierenden Gewerkschaften zahlreiche beabsichtigte und unbeabsichtigte Möglichkeiten, ihre praktische Umsetzung zu blockieren. Mindestlöhne in Deutschland sind somit nur sehr schleppend zu realisieren – ein Flickenteppich verschiedener Mindestlöhne in Kombination mit großen unregulierten Zonen in der Lohnpolitik ohne bindende Mindeststandards wird in der nahen und mittelfristigen Zukunft das Ergebnis sein. Mindestlohn, Tarifverhandlungen und ‚ripple effects’ („Welleneffekte“) in ausgewählten Branchen Die Studie präsentiert die Grundzüge der Interaktion zwischen Entwicklungen in branchenspezifischen Mindestlöhnen, Lohnstrukturen und sozialem Dialog in drei ausgewählten Branchen: Reinigung, Baugewerbe und Leiharbeit. Die Hauptergebnisse basieren auf relevanten Dokumenten (relevante Gesetzgebung, Tarifvereinbarungen) und Interviews mit Gewerkschaftsund Arbeitnehmervertretern. In den Branchen, in denen die Sozialpartner einen Mindestlohn vereinbart haben, wurden die Tarifverhandlungen gestärkt. Mindestlöhne werden als Teil des tariflichen ‚wage grid’ in den Branchen verhandelt. Jede Steigerung des Mindestlohns hebt automatisch auch die Löhne in den höheren Lohngruppen an, zumindest in den Betrieben, die tariflich gebunden sind. Die Beschaffenheit und Stärke dieses ‚ripple effects’ („Welleneffekts“) der branchenspezifischen Mindestlöhne hängt jedoch erstens von der Einhaltung der Tarifabschlüsse innerhalb der Firmen, zweitens vom Grad der Tarifbindung und drittens von der Qualifikationsstruktur innerhalb der Branchen ab. In der Praxis ist es schwierig, den Einfluss dieser drei Effekte voneinander zu trennen, denn wir wissen nicht von allen Branchen, ob die Beschäftigten nur den Mindestlohn erhalten, weil dies ihrer Tätigkeit entspricht oder weil die Firma nicht tarifgebunden ist oder weil die Beschäftigten nicht korrekt gemäß ihrer Jobanforderungen und Fähigkeiten in der Lohnskala eingestuft wurden. Die empirischen Ergebnisse für das Baugewerbe zeigen deutlich, dass die Einhaltung des ganzen tariflichen ‚wage grid’ in Westdeutschland hoch, in Ostdeutschland jedoch sehr niedrig ist. Hier ist der Mindestlohn in der Regel der Standardlohn. Somit ist der ‘ripple effect’ („Welleneffekt“) in Westdeutschland hoch, vor allem durch die hohe Tarifbindung, und niedrig in Ostdeutschland. Dies erklärt auch die unterschiedlichen Verhaltensweisen der ost- und westdeutschen Arbeitgebervertreter in den Tarifverhandlungen. Unsere Interviewpartner haben berichtet, dass die westdeutschen Arbeitgeber vor allem an den Verhandlungen über die tariflichen Löhne interessiert sind, während die ostdeutschen Arbeitgeber nur auf die Höhe des Mindestlohns achten. In der Reinigungsbranche werden die meisten Beschäftigten nur nach Mindestlohn bezahlt. Der Grund dafür ist, dass die meisten Jobs ein eher niedriges Qualifikationsniveau haben. Eine ähnliche Situation würde sich in der Zeitarbeitsbranche ergeben, wenn auch hier Mindestlöhne eingeführt würden. Vorliegenden Informationen zufolge werden viele qualifizierte Beschäftige in der Zeitarbeitsbranche nicht ihrer Qualifikation entsprechend bezahlt, sondern auf dem Niveau für niedrig qualifizierte Arbeiten. Schlussfolgerungen o Die Größe des ‚ripple effects’ („Welleneffektes“) des branchenspezifischen Mindestlohns auf das tarifliche ‚wage grid’ variiert stark zwischen den verschiedenen Branchen. Er ist stark in Branchen mit hoher Tarifbindung und einem großen Anteil qualifizierter Beschäftigter. o Mindestlöhne sind bisher nur in Branchen eingeführt worden, in denen Tarifverhandlungen bereits langjährig etabliert sind oder sich in den letzten Jahren entwickelt haben. In den Branchen, in denen sich Tarifverhandlungen erst kürzlich durch die Verhandlungen zu Mindestlohn entwickelt haben, könnte sich der Einfluss auf das gesamte ‚wage grid’ und Tarifverhandlungen mit der Zeit erhöhen. o Branchen mit schwachen oder fragmentierten Tarifverträgen haben bisher noch keine Mindestlöhne eingeführt. In solchen Branchen würden wir einen ‚allein stehenden’ Mindestlohn erwarten – ohne andere Tarifabschlüsse, die mit den Mindeststandards in Verbindung gebracht werden könnten. Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen Beziehungen in Kroatien Danijel Nestić und Ivana Rašić Bakarić September 20103 ZUSAMMENFASSUNG Im Jahr 2008 führte Kroatien ein neues Mindestlohngesetz ein, welches das vorherige System der Mindestlohnregulierung, das auf der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen basierte, ablöste. Das Gesetz hob das Niveau des Mindestlohns an, führte einen niedrigeren Mindestlohnsatz für arbeitsintensive Branchen ein und etablierte eine spezifische Formel für die jährliche Anhebung des Mindestlohnes . Zusätzlich wurde durch eine neue gesetzliche Regulierung versucht, die Durchsetzung des Mindestlohnes zu verbessern. Allerdings war die Umsetzung des Gesetzes nicht unumstritten. Vor allem hinsichtlich der jährlichen Anpassungsformel waren sich die Sozialpartner nicht einig. Die Bemühungen zur Festlegung eines präzisen Anpassungsmechanismus haben Beratungsmechanismen und den sozialen Dialog verdrängt und das Vertrauen zwischen den Sozialpartnern geschwächt. Die Studie untersucht in diesem Kontext die weitreichenden Auswirkungen des neuen Regulierungssystems für Mindestlöhne auf die industriellen Beziehungen und vice versa. Sie konzentriert sich auf die Entwicklungen in den Tarifverhandlungen dreier Branchen – Baugewerbe, Bekleidungsindustrie und Einzelhandel. Die empirischen Erhebungen beinhalteten Interviews mit Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern sowie zentralen Personen aus Regierungsgremien, die verantwortlich für die Verbesserung des sozialen Dialogs sind. Außerdem wurden Lohndaten in Tarifverträgen gesammelt und ausgewertet. Mindestlohnstrategie und Lohntrends Der Mindestlohn in Kroatien wird definiert als monatlicher Betrag, der die Vergütung von Vollzeitarbeit betrifft. Das neue Gesetz von 2008 enthält eine temporäre Ausnahmeregelung – namentlich einen geringeren Mindestlohn, der für die Textil-, Bekleidungs- Holzverarbeitungs- und Lederindustrie gilt. In der Zeit zwischen 1998 und 2007 wurde der Mindestlohn an einem relativen Niveau festgemacht; dem KaitzIndex (der den Mindestlohn in Relation zum Durchschnittslohn der Gesamtwirtschaft misst), und der um 33% schwankte. Dies änderte sich 2008 mit der neuen Regelung. Das relative Niveau des Mindestlohns stieg zwischen 2008 und 2009 auf ungefähr 36%. Die Zahl der Mindestlohnbeschäftigten stieg im Ergebnis von geschätzten 3% der Beschäftigten vor 2008 auf aktuell etwa 5%. Die Häufigkeit von Mindestlöhnen ist bei Frauen, Jüngeren, Niedrigqualifizierten und solchen mit befristeten Verträgen höher als in anderen Gruppen. Interaktionen mit dem System industrieller Beziehungen Die Praxis der Tarifverhandlungen entwickelt sich langsam, ungeachtet der scheinbar robusten institutionellen Regulierung. Tripartistischer sozialer Dialog auf nationaler 3 Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. Ebene ist effektiv und sein Einfluss auf die Regelwerke ist spürbar. Zweigliedriger sozialer Dialog ist allerdings sehr viel weniger wirkungsvoll. Er findet meist auf Firmenebene statt und ist gerade in kleinen Firmen sehr schwach. Es gibt wenige Vereinbarungen auf Branchenebene außerhalb des öffentlichen Sektors. Für die Wirtschaft als Ganzes ist der Anteil von Beschäftigten, deren Lohn auf Tarifverträgen beruht, ziemlich hoch – schätzungsweise bei 60% insgesamt, mit 70% im öffentlichen Sektor und 40% im privaten Sektor. Diese hohen Werte resultieren vor allem daraus, dass die Regierung die Tarifverträge in vielen Branchen für allgemeinverbindlich erklärt hat. Der Anteil der Beschäftigten, die Mitglied einer Gewerkschaft sind, wird auf 34% geschätzt (mit nur 17% im privaten Sektor) und ist tendenziell rückläufig. Schwächen im Verhandlungsprozess resultieren aus einer Tradition von konfliktreichen Beziehungen auf der einen Seite und auf der anderen Seite rechtlichen Rahmenbedingungen, der Anreize für Aktivitäten der Sozialpartner auf zahlreichen Ebenen reduziert. Spezielle Probleme resultieren aus der weit verbreiteten Nutzung von Ausweitungsmechanismen (Ausweitung der Verträge auf alle Beschäftigten in einer Firma oder auf alle Firmen in einer Branche) und daraus, dass wichtige Regelungen auch nach Auslaufen von Tarifverträgen nachwirken. Der Mindestlohn und sozialer Dialog in drei Branchen Diese Länderstudie erläutert die Hauptmerkmale der Wechselwirkungen zwischen dem sich ändernden gesetzlichen Mindestlohn, den in Tarifverhandlungen festgelegten Strukturen und der Beschaffenheit des sozialen Dialogs in drei ausgewählten Branchen: Baugewerbe, Bekleidungsindustrie und Einzelhandel. Die Ergebnisse basieren auf Dokumenten (relevante Gesetzgebung, Tarifverträge) und Interviews mit Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern. Baugewerbe o Es gibt einen Tarifvertrag auf Branchenebene, der regelmäßig aktualisiert wird. Er ist mit der Unterstützung beider Sozialpartner für allgemeinverbindlich erklärt worden, was offenbar zur Verdrängung firmeninterner Verhandlungen führt. o Der branchenweite Tarifvertrag setzt den niedrigsten Basislohn auf dem Niveau des gesetzlichen Mindestlohns an. o Die Praxis der Ergänzung des Basislohns durch eine Vielzahl von Zusatzleistungen (Senioritätsprämien, Zuschläge für schwierige oder gefährliche Arbeit, etc.) erhöht den Gesamtlohn um 30-60%. o Der Anteil der Beschäftigten mit Mindestlohn ist relativ klein, hat sich jedoch in der Wirtschaftskrise vergrößert. o Es gibt eine weit verbreitete Praxis von inoffiziellen Zusatzzahlungen (‚Umschlaglöhnen‘) in kleinen Baufirmen. o Sowohl Gewerkschafts- als auch Arbeitgebervertreter berichten von erheblichen Stellenverlusten und Lohnkürzungen in der Rezession, obwohl die Regelungen und Bedingungen aus dem branchenweiten Tarifvertrag beibehalten wurden; Arbeitgeber geben an, Löhne nicht unter das tariflich geregelte Niveau gekürzt zu haben. Bekleidungsindustrie o Es existiert kein branchenweiter Tarifvertrag. o Der soziale Dialog hat sich relativ gut entwickelt, teils dank einer gemeinsamen Anstrengung zur Lobbyarbeit in der Regierung. o Die Gewerkschaft bevorzugt Verträge auf Firmenebene als beste Möglichkeit zur Anpassung von Löhnen und Arbeitsbedingungen an die spezifische Situation sowie zur bestmöglichen Absicherung der Beschäftigten. o Der Standardlohn im Tarifvertrag der in der Fallstudie untersuchten Firma liegt mit fast 40% erheblich unter dem gesetzlichen Mindestlohn, jedoch erhalten die Beschäftigten noch eine Zusatzleistung, die auf einem Leistungskoeffizient und dem Dienstalter basiert. o Der Anteil der Beschäftigten mit Mindestlohn ist in der im Rahmen der Studie untersuchen Firma mit etwa 25% hoch. Viele der Beschäftigten erfüllen die üblichen Leistungsanforderungen, jedoch ist ihr Basislohn so niedrig, dass ihr Arbeitsentgelt noch immer unter die Mindestlohngrenze fällt und die Firma es deshalb aufstocken muss. Einzelhandel o Die Erfahrungen mit dem sozialen Dialog im Einzelhandelssektor sind gemischt, mit erfolgreichen Partnerschaften in manchen Firmen und der Unterdrückung von Gewerkschaften in anderen. o Ein Tarifvertrag auf Branchenebene wurde 1998 abgeschlossen, 2005 ergänzt und auf alle Firmen im Sektor ausgeweitet. Es gibt eine kleine Zahl von Tarifverträgen auf Firmenebene. o Gewerkschaftsvertreter beklagen, dass es mit der Implementierung des Branchentarifvertrags Probleme gebe, obwohl er nur einen relativ niedrigen Schutz bietet. Besondere Schwierigkeiten werden in der Praxis unbezahlter Überstunden gesehen. o Der niedrigste Basislohn für die einfachsten Arbeiten im Branchentarifvertrag liegt mehr als 40% unter dem gesetzlichen Mindestlohn und die Kluft ist in der letzten Dekade größer geworden. Wie in der Bekleidungsindustrie füllen verschiedene Zusatzleistungen die Lücke, wie zum Beispiel Prämien, die sich am Dienstalter orientieren, für unregelmäßige Arbeitszeiten etc. o Die Zahl der Beschäftigten mit Mindestlohn ist immer noch eher niedrig, zumindest in größeren Firmen. Diskussion der Schlüsselergebnisse Die Regulierungs- und Produktmarktbedingungen haben in allen drei Branchen großen Einfluss auf die Beschaffenheit und Qualität des sozialen Dialogs auf der Branchenund Firmenebene. Im Baugewerbe und im Einzelhandel gibt es eine starke Inlandskonkurrenz zwischen einer kleinen Zahl führender Firmen. Branchenstandards werden durch einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag auf Branchenebene festgesetzt. Jedoch bieten diese Tarifverträge im Vergleich zum gesetzlichen Mindestlohn nur eine begrenzte Verbesserung der Gehälter und Arbeitsbedingungen für die Niedrigstbezahlten. Dies liegt u.a. am Misstrauen der Arbeitgeber hinsichtlich einer als unflexibel empfundenen Gesetzgebung und daran, dass die industriellen Beziehungen konfliktreich sind. Umstritten ist, inwiefern die gegenwärtig starke Bedeutung gesetzlicher Interventionen bezogen auf Löhne und Beschäftigung die Spielräume für Verbesserungen im Rahmen von Lohnverhandlungen schmälert. Allerdings untergräbt die gesetzliche Mindestlohnregelung nach Ansicht sowohl der Gewerkschafts- als auch der Arbeitgebervertreter nicht den Antrieb für Tarifverhandlungen. Ein größeres Problem ist die Notwendigkeit, die Durchsetzung der gesetzlichen und tariflichen Bedingungen zu verbessern. In der gegenwärtigen Krise sind Beschäftigte und Gewerkschaften bereit, flexiblere Vereinbarungen zu akzeptieren, um Jobs zu sichern – und solche Kompromisse werden zur Zeit auf der Firmenebene verhandelt. Die Rezession hat die Wichtigkeit des Mindestlohns erhöht, besonders in der Bekleidungsindustrie. Arbeitgeber argumentieren, dass sie einem starken gesetzlichen Druck ausgesetzt sind, mehr für einfachste Tätigkeiten zu bezahlen, gleichzeitig jedoch mit Billigproduzenten auf der ganzen Welt konkurrieren müssen. Sie fordern weitere Maßnahmen durch die Regierung wie zum Beispiel die Reduzierung der Sozialabgaben für Mindestlohnbeschäftigte und die Einführung von Steuergutschriften sowie Einkommensbeihilfen. Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen Beziehungen in Spanien Josep Banyuls, Ernest Cano and Empar Aguado September 20104 ZUSAMMENFASSUNG Der Mindestlohn hat traditionell eine marginale Rolle auf dem spanischen Arbeitsmarkt und in dessen Modell industrieller Beziehungen gespielt. Seit seiner Einführung wurde er eher als Teil der Sozialpolitik und Instrument makroökonomischer Strategie wahrgenommen denn als eine Form von Arbeitsmarkintervention. Auch für die Sozialpartner hat er nur eine sekundäre Rolle in ihren Strategien zur Entgeltgerechtigkeit gespielt. Allerdings haben die Steigerungen des relativen Mindestlohnniveaus zwischen 2005 und 2009 die Debatte über seine Rolle auf dem Arbeitsmarkt reanimiert, insbesondere über seine potentiell negativen Effekte auf die Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese jüngsten Entwicklungen werfen zudem Fragen auf, die sich auf seine Auswirkungen auf den sozialen Dialog, auf Tarifverhandlungen sowie Trends bezüglich der Lohnstrukturen beziehen. Dieser Bericht zielt darauf, die Wechselwirkungen zwischen dem derzeitigen Mindestlohnsystem und dem Modell industrieller Beziehungen in Spanien in den Blick zu nehmen. Im Einzelnen werden die Auswirkungen der Verhandlungsstrategien von Gewerkschaften, Arbeitgebern und Regierung sowie Trends in den Lohnstrukturen im Niedriglohnsektor analysiert. Mindestlohnstrategien und Lohntrends Ein gesetzlicher Mindestlohn wurde in Spanien erstmals im Jahr 1963 eingeführt. Von Anfang an wurde er vor allem als Instrument der Sozialpolitik angesehen und eine Reihe von Sozialleistungen wurde mit einem Index an ihn gekoppelt. Im Jahr 2004 wurde die Verbindung zu Sozialleistungen von der Regierung abgeschafft und sie proklamierte als neues politisches Ziel die Anhebung des Mindestlohnniveaus. Insofern markiert das Jahr 2004 den Beginn einer neuen Phase. Die neu gewählte sozialdemokratische Regierung stellte eine Reihe von Gesetzen vor, um die niedrigsten Einkommen zu verbessern und den sozialen Zusammenhalt zu stärken. Darunter waren die Anhebung beitragsfreier Renten und das mittelfristige Ziel, den Mindestlohn auf ein Niveau entsprechend 60% des Durchschnittslohns anzuheben, wie es in der Europäischen Sozialcharta empfohlen wird. Die negativen Effekte auf die Sozialausgaben wurden durch die Entscheidung minimiert, einen alternativen Richtwertindikator für Sozialtransfers einzuführen – den öffentlichen MehrzweckEinkommensindikator (IPREM). Seit 2004 hat der Mindestlohn deshalb ausschließlich als Arbeitsmarktintervention funktioniert und seine Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind direkt mit seiner Höhe, Verbreitung und Durchsetzung verbunden. 4 Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. Die Auswirkungen der jüngsten Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns sind im steigenden Wert des Kaitz-Index (dem Verhältnis zwischen Mindestlohn und Durchschnittseinkommen) des Landes sichtbar. Daten für die Periode zwischen 2002 und 2007 aus dem Lohnstrukturgutachten deuten einen Anstieg von 31% auf 39% an. Die Schnittmenge mit dem spanischen Modell industrieller Beziehungen Das Modell industrieller Beziehungen in Spanien verfügt über einige spezifische Besonderheiten, denen man Beachtung schenken muss, um die möglichen Effekte des Mindestlohns auf die Tarifverhandlungen besser zu verstehen. Einer der wichtigsten Aspekte ist seine Vielfältigkeit. Eine stark fragmentierte Tarifstruktur generiert eine sehr hohe Anzahl von Lohnabkommen. Die Verträge sind gemäß verschiedener Funktionen (Firma oder Branche) und der regionalen Reichweite (Ort, Provinz, autonome Region, multiple Region und national) strukturiert. Neben den Branchenvereinbarungen gibt es auch eine große Zahl von Verträgen auf Firmenebene. Die Abstimmung zwischen den verschiedenen Verhandlungsebenen ist komplex, häufig schwach und widersprüchlich. In diesem Kontext gibt es eine Vielzahl von Lohn- und Arbeitsbedingungen, sogar innerhalb einer Branche, die zu vielen fragmentierten und unkoordinierten Tarifverträgen führt. In diesem Kontext könnte ein steigender Mindestlohn potenziell einen positiven Beitrag zu Entgeltgerechtigkeit leisten, indem die Lohnuntergrenze erhöht und das geschlechtsspezifische Lohngefälle verkleinert wird. Der Mindestlohn, Tarifverhandlungen und Lohnniveaus in drei Branchen Die Analyse von drei verschiedenen Niedriglohnbranchen – Einzelhandel, Gastgewerbe und Reinigungsbranche – deutet darauf hin, dass der steigende Mindestlohn bisher keine spürbaren Effekte auf Strategien und Praxis der Sozialpartner in den Tarifverhandlungen oder die Lohnstruktur der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen hatte. Die Entwicklung der Löhne in den untersuchten Branchen ist bis zu einem gewissen Grad einer branchenspezifischen Dynamik gefolgt, die aus Inflationstrends und landesüblichen Praktiken, die sich in den Tarifverhandlungen bereits verfestigt haben, resultiert. Die Sozialpartner scheinen sich dem Anstieg des Mindestlohns zwischen 2005 und 2009 nicht angepasst zu haben. Eine Erklärung hierfür ist, dass der Mindestlohn im Vergleich zu den in den Tarifverhandlungen vereinbarten Mindestsätzen nach wie vor ein relativ niedriges Niveau hat. Dies ist der Grund dafür, dass der Mindestlohn in den drei untersuchten Branchen bislang offenbar keinen ‚ripple effect’ („Welleneffekt“) auf niedrige Löhne entfaltet hat. Zudem weisen unsere Daten darauf hin, dass es keine Veränderungen in den Lohnunterschieden zwischen tariflichen Tätigkeitsgruppen gegeben hat. Eine zweite Erklärung ist, dass die spanische Regierung, im Gegensatz zu anderen Ländern wie zum Beispiel Großbritannien, weniger Gebrauch von staatlichen Einkommenszuschüssen für Niedriglohnbeschäftigte macht. Von daher gibt es wesentlich stärkeren Druck auf soziale Akteure, die Löhne auf einem Niveau zu halten, das vereinbar mit der Höhe des Mindesteinkommensniveaus ist. Die Kluft zwischen dem gesetzlichen Mindestlohn und der tariflichen Lohnuntergrenze für Reinigungskräfte, Verkäufer und Kellner liegt in der Region Valencia zum Beispiel zwischen 35 und 50% - und damit erheblich höher als in den anderen Ländern, die in unserer Vergleichsstudie untersucht wurden. Vor diesem Hintergrund scheint der Mindestlohn noch immer ein sehr schwacher politischer Hebel zu sein, um die Entgeltgerechtigkeit und Tarifverhandlungsstrategien zu beeinflussen. Faktoren, die einen größeren Einfluss auf Lohnfindung und Entgeltgerechtigkeit in diesen Niedriglohnbranchen haben, sind erstens die Beschaffenheit des Wettbewerbs auf den Produktmärkten. In allen drei Branchen sind die Firmen mit einem intensiven Preiswettbewerb konfrontiert, der wiederum den Druck zur Lohnmäßigung und -senkung erhöht. Zwei weitere zusammenhängende Faktoren sind zum einen die mangelnde Anerkennung von Qualifikationen und zum anderen die Tatsache, dass die Branchen weiblich dominiert sind. Die Unterbewertung sowohl der Qualifikationen von Frauen als auch von Tätigkeiten mit hohem Frauenanteil scheint die Legitimation niedriger Löhne zu untermauern. Ein abschließender Faktor bezieht sich darauf, dass das spanische Modell industrieller Beziehungen stark fragmentiert ist. Es gibt Unterschiede in den Tarifverhandlungen zwischen den Branchen und innerhalb der Branchen sowie in regionaler Hinsicht. Ohne Koordination und Fortschritt im sozialen Dialog über ‚Brot und Butter-Themen’ hinaus ist es innerhalb dieser Gegebenheiten schwierig, durch die Entwicklung und Umsetzung von Interventionen in Kombination mit einem steigenden Mindestlohn dazu beizutragen, mehr Entgeltgerechtigkeit zu befördern. Das Mindestlohnsystem und die sich ändernden industriellen Beziehungen in Ungarn László Neumann September 20105 ZUSAMMENFASSUNG Hintergrund Ungarn führte 1991 für alle Beschäftigten einen gesetzlichen Mindestlohn ein. Der Mindestlohn ist also ungefähr so alt ist wie der Rest der Institutionen (Arbeitslosengeld, staatliche Arbeitsvermittlung, Abfindung, Reformen im Arbeitsrecht etc.), die zur Zeit des Übergangs aus dem staatlichen Sozialismus zur Marktwirtschaft geschaffen worden sind. Die Terminierung der Einführung des Mindestlohns ist außerdem insofern interessant, als dass sie zur gleichen Zeit stattfand, als frühere zentralistische administrative Einschränkungen der Löhne nach und nach aufgehoben wurden und die zentralisierte Lohnbestimmung durch freie Lohnverhandlungen ersetzt wurde. Neue Institutionen für den nationalen sozialen Dialog wie zum Beispiel der dreigliedrige Nationale Interessen Schlichtungsrat (Országos Érdekegyeztető Tanács (OÉT) wurden eingerichtet, um die neuen Lohnvereinbarungsprozesse zu moderieren. Die wichtigste Funktion des OÉT ist die Bestimmung der jährlichen Rate für den Mindestlohn durch einen Konsens zwischen Sozialpartnern und Regierung. Veränderungen im Mindestlohnsystem und im sozialen Dialog In den letzten zwei Dekaden haben in Ungarn grundlegende Entwicklungen im Mindestlohns und den damit verbundenen Prozessen im sozialen Dialog stattgefunden. Während der 1990er Jahre stieg der gesetzliche Mindestlohn mit einer langsamen und gleichmäßigen Steigerungsrate ungefähr proportional zur Inflationsrate. In den Jahren 2000 und 2001 entschied sich die damalige Mitte-RechtsRegierung dann für den radikalen Schritt, den Mindestlohn praktisch zu verdoppeln – was auch als ‚Mindestlohn-Schock’ bezeichnet wird. Zur gleichen Zeit untergrub sie den dreigliedrigen Verhandlungsprozess, indem sie eine neue einseitige Regierungskompetenz einführte, um den Mindestlohn zu bestimmen. Im Jahr 2002 übernahm dann eine sozial-liberale Koalition die Regierung und führte das dreigliedrige Prozedere wieder ein. Jedoch überprüfte das Verfassungsgericht in den Jahren 2008/09 die Berechtigung der Sozialpartner, an der vorbereitenden Gesetzgebung zum Mindestlohn mitzuwirken, und entschied, dass dies mit der Verfassung unvereinbar sei. Mitbestimmungsrechte und die Konsensprozedur innerhalb der OÈT sind daraufhin formal widerrufen worden. Eine letzte Entwicklung betrifft die Einführung eines separaten Mindestlohns für qualifizierte Beschäftigte im Jahr 2006, was zu einem zweigleisigen System von Mindestlöhnen geführt hat. Das Niveau und die schlichte Existenz des Mindestlohns sind Quelle erbitterter Dispute zwischen den Sozialpartnern gewesen. Gewerkschaften fordern ein höheres Niveau – in dem Sinne, dass der Mindestlohn entweder mit dem Existenzminimum 5 Vorbereitet für das EWERC Forschungsprojekt ‘Mindestlohnsysteme und sich ändernde industrielle Beziehungen in Europa’ VS/2009/0159 (EWERC, Universität Manchester) für die Europäische Kommission, GD Beschäftigung, Soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit. gleichziehen müsse oder mit der von der Europäischen Sozialcharta empfohlenen Höhe (60% des Durchschnittslohns). In den letzten Jahren haben sich die Gewerkschaften erfolgreich für einen eigenen gesetzlichen Mindestlohn für qualifizierte Beschäftigte eingesetzt, um dem schwachen Schutz derjenigen entgegenzuwirken, die in Firmen arbeiten, die nicht tariflich gebunden sind. Für ihren Teil kämpfen die Arbeitgeber für stärker begrenzte Erhöhungen des gesetzlichen Mindestlohns und haben im Zuge der Rezession vorgeschlagen, den Mindestlohn nicht zu erhöhen, um Jobs und die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. Ein weiterer Akteur in der Debatte sind Mainstream-Ökonomen, die zuletzt die Abschaffung des Mindestlohns gefordert haben mit der Begründung, dass dies die Konkurrenzfähigkeit wiederherstellen, Jobs schaffen und die durch Löhne angeheizte Inflation begrenzen würde. Diese starke Behauptung folgt größtenteils der Erfahrung mit dem Mindestlohn-Schock von 2000/2001, der einen generellen Anstieg der Löhne, makroökonomische Ungleichgewichte und strenge Sparmaßnahmen zur Folge hatte. Schließlich hat auch die Regierung eine gemischte Meinung zu den konkurrierenden ökonomischen Wirkungen. Sie teilt die Befürchtungen der Arbeitgeber hinsichtlich der Konkurrenzfähigkeit und Inflation und hat ein Interesse daran, den Anstieg der Mindestlöhne zu dämpfen, da hieran die Ausgaben für verschiedene Sozialleistungen gekoppelt sind. Trotzdem argumentiert sie auch dafür, dass Bedarf besteht, den Mindestlohn einzusetzen, um die Schattenwirtschaft einzudämmen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Arbeitgeber vorgeben, ihren Beschäftigten den Mindestlohn zu zahlen, um Steuern zu sparen, ihnen aber tasächlich einen höheren (nicht angegebenen) Lohn auszahlen (so genannte ‚Umschlaglöhne’). Entgeltgerechtigkeitseffekte Der Mindestlohn ist in Ungarn relativ niedrig angesetzt. Bis zu den radikalen Erhöhungen in den Jahren 2000 und 2001 lag der Kaitz-Index bei gerade einmal 29% (der Mindestlohn als Prozentsatz des Durchschnittsbruttolohns). Das Niveau stieg bis 2002 auf 41%, ist aber seither sporadisch gefallen und wurde 2009 auf 36% beziffert. Die Lohnverteilung von 2008 zeigt eine klare Doppelspitze beim doppelten Mindestlohn (was die minimalen Aufwendungen für Sozialabgaben widerspiegelt) und auf dem Niveau des höheren Mindestlohns für qualifizierte Beschäftigte. Manche Gruppen sind mit höherer Wahrscheinlichkeit in Mindestlohnbeschäftigung, darunter Frauen, Jüngere, gering Qualifizierte und diejenigen aus Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit. Der Mindestlohn und der soziale Dialog in drei Branchen Dieser Länderreport präsentiert die wesentlichen Merkmale der Interaktion zwischen den sich ändernden gesetzlichen Mindestlöhnen, Lohnverhandlungsstrukturen und der Beschaffenheit des sozialen Dialogs in drei ausgewählten Branchen – Einzelhandel, Baugewerbe und private Sicherheitsdienstleistungen. In allen drei Branchen gibt es einen hohen Anteil an kleinen und mittelgroßen Firmen, der gewerkschaftliche Organisationsgrad ist gering, unstetige Beschäftigung ist verbreitet und Schwarzarbeit sowie inoffizielle Zahlungen (‚Umschlaglöhne‘) sind üblich. Die Ergebnisse basieren auf Dokumenten (relevanten Gesetzesvorschriften, kollektiven Vereinbarungen) und Interviews mit Gewerkschafts- und Arbeitnehmervertretern. Unterschiedliche Gehaltssicherung Erfahrungen mit Branchentarifverträgen und o Im Baugewerbe ist die erfolgreiche Aushandlung eines Branchentarifvertrags stark auf die Bemühungen der Regierung zurückzuführen, Schwarzarbeit zu bekämpfen, weshalb der Tarifvertrag auch sofort für allgemeinverbindlich erklärt wurde. Trotzdem weigerte sich im Jahr 2009 der Arbeitgeberverband, den Tarifvertrag neu zu verhandeln, und stimmte für 2010 lediglich einer Anpassung der Löhne entsprechend dem Anstieg des gesetzlichen Mindestlohns zu. o Im privaten Sicherheitsgewerbe sind sowohl die Arbeitgeberorganisation als auch die Gewerkschaft relativ neu und schwach, und ihre Legitimierung wird von rivalisierenden Organisationen (erwähnenswert die Kammer der Leibwächter, Schutz von Eigentum und Privatdetektive, die den Privileg einer verpflichtenden Mitgliedschaft genießen) in Frage gestellt. Obwohl ein Branchentarifvertrag zu Tariflöhnen abgeschlossen wurde, ist er noch vor seiner Ausweitung widerrufen worden. Es gibt also viele Löcher in der Lohnabsicherung. o Auch der Einzelhandel ist nur schwach durch Gewerkschaften organisiert, insbesondere weil diese in kleinen Unternehmen nur selten präsent sind. Weil die größte Arbeitgeberorganisation der Branche von ihren Mitgliedern nicht dazu autorisiert wurde, einen Tarifabschluss oder eine Lohnvereinbarung für die Branche zu treffen, beruht die Lohnpolitik der Gewerkschaft auf zwei Säulen: zum einen der Schaffung und Erhaltung bestmöglicher rechtlicher Bedingungen und zum anderen der Förderung der Koordination (und expliziter Unterstützung) dezentraler Lohnverhandlungen auf Firmenebene. Öffentliche Auftragsvergabe führt zu Kostensenkung o Baugewerbe und Sicherheitsbranche sind beide mit einem ähnlichem Marktumfeld konfrontiert: Preise werden als Konsequenz eines stark kostengetriebenen Wettbewerbs im Rahmen der öffentlichen Auftragsvergabe gedrückt o Private Sicherheitsfirmen werden dazu ermutigt, ihre Arbeit zu so niedrigen Preisen anzubieten, dass sie häufig die Kosten für den Mindestlohn oder die damit verbundenen Sozialabgaben nicht aufbringen können. Uneinheitliche Bedingungen und Probleme der Lohnabsicherung innerhalb der Branchen o Es gibt eine lange Kette von Subauftragnehmern im Bau- und im Sicherheitsgewerbe. Die Hauptauftragnehmer und großen Firmen zahlen höhere Löhne. Gewerkschaften werden nur von wenigen dieser Unternehmen anerkannt. o Im Sicherheitsgewerbe werden von Firmen häufig Stundenlöhne unterhalb des Mindestlohns gezahlt: Wachmänner zum Beispiel leisten in der Regel Bereitschaftsdienste, die eine Arbeitszeit von monatlich 240 Stunden erlauben, werden jedoch nur für 176 Stunden bezahlt. o Bis vor kurzem sah das Gewerbegesetz vor, dass Beschäftigte im Einzelhandel, die mit Konsumenten in Kontakt kommen (zum Beispiel Kassierer/innen), als qualifizierte Beschäftigte anzusehen seien. Einzelhandelsbeschäftigte profitierten also doppelt, sowohl von den großen Steigerungen des Mindestlohns in den Jahren 2001 und 2002 als auch von der Einführung eines Mindestlohns für Qualifizierte im Jahr 2006. Allerdings wurde kürzlich durch eine Gesetzesänderung diese Definition abgeschafft und legitimierte damit die früheren Bemühungen der Arbeitgeber, solche Jobs als teilqualifizierte oder ungelernten Tätigkeiten umzudefinieren.