Musik und Klangkultur 10 Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse - Perspektiven - Stile Bearbeitet von Daniel Siebert 1. Auflage 2014. Taschenbuch. XII, 228 S. Paperback ISBN 978 3 8376 2905 7 Format (B x L): 14,8 x 22,5 cm Gewicht: 368 g Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikwissenschaft Allgemein > Musikpsychologie, Musiksoziologie schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. Aus: Daniel Siebert Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse – Perspektiven – Stile Dezember 2014, 228 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2905-7 Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch wissenschaftlich interdisziplinär anwendbar und gewissermaßen ein »Zauberwort« für alle gesellschaftlichen Veränderungen der letzten 50 Jahre. Doch wie wird Globalisierung musikalisch erfahrbar und was ist im gegenwärtigen »Zeitalter der Globalisierung« das signifikant »Neue« bezogen auf die Entstehung kultureller Hybridformen? Anhand dreier musikalischer Beispiele unterschiedlicher Kontexte, Szenen und Stilhöhen geht Daniel Siebert einerseits den Differenzen nach, die sich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, und arbeitet andererseits szene- und subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung heraus. Daniel Siebert, Musikwissenschaftler und Soziologe, hat an der Universität zu Köln im Fach Musikwissenschaft promoviert. Weitere Informationen und Bestellung unter: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2905-7 © 2014 transcript Verlag, Bielefeld Inhalt Vorwort | I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“ | 1 2 3 4 5 6 7 8 Definitionen der Globalisierung | 12 Historische Verortung der Globalisierung | 14 Das „Zeitalter der Globalisierung“ | 16 Musik im Zeitalter der Globalisierung | 18 Gesellschaftliche Verortung der Globalisierung | 22 Modelle der kulturellen Globalisierung | 23 Forschungsstand: Musik und Globalisierung | 25 Gliederung, Relevanzen und Fragestellung | 28 8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 31 8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 32 8.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 35 8.4 Prozesse der Globalisierung | 37 8.5 Musikalische Fallbeispiele | 37 II Stockhausens Weltmusik | Stockhausens Texte zur Weltmusik | 45 TELEMUSIK und HYMNEN | 56 Musikalische Analyse: HYMNEN | 65 3.1 Anfang und „Internationale“ | 66 3.2 „Deutsches Zentrum“ | 69 1 2 3 4 5 III 1 2 3 IV 1 2 3 4 3.3 UdSSR und USA | 72 3.4 „Hymunion“ und Schluss | 77 Der transnationale Gedanke in HYMNEN | 79 Global village und Stockhausens Weltmusikkonzept in HYMNEN | 85 Jamaikanischer Ska im globalen Kontext | Jamaikanische Unterhaltungs- und Tanzmusik | 97 1.1 Die afrikanische Traditionslinie | 97 1.2 Mento, R ’n’ B und Soundsystems | 99 1.3 Jamaikanischer Ska | 104 1.4 Rocksteady und Reggae | 113 Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads in Großbritannien | 126 2.1 Two-tone | 135 Die Entbettung des Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität | 138 Traditionen der world music | World music: konstruierte Traditionen einer globalen Welt? | 146 1.1 Paul Simon | 149 Afrikanische Populärmusik als hybride world music | 161 2.1 S. E. Rogie | 162 2.2 Orchestra Baobab | 167 2.3 Baaba Maal | 169 World music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte: Heterogenisierung versus Homogenisierung der Musikkultur | 171 Die globale Netzwerkgesellschaft: Neue Möglichkeiten für die world music im Zeitalter der Globalisierung? | 176 4.1 Vampire Weekend | 179 V Gemeinsamkeiten und Differenzen der drei Fallbeispiele | 1 2 Modelle der kulturellen Globalisierung | 194 Perspektiven und Prozesse im Zeitalter der Globalisierung | 197 2.1 Politisch-ökonomische Transnationalität | 197 3 2.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit | 199 2.3 Informell-kulturelle Reflexivität | 199 2.4 Prozesse der Globalisierung | 200 Fazit | 202 Bibliographische Angaben | Abkürzungsverzeichnis | 207 Diskographie | 207 Filmographie | 208 Internet-Seiten | 208 Musikalien | 208 Verwendete Literatur | 209 Vorwort Als im Jahr 2007 die Idee dieser Arbeit entstand, war der Ansatz, Globalisierungstheorien mit musikalischen Fallbeispielen zu verknüpfen, ein vergleichsweise neuer Gegenstand der musikwissenschaftlichen Forschung. In den folgenden Jahren nahmen die Publikationen zu diesem Thema jedoch stetig zu, so dass man mittlerweile von einer recht guten Literaturlage sprechen kann, obwohl nicht alle Thematiken in diesem Zusammenhang erschlossen wurden. Bildeten 2007 Werke von Max Peter Baumann, Philip Bohlman oder Veit Erlmann die musikethnologische Ausnahme, so entstanden angefangen mit dem Band Musik und Globalisierung, herausgegeben von Christian Utz, weitere Publikationen – zum Beispiel von Susanne Binas-Preisendörfer oder Bob White –, welche versuchen, Musik und Globalisierung analytisch zu verbinden. In diesen Tagen erscheint auch das neue Buch von Christian Utz, Komponieren im Kontext der Globalisierung, in dem Utz Konsequenzen und Schwierigkeiten der Reflexivität kultureller Globalisierung für die Kunstmusik im 20. und 21. Jahrhundert diskutiert und zudem systematische Perspektiven für eine globale Musikhistoriographie und kompositorische Praxis konzipiert. Die stetig anwachsende Literatur zum Thema Musik und Globalisierung bestärkte mich darin, auf dem richtigen Weg zu sein: Anscheinend hatte ich hier einen wissenschaftlichen Gegenstand aufgegriffen, der viele Kollegen1 beschäftigt und offenbar den Nerv der Zeit trifft; zahlreiche Gespräche und Diskussionen auf Symposien und Kongressen bestätigten diese Annahme. 1 In dieser Arbeit sind bei männlichen Funktionsbezeichnungen in der Regel immer auch die weiblichen Formen mitgemeint. 10 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Gegen Ende meines Studiums beschäftigte ich mich intensiv mit Ulrich Becks populärem und gesellschaftstheoretischem Ansatz einer „Zweiten Moderne“. Es drängte sich die Frage auf, ob es denn hierzu musikalische Beispiele gäbe, die diese „Zweite Moderne“ repräsentieren. Schnell wurde allerdings klar, dass Becks theoretischer Ansatz – trotz sporadischer Versuche von Heinrich Klotz2 Mitte der 90er Jahre – sich nicht dazu eignete, einen klaren Kriterienkatalog zu erarbeiten, an denen sich musikalische Beispiele analysieren ließen. Ein Baustein in Becks Theorie ist die Globalisierung. Diese nun einzeln zu betrachten, erschien mir – da als Begriff umfangreich und ambivalent genug – die logische Konsequenz aus meinen Studien zur „Zweiten Moderne“. Meine anfängliche Idee war es, detailliert die Frage zu untersuchen, ob und wie sich das von den Globalisierungstheoretikern definierte „Zeitalter der Globalisierung“ in der Musik darstellen lässt. Dafür erstellte ich zunächst einen Überblick über die hierzu relevanten Theorien und reduzierte diese dann auf wesentliche Kriterien. Die nächste Aufgabe bestand darin, musikalische Beispiele zu generieren, die eine Übersicht über verschiedene musikalische Perspektiven und auch Genres geben können. Dass dieses aus der Gegebenheit der allumfassenden musikalischen Praxis und Geschichte natürlich nicht möglich ist, war mir bewusst; die vorliegende Arbeit möchte nicht den Anspruch erheben, die herausgestellten Globalisierungstheorien tatsächlich zu beweisen. Der Erkenntnisgewinn liegt vielmehr im Detail: Der Versuch, eine Verbindung zwischen Musik und Globalisierung an Fallbeispielen analytisch zu überprüfen und sich hierbei nicht von bereits vorhandenen Grenzen innerhalb der jeweiligen Disziplinen einschränken zu lassen, trägt innovativ dazu bei, die wachsende Nachfrage nach dem Themenkomplex zu befriedigen und zu ergänzen. Für das Gelingen der vorliegenden Arbeit gilt mein herzlicher Dank Prof. Dr. Frank Hentschel, der sie betreut und gefördert hat, und den Zweitbeziehungsweise Drittgutachtern Prof. Dr. Christoph von Blumröder und Prof. Dr. Michael Custodis. Zu guter Letzt möchte ich ganz besonders meiner Familie danken, die mich in all der Zeit unterstützt und ertragen hat. Meinen beiden Kindern Lionel und Marie, die während des Verfassens der Dissertation zur Welt kamen, ist dieses Buch gewidmet. 2 Heinrich Klotz (Hrsg.), Die zweite Moderne: eine Diagnose der Kunst der Gegenwart, München 1996. I Einleitung: Musik im „Zeitalter der Globalisierung“ Seit ungefähr 50 Jahren ist der Begriff Globalisierung in der Gesellschaft verankert. Die ständige Konfrontation in nahezu allen öffentlichen und privaten Lebensbereichen vom Arbeitsplatz über das Freizeitvergnügen bis hin in die Haushalte hat ein Bewusstsein für globale Zusammenhänge geschaffen. Die Auswirkungen der Globalisierung sind im Alltagsleben mittlerweile so präsent, dass sich die Frage, wie sich diese analog in der Musik niederschlagen, geradezu aufdrängt. Denn Globalisierung hat definitiv zu einer Veränderung der kulturellen Landschaften geführt, von denen die Musik direkt oder indirekt betroffen ist. „If all historical cultures have always been hybrid – well, what’s new?“1, fragt John Tomlinson gegen Ende seines Buches Globalization and Culture. Diese Frage stellt sich durchaus als berechtigt dar. Selbstverständlich bewegten sich alle Kulturen und kulturellen Erzeugnisse nie in hermetischen Räumen und waren zu allen Zeiten gesellschaftlichen Strömungen und Moden ausgesetzt, die sich aus verschiedenen ethnischen, politischen, regionalen und nationalen, ja selbst klimatischen Überlagerungen zusammensetzten. Um der Frage Tomlinsons nachzugehen, bietet das wissenschaftliche Gebiet der Kulturtransferforschung einen guten Überblick. Für Hans-Jürgen Lüsenbrink geht die Formulierung kultureller Hybridität auf den Begriff „métissage“ aus dem 16. Jahrhundert zurück.2 Die gegenwärtige Zeitepoche stellt für ihn eine besondere Form des Kulturtransfers dar: 1 John Tomlinson, Globalization and Culture, Cambridge 1999, S. 144. 2 Hans-Jürgen Lüsenbrink, „Kulturtransfer – neuere Forschungsansätze zu einem interdisziplinären Problemfeld der Kulturwissenschaften“, in: Helga Mittelbauer 12 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG „Kulturtransferprozesse im definierten Sinn sind genuine Bestandteile von Kulturkontakten, die von ganz unterschiedlichen politischen Kontexten und sehr verschiedenen sozio-kulturellen Konstellationen gekennzeichnet sein können. Kulturkontakte entstehen in der Tat in so unterschiedlichen Prozessen wie der kolonialen Eroberung, der Immigration und dem Tourismus. Sie bilden gleichfalls die kulturelle Dimension wirtschaftlicher und politischer Austauschbeziehungen, die durch die derzeitige neue Phase der Globalisierung eine – im Verhältnis zu den früheren Expansionsphasen der Globalisierung im 16.-18. und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – völlig neue Intensität erfahren haben.“ 3 Beide Zitate, Tomlinsons ebenso wie Lüsenbrinks, beschreiben gewissermaßen die Eckpfeiler der vorliegenden Arbeit: Globalisierung ist (1.) die Voraussetzung für die Entstehung kultureller Hybridformen und hat (2.) in ihrer gegenwärtigen Phase eine neue Dimension an Intensität erreicht. 1 D EFINITIONEN DER G LOBALISIERUNG Der Begriff Globalisierung ist sowohl populär als auch wissenschaftlich interdisziplinär anwendbar und somit ein „Zauberwort“ für alle sich abbildenden globalen (und auch lokalen) Veränderungen. Eine einheitliche Definition des Terminus Globalisierung erscheint zunächst problematisch, da jede Disziplin der Gesellschaftswissenschaften offenbar einen eigenen Globalisierungsbegriff verwendet.4 Selbst innerhalb der Soziologie gibt es andauernde Debatten über Art und Verwendung des Begriffes und unzählige Literatur und Systematiken über dessen Geschichte.5 Ulrich Beck unterteilt das Begriffsfeld sogar noch in Unterkategorien wie Globalismus, Globalität und Globalisierung, um die verschiedenen Schwerpunkte und Ebenen einer und Katharina Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume. Kulturelle Transfers um 1900 und in der Gegenwart (= Studien zur Moderne 22), Wien 2005, S. 23-41. 3 Ebd., S. 29. 4 Vgl. Jan Nederveen-Pieterse, „Der Melange-Effekt“, in: Ulrich Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 87-124, hier S. 87. 5 Einen guten Überblick hierfür findet man zum Beispiel in Jörg Dürrschmidt, Globalisierung, Bielefeld 2002, S. 7. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 13 sich global verändernden Gesellschaft besser zu beschreiben.6 David Held hingegen versucht die Fülle an wissenschaftlicher Literatur über Globalisierung in verschiedene Geisteshaltungen zu differenzieren. Der Autor unterscheidet hierbei zwischen „hyperglobalists“, „sceptics“ und „transformationalists“7, welchen er jeweils verschiedene Attribute und Einstellungen zu globalen Fragen zuordnet. Zusammengefasst definiert er Globalisierung als „process (or set of processes) which embodies a transformation in the spatial organization of social relations and transactions – assessed in terms of their extensity, intensity, velocity and impact – generating transcontinental or interregional flows and networks of activity, interaction, and the exercise of power.“ 8 Entscheidend für das Aufkommen des Begriffes Globalisierung ist wohl das in den letzten Jahrzehnten immer mehr entstandene Bewusstsein einer begrenzten Welt, in der „keine Externalisierung von Handlungsfolgen“9 mehr möglich scheint. Malcolm Waters fasst dies in seiner Definition von Globalisierung zusammen, indem er diese beschreibt als „a social process in which the constraints of geography on economic, political, social and cultural arrangements recede, in which people become increasingly aware 10 that they are receding and in which people act accordingly“ . Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson formulieren im Buch Geschichte der Globalisierung weitere Gemeinplätze im Globalisierungsdiskurs; die Veränderungen der Gesellschaft werden hier in drei globale Merkmale unterteilt: (1.) Die Globalisierung stellt durch die Verschiebung der politisch-ökonomischen Machtverhältnisse zwischen Staaten und Märkten die Bedeutung des Nationalstaats in Frage. (2.) Die Globalisierung führt 6 Vgl. Ulrich Beck, Was ist Globalisierung?, Frankfurt a. M. 1997, S. 26-28. 7 David Held, Anthony McGrew, David Goldblatt und Jonathan Perraton, Global 8 Ebd., S. 16. 9 Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, Frankfurt a. M. 1998, S. 87. Transformations, Cambridge 1999, S. 10. 10 Malcolm Waters, Globalization (zuerst: Oxon 1995), 2. Auflage, Oxon 2001, S. 5. 14 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG durch technische Innovationen zu Veränderungen der Kategorien von Raum und Zeit und zu einer neuen Ordnung sozialer Beziehungen durch technische Netzwerke. Und (3.): Die Globalisierung hat durch die Errungenschaften der Kommunikationstechnologie und deren globaler Reichweite und Informationsaustausch massiven Einfluss auf den kulturellen Wandel.11 Wichtig sind hierbei vor allem das gleichzeitige Auftreten und die Verflechtungen dieser drei Aspekte der Globalisierung, da jeder einzelne noch keine Konturen einer neuen Zeitepoche darstellt. 2 H ISTORISCHE V ERORTUNG DER G LOBALISIERUNG Generell wird der historischen Verortung der Globalisierung in der Literatur viel Aufmerksamkeit gewidmet. Obwohl der Begriff selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erstmals in der Form gebraucht und seine Popularität in die 1990er Jahre datiert wird,12 versuchen einige Autoren Kriterien der Globalisierung in einer „global history“ oder „world history“ darzustellen. Anthony G. Hopkins zum Beispiel unterscheidet vier historische Phasen der Globalisierung: archaic-globalization, proto-globalization, modern-globalization und post-colonial-globalization.13 „Archaic“ meint die historische Periode der Völkerwanderungen und den Bedeutungswachstum der Städte, „proto“ die Umgestaltung der Staatssysteme und den expandierenden Finanzfluss zwischen 1600 und 1800, „modern“ bezeichnet die Zeit des Aufstieges des Nationalstaats und die Ausweitung der Industrialisierung nach 1800 und mit „post-colonial“ ist die gegenwärtige Zeitepoche ab 1950 gemeint.14 Ein zeitliches Einsetzen von Globalisierungsvor- 11 Vgl. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung, München 2003, S. 11-13. 12 Vgl. Anthony G. Hopkins, „The History of Globalization“, in: ders. (Hrsg.), Globalization in World History, London 2002, S. 11-46, hier S. 37; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 18. 13 Anthony G. Hopkins, „Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Globalization in World History, S. 1-10, hier S. 3-7. 14 Bei David Held heißen diese vier Kategorien „premodern“-, „early modern“-, „modern“- und „contemporary“-period of globalization, Held et al., Global Transformations, S. 26. Ein ähnliches Stufenmodell entwickelte auch Roland I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 15 gängen ist demnach nicht genau bestimmbar beziehungsweise kann man hier nicht von einem genauen „Einsetzen“ sprechen. Es lassen sich möglicherweise aber einige historische „Eckpunkte“ der Globalisierung ausmachen: Ein entscheidender Globalisierungsanlauf wird um 1500 datiert; mit dem Aufbau der portugiesischen und spanischen Kolonialreiche entstanden hier irreversible globale Vernetzungen.15 Im 19. Jahrhundert führte dann vor allem die politische und infrastrukturelle globale Reichweite des aufblühenden British Empire zu einer Verstärkung des Welthandels und zu einer größeren multikulturellen Vielfalt.16 Es wird zudem von verschiedenen Autoren versucht, die Globalisierungsgeschichte durch globale Ereignisse wie die erste Weltumsegelung, die Einführung der Weltzeit, die bemannte Raumfahrt oder die globale nukleare Bedrohung nach dem Zweiten Weltkrieg historisch zu verankern.17 Robertson, vgl. Roland Robertson, Globalization: Social theory and global Culture, London 1992, S. 57 ff. 15 Vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 25. Hieraus leitet sich auch der oben genannte Begriff „Métissage“ ab. 16 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 31; Martin Albrow, Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1998, S. 231; Roland Robertson, „Glokalisierung: Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 192-220, hier S. 210. 17 Bruce Mazlish, „An Introduction to Global History“, in: ders. und Ralph Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, Boulder 1993, S. 1-24, hier S. 1 f. Ralf Dahrendorf zum Beispiel bezeichnet die Mondlandung am 20. Juli 1969 als Beginn der Globalisierung, vgl. Ralf Dahrendorf, „Anmerkungen zur Globalisierung“, in: Beck (Hrsg.), Perspektiven der Weltgesellschaft, S. 41-54, hier S. 41. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson sehen in der Einführung des „Earth-Day“ im Jahre 1970 den Beginn eines globalen Bewusstseins, vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 105. 16 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG 3 D AS „Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG “ Viele wissenschaftliche Autoren sehen den Ursprung eines „Zeitalters der Globalisierung“ ab Anfang des 20. Jahrhunderts.18 Dieser Terminus leitet sich aus Martin Albrows Begriff „Global Age“19 ab und dient im Folgenden zur Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen ab 1950. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ist besonders bedeutsam, weil hier erstmals ein gesellschaftliches globales Bewusstsein entstand: Die Anzahl der nach 1950 veröffentlichten Publikationen über globale Komplexität und deren Wechselwirkungen erhöhte sich signifikant, und die Versuche, eine „global history“ zu formulieren, nahmen massiv zu;20 auch wurden die in den 1960er Jahren aufkommenden Debatten über Entwicklungspolitik, Konsumgesellschaft und Risikogesellschaft alle in einem globalen Kontext geführt.21 Hieraus entwickelten sich die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Es gibt demzufolge eine globale, institutionelle und kulturelle Ordnung, welche das System der Nationalstaaten und die Identität jedes Einzelnen prägt und beeinflusst. Gemeint sind hiermit vor allem gleiche 18 Vgl. Robertson, Globalization, S. 179; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 63 ff.; Klaus Müller, Globalisierung, Bonn 2002, S. 8; Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt a. M. 1995, S. 84. 19 Albrow, Abschied vom Nationalstaat. Der Titel der englischen Originalausgabe lautet The Global Age. State and Society Beyond Modernity. 20 Vgl. Robertson, Globalization, S. 9 f. Der Ursprung einer „Weltgeschichte“ lässt sich allerdings in das Zeitfenster zwischen 1890 und 1914 datieren. Vor allem Hans Ferdinand Helmots Weltgeschichte von 1899 legte hier die Grundvoraussetzungen einer neuen theoretischen Perspektive der Weltgeschichtsschreibung, vgl. Matthias Middell, „Kulturtransfer und Weltgeschichte“, in: Mittelbauer, Scherke (Hrsg.), Ent-grenzte Räume, S. 43-73. 21 Die Einführung der Begriffe „Erste“, „Zweite“ und „Dritte Welt“ führte zum Beispiel zu der gängigen Aufteilung des Globusses in politische Blöcke, vgl. Stuart Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“ [1992], in: ders., Rassismus und kulturelle Identität (= Ausgewählte Schriften 2), hrsg. und übers. von Ulrich Mehlem, Dorothee Bohle, Joachim Gutsche, Matthias Oberg und Dominik Schrage, Hamburg 1994, S. 180-222, hier S. 198 f.; Robertson, Globalization, S. 59; Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 131; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 86-87. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 17 globale Bildungs- und Wissenschaftsideale sowie der globale Anspruch auf medizinische Grundversorgung, Infrastruktur, Hochkultur etc.22 Diese „Tendenz einer kulturellen Unipolarität“23 wurde erstmals am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Einfluss der europäischen Kolonialmächte – und hier im Besonderen des Vereinigten Königreiches als erster moderner Großmacht – sichtbar. Jürgen Osterhammel und Niels P. Petersson beschreiben, dass viele Nationen dem Vereinigten Königreich kulturell wie ökonomisch nacheiferten. Die Anpassung war wohl grundsätzlich nicht erzwungen, sondern der Attraktivität des westlichen, in diesem Falle britischen, Wohlstandes geschuldet.24 Wie Malcolm Waters damit zusammenhängend analysiert, entstand hier eine homogenisierte, globale, größtenteils westlich geprägte Hochkultur. Die globale Verbreitung von standardisierten Opernrepertoires, Literatur- und Wissenschaftsapparaten war nach Waters insbesondere eine Folge der schnelleren Transportmöglichkeiten und des raschen Ausbaus der Infrastruktur in jener Zeit.25 Eine globale Weltgesellschaft, wie sie seit ungefähr 1950 auszumachen ist, besitzt nun keinen zentralen Akteur mehr; einzelne Akteure stehen hier in unmittelbarer Konkurrenz und sorgen somit für eine kulturelle Vielfalt.26 Ulrich Beck sieht hieran ein neues Globalisierungsmerkmal: „Globalisierung meint also auch: Nicht-Weltstaat. Genauer: Weltgesellschaft ohne Weltstaat und ohne Weltregierung. Es breitet sich ein global desorganisierter Kapitalismus aus. Denn es gibt keine hegemoniale Macht und kein internationales Regime – weder ökonomisch noch politisch.“ 27 Die Weltgesellschaft beschreibt ein politisch-ökonomisch transnationales Netzwerk, welches die globalen, kulturellen Veränderungen bestimmt. Der 22 Vgl. John W. Meyer, John Boli, George M. Thomas und Francisco O. Ramirez, „Die Weltgesellschaft und der Nationalstaat“, in: John W. Meyer, Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, hrsg. von Georg Krücken, Frankfurt a. M. 2005, S. 85-132, hier S. 91-94. 23 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 59. 24 Vgl. ebd., S. 58 ff. 25 Vgl. Waters, Globalization, S. 172. 26 Vgl. ebd., S. 143. 27 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 32, Hervorhebungen im Original. 18 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG kulturelle Relevanzverlust der Nationalstaaten, ihre politische Neuformierung in transnationalen Bündnissen, der gleichzeitige Bedeutungsgewinn der transnational corporations sowie der wachsende kulturelle Einfluss durch Migration entstandener globalurbaner Ballungsräume stützen die theoretischen Vorstellungen einer Weltgesellschaft. Globale Prozesse entwickelten sich ab dem Zweiten Weltkrieg so rasant, dass sich deren Einfluss in einer kulturellen weltgesellschaftlichen Ordnung auf einer globalen institutionellen Ebene manifestierte. Aspekte der Globalisierung lassen aber nicht nur eine Weltgesellschaft entstehen, sondern fördern gleichzeitig auch den politischen Fundamentalismus. Christiane Harzig und Dirk Hoerder liefern hierfür ein Beispiel aus der gegenwärtigen Migrationsgeschichte: „Migrants live, mentally, simultaneously in home and host societies, live transcultural lives. Their networks extend over continents. While the concept of bourgeois cosmopolitanism and working-class internationalism may overemphasize class cultures, the concept of ,culture shock‘ overemphasizes disruption, and that of a ,global village‘ neglects cultural specifics. Problems emerge from racism and exclusion rather than migrants’ inability to cope. A 1990s Bangladeshi migrant in a racialized neighbourhood of London noted: ,I can surf around the world on the Internet, I have family who phone me from America and Australia, but I am afraid to go outside my own front door.‘“ 28 Hieran wird die „Dialektik der Globalisierung“ deutlich, die bei einigen Autoren eine zentrale Stellung für die Beschreibung des Zeitalters der Globalisierung einnimmt.29 4 M USIK IM Z EITALTER DER G LOBALISIERUNG Das Zeitalter der Globalisierung wird auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen bedeutsam. So fällt zum Beispiel der Diskurs über die 28 Christiane Harzig und Dirk Hoerder, What is Migration history?, Cambridge 2009, S. 143. 29 Vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 85; Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 96. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 19 „Postmoderne“ in diesen Zeitraum. In seinem Aufsatz Zen und der Westen beschreibt Umberto Eco die gesellschaftliche Lage wie folgt: „Die Diskontinuität ist, in den Wissenschaften wie in den Alltagsbeziehungen, die Kategorie unserer Zeit: die moderne westliche Kultur hat die klassischen Begriffe von Kontinuität, universellen Gesetzen, Kausalbeziehung, Vorhersehbarkeit der Phänomene endgültig aufgelöst: sie hat, so kann man zusammenfassend sagen, darauf verzichtet, allgemeine Formeln auszuarbeiten, die den Anspruch erheben, die Gesamtheit der Welt in einfachen und endgültigen Termini zu bestimmen. Neue Kategorien haben in die modernen Sprachen Eingang gefunden: Ambiguität, Ungewißheit, Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit. [D]as einstige Bewußtsein von einem geordneten und unwandelbaren Universum kann in der heutigen Welt bestenfalls ein Gegenstand rückwärtsgewandter Sehnsucht sein: es ist nicht mehr das unsere.“ 30 Hier nun eröffnet sich das Feld der Zusammenhänge von Kultur und Globalisierung. Für Ulrich Beck ist die Herstellung der kulturell-symbolischen Reflexivität der Globalisierung eine Schlüsselfrage der Kultursoziologie geworden: Globalisierung „zielt daher nicht nur auf die ‚Objektivität zunehmender Interdependenzen‘. Gefragt und untersucht werden muß vielmehr, wie sich der Welthorizont in der transkulturel31 len Produktion von Sinnwelten und kulturellen Symbolen öffnet und herstellt.“ Es soll im Folgenden nicht danach gefragt werden, wie der Begriff der „Postmoderne“ Einfluss auf die Musikkultur ausübte,32 sondern wie sich die aktuelle Periode der Globalisierung ab 1950 – die als Zeitalter der Globalisierung bezeichnet wird – auf die Musikkultur auswirkt. 30 Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt a. M. 1973, S. 214 f. Auch die Avantgardebewegungen jener Zeit und der damit einhergehende Traditionsbruch werden mit den globalgesellschaftlichen Veränderungen um 1950 in Verbindung gebracht, siehe hierzu Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt a. M. 1974, S. 82-86. 31 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 88. 32 Andreas Domann geht in seiner Diskursanalyse diesem Thema umfassend nach, Andreas Domann, Postmoderne und Musik, Freiburg i. Br. 2012. 20 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Wie bereits erwähnt, wurde von verschiedener Seite versucht, gesellschaftliche Strömungen und Veränderungen ab 1950 in der Musik und Musikkultur darzustellen. Neben dem Diskurs über Postmoderne und Musik gab es auch Bestrebungen, die gesellschaftlichen Veränderungen jener Zeit, die unter den Begriffen „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ geführt werden, mit musikalischen Entwicklungen und Ereignissen in Verbindung zu bringen.33 Grundannahmen all dieser gesellschaftlichen Verknüpfungen mit der Musikkultur lassen sich durch die Theorien und Erkenntnisse der Musiksoziologie beschreiben und lauten zusammengefasst: (1.) Das Kunstwerk spiegelt immer die gesellschaftliche Realität wider, (2.) der Künstler muss immer in seinem sozialen Milieu betrachtet werden und (3.) ein musikalischer Stil bringt immer die gegenwärtige Zeitepoche zum Ausdruck.34 Auch diese Arbeit geht von der Prämisse aus, dass sich die gesellschaftlichen Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, in der Musik widerspiegeln. Globalisierung hebt sich von den oben genannten Begriffen Postmoderne, „Zweite Moderne“ oder „Reflexive Moderne“ ab, da es sich hierbei um konkret beschreibbare Veränderungen handelt, die sich auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen darstellen lassen und zu allen Zeiten relevant waren. Freilich kam der Globalisierungsdiskurs erst in der Zeit ab 1950 auf – unter anderem ist daher auch dieser Zeitrahmen für diese Arbeit gesteckt –, dennoch lassen sich kulturelle Sachverhalte seit der 33 Der Band von Jörn Peter Hiekel (Hrsg.), Orientierungen. Wege im Pluralismus der Gegenwartsmusik (= Veröffentlichungen des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung Darmstadt 47), Mainz 2007, bietet hierfür einen guten Überblick. Siehe auch Christian Utz, „Kunstmusik und reflexive Globalisierung – Alterität und Narrativität in chinesischer Musik des 20. und 21. Jahrhunderts“, in: Alenka Barber-Kersovan, Alfred Smudits und Harald Huber (Hrsg.), West Meets East (= Musik und Gesellschaft 29), Frankfurt a. M. 2011, S. 147-180. 34 Annahmen dieser Art werden besonders von der klassischen Musiksoziologie vertreten, vgl. Alphons Silbermann, Empirische Kunstsoziologie, Stuttgart 1973, S. 75. Die Grundthese einer Verknüpfung zwischen Musik und Gesellschaft ist im Wesentlichen auf die soziologische marxistische Theorie zurückzuführen, in der alle kulturellen Güter Abbild der Gesellschaft sind und sich aus dieser evozieren. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 21 Antike durch interkulturelle (globale) Verknüpfungen erklären.35 Musik ist in gewisser Weise schon immer global gewesen und transkultureller musikalischer Austausch keineswegs ein Merkmal einer neuen historischen Epoche.36 Das Zeitalter der Globalisierung erhält nun durch die verschiedenen Ebenen und Komplexitäten globaler Zusammenhänge, deren theoretische Prämissen erst ab 1950 erforscht wurden, eine exklusive historische Bedeutung; sowohl der Künstler als auch das Kunstwerk wurden hierdurch geprägt, verändert, anders interpretiert und unterschiedlich definiert. In der Musikwissenschaft haben sich in den letzten Jahren einige Gemeinplätze herausgebildet, wie sich gesellschaftliche Veränderungen, die der Globalisierung zuzuschreiben sind, auf die Musikkultur auswirken können.37 Zum einen ist es durch mediale Entwicklungen möglich geworden, dass nahezu alle Musiken aus Geschichte und Gegenwart aller Völker und gesellschaftlichen Gruppen für fast jedermann zur Verfügung stehen. Hierbei entstehen globale Zusammenhänge und Überschneidungen nicht nur in der Musik selbst, sondern vor allem auch in den ökonomischen Arbeitsweisen und Aufführungsformen.38 Zum anderen haben sich im Laufe des 20. 35 Für musikalische Beispiele hierfür siehe Helmut Rösing, „Populäre Musik und kulturelle Identität. Acht Thesen“, in: Thomas Phleps (Hrsg.), Heimatlose Klänge?: Regionale Musiklandschaften heute (= Beiträge zur Popularmusikforschung 29/30), Karben 2002, S. 11-34, hier S. 23 f. 36 Eine durch Migrationsströme transformierte kulturelle Landschaft hatte in allen historischen Phasen Einfluss auf die Musik. Ein Beispiel aus dem 18. Jahrhundert ist das spanische Idiom in einigen Werken Domenico Scarlattis, vgl. Barbara Zuber, „Wilde Blumen am Zaun der Klassik“, in: Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn (Hrsg.), Domenico Scarlatti (= Musik-Konzepte 47), München 1986, S. 3-39. Für weitere aktuelle Studien zum Thema Musik und Migrationsforschung siehe auch Silke Leopold und Sabine Ehrmann-Herfort (Hrsg.), Migration und Identität. Wanderbewegungen und Kulturkontakte in der Musikgeschichte (= Analecta musicologica 49), Kassel 2013. 37 Eine gute Übersicht hierfür bietet Bob W. White, „Introduction: Rethinking Globalization through Music“, in: ders. (Hrsg.), Music and Globalization: Critical Encounters, Bloomington 2012, S. 1-14, hier S. 2-5. 38 Weitere Gedanken hierzu finden sich bei Gertrud Meyer-Denkmann, Grenzübergänge zwischen Musik, Kunst und den Medien heute, Oldenburg 2005, S. 49 ff. 22 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Jahrhunderts fast alle Musikformen losgelöst von nationalen Konzepten und ethnischen Zuweisungen entwickelt.39 Diese beiden Annahmen gilt es zu hinterfragen und werden unter anderem im Folgenden schwerpunktartig beleuchtet. 5 G ESELLSCHAFTLICHE V ERORTUNG DER G LOBALISIERUNG Um den Forschungsrahmen weiter einzugrenzen, soll zunächst jedoch die Frage der gesellschaftlichen Verortung der Globalisierung geklärt werden. Abgesehen von der Debatte über die verschiedenen historischen Perioden der Globalisierung und deren zeitliches Einsetzen wird hierüber eine weitere Kontroverse geführt. Die soziologischen Diskurse gehen der Frage nach, aus welcher Gesellschaftsordnung heraus der Begriff Globalisierung herzuleiten ist. So sieht Immanuel Wallerstein diese als kapitalistische und ökonomische Weltordnung europäischen Ursprungs.40 Bezogen auf die westliche Hemisphäre ist Globalisierung ein Begriff, welcher seinen Ursprung in der Aufklärung hat, da hier erstmalig der Gedanke einer Universalgeschichte formuliert und verbreitet wurde.41 Globalisierung steht demnach in direktem Zusammenhang mit der Ausdehnung der europäischen Kultur; die kulturelle Gestaltungskraft der europäischen Moderne macht Globalisierung erst möglich, daher wird diese entsprechend auch als „Aufstieg des Westens“42 bezeichnet. 39 Vgl. Susanne Binas-Preisendörfer, „Ethnische Repräsentationen als Herausforderung für Musikwissenschaft und Musikpolitik“, in: Barber-Kersovan, Smudits, Huber (Hrsg.), West Meets East, S. 21-34, hier S. 29. 40 Immanuel Wallerstein, „Culture as the Ideological Battleground of the Modern World-System“, in: Mike Featherstone (Hrsg.), Global Culture. Nationalism, globalization and modernity, London 1990, S. 31-35, hier S. 35. 41 Vgl. Hopkins, „The History of Globalization“, S. 12; Mike Featherstone, „Global Culture: An Introduction“, in: ders. (Hrsg.), Global Culture, S. 1-14, hier S. 3. 42 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 111. Dieser Begriff wurde ursprünglich von William MacNeill eingeführt, vgl. William MacNeill, The rise of the West, Chicago 1963. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 23 Der westliche Einfluss wird in der Debatte über eine kulturelle Globalisierung unterschiedlich bewertet. Für Mike Featherstone bedeutet kulturelle Globalisierung ein Expandieren der gegenseitigen kulturellen Wechselbeziehungen und eine dauerhafte kulturelle Interaktion.43 Hier wird kulturelle Globalisierung nicht als „Verwestlichung“, sondern mehr als ein Phänomen der kreativen Aneignung gesehen.44 Anthony Giddens sieht durch die globale Verbreitung der westlichen Institutionen diese im Kontext einer kulturellen Globalisierung gar als geschwächt: „Dass der Einfluss des Abendlands auf die übrige Welt schwächer wird, ist keine Folge der nachlassenden Wirkung der zunächst im Abendland entstandenen Institutionen, sondern – ganz im Gegenteil – ein Ergebnis ihrer globalen Verbreitung. Die ökonomische, politische und militärische Macht, die dem Abendland zur Vorherrschaft verhalf […], reicht nicht mehr aus, um die westlichen Länder deutlich von anderen Ländern in anderen Gegenden abzuheben.“ 45 Westlicher Einfluss, wie auch immer dieser bewertet wird, spielt für die Theorien einer kulturellen Globalisierung und speziell für die Musik im Zeitalter der Globalisierung also eine übergeordnete Rolle. 6 M ODELLE DER KULTURELLEN G LOBALISIERUNG David Held formuliert angelehnt an die vorgestellten vier Zeitperioden der Globalisierung fünf Ebenen der kulturellen Globalisierung: Zunächst bemerkt er einen transkontinentalen kulturellen Austausch im Zeitalter der Völkerwanderung und sieht hierin eine globale historische Grundlage. Ab dem späten 18. Jahrhundert wurde diese Grundlage durch einen kulturellen Austausch sowohl der verschiedenen Nationalstaaten und sogenannten Nationalkulturen als auch der verschiedenen politischen Gesellschaftsordnungen ergänzt. Im späten 19. Jahrhundert beschleunigte sich dann dieser Austausch durch neue Formen der technischen Übermittelung. Die vierte Ebene 43 Vgl. Featherstone, „Global Culture“. 44 Vgl. ebd.; Waters, Globalization, S. 6; Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 111. 45 Giddens, Konsequenzen der Moderne, S. 70 f. 24 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG beschreibt die gegenwärtige Situation des immer schneller werdenden technischen Wandels und Informationsaustausches und die dadurch bedingten politischen und institutionellen Transformationen. Das hier angedeutete Zeitalter der Globalisierung führt demnach zu neuen kulturellen globalen Strömungen, welche die alten nationalen Kulturen, Ideologien und politischen Institutionen verändern. Die fünfte Ebene einer kulturellen Globalisierung liegt laut Held in den Produkten und Deutungen der Konsumgesellschaft. Deren Ambiguität stellt für ihn eine neue komplexe Form der kulturellen Globalisierung dar, deren Einfluss auf die bestehenden Gesellschaften und Kulturen noch nicht absehbar sei.46 Die von Held angesprochenen Veränderungen der nationalen Kulturen und Ideologien beschreibt Arjun Appadurai in einem Modell, welches die globalen kulturellen Strömungen auf fünf verschiedenen Landschaften (scapes) darstellt. Diese scapes bieten die Möglichkeit, Veränderungen nationaler Ideologien und Kulturen unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten. Appadurai unterscheidet zwischen ethnoscapes, technoscapes, financescapes, mediascapes und ideoscapes.47 Ethnoscapes beschreiben die ethnische Herkunft oder den nationalen Bezugsrahmen eines Individuums unabhängig von seiner Staatsangehörigkeit oder seines Aufenthaltsortes (unterschieden wird zwischen Gastarbeiter, Flüchtling, Migrant, Tourist etc.), technoscapes beschreiben die kulturellen Verbindungen auf einer technisch-innovativen Ebene. Als Beispiel dient hier der Austausch von technischen Dienstleistungen und Gütern, welcher einzig durch Angebot und Nachfrage global reguliert wird. Hieran angelehnt formuliert Appadurai die financescapes: Der entgrenzte globale Kapitalfluss erschafft dabei durch seine Vielzahl an verschiedenen Varianten eine eigene globale kulturelle Landschaft. Die nun verbleibenden mediascapes und ideoscapes hängen eng miteinander zusammen. Mediascapes beschreiben sowohl die unterschiedlichen technischen Ebenen der Medienlandschaft (Zeitung, Journal, Fernsehen, Radio etc.) als auch deren inhaltliche Ausrichtung. Gemeint ist hier, wer welche Medien zu welchem Zwecke der lokalen oder globalen Informationsstreuung nutzt und wie diese Informationen später von verschiedenen globalen Rezipienten wahrgenommen und interpretiert werden. 46 Held et al., Global Transformations, S. 328. 47 Arjun Appadurai, Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization, Minneapolis 1996, S. 33. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 25 Der Rezipient wird durch die Ebene der ideoscapes unterschieden. Gemeint sind hier die jeweiligen ideologischen Einstellungen eines Staates, einer Bewegung oder einer Einzelperson wie zum Beispiel Freiheitlichkeit, Wohlstand, Menschenrechte, Souveränität, Darstellungsweise oder Demokratieempfinden.48 Diese fünf scapes dienen der Beschreibung des kulturellen Wandels im Zeitalter der Globalisierung: Die Aufteilung der Gesellschaft in kulturelle Landschaften eröffnet die Möglichkeit, Globalisierungszusammenhänge auf den verschiedenen Ebenen getrennt voneinander zu analysieren.49 Die Interessen einer Weltgesellschaft, einzelner Staaten, außerstaatlicher Gruppierungen oder Einzelpersonen stimmen in einigen scapes überein, in anderen wiederum können sie weit auseinander liegen. So wird von Appadurai eine dezentrale globale Welt konstruiert. 7 F ORSCHUNGSSTAND : M USIK G LOBALISIERUNG UND Auch wenn die Untersuchung des Zusammenhangs von Musik und Globalisierung nach wie vor als musikhistorisch nicht sehr stark beleuchtet zu betrachten ist, liegen inzwischen einige Arbeiten vor, die den ersten Einstieg in die Thematik erleichtern. Vor allem in der Musikethnologie wurden in den letzten Jahrzehnten musikalische Wandlungen im Kontext globaler Veränderungen erforscht,50 obwohl es sich gleichermaßen um ein historisches wie soziologisches Phänomen handelt. Allerdings wurden in den 48 Ebd., S. 33-37. 49 Der Musikethnologie Max Peter Baumann bezeichnete auf dem Symposium „Entgrenzte Welt? Musik und Kulturtransfers in der Gegenwart“ vom 20. bis 22. Juli 2012 in der Humboldt-Universität zu Berlin Appadurais Landschaften auch als „die fünf Dimensionen der globalen kulturellen Dynamik“. 50 Besonders sind hier folgende Arbeiten von Max Peter Baumann und Bruno Nettl zu nennen: Max Peter Baumann (Hrsg.), World Music, Music of the World (= Intercultural Music Studies 3), Wilhemshaven 1992; ders., „The Local and the Global: Traditional Musical Instruments and Modernization“, in: The world of music 42/3 (2000), S. 121-144; ders., Musik im interkulturellen Kontext, Nordhausen 2006; Bruno Nettl, The Study of Ethnomusicology, Urbana 1983; ders., The Western Impact on World Music, New York 1985. 26 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG weitaus meisten Studien Veränderungen der Musikkultur innerhalb eingegrenzter Kulturkreise in den Fokus genommen.51 Die bis dato wenigen allgemeinen Publikationen über das Thema Musik und Globalisierung bilden hier die Ausnahme.52 Ferner sind auch die „Cultural Studies“ zu nennen, die sich seit den 1980er Jahren mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Kultur auseinandergesetzt haben.53 Beispiele aus der Identitätsforschung und den „Cultural Studies“ belegen, wie selbstgewählte globale Identitäten in verschiedenen Kontexten und Lebenssituationen nach Belieben wechseln und jeweils in den Vorder- oder Hintergrund rücken.54 Bezogen auf die Musik konstatiert Simon Frith: 51 Zum Beispiel Kevin Dawe, „Roots Music in the Global Village: Cretan ways of dealing with the world of large“, in: The world of music 43/3 (2001), S. 47-66; Michael Bodden, „Rap in Indonesian youth music of the 1990s: Globalization, outlaw genres, and social protest“, in: Asian music Journal of the Society for Asian Music 36/2 (2005), S. 1-26; Iain Chambers, „Travelling Sounds. Whose Centre, whose Periphery?“, in: Popular Music Perspectives 3 (1992), dt. in: PopScriptum – World-Music 3, S. 45-51. Die Auflistung von musikalischen Einzelstudien zum Thema Musik und Globalisierung ließe sich noch um ein Vielfaches erweitern. 52 Zum Beispiel Christian Utz (Hrsg.) Musik und Globalisierung. Zwischen kultureller Homogenisierung und kultureller Differenz, Saarbrücken 2007; Susanne Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, Bielefeld 2010; Alexandros G. Baltzis, „Globalization and Musical Culture“, in: Acta musicologica 77/1 (2005), S. 137-150; Veit Erlmann, „The politics and Aesthetics of Transnational Musics“, in: The world of music 35/2 (1993), S. 315; White (Hrsg.), Music and Globalization. 53 Ein gutes Beispiel hierfür bietet der Band von Marianne I. Franklin (Hrsg.), Resounding international relations: on music, culture, and politics, New York 2005. 54 Vgl. Harris M. Berger und Giovanna Del Negro, Identity and everyday life: in the study of folklore, music, and popular culture, Middletown 2004, S. 151 f. Ein Beispiel, das die Autoren anführen, ist eine typische Situation im Leben italienischer Migranten in den USA: Der in Amerika geborene Sohn lädt seine Arbeitskollegen in sein Elternhaus ein, um ihnen die Vorzüge der „originalen“ italienischen Kochkünste seiner Mutter zu präsentieren. Diese wiederum fühlt sich einerseits durch die Wertschätzung geschmeichelt, möchte aber nicht auf die I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 27 „Es geht nicht um die Frage, auf welche Weise ein Musikstück […] die Menschen widerspiegelt, sondern wie es diese Menschen produziert; in welcher Weise es eine musikalische Erfahrung, eine ästhetische Erfahrung herstellt und konstruiert. Die wir nur verstehen können, indem wir sowohl eine subjektive als auch kollektive Identität annehmen.“ 55 Friths These stützt sich auf zwei Prämissen: „[E]rstens, dass Identität beweglich ist [und] zweitens, dass unsere Erfahrung von Musik […] sich am besten als Erfahrung eines Selbst in einem Prozess verstehen lässt.“56 Die Komplexität des kulturellen Wandels im Zeitalter der Globalisierung wird vor allem durch die Kontroverse der kulturellen Homogenisierung oder Heterogenisierung veranschaulicht. In einem Zeitungsartikel von Wolf Lepenies Mitte der 1990er Jahre heißt es hierzu: „Das Stichwort ‚Globalisierung‘ zeichnet das Bild einer sich vereinheitlichenden Welt. Aber während die Oberfläche der einen Welt immer einförmiger wirkt, stoßen darunter heftiger denn je zuvor die unterschiedlichen Lebenswelten der einzelnen aneinander. Diese Lebenswelten sind keineswegs einheitlich geprägt, sondern bilden stets Mischformen: es gibt nur noch hybride Kulturen.“ 57 Eine Darstellung des sozialwissenschaftlichen Diskurses der kulturellen Homogenisierung versus Heterogenisierung bietet Jörg Dürrschmidt, welcher die hierzu wichtigsten Autoren mit ihren verschiedenen Thesen und verschiedenen Unterkategorien der jeweiligen Prozesse vorstellt.58 Bezogen auf die Debatte innerhalb der Disziplin der Musikwissenschaft bietet der Rolle der kochenden Hausfrau reduziert werden, da sie aus gutem sizilianischen Hause kommt und diese Rolle in ihrer „Heimat“ nie ausfüllte. 55 Simon Frith, „Musik und Identität“, in: Jan Engelmann (Hrsg.), Die kleinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1999, S. 149-169, hier S. 151. 56 Ebd, Hervorhebungen im Original. 57 Wolf Lepenies, „Nur noch Mischformen. Wandel des Wertesystems in Europa“, in: Der Tagesspiegel vom 27.04.1996, S. 23. 58 Dürrschmidt, Globalisierung, S. 104-111. 28 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Aufsatz „Cultural Grey-out“ oder „Many Diverse Musics“? von Gerd Grupe einen Überblick.59 8 G LIEDERUNG , R ELEVANZEN UND F RAGESTELLUNG Wie haben sich also die globalen Veränderungen ab 1950 auf die Musikkultur ausgewirkt? Das Zeitalter der Globalisierung und ihr Einfluss auf die Musikkultur sollen im Folgenden durch verschiedene Begriffe und „Schlagwörter“ dargestellt werden. Als Fundament dient hierbei, wie der Begriff Globalisierung ab 1950 definiert und historisch verortet wird, und ferner, welche Darstellungen für den kulturellen Einfluss der Globalisierung insbesondere auf die Musikkultur herangezogen werden. Das Zeitalter der Globalisierung erklärt sich aus der Perspektive des Nationalstaats und seiner internationalen Einbindungen und Überlagerungen, des technischen Fortschritts der Kommunikationsmedien und einer grenzüberschreitenden Kulturindustrie. In diesem Kontext sind folgende Thematiken relevant: Migration, Urbanisierung, transnational corporations, Weltgesellschaft, Beschleunigung, Verdichtung von Raum und Zeit, Internet, globale Netzwerkgesellschaft, „Gegenkultur“, globale Identität, Kulturindustrie, „Amerikanisierung“, „Globale Kulturindustrie“ und der Begriff des „global village“. Zu diesem Begriffspool gesellen sich nun drei Prozesse der Globalisierung: „Glokalisierung“, „Enttraditionalisierung“ und „Entbettung“. Diese Begriffe und ihre dazugehörigen theoretischen Befunde sollen exemplarisch an drei musikalischen Fallbeispielen näher untersucht werden: an „Stockhausens Weltmusik“, „Jamaikanischer Ska im globalen Kontext“ und die „Traditionen der world music“. Dabei gehört es zum Konzept der Arbeit, Beispiele unterschiedlicher Kontexte, Szenen und Stilhöhen herauszugreifen, um einerseits Differenzen aufzuzeigen, die sich in den Auswirkungen der Globalisierung abzeichnen, andererseits aber auch szene- und subkulturübergreifende Mechanismen der Globalisierung herauszuarbeiten. Die Fallbeispiele stammen alle aus dem zeitlichen Rahmen des Zeitalters der Globalisierung, also ab 1950. Sie stehen zudem alle in einem 59 Gerd Grupe, „,Cultural Grey-out‘ oder ,Many Diverse Musics‘? Musikkulturen der Welt in Zeiten der Globalisierung“, in: Utz (Hrsg.), Musik und Globalisierung, S. 11-26. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 29 westlichen Zusammenhang. Wie schon erwähnt, entspringen Globalisierungszusammenhänge immer einem westlichen Kontext. Dieser drückt sich bei Karlheinz Stockhausen durch die Herkunft des Künstlers, im jamaikanischen Ska durch postkoloniale und bei der world music durch ökonomische Zusammenhänge aus. Die drei Fallbeispiele wurden also so gewählt, dass sich hieran die verschiedenen globalgesellschaftliche Einflüsse beschreiben lassen. Wenn diese einen gemeinsamen gesellschaftlichen Ursprung haben, sollten – so die Kernthese dieser Arbeit – auch die drei musikalischen Fallbeispiele gemeinsame Merkmale aufweisen, die die globalisierte Musikkultur beschreiben. Das Zeitalter der Globalisierung hat möglicherweise die Grenzen verschiedener Musiktraditionen, Stilistiken und Genres aufgehoben und soziale, politische und kulturelle Veränderungen bewirkt. Die Relevanz des Themas ergibt sich daraus folgend aus mindestens drei Gründen: 1. 2. 3. Globalisierung ist als musikhistorische Tatsache anzusehen. Eine aktuelle Musikgeschichtsschreibung kann nicht auskommen, ohne diesen zentralen Faktor einzubeziehen und seine Auswirkungen auf die Musik zu untersuchen. Vorgänge der Globalisierung sind überaus komplex, und es kann daher zum Verständnis dieser Vorgänge insgesamt beitragen, sie aus der Perspektive einer einzelnen Wissenschaft heraus konkret zu beleuchten; in diesem Falle aus der Perspektive musikalischer Entwicklungen. Die Fragestellung ist in besonderem Maße dazu geeignet, konkrete musikhistorische Prozesse, kompositorische Stilistiken und musikalische Praktiken im Kontext der sozialgeschichtlichen Veränderungen zu erklären. Dies trägt überdies zur interdisziplinären Einbindung der musikwissenschaftlichen Forschung bei. Das bereits vorgestellte Modell der verschiedenen globalen scapes von Arjun Appadurai, die verschiedenen Formen der kulturellen Heterogenisierung von Bruno Nettl60 und die vier Stufen der kulturellen Interaktion von 60 Nettl, The Study of Ethnomusicology, S. 350 ff. 30 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Krister Malm und Roger Wallis,61 welche im Verlauf der Arbeit noch vorgestellt werden, sollen dabei helfen, die Dimensionen der kulturellen Globalisierung besser zu verstehen. Diese drei Modelle dienen den musikalischen Fallbeispielen als übergeordnete theoretische Erklärungsmodelle und fungieren gewissermaßen als Leitfaden. Bemerkenswert an den Modellen ist, dass sie trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Ebenen die kulturelle Globalisierung auf ähnliche Weise beschreiben und historisch verorten. So steht in allen Modellen die Globalisierungsperiode ab 1950 im Fokus des globalen kulturellen Austausches und in allen spielen die technischen Innovationen, neue Formen einer transnationalen Gemeinschaft sowie die Reichweiten einer Globalen Kulturindustrie eine wichtige Rolle im kulturellen Globalisierungsprozess. Die Sichtung der Globalisierungsliteratur – mit Schwerpunkt auf soziologischen Texten – lässt sich nun in drei Perspektiven einteilen, welche als Gerüst für die Beschreibung der gesellschaftlichen Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung fungieren und innerhalb deren sich die oben genannten „Schlagwörter“ formieren: (1.) politisch-ökonomische Transnationalität, (2.) technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit und (3.) informell-kulturelle Reflexivität. Auf dieser Basis lassen sich dann wiederum drei Prozesse der Globalisierung ableiten, die konkrete Auswirkungen auf die kulturelle Sphäre und somit auch auf die Musikkultur haben. Die bearbeiteten Globalisierungstheorien weisen diese Unterteilung nicht direkt auf. Sie ist demnach mehr als Schema zu verstehen, da sich die einzelnen Themenkomplexe im inhaltlichen Diskurs fortwährend überschneiden. Im Zusammenspiel der Prozesse Glokalisierung, Enttraditionalisierung und Entbettung, in deren Komplexität und Dialektik, zeichnet sich das neue Zeitalter der Globalisierung ab. In diesem Zeitraum ab 1950 – so die zugrunde gelegte Kernthese – wurde die Musikkultur signifikant verändert. Es soll hierbei aber klar festgehalten werden, dass das Zeitalter der Globalisierung lediglich eine, nämlich die jüngste Periode der Globalisierung ist. 61 Beschrieben in Roger Wallis und Krister Malm, Big Sounds from Small Peoples. The Music Industry in Small Countries, New York 1984; siehe auch Krister Malm, „Local, National and International Musics. A Changing Scene of Interaction“, in: Baumann (Hrsg.), World Music, S. 211-227. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 31 8.1 Politisch-ökonomische Transnationalität Der Terminus Transnationalität ist im Zeitalter der Globalisierung zu einer Standardkategorie für die Beurteilung der Weltpolitik geworden. Vorläufige Tendenzen lassen sich allerdings schon in früheren Globalisierungsperioden finden. So beschreiben zum Beispiel Osterhammel, Petersson und David Held die modern period of globalization zwischen 1880 und 1945 als transnational, da hier weltpolitisch erstmals zwischen Demokraten, Faschisten und Kommunisten unterschieden wurde.62 Der Ursprung des Begriffs liegt in der Literatur der 1960er Jahre von Robert O. Keohane und Joseph S. Nye63, Raymond Aron64 sowie James N. Rosenau65, welche die transnationalen Interaktionen von Akteuren wie Nichtregierungsorganisationen, multinationalen Konzernen und dem internationalen Finanzwesen analysierten.66 Vor allem Rosenau konstruierte ein Netzwerkmodell „unrevidierbarer polyzentrischer Weltpolitik“67, welches sich zusammensetzt aus transnationalen Organisationen (zum Beispiel der Weltbank, der katholischen Kirche, der italienischen Mafia oder McDonalds), transnationalen Problemen (zum Beispiel Klimaveränderungen, Aids oder einer atomaren Gefahr), transnationalen Ereignissen (zum Beispiel einer Fußballweltmeisterschaft oder den beiden Golfkriegen), transnationalen Gemeinschaften (zum Beispiel Religionen, Wissen, Lebensstilen oder politischen Orientierungen) und transnationalen Strukturen (zum Beispiel Arbeitsformen oder Finanzströmen).68 Weitere theoretische Modelle eines globalen transnationalen 62 Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 79; Held et al., Global Transformations, S. 362. 63 Robert O. Keohane und Joseph S. Nye (Hrsg.), Transnational Relations and World Politics, Cambridge 1971. 64 Raymond Aron, Peace and War: a Theory of International Relations, New York 1967. 65 James N. Rosenau (Hrsg.), Linkage Politics: Essays on the Convergence of National and International Systems, New York 1969. 66 Vgl. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 190 f. 67 James N. Rosenau, Turbulence in World Politics, Brighton 1990, S. 17, zit. n. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 70. 68 Ebd., S. 70 f. 32 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG Systems finden sich außerdem bei Leslie Sklair69 oder Ulf Hannerz.70 Sklair beschreibt in einem hegelianischen Theoriemodell das Zusammenspiel zwischen „transnational corporations“ (TNCs), einer „transnational capitalist class“ und einer übergeordneten „transnational cultural practice“.71 Hannerz greift dieses Modell auf und spricht darüber hinaus von einer „global ecumene“, in der direkt oder indirekt alle globalen Akteure und Ereignisse in einem Sinnzusammenhang stehen.72 8.2 Technisch-innovative Verdichtung von Raum und Zeit Die technisch-innovative Verdichtung im Zeitalter der Globalisierung stellt möglicherweise die eindrucksvollste und „greifbarste“ Veränderung einer globalen Welt dar. David Held behauptet sogar, dass die Frage „What is globalization?“ am konkretesten mit den beschreibbaren Phänomenen der technisch-innovativen Verdichtung der Welt beantwortet werden kann.73 Entscheidendes Kriterium ist hierbei die Beschleunigung des Transports, der Kommunikation und der Produktion, welche die Art und Weise, wie Kulturen in Zeit und Raum zueinander gestellt sind, fundamental verändert hat. Bei allen technischen Neuerungen spielt im Globalisierungskontext die veränderte Wahrnehmung der Zeit oder des Zeitverhältnisses eine übergeordnete Rolle: Zeitverhältnisse sind durch die technischen Innovationen der letzten 200 Jahre nicht mehr als starr zu begreifen.74 Die Einführung der 69 Leslie Sklair, Sociology of the Global System, London 1991. 70 Ulf Hannerz, Transnational Connections, London 1998. 71 Sklair, Sociology of the Global System, S. 81 f.; vgl. auch Dürrschmidt, Globalisierung, S. 68 f. 72 Hannerz, Transnational Connections, S. 6 f; vgl. auch Dürrschmidt, Globalisierung, S. 70 f. 73 Held et al., Global Transformations, S. 14 f. 74 Gemeinhin wird die Einführung des Telegraphen um 1839 als Beginn eines sich verändernden globalen Zeitverständnisses betrachtet, vgl. Osterhammel und Petersson, Geschichte der Globalisierung, S. 54 f.; Anthony Giddens, Entfesselte Welt. Wie die Globalisierung unser Leben verändert, Frankfurt a. M. 2001, S. 22. Bemerkenswerte Studien über die Geschichte und die Veränderung der Arbeits- und Freizeitentwicklung im 20. Jahrhundert liefert der Band von Eckart I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 33 Weltzeit und die damit einhergehende globale Vereinheitlichung der Zeit zwischen 1880 und 1920 war zwar ein gesellschaftlicher transnationaler Beschluss, stellte aber auch eine Reaktion der Weltgemeinschaft auf die durch technische Innovationen herbeigeführte Verdichtung dar.75 Entfernungen wurden durch Ausbau der Infrastruktur in immer kürzerer Zeit zurückgelegt, so dass sich die Zeit- und Raumverhältnisse entsprechend veränderten. Jürgen Habermas bemerkt hierzu: „Schon die Reisenden, die um 1830 die ersten Eisenbahnen benutzen, hatten über neue Raum- und Zeitwahrnehmungen berichtet. Im 20. Jahrhundert haben Autoverkehr und zivile Luftfahrt den Personen- und Gütertransport weiter beschleunigt und die Entfernungen auch subjektiv immer weiter schrumpfen lassen.“ 76 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Zeit- und Raumverständnis durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse wie Einsteins Relativitätstheorie, aber auch durch die Beschäftigung mit außereuropäischen Zeitmodellen erweitert.77 Die neuen Errungenschaften der Technik erzielten auch andere Effekte auf die Gesellschaft. So beschreibt beispielsweise Marshall McLuhan, dass technische Innovationen wie der Telegraph und das Radio nationale Machtverhältnisse neutralisierten, da ihre Reichweiten nicht mehr von physischen nationalen Grenzen beschränkt wurden. Die technischen Innovationen ließen laut McLuhan eine neue Art des Machtkampfes entstehen, bei dem es um eine ideologische und politische Mitbestimmung sowie Kontrolle der übertragenen Informationen ging.78 Theodor W. Adorno sah ferner durch den stetig voranschreitenden technischen Apparat eine Auflösung der Klas- Hildebrandt und Gudrun Linne (Hrsg.), Reflexive Lebensführung: zu den sozialökologischen Folgen flexibler Arbeit, Berlin 2000. 75 Vgl. Robertson, Glokalisierung, S. 210. Die weltweite Übernahme des gregorianischen Kalenders in früheren Globalisierungsperioden muss wiederum als Vorläufer dieser Ereignisse betrachtet werden. 76 Habermas, Die postnationale Konstellation, S. 70. 77 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, S. 64 ff. 78 Vgl. Marshall McLuhan, Understanding Media: the extensions of man [1964], Corte Madeira 2003, S. 404. 34 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG sen.79 In den 1960er Jahren entwickelte sich in der westlichen Hemisphäre eine alternative und gesellschaftskritische Bewegung, die sich um eine Liberalisierung und Dezentralisierung der technischen Innovationen und der dadurch transportierten Informationen bemühte. Die Konstituierung der globalen Netzwerkgesellschaft, welche liberal, dezentral und frei fungiert, nahm mit den technischen Innovationen der Gegenkultur der 1960er Jahre ihren Anfang.80 Die Entstehung der Gegenkultur ist zudem als Reaktion auf eine immer weiter voranschreitende Industriegesellschaft zu interpretieren und jenes den Gegenkulturen immanente Suchen nach Auswegen aus dieser in einen globalgesellschaftlichen Kontext eingebettet. Was die Musikkultur angeht, so stellen technologische Entwicklungen einen Hauptfaktor der Globalisierung von Musik dar. Beschleunigung und die Verdichtung von Raum und Zeit haben historisch schon immer Einfluss auf die Musikkultur gehabt. So konnte beispielsweise das javanesische Gamelan-Ensemble auf der Pariser Weltausstellung 1889, welches Einfluss auf Musiker wie Claude Debussy hatte, nur durch den neu eröffneten Suezkanal nach Europa gelangen. Ohne die Verkürzung des Weges wäre diese Reise für die Instrumente wohl nicht schadlos zu bewältigen gewesen.81 Als weitere Verbindung von Musikkultur und Technik haben aber vor allem die industriellen aufnahmetechnischen Neuerungen der letzten 100 Jahre die Musik wesentlich geprägt und verändert. Das Kunstwerk, welches immer reproduzierbar gewesen ist, konnte nun durch eine neue Art der technischen Reproduktion erweitert werden.82 Durch die industriellen aufnahmetechnischen Innovationen wie Radio, Telekommunikation und Phonograph ver- 79 Theodor W. Adorno (Hrsg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, Frankfurt a. M. 1969, S. 25 ff. 80 Beispielsweise wurde das Modem 1978 von einigen Hackern entwickelt, vgl. Manuel Castells, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Teil 1 der Trilogie Das Informationszeitalter [1996], Opladen 2001, S. 53. 81 Vgl. John Joyce, „The Globalization of Music: Expanding Spheres of Influence“, in: Mazlish, Buultjens (Hrsg.), Conceptualizing global history, S. 205224, hier S. 209-211. 82 Walter Benjamin datiert um 1900 den Beginn der technischen Reproduzierbarkeit als anerkanntes künstlerisches Verfahren und als eigene Kunstform, vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [1936], Frankfurt a. M. 2006, S. 9-11. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 35 breiteten sich auch die Produkte der Musikindustrie über den ganzen Globus. Diese operierte von vornherein global und nutzte die neuen Reichweiten des technischen Apparates. Um 1900 entstand eine transnationale Musikindustrie, die bereits alle Kennzeichen einer global operierenden Organisation trug.83 Am Ende des 20. Jahrhunderts teilten sich fünf transnationale Musikfirmen 80 Prozent des weltweiten Tonträgergeschäfts.84 Die Musikindustrie als TNC verbreitet hier also weltweit kulturelle Erzeugnisse, dient dabei aber weder ökonomisch noch kulturell den Interessen eines Staates. Sie ist lediglich profitorientiert und abhängig von ökonomischen Marktmechanismen. 8.3 Informell-kulturelle Reflexivität Im Vergleich zu den bereits beschriebenen Perspektiven der Globalisierung ist die informell-kulturelle Reflexivität relativ schwer zu greifen. Dies ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass von den Sozialwissenschaften hierfür noch keine konkrete Definition oder Theorie ausgearbeitet wurde. Um die kulturellen Wechselwirkungen (oder Rückkoppelungen) im Zeitalter der Globalisierung zu erläutern, werden in erster Linie Beispiele herangezogen: So wurde der Wahlsieg der Partei Bündnis 90/Die Grünen bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg am 27. März 2011 von allen Parteiund Wahlforschern gleichermaßen mit der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima am 11. März 2011 in Verbindung gebracht. Die täglich übermittelten Bilder und Schreckensmeldungen aus dem havarierten Kernkraftwerk lösten eine starke Ablehnung gegenüber der Atomenergie aus, welche sich in der unmittelbar danach anstehenden Wahl und dem Sieg der grünen „Anti-Atom-Partei“ widerspiegelte. Ein globales Ereignis wirkte 83 Zur Geschichte und Entwicklung der globalen Musikindustrie siehe Andreas Gebesmair, Musik und Globalisierung: zur Repertoireentwicklung der transnationalen Phonoindustrie unter besonderer Berücksichtigung des österreichischen Musikmarktes, Wien 2000, sowie Andreas Gebesmair und Alfred Smudits (Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the transnational music industry, Aldershot 2001. 84 Andreas Gebesmair, „Introduction“, in: ders., Smudits (Hrsg.), Global Repertoires: Popular music within and beyond the transnational music industry, S. 16, hier S. 2. 36 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG sich direkt auf ein lokales aus, wobei diese in einem nicht unmittelbaren Sinnzusammenhang stehen. Die Perspektive der informell-kulturellen Reflexivität wird am deutlichsten durch die Entstehung der Kulturindustrie und den Ausbau der Massen- und Kommunikationsmedien dargestellt, welche im Zeitalter der Globalisierung zu neuen Formen einer Globalen Kulturindustrie führten. Geprägt wurde der Begriff der Kulturindustrie zunächst von den Ausführungen Theodor W. Adornos und Max Horkheimers.85 Die Kulturindustrie und die produzierten Waren wurden hier noch stark technisch konstruiert, kapitalistisch, eindimensional und homogen gedeutet. Reflexivität bedeutet nun, dass globale Ereignisse (siehe obiges Beispiel), Konsumgüter oder kulturelle Erzeugnisse von der Weltgesellschaft aktiv bewertet und gesteuert werden. Dieses wird besonders anhand der unterschiedlichen Wahrnehmungen und Deutungen der jeweiligen Akteure sichtbar, denn die Globale Kulturindustrie definiert sich immer über die variablen Interpretationen produzierter Waren. Eine globale Einheit besteht hier in der kapitalistischen Grundidee und in der gewonnenen Eigendynamik der Produkte. Das medial verbreitete „Image“ eines Produktes wird nun teilweise mehr beworben als das eigentliche Produkt. Die Vermarktung von Swatch-Uhren oder Nike-Sportanzügen zielt auf eine Ideologie der Produkte ab und nicht mehr auf den profanen Besitz einer Uhr oder eines Sportanzuges.86 Eine veränderte Kontextualisierung im Nexus einer Globalen Kulturindustrie stellen auch die Photographien von Oliviero Toscani dar, welche Anfang der 1990er Jahre für Werbekampagnen der Modefirma United Colors of Benetton benutzt wurden. Toscanis politisch und gesellschaftlich brisanten Photographien eines sterbenden Aidskranken oder einer blutverschmierten Uniform eines Soldaten und das den Photographien immanente politische Statement werden hier für das Werben für Bekleidungsartikel eingesetzt und somit aus seinem ursprünglichen Kontext gerissen. Reflexivität bedeutet also die Auflösung einer eindimensionalen Perspektive kultureller Produkte. 85 Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944], 14. Auflage, Frankfurt a. M. 2003, S. 128-176. 86 Für weitere Erläuterungen am Beispiel der Marken Swatch und Nike siehe Scott Lash und Celia Lury, Global Culture Industry: The Mediation of Things, Cambridge 2007, S. 196 ff. I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 37 8.4 Prozesse der Globalisierung Die drei Prozesse der Globalisierung stellen nun die signifikanten soziokulturellen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung dar. Sie sind das Resultat aus dem Zusammenspiel der erörterten politisch-, technisch- und informell-globalen Entwicklungen. Die drei Prozesse hängen eng miteinander zusammen, verweben sich und meinen mitunter die gleichen Sachverhalte. Auf den Ebenen der Weltgesellschaft, der globalen Netzwerkgesellschaft und des global village werden die unterschiedlichen Resultate der Glokalisierung, der Enttraditionalisierung und der Entbettung besonders sichtbar und schaffen neue globale und lokale Identifikationsmuster. Die weiteren Beschreibungen und Definitionen der drei Prozesse der Globalisierung sollen an den musikalischen Fallbeispielen direkt erläutert und in die jeweiligen Kapitel mit eingeflochten werden. 8.5 Musikalische Fallbeispiele Die drei musikalischen Fallbeispiele werden nachfolgend gemäß ihrer unterschiedlichen Konstitutionen schwerpunktartig beleuchtet. Die drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung fungieren hierbei als gemeinsame Merkmale einer sich verändernden Gesellschaft. In allen drei Musikbeispielen werden diese immer wieder mit unterschiedlicher Intensität zum Vorschein kommen. Das Kapitel „Stockhausens Weltmusik“ stellt zunächst die Schriften Karlheinz Stockhausens zum Thema Weltmusik vor. Das Weltmusikkonzept des Komponisten wird dann in einen soziokulturellen Kontext verortet. Anschließend werden die kompositorischen Mittel Stockhausens vorgestellt, mit denen er sein Weltmusikkonzept musikalisch ausdrücken möchte. Hierbei fällt der Blick besonders auf seine Werke TELEMUSIK und HYMNEN. Aus den HYMNEN werden sodann vier Ausschnitte näher beleuchtet. Der übergeordnete globale Kontext wird abschließend schwerpunktartig anhand der Thematiken des transnationalen Gedankens in den HYMNEN und des Einflusses des global village in Stockhausens Weltmusikkonzept näher untersucht. Das zweite Kapitel mit dem musikalischen Fallbeispiel des jamaikanischen Ska im globalen Kontext beschreibt zunächst die Genese der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik bis hin zur Musikform Ska als 38 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG erster jamaikanischer „Nationalmusik“ und deren Weiterentwicklung über den Rocksteady zum Reggae. Der globale Einfluss auf die Entwicklung der jamaikanischen Unterhaltungs- und Tanzmusik steht dabei im Vordergrund. Schwerpunktartig sollen hieran die verschiedenen Positionen der Homogenisierung-versus-Heterogenisierungs-Debatte beleuchtet werden. Die Adaptionen des jamaikanischen Ska durch die Subkultur der Skinheads stellt ein weiteres Beispiel für die Relevanz der drei Perspektiven und Prozesse der Globalisierung im musikalischen Kontext dar. Vor allem die Entbettung der Musikform Ska in Großbritannien im Spannungsfeld zwischen Rassismus und transnationaler Identität soll vorgestellt werden. Das dritte musikalische Fallbeispiel im Kapitel „Traditionen der world music“ stellt die marktstrategisch entwickelte Schirmkategorie „world music“ in den Mittelpunkt der Untersuchung. Es soll gefragt werden, ob hier möglicherweise eine „neue“ musikalische Traditionslinie einer globalen Welt konstruiert wurde. Anhand musikalischer Beispiele aus dem Œuvre Paul Simons und einiger Musiker westafrikanischen Ursprungs wird dieser Frage nachgegangen. Auch soll world music im Spannungsfeld der Globalisierungsdebatte Homogenisierung versus Heterogenisierung der Musikkulturen verortet werden. Hierbei treten wiederum die verschiedenen Perspektiven und Prozesse der Globalisierung mit unterschiedlicher Gewichtung in den Vordergrund. Abschließend sollen die neuen Möglichkeiten der world music im Zeitalter der Globalisierung mit Schwerpunkt auf den Auswirkungen einer aufkommenden globalen Netzwerkgesellschaft anhand der zeitgenössischen Band Vampire Weekend aufgezeigt werden. Alle Verweise der drei musikalischen Fallbeispiele auf globale Zusammenhänge werden in einem abschließenden Fazit noch einmal gegenübergestellt. Die Einbettung der Fallbeispiele in die vorgestellten theoretischen Modelle einer kulturellen Globalisierung und in den Diskurs Homogenisierung versus Heterogenisierung werden an dieser Stelle ebenfalls vorgenommen. Die Kernthese der Arbeit, dass alle drei Fallbeispiele durch globalgesellschaftliche Veränderungen im Zeitalter der Globalisierung signifikant beeinflusst wurden, soll damit eine Darstellung erhalten. Die Idee, welche hinter der zentralen Fragestellung steht, soll durch die unterschiedlichen Blickwinkel der musikalischen Fallbeispiele und auch durch die differenzierten wissenschaftlichen Herangehensweisen an diese untermauert werden: Karlheinz Stockhausen verkörpert dabei den Künstler als Einzelperson, der auf die veränderte gesellschaftliche Lage im Werk Bezug I E INLEITUNG : M USIK IM „ZEITALTER DER G LOBALISIERUNG “ | 39 nimmt; Ska repräsentiert eine Musikform, welche durch verschiedene globale Einflüsse verändert wird; und die world music ist ein konstruiertes Genre der Musikindustrie und stellt somit einen intendierten Versuch dar, auf globale Veränderungen Bezug zu nehmen und diesen einen festen Rahmen zu geben. Wie oben erwähnt, ist der gemeinsame Bezugsrahmen der drei Musikbeispiele die zeitliche Eingrenzung ab 1950 und der den Fallbeispielen immanente westliche Einfluss. Die drei ausgewählten musikalischen Beispiele ließen sich durchaus auch durch andere ersetzen beziehungsweise ergänzen. So hätte man statt Karlheinz Stockhausen möglicherweise auch Ansichten und Werke von John Cage, Frank Zappa oder Dieter Schnebel als Muster heranziehen können. Auch die Oper Nixon in China von John Adams gäbe ein gutes Beispiel für eine (individuell intendierte) musikalische Reaktion auf globalgesellschaftliche Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Für den Ska als eine im Zeitalter der Globalisierung entstandene und weiterentwickelte Musikform fänden sich ebenfalls durchaus Äquivalente. Die südafrikanische Musikform Kwela, auf die im dritten Fallbeispiel kurz Bezug genommen wird, würde hier gewiss ein gleichgewichtetes Pendant darstellen. Andere im globalen Zusammenhang interessante postkoloniale Musikformen wären beispielsweise auch Rai, Bhangra, Arabesk oder Qawwali. World music als konstruiertes Genre findet wiederum Ebenbilder in Subgenres wie New Age oder auch in Kategorisierungen wie Jazz oder noch allgemeiner in der Kategorie black music. Weitere Untersuchungen könnten anhand der aufgestellten Kriterien des Zeitalters der Globalisierung also folgen. Ohnehin besitzt gerade die Geschichte populärer Musikformen einen globalen historischen Kern und ihre weltweite Verbreitung und Vermarktung sind unmittelbar mit den technischen Innovationen verknüpft, welche in den Globalisierungsphasen des 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielen.87 In neuesten Studien wird sogar davon ausgegangen, dass al- 87 Alexandros G. Baltzis führt die Entstehung populärer Musikformen bis auf den Kolonialismus und den Sklavenhandel zurück, vgl. Baltzis, „Globalization and musical Culture“, S. 141. In der neueren Geschichte der US-amerikanischen Populärmusik wird die Zeit ab 1950 – also der dieser Arbeit zugrunde liegenden jüngsten Globalisierungsperiode – als Paradigmenwechsel bezeichnet. Die populäre Musik erfährt ab diesem Zeitpunkt eine größere Relevanz, vgl. Reebee Garofalo, Rockin‘ Out: popular music in the USA, Boston 1997, S. 1 ff. 40 | M USIK IM Z EITALTER DER GLOBALISIERUNG le populären Musikformen durch Entwicklungsgänge entstanden, die der Globalisierung zuzuschreiben sind; unterschiedliche Formen und musikalische Facetten dienen hierbei nur noch als regionale Orientierungen, Identifikationsmerkmale oder Verkaufsanreize.88 Ein weiterer Forschungsansatz, der hier ebenfalls nicht verfolgt wird, könnte ferner darin bestehen, globale Zusammenhänge in Werken zu analysieren, die zeitlich vor dem Zeitalter der Globalisierung datiert werden, oder auch zu versuchen, eine Gegendarstellung an Werken im Zeitalter der Globalisierung zu vollziehen, in denen kein oder ein anders gearteter globalgesellschaftlicher Zusammenhang auszumachen ist.89 Freilich führten diese Diskurse auch zu Ergebnissen, welche aber die Kernthese dieser Arbeit nicht infrage stellen würden. Die nun folgenden Beschreibungen der musikalischen Fallbeispiele unternehmen den Versuch, die gesellschaftlichen Veränderungen des Zeitalters der Globalisierung sichtbar zu machen und somit auch eine Theorie zu liefern, anhand der weitere Untersuchungen entlang der aufgestellten soziologischen Kriterien erfolgen können. 88 Vgl. Binas-Preisendörfer, Klänge im Zeitalter ihrer medialen Verfügbarkeit, S. 163. 89 Besonders hervorzuheben wären hier musikalische Fallbeispiele aus dem asiatischen Raum. Globalisierungszusammenhänge werden in Indien oder Japan ganz anders bewertet, da gerade im kulturellen Bereich der westliche Einfluss durch die Wertschätzung und Geschichte der eigenen Hochkultur anders ausgeprägt ist. Dennoch könnte man wohl die Transformationen indischer Musikformen der letzten fünfzig Jahre durchaus in einem Globalisierungskontext betrachten. Es wurde in dieser Arbeit allerdings bewusst auf ein „asiatisches“ Beispiel verzichtet, da hierfür umfangreiche Vorkenntnisse der indischen oder japanischen Musik vonnöten wären.