Praxis-Leitlinie M E TA B O L I S C H VA S K U L Ä R E S SYNDROM (MVS) Fachkommission Diabetes Sachsen in Zusammenarbeit mit einem unabhängigen wissenschaftlichen Beirat von Experten verschiedener Fachdisziplinen Vorwort Sächsische Landesärztekammer Die vorliegende Leitlinie ist eine Handlungsanleitung für die Praxis, die auf den evidenzbasierten Empfehlungen der Europäischen Kardiologen-Gesellschaft, der Europäischen Arteriosklerose-Gesellschaft, des National Cholesterol Education Program Adult Treatment Panel III, der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, der Deutschen Liga zur Bekämpfung des hohen Blutdruckes, der Deutschen Diabetes-Gesellschaft, der Bundesärztekammer (Versorgungsleitlinien) und der Fachkommission Diabetes Sachsen aufbaut. Die Leitlinie soll Hausärzten, Internisten, Diabetologen/ Endokrinologen, Kardiologen, Angiologen, Neurologen, Gefäßchirurgen in Niederlassung und Klinik eine Hilfe sein bei der täglichen Arbeit mit Patienten, die an einem Metabolisch-Vaskulären Syndrom (MVS) leiden. Sie soll die Grundlage für Versorgungskorridore bilden. Gleichzeitig stellt sie eine Basis für die niedergelassenen Ärzte in der Diskussion mit den Kostenträgern dar. Da die vorliegende Version eine Praxisleitlinie ist, werden Evidenzgrade nur im Literaturverzeichnis zusammengestellt. Wesentliche Aussagen beruhen auf der aktuellen wissenschaftlichen Evidenz. Für viele klinisch relevante Probleme, das Metabolisch-Vaskuläre Syndrom in seiner Komplexität betreffend, liegt bisher allerdings keine Evidenz vor. Die Empfehlungen basieren deshalb auf einem breiten ärztlichen Konsens. PROF. DR. MED. J. SCHULZE Präsident der Sächsischen Landesärztekammer Dresden, im Dezember 2006 Autoren Prof. Dr. med. M. HANEFELD Gesellschaft für Wissens- und Technologietransfer GmbH (GWT) an der TU Dresden, Forschungsbereich Endokrinologie und Stoffwechsel Unter Mitwirkung von: Dr. med. U. ROTHE Medizinische Fakultät der TU Dresden, Institut für Med. Informatik und Biometrie, Sächsische Gesellschaft für Stoffwechsel und Endokrinopathien Dr. med. A. BERGMANN MVZ am Universitätsklinikum C.C. Dresden Prof. Dr. med. H.-W. M. BREUER Malteser St. Carolus Krankenhaus Görlitz PD Dr. med. S. FISCHER Universitätsklinikum der TU Dresden, Medizinische Klinik und Poliklinik III Prof. Dr. med. U. JULIUS Universitätsklinikum der TU Dresden, Medizinische Klinik und Poliklinik III Prof. Dr. med. J. SCHULZE Sächsische Landesärztekammer, Diabetologe Dr. med. P. SCHWARZ Universitätsklinikum der TU Dresden, Medizinische Klinik und Poliklinik III Prof. Dr. med. G. H. SCHOLZ St. Elisabeth-Krankenhaus Leipzig, Abt. Innere I Prof. Dr. med. R. H. STRASSER Herzzentrum Dresden, Universitätsklinik der TU Dresden Dr. med. D. STURM Hausarztpraxis Hohenstein-Ernstthal, Hausärzteverband (BDA) Dr. med. habil. H.-J. VERLOHREN Schwerpunktpraxis Diabetes Leipzig PD Dr. med. M. WECK Reha-Klinik Bavaria Kreischa, Abteilung Diabetes Prof. Dr. med. ST. BORNSTEIN Universitätsklinikum der TU Dresden, Medizinische Klinik und Poliklinik III Prof. Dr. rer. nat. S. BERGMANN Universitätsklinikum der TU Dresden, Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin Prof. Dr. med. M. BLÜHER Universität Leipzig, Medizinische Klinik und Poliklinik III Dr. med. E. BODENDIECK Hausarztpraxis Wurzen, Sächsische Gesellschaft für Allgemeinmedizin (SGAM) PD Dr. med. R. BRAUN-DULLAEUS Herzzentrum Dresden, Universitätsklinik der TU Dresden Dr. med. R. DÖRR Akademische Lehr-Praxisklinik Herz und Gefäße der TU Dresden Dr. med. B. DONAUBAUER Schwerpunktpraxis Diabetes Oschatz OÄ Dr. med. G. GERICKE Klinikum Chemnitz gGmbH, Klinik für Innere Medizin II Prof. Dr. TH. HAAK Diabetes Klinik Bad Mergentheim, Vizepräsident der DDG Dr. med. S. HAAS Universitätsklinikum der TU Dresden, Allgemeine Innere Ambulanz Prof. Dr. med. H. U. JANKA Klinikum Bremen Nord, Medizinische Klinik II, Angiologie und Diabetes Dr. rer. medic. C. KÖHLER GWT an der TU Dresden,Forschungsbereich Endokrinologie und Stoffwechsel Prof. Dr. med. H. KUNATH Medizinische Fakultät der TU Dresden, Institut für Med. Informatik und Biometrie PD Dr. med. J. LINDNER Klinikum Chemnitz gGmbH, Geriatriezentrum Prof. Dr. med. habil. T. LOHMANN Städtisches Krankenhaus DresdenNeustadt, Medizinische Klinik Dipl.-Ing. G. MÜLLER Medizinische Fakultät der TU Dresden, Institut für Med. Informatik und Biometrie Dr. med. I. MURAD, Hausarztpraxis Aue OÄ Dr. med. A. NÄKE Universitätsklinikum der TU Dresden, Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin Dr. med. M. NITSCHKE Herzzentrum Dresden, Universitätsklinik der TU Dresden J. OBST / R. WALLIG Deutscher Diabetikerbund - LV Sachsen e.V. Dr. med. D. OTTO, Hausarztpraxis Görlitz Dipl.-Med. I. PAWLICK Hausarztpraxis Lunzenau, Sächsischer Hausärzteverband PD Dr. med. R. RADKE Kurpark-Klinik Dr. Lauterbach GmbH, Bad Liebenstein, Kardiologie Prof. Dr. med. K. RETT Deutsche Klinik für Diagnostik GmbH, Wiesbaden Prof. Dr. med. S. M. SCHELLONG UniversitätsGefäßCentrum, Universitätsklinikum der TU Dresden Prof. Dr. med. H. SCHMECHEL Erfurt, Thüringer Gesellschaft für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten Prof. Dr. med. J. E. SCHOLZE Charité - Universitätsmedizin Berlin, Medizinische Poliklinik Prof. Dr. med. Dr. med. h.c. P. SCRIBA Klinikum der Universität München, Diabeteszentrum Prof. Dr. med. E. STANDL Städtisches Krankenhaus MünchenSchwabing, 3. Medizinische Abteilung Prof. Dr. med. D. TSCHÖPE Ruhr-Universität Bochum, Herz- und Diabeteszentrum NRW Bad Oeynhausen Inhalt Definition … 6 Epidemiologie … 8 Ätiologie und Pathogenese … 9 VERERBUNG DES MVS … 9 PRÄDIKTOREN FÜR MVS … 9 INTRAABDOMINALE ADIPOSITAS … 9 INSULINRESISTENZ … 9 DYSLIPIDÄMIE … 9 (PRÄ)DIABETES … 9 HYPERTONIE … 10 INFLAMMATION …10 GERINNUNGSAKTIVIERUNG … 11 FETTLEBER … 11 PCO-SYNDROM … 11 SCHLAFAPNOE-SYNDROM … 11 Natürliche Geschichte/Verlauf des MVS … 12 Diagnostisches Konzept und Früherkennung des MVS …14 ADDENDUM … 15 Diagnostik der intraabdominalen Adipositas … 16 Diagnostik der Dyslipidämie … 16 Diagnostik eines (Prä-)Diabetes …17 Diagnostik eines erhöhten Blutdrucks … 17 Risikostratifizierung beim MVS … 19 Therapieziele beim MVS … 22 BEHANDLUNGSZIEL KÖRPERGEWICHT/ TAILLENUMFANG … 24 BEHANDLUNGSZIEL BLUTFETTE … 24 BEHANDLUNGSZIEL BLUTDRUCK …24 BEHANDLUNGSZIEL BLUTZUCKER … 24 Die Erkenntnisse der Medizin unterliegen einem ständigen Wandel durch Forschung und klinische Erfahrungen. Die Autoren dieser Leitlinie haben große Sorgfalt darauf verwendet, dass die gemachten Angaben dem derzeitigen Wissensstand entsprechen. Das entbindet den Benutzer aber nicht von der Verpflichtung, seine Diagnostik und Therapie in eigener Verantwortung zu bestimmen. Der Benutzer ist aufgefordert, die Packungsbeilagen bzw. die Fachinformationen zu den verwendeten Präparaten zu prüfen, um sich in eigener Verantwortung zu versichern, ob die dort angegebenen Primäre Prävention des MVS … 25 LEBENSSTIL-INTERVENTION … 25 MEDIKAMENTÖSE PRÄVENTION … 25 Spezifische Therapie des MVS … 27 BASISTHERAPIE … 27 Ernährungstherapie … 28 Erhöhung der körperliche Aktivität … 29 MEDIKAMENTÖSE BEHANDLUNG … 30 Zur Problematik der Polypharmazie … 30 Medikamentöse Therapie der Adipositas bei MVS … 31 Medikamentöse Therapie der Dyslipidämie bei MVS …32 Medikamentöse Therapie der Hypertonie bei MVS … 34 Medikamentöse Therapie des Prädiabetes und D. m. Typ 2 bei MVS … 37 Kardiovaskuläre Manifestationen des MVS … 39 EPIDEMIOLOGIE KARDIOVASKULÄRER KOMPLIKATIONEN … 39 Koronare Herzerkrankung … 39 Arterielle Verschlusskrankheit einschließlich zerebrovaskulärer Komplikationen … 39 PATHOGENESE KARDIOVASKULÄRER KOMPLIKATIONEN … 40 EINTEILUNG UND DIAGNOSTIK DER KARDIOVASKULÄREN KOMPLIKATIONEN … 40 Koronare Herzerkrankung … 41 Arterielle Verschlusskrankheit einschließlich zerebrovaskulärer Komplikationen … 42 THERAPIE … 43 Versorgungsstrukturen … 43 Literaturverzeichnis … 45 Rückseite: Tab.1 Definition/Diagnose eines MVS Empfehlungen von den Angaben in dieser Leitlinie abweichen. Es ist nicht möglich, alle Dosisempfehlungen, Nebenwirkungen und Gegenanzeigen in diese Leitlinie aufzunehmen. Eine Leitlinie kann nur ein Anhalt für die Behandlung sein, die Behandlung des Patienten muss individuell entschieden werden und kann im Einzelfall von der Leitlinie abweichen. Aus der Leitlinie kann kein Rechtsanspruch auf die Behandlung abgeleitet werden. 5 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Definition s. Heft-Rückseite Tab. 1 Das Metabolische Syndrom gilt als wichtige Vorstufe sowohl für Diabetes mellitus (D. m.) Typ 2 als auch für kardiovaskuläre Erkrankungen. Es ist damit von enormer sozialer und medizinischer Bedeutung trotz Fehlens einer einheitlichen Definition, trotz vieler offener Fragen zur Ätiopathogenese, den Grenzwerten und der Wertigkeit einzelner Komponenten als koronare Risikofaktoren. Das Metabolische Syndrom bezeichnet sowohl bereits ein Cluster folgender Risiko-Faktoren (Übergewicht, erhöhte/erniedrigte Blutfette, erhöhter Blutdruck, Prädiabetes) als auch – wenn spät entdeckt oder weit fortgeschritten – das gemeinsame Vorkommen der verschiedenen manifesten Krankheiten (wie intraabdominale Adipositas, Dyslipidämie, Hypertonie, Typ-2-Diabetes). Im deutschsprachigen Raum wurde von Hanefeld und Leonhardt 1981 [Hanefeld et al. 1981] das gemeinsame Vorkommen von Fettsucht, Hyper- und Dyslipoproteinämie, Diabetes mellitus (D. m.) Typ 2, Gicht und Hypertonie, verbunden mit erhöhter Inzidenz von ischämischen Gefäßerkrankungen, Fettleber und Cholelithiasis erstmals als Metabolisches Syndrom definiert. Überernährung, Bewegungsmangel und genetische Disposition wurden als kausale Faktoren herausgestellt. 1988 wurde die Kombination kardiovaskulärer Risikofaktoren wie Dyslipidämie, arterielle Hypertonie und Hyperglykämie auf dem Boden einer Insulinresistenz von Reaven [Reaven 1988] als Syndrom X bezeichnet, wobei später in den USA auch die Termini „Insulin Resistance Syndrome“ und „Metabolisches Syndrom“ für die Bezeichnung des Clusters von Risikofaktoren (RisikoCluster) benutzt wurden. Die WHO wies 1999 [WHO 1999] auf das Fehlen einer international allgemein gültigen Definition des Metabolischen Syndroms hin und schlug eine „Arbeitsdefinition“ vor, welche zukünftig adaptiert werden sollte: gestörte Glukosehomöostase/ D. m. und/oder Insulinresistenz werden als Basiskriterien zusammen mit 2 weiteren Kriterien verwandt. Im National Cholesterol Education Program s Adult Treatment Panel III Report (ATP III) [Grundy et al. 2004; ATP III 2002] wurde auf die enge Assoziation zwischen dem Metabolischen Syndrom und Insulinresistenz verwiesen und Basiskriterien zur Identifikation eines Metabolischen Syndroms definiert: intraabdominale Adipositas, atherogene Dyslipidämie, erhöhter Blutdruck, Hyperglykämie. 6 Definition Subklinische chronische Entzündung (hsCRP-Erhöhung) und Hyperkoagulation (PAI-1- und Fibrinogen-Erhöhung) wurden als zusätzliche Komponenten des Metabolischen Syndroms mit Relevanz für kardiovaskuläre Krankheiten herausgestellt. 2005 wurde von der International Diabetes Federation (IDF) [Eckel et al. 2005; IDF 2005] eine weitere Definition des Metabolischen Syndroms vorgeschlagen, die den Schwerpunkt auf die intraabdominale Adipositas legt und sowohl Elemente der WHO Arbeitsdefinition als auch der ATP III-Definition enthält. Die IDF-Definition verlangt das Vorliegen einer intraabdominalen Adipositas als Voraussetzung für die Diagnose des Metabolischen Syndroms. Unterschiedliche Grenzwerte zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen wurden definiert, wobei die Grenzwerte für die deutsche Population so niedrig liegen, dass ab dem 50. bzw. 60. Lebensjahr etwa jeder 2. Deutsche betroffen sein müsste [Hanefeld et al. 2002]. Im IDF-Konsensusvorschlag wird zusätzlich zu dem Hauptkriterium „intraabdominale Adipositas“ als Voraussetzung für die Diagnose eines Metabolischen Syndroms das Vorliegen von mindestens 2 Nebenkriterien gefordert [Grundy et al. 2005; IDF 2005]. Für die erhöhte Nüchternglukose wurden ebenfalls neue niedrigere Grenzwerte definiert. Hierfür fehlt jedoch die notwendige Evidenz. s. Heft-Rückseite Tab. 1 Aufgrund der gleichzeitig vorhandenen metabolischen und vaskulären Störungen und der hohen Relevanz der einzelnen Faktoren für die Entwicklung vaskulärer Erkrankungen bezeichnen wir die Konstellation der verschiedenen kardiovaskulären Risikofaktoren von nun an als „Metabolisch-Vaskuläres Syndrom“ (MVS). In Anlehnung an ATP III schlagen wir – aufgrund der pathophysiologischen Bedeutung postprandial erhöhter Glukosewerte für kardiovaskuläre Erkrankungen [Larsson et al. 2005; Bartnik et al. 2004; Ceriello 2004; Rudofsky et al. 2004; Gerich 2003] – eine Definitionserweiterung unter Berücksichtigung einer gestörten Glukosetoleranz (IGT) im oGTT vor: 7 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Epidemiologie Zirka 50 – 60% der Deutschen sind übergewichtig (BMI > 25kg/m2). In Deutschland lebten im Jahre 2003 über 8 717 000 (ca. 14%) Erwachsene mit einem BMI > 30 kg/m2 und gelten somit als adipös [Statistisches Bundesamt 2005]. Davon weist ca.1% eine Adipositas Grad III (BMI > 40kg/m2) auf. Maßgeblich durch die drastische Veränderung des Lebensstils bedingt, beobachten wir in den letzten 20 Jahren weltweit einen deutlichen Anstieg von Häufigkeit und Ausmaß der Übergewichtigkeit [Haffner 2002], der von einer parallelen Entwicklung der Prävalenz des MVS begleitet ist [Zimmet et al. 2001]. Übergewichtige und Adipöse haben eine hohe Belastung mit weiteren kardiovaskulären Risikofaktoren wie hohes LDL-Cholesterol (LDL-C), niedriges HDL-Cholesterol (HDL-C), hohe VLDL und Triglyzeride (TG), D. m. Typ 2 und Hypertonie [Calle et al. 1999; Denke et al. 1994; Denke et al. 1993; Manson et al. 1990; Wilcosky et al. 1990]. Die Prävalenz des MVS variiert beträchtlich zwischen den einzelnen Studien, da es bisher keine generell akzeptierten Kriterien für die Diagnose des Syndroms gab [Larsson et al. 2005]. Das MVS gehört, zumindest in den westlichen Industrienationen, kontinuierlich zunehmend zu den häufigsten Volkskrankheiten: Es betrifft nach neuesten Zahlen aus Deutschland [Hanefeld et al. 2002], Australien und den USA [Ford et al. 2002] in den westlichen Industrienationen bereits 20 – 25% der erwachsenen Bevölkerung. Die Prävalenz des MVS ist bei Männern höher als bei Frauen: In der BOTNIA-Studie [Isomaa et al. 2001] betrug die Prävalenz bei Personen mit normaler Glukosehomöostase 10% bei Frauen und 15% bei Männern, bei Personen mit IGT betrug die Prävalenz des 8 MVS bereits 42% bzw. 64% und schließlich ist ein manifester D. m. Typ 2 in 80% mit einem MVS vergesellschaftet. Das MVS erreicht epidemische Ausmaße im mittleren und höheren Lebensalter. Zwischen 45 und 75 Jahren konnte bei jedem zweiten US-Amerikaner [Alexander et al. 2003] ein MVS nach den NCEPIII Kriterien nachgewiesen werden. In Deutschland wird in diesem Altersbereich in 20 – 30% der Bevölkerung ein MVS diagnostiziert. In der PROCAM-Studie [Assmann et al. 1998] betrug die Prävalenz des MVS bei Personen über 46 Jahre rund 25%. Es fehlen für Deutschland aber bisher repräsentative und aufgrund verschiedener Definitionen vergleichbare Untersuchungen großer Bevölkerungsgruppen. Unter Berücksichtigung der demographischen Entwicklung und aktueller Daten europäischer und deutscher Bevölkerungsstudien kann man bis zum Jahr 2010 mit fast 14 Millionen Menschen mit D. m. Typ 2 und MVS in Deutschland rechnen [Rathmann et al. 2003]. Epidemiologische Studien zeigen in den letzten 20 Jahren auch hier eine deutliche Zunahme des MVS – vorwiegend in einer Altersklientel über 40 Jahren – mit einer Verschiebung zu einem immer jüngeren Manifestationsalter. Inzwischen lässt sich auch bei Jugendlichen und Kindern in 5 – 10% ein MVS nachweisen [Rosenbloom et al. 1999]. Epidemiologische Studien bei Migranten und in Bevölkerungsgruppen mit raschem Übergang zu „westlicher Lebensweise“ zeigen eine explosionsartige Zunahme und Vorverlegung der Manifestation des MVS in jüngere Lebensjahre. Im Greisenalter nimmt die Prävalenz wieder ab, wahrscheinlich durch die verkürzte Lebenserwartung der Betroffenen. Epidemiologie / Ätiologie und Pathogenese Ätiologie und Pathogenese An der Entwicklung eines MVS sind genetische Faktoren (Suszeptibilitätsgene) und falsche Lebensgewohnheiten sowie negative Umweltfaktoren in enger Wechselwirkung beteiligt. VERERBUNG DES MVS Große Verlaufsbeobachtungen zeigten, dass Kinder von Eltern mit MVS selbst ein deutlich erhöhtes Risiko haben, an einem MVS zu erkranken. Nach Reaven ist das Syndrom zu etwa 50% genetisch bedingt [Bloomgarden 2004]. PRÄDIKTOREN FÜR MVS Ein höherer Glykämischer Index in der Nahrung ist positiv mit einer Insulinresistenz und der Prävalenz des MVS assoziiert [Thanopoulou et al. 2003]. Im Rahmen einer prospektiven Studie waren die besten Prädiktoren für die Entwicklung eines MVS der Taillenumfang, HDL-C und Proinsulin [Palaniappan et al. 2004]. INTRAABDOMINALE ADIPOSITAS Das MVS geht typischerweise mit einer Vermehrung des intraabdominalen Fettgewebes einher. Wesentlich für die Ausbildung dieser intraabdominalen Fettsucht sind neurohormonale Störungen in der Steroidhormonregulation [Björntorp 1988]. TNF alpha und Adiponektin sind antagonistisch an der Stimulation des nukleären Transkriptionsfaktors kappa B (NF-kappa B) beteiligt [Sonnenberg et al. 2004]. TNF alpha induziert einen oxidativen Stress, der pathologische Prozesse antreibt, die zu Insulinresistenz, Hypertonie, oxidierten LDL und Dyslipidämie, Glukoseintoleranz, endothelialer Dysfunktion und Atherogenese beiträgt. INSULINRESISTENZ Das intraabdominale Fettgewebe ist insulinresistent, d h. die Insulinempfindlichkeit ist deutlich herabgesetzt. Man ist heute der Meinung, dass sich das MVS auf dem Boden der Insulinresistenz (Bestimmung mittels HOMA-Score [Matthews et al. 1985] oder IRIS-Score [Forst et al. 2004]) entwikkelt. Die Insulinresistenz bewirkt • im Skelettmuskel: verminderte Glukoseaufnahme • in der Leber: verstärkte Glukoneogenese und Hemmung der Glykogenolyse • im Fettgewebe: vermehrte Aufnahme von freien Fettsäuren (FFS), verbunden mit einem verminderten antilipolytischen Effekt. Der vermehrte Fluss von FFS über die Pfortader führt zu einer verstärkten Synthese von VLDLPartikeln und damit zu einer Dyslipidämie [Julius 2003; Ginsberg et al. 2000]. DYSLIPIDÄMIE Daraus leitet sich die für das MVS typische Dyslipidämie ab mit Erhöhung der TG-Spiegel, einem erniedrigten HDL-C-Spiegel und dem Auftreten von kleinen dichten LDL-Partikeln. Hohe Konzentrationen von FFS können die Glukoseoxidation blocken, den Glukosetransport verschlechtern und zu einem gestörten Glukosestoffwechsel führen [Boden 1996]. Die hepatische Insulinsensitivität wird durch die Anflutung der FFS herabgesetzt [Björntorp 1991]. PRÄDIABETES Die Dysglykämie (IGT oder IFG), die früh im Rahmen des Insulinresistenz-Syndroms auftritt, verstärkt die Insulinresistenz weiter über Mechanismen, die als Glukosetoxizität bezeichnet werden. 9 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Eine chronische Hyperglykämie kann zur Hemmung der Lipidoxidation führen und damit zur Akkumulation von intrazellulären Lipidmetaboliten [Krebs et al. 2004]. So kann die Glukotoxizität auch indirekt durch eine Lipotoxizität verstärkt werden (Glukolipotoxizität). Das Risiko für die Entwicklung eines D. m. Typ 2 steigt mit der Anzahl Komponenten des MVS. So konnte in der WOSCOP-Studie gezeigt werden, dass eine Diabetesmanifestation viel wahrscheinlicher war bei den Personen, die 4 oder 5 Komponenten des MVS aufwiesen als bei denen mit nur 2 oder 3 [Sattar et al. 2003]. Schließlich konnte auch in der Nurses` Health Study die Bedeutung von Übergewicht für die Entwicklung eines D. m. bei 16-jähriger Beobachtungszeit herausgestellt werden [Hu et al. 2001]. Daneben waren auch ein Mangel an körperlicher Bewegung, Fehl- und Über-Ernährung, Rauchen und absolute Alkohol-Abstinenz mit einem erhöhten Risiko für D. m. verbunden – sogar nach Adjustierung für den BMI [Koppes et al. 2005]. In einer prospektiven Finnischen Studie erwiesen sich ein niedriger Gesamt-Testosteronund SHBG-Spiegel als unabhängige Prädiktoren für die Entwicklung eines MVS und eines D. m. bei Männern im mittleren Alter [Laaksonen et al. 2004]. HYPERTONIE Der Blutdruck ist sowohl mit dem Insulinspiegel als auch mit der Insulinresistenz streng assoziiert [Ferrannini et al. 1997]. Insulin verursacht eine Natrium-Retention. Außerdem werden für die Assoziation zwischen Insulinresistenz und Hypertonie noch die Proliferation der glatten Gefäßmuskulatur und ein veränderter Kationentransport diskutiert [DeFronzo et al. 1991]. Es gibt eine negative Beziehung zwischen dem Blutdruck-Anstieg und dem NO im Urin, was darauf hinweist, dass 10 der Blutdruck-Anstieg bei Personen mit Insulinresistenz in Beziehung steht zu der Unfähigkeit dieser Individuen, den Grad der Natrium-Retention durch steigende NO-Spiegel auszugleichen [Facchini et al. 1999]. Nach Dieterle [Dieterle et al. 1968] kann die Hypertonie als ein prädiabetischer Zustand betrachtet werden. Neueste Untersuchungen zeigen, dass beim MVS höchstwahrscheinlich die endokrine Aktivität der Fettzellen eine wesentliche Rolle bei der Entstehung der Hypertonie spielt. So konnten vor kurzem Faktoren aus menschlichen Adipozyten isoliert werden, die direkt die Aldosteronsekretion stimulieren [Lamounier-Zepter et al. 2004; Ehrhart-Bornstein et al. 2003]. Folglich finden sich bei Personen mit MVS gehäuft Störungen der Blutdruckregulation. Etwa jeder Zweite mit MVS hat eine Hypertonie. INFLAMMATION Entzündungszeichen sind ebenfalls Bestandteil des MVS und könnten in die Entstehung der Arteriosklerose involviert sein. In der 3. National Health and Nutrition Examination Survey wurde im Rahmen des MVS ein erhöhter Spiegel an hochsensitivem C-reaktiven Protein (hsCRP), an Fibrinogen sowie eine erhöhte Leukozytenzahl gemessen [Ford 2003]. Eine Adipositas kann eine proinflammatorische Diathese (vermehrte Produktion von Interleukin 6 und hsCRP) und eine Insulinresistenz aufrechterhalten und so einen D. m. fördern. Das hsCRP erwies sich als prädiktiv sowohl für einen D. m. Typ 2 als auch für kardiovaskuläre Erkrankungen [Sattar et al.2003]. Außerdem vermindert die Adipositas die Expression von Adiponektin [Chandran et al. 2003], das sowohl antiinflammatorische als auch insulinsensibilisierende Eigenschaften hat [Maeda et al. 2002] und mit erhöhtem HDL-C verbunden ist [Cnop et al. 2003]. Ätiologie und Pathogenese GERINNUNGSAKTIVIERUNG Die Faktoren VII, VIII und der Von-Willebrand-Faktor sind glykämieabhängig. Weiterhin konnte eine positive Korrelation zwischen der Faktor-VII-Aktivität und der Chol- und TG-Konzentration beobachtet werden. Auch eine Hypofibrinolyse als Folge entweder einer Erhöhung der basalen Plasminogen-Aktivator-Inhibitor-1-Aktivität (PAI-1) oder einer unzureichenden Freisetzung von GewebePlasminogenaktivator ist verantwortlich für den hyperkoagulabilen Status beim MVS [Schernthaner 1996]. Für das MVS wurden auch erhöhte Fibrinogen-Spiegel beschrieben, die als Risikofaktor für kardiovaskuläre Erkrankungen erkannt wurden [Temelkova-Kurtschiev 2002]. FETTLEBER (NAFL/NASH) Typisch für das MVS ist das Auftreten einer Fettleber (NAFL). Die nicht-alkoholische Steatohepatitis (NASH) kann nur unter Berücksichtigung klini- scher Gegebenheiten histologisch erkannt werden. Die Steatosis hepatis ist mit Adipositas, erhöhten TG, D. m. und Hypertonie verbunden [Sanyal et al. 2001]. Durch den vermehrten Fluss der FFS zur Leber kommt es zu einer gesteigerten Fettsäure-Oxidation, die oxidativen Stress hervorruft sowie zur de novo Triglyzeridsynthese führt, was die Leberverfettung bedingt. PCO-SYNDROM Auch das Syndrom der Polyzystischen Ovarien (PCO) wird zunehmend als Facette des MVS gesehen und entsprechend behandelt [Dunaif 1997]. SCHLAFAPNOE-SYNDROM Ebenso ist das Schlafapnoesyndrom nicht nur über die Adipositas mit dem MVS assoziiert, sondern wahrscheinlich über die nächtlichen Apnoe-Ereignisse mit Sympathikusaktivierung direkt ein Trigger der Insulinresistenz [Harsch et al 2004]. 11 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Natürliche Geschichte / Verlauf des MVS Über Entstehung und Verlauf des MVS ist wegen des Fehlens prospektiver Studien, insbesondere im Jugendalter, wenig Verlässliches bekannt [Kahn et al. 2005]. Neben dem genetischen Profil (z. B. Familienanamnese für D. m. Typ 2) sind Beginn und Ausprägung der Krankheiten des MVS in hohem Maße von Über- und Fehlernährung und Bewegungsmangel abhängig. Das gilt besonders dann, wenn bei den Patienten eine Koronare Herzkrankheit (KHK) diagnostiziert wird [Norhammer et al. 2002]. In diesem Falle ist deshalb ein 75-g-oGGT obligatorisch. Der Anstieg der Komorbiditäten, besonders der KHK, verläuft dazu parallel und beginnt im 4. – 5. Lebensjahrzehnt. Am Anfang steht zumeist eine intraabdominale Adipositas, die den anderen Erkrankungen um 5 – 10 Jahre vorausgeht. Die folgliche Insulinresistenz als Ursache aller Komponenten des MVS galt bisher als nicht gesichert, sie wird aber immer häufiger als der gemeinsame ätiologische Nenner für die Einzelkomponenten des MVS gesehen (s. Abb. 1 und 2), was z. T. auch durch Studien belegt werden konnte [Forst et al. 2004]. Eine wichtige frühe Komponente ist auch die nicht-alkoholische Fettleber als Symptom und Ursache der Insulinresistenz. Die „kranke Fettzelle“ führt zu Insulinresistenz, Adiponektinmangel und erhöhtem Zufluss von FFS zur Leber und der Muskulatur, so dass sich ein circulus vitiosus entwikkelt, in dessen Folge die anderen Komponenten – Dyslipidämie, Hypertonie und Hyperglykämie – entstehen [Meigs et al. 1998]. Im mittleren Lebensalter manifestiert sich das MVS meist zuerst als Dyslipidämie oder Hypertonie [Hanson et al. 2002; Laaksonen et al. 2002]. Im höheren Lebensalter wird die Hyperglykämie zum wichtigsten Leitsymptom [Rathmann et al. 2003]. 12 Abb. 1 Natürliche Geschichte des MVS Natürliche Geschichte des MVS Abb. 2 Common-Soil-Hypothese Die Common-Soil-Hypothese [Stern 1995]: Intraabdominale Adipositas und genetische Disposition stellen die gemeinsame Basis dar, auf der metabolische und vaskuläre Veränderungen wie Typ-2-Diabetes und kardiovaskuläre Erkrankungen entstehen, die in metabolischvaskulären Endpunkten münden (s. Abb. 2). 13 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Diagnostisches Konzept und Früherkennung des MVS Die Diagnose eines MVS ist – in Anlehnung an ATP III – klinisch zu stellen, wenn ≥ 3 der genannten Risikofaktoren (RF) vorliegen (s. Tab. 1 Rückseite). Wenn nur ein oder zwei Faktoren vorliegen, d. h. wenn die Kriterien eines MVS noch nicht erfüllt sind, richtet sich das diagnostische Vorgehen nach den bekannten Leitlinien (Adipositas-Leitlinie, Hypertonie-Leitlinie, Fettstoffwechsel-Leitlinie, Diabetes-Leitlinien). Grundsätzlich sollte bei Manifestation einer Facette des MVS stets nach den anderen gesucht werden, da diese oft schon im Latenzstadium nachweisbar sind und hier die besten Aussichten für eine primäre Prävention der anderen Krankheiten und der damit verbundenen Gefäßkomplikationen gegeben sind (s. Tab. 2). Deshalb sollte immer eine komplette Diagnostik erfolgen! Tab. 2 Prävalenz der differenten Phänotypen des MVS in der DIG-Population (DIG-Studie) [Hanefeld et al. 2006] Phänotyp Gesamtpopulation Männer Frauen DM+RR+TG (%) 55,9 57,1 54,6 DM+RR+Adipos (%) 50,7 45,3* 55,6* DM+TG+Adipos (%) 33,7 31,1* 36,6* DM+RR+HDL (%) 9,7 10,6 8,6 DM+HDL+TG (%) 8,4 8,7 7,9 DM+HDL+Adipos (%) 5,6 5,6 5,6 31,9 29,5* 34,6* DM+RR+HDL+TG (%) 7,8 8,3 7,2 DM+RR+HDL+Adipos (%) 5,3 5,5 5,2 DM+HDL+TG+Adipos (%) 4,7 4,8 4,6 DM+RR+HDL+TG+Adipos (%) 4,4 4,6 4,2 74,4 73,2 75,8 DM+RR+TG+Adipos (%) MVS insgesamt (%) *signif. Unterschiede p < 0,001 14 ADDENDUM ZUR DIAGNOSTIK DES MVS 15 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Diagnostik der intraabdominalen Adipositas (s. auch Adipositas-Leitlinie der Deutschen Adipositas Gesellschaft [Hauner et al. 2005]) Eine intraabdominale Adipositas liegt vor bei einem Taillenumfang von: > 94 cm (Männer) erhöhtes Risiko > 80 cm (Frauen) bzw. > 102 cm (Männer) stark erhöhtes Risiko > 88 cm (Frauen) [EASO 2002; Lean et al. 1995] Diagnostik der Dyslipidämie bei MVS (s. auch Praxis-Leitlinie Fettstoffwechselstörungen [Fischer S et al. 2005] und National Cholesterol Education Program [ATPIII 2001]) Erhöhte Triglyzeride (TG) und ein niedriges HDLCholesterol (HDL-C) sind zentrale Komponenten des MVS [Menuet et al. 2005; Robins 2005] (s.Tab.4). Das MVS ist häufig auch mit leicht erhöhten LDL-CWerten und mit einer Vermehrung der kleinen, dichten LDL (small dense LDL) verbunden (sog. LipidTrias). Wichtiger als das Ausmaß des Übergewichts (BMI, s. Tab.3) ist das Fettverteilungsmuster, d. h. das Ausmaß der intraabdominalen Adipositas (Taillenumfang!), das das metabolisch-vaskuläre Risiko entscheidend mitbestimmt (s. oben). Z. B. ist die familiär kombinierte Hyperlipoproteinämie (HLP) eine Sonderform, die in einem hohen Prozentsatz mit mehreren Erkrankungen des MVS kombiniert auftreten kann. Tab. 3 Gewichtsklassifikation bei Erwachsenen anhand des BMI [WHO 2000] Tab. 4 Kriterien der Dyslipidämie bei MVS [Cleeman et al. 2001] Kategorie BMI (kg/m2) Normalgewicht 18,5 – < 25 Übergewicht 25 – < 30 Adipositas Grad I 30 – < 35 Adipositas Grad II 35 – < 40 Adipositas Grad III ≥ 40 Hypertriglyzeridämie Messung des Taillenumfangs zur Abschätzung der intraabdominalen Fettdepots: Mitte zwischen unterem Rippenbogen und Crista iliaca [Seidell et al. 1996]. 16 TG > 1.7 mmol/l > 150 mg/dl und/ oder HDL-Defizit Männer HDL-C < 1.0 mmol/l < 40 mg/dl Frauen HDL-C < 1.3 mmol/l < 50 mg/dl Bestimmung der Lipidparameter sollte nüchtern nach einer mindestens 8-stündigen, besser 12stündigen Nahrungskarenz erfolgen, wobei die Abnahme unter üblichen Ernährungs- und Lebensbedingungen durchzuführen ist (keine Umstellung der Ernährung vor der Blutabnahme, keine Abnahme bei Zweiterkrankung). Unter Praxisbedingungen ist die Bestimmung der gesamten Lipid-Trias TG, HDL-C, LDL-C (und evtl. Gesamt-C) notwendig. ADDENDUM Diagnostik eines (Prä-)Diabetes bei MVS (s. Leitlinie D. m. Typ 2 der Fachkommission Diabetes Sachsen [Schulze et al. 2002] und Nationale Versorgungs-Leitlinie [Bundesärztekammer 2002]) Als Prädiabetes werden die Vorstadien des D. m. Typ 2, die gestörte Nüchternglukose (IFG) und die gestörte Glukosetoleranz (IGT) bezeichnet (s. Tab. 5): Diagnostik eines erhöhten Blutdrucks bei MVS (s. auch Leitlinien der Deutschen Hochdruckliga [Deutsche Hochdruck-Liga 2003], der European Society of Hypertension [European Society of Hypertension 2003] und JNC 7 [Lenfant et al. 2003]) Ein erhöhter Blutdruck liegt beim MVS bereits ab 130/85 mmHg vor. Die Einteilung nach der Blutdruckhöhe gibt Tab. 6 wieder. Modifikationen insbesondere hinsichtlich der Höhe des diastolischen Blutdrucks und auch bzgl. der Bedeutung der Blutdruckamplitude („pulse pressure“) sind aufgrund neuerer Daten zu erwarten [Assmann et al. 2005]. Tab. 5 Kriterien des Prädiabetes [ADA/WHO 1997] Gestörte Nüchtern- und/ glukose (NG) oder Plasmaglukose nüchtern > 6.1 – < 7.0 mmol/l > 110 – < 125 mg/dl kapillär > 5.6 – < 6.1 mmol/l > 100 – < 110 mg/dl Tab. 6 Blutdruckklassifikation [WHO 1999] Gestörte Glukosetoleranz Plasmaglukose 2h p.p. im 75-g-oGGT > 7.8 – < 11.1 mmol/l > 140 – < 200 mg/dl Bestimmung der Glukoseparameter Bei Vorhandensein von mindestens 2 Komponenten des MVS sollte stets eine Nüchtern-Plasma-Glukosebestimmung vorgenommen werden. Bei einer Nüchternplasmaglukose > 6.1 mmol/l sollte anschließend ein 75-g-oGTT durchgeführt werden zur Erkennung eines Prädiabetes oder manifesten D. m. Blutdruckklassen* Systolischer Blutdruck (mmHg) Optimal < 120 Normal < 130 Erhöht 130 – < 140 Leichte Hypertonie 140 – < 160 (Grad 1) Mittelschwere 160 – < 180 Hypertonie (Grad 2) Schwere Hypertonie > 180 (Grad 3) Isolierte systolische > 140 Hypertonie Diastolischer Blutdruck (mmHg) < 80 < 85 85 – < 90 90 – < 100 100 – < 110 > 110 * Wenn systolischer und diastolischer Blutdruck in unterschiedliche Klassen fallen, ist die höhere Klasse relevant. Zur Definition des D. m.: s. Leitlinie Diabetes mellitus Typ 2 der Fachkommission Diabetes Sachsen bzw. Nationale Versorgungs-Leitlinie D. m. Typ 2. 17 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Verfahren der Blutdruckmessung 1. Gelegenheitsmessung durch den Arzt • Standardisierte Blutdruckmessung im Sitzen nach 5 Min. Ruhe • Bezugspunkt der Messung: mittleres Sternumdrittel (Herzhöhe). • Messort: Zunächst wird an beiden Oberarmen der Blutdruck gemessen. Sofern nicht an beiden Armen gemessen wird, kann eine Hypertonie in bis zu 18% übersehen werden [Breuer 2004]. Wenn bei sequenziellen Messungen an beiden Armen ein Blutdruckunterschied bestehen bleibt, so sollte fortan an dem Arm mit dem höheren Blutdruck gemessen werden. Bei einer Differenz > 20/10 mmHg ist eine angiologische Diagnostik ratsam. • Manschettenumfang: Wird eine zu kleine Manschette gewählt, resultiert eine Überschätzung des Blutdrucks um bis zu 30 mmHg und umgekehrt. Nach dem Oberarmumfang werden folgende Manschetten empfohlen: Umfang < 24 cm 10 x 18 cm Umfang 24 – 32 cm 12 – 13 x 24 cm Umfang 33 – 41 cm 15 – 17 x 30 cm Umfang > 41 cm 18 x 36 cm Die aufblasbare Gummimanschette sollte ca. 80 % des Oberarmes umschließen. • Die auskultatorische Lücke wird umgangen, indem bei der ersten Messung der systolische Blutdruck palpatorisch erfasst und die Manschette um 30 mmHg über diesen aufgeblasen wird. 2. Die Blutdruckselbstmessung durch den Patienten wird ausdrücklich empfohlen, weil sie eine Praxishypertonie demaskiert, eine bessere Klassifizierung durch viele Messwerte ermöglicht, zur Therapieüberwachung beiträgt und die Compliance verbessert. Zu bevorzugen sind Geräte für die Messung am Oberarm [Deutsche HochdruckLiga 2003]. 3. Ambulante Blutdruckmessung (ABDM): Die Blutdruckregistrierung über 24 Stunden weist eine hohe Messdichte am Tag (alle 15 Min.) und in der Nacht (alle 30 Min.) auf, deckt einen inversen Tag-Nacht-Rhythmus auf (DD: sekundäre Hypertonie) und trägt zur Therapieüber- 18 wachung bei. Eine ABDM sollte durchgeführt werden bei Patienten mit MVS, wenn wiederholt Werte >130/85 mmHg gemessen wurden. Die Therapiekontrolle einer medikamentösen Einstellung und ggf. Adaptation macht zur Erfassung der optimalen Medikamentenwirkung in der Regel nach 1 Monat Sinn. Sofern der systolische Blutdruck > 20 mmHg und der diastolische > 10 mmHg über dem Zielblutdruck liegt, ist als initiale Therapie eine Kombinationstherapie zu erwägen [Lenfant et al. 2003]. Klassifizierung (ABDM): • 24-Std.-Mittelwert < 130/80 mmHg • Tagesmittelwert < 135/85 mmHg • Nachtmittelwert < 120/75 mmHg Die Definition einer Hypertonie wird durch das Überschreiten des Tagesmittelwertes gestellt [Lüders et al. 2005] Messtechnik für die ABDM [Lüders et al. 2005]: • Die Messgenauigkeit des eingesetzten Gerätes sollte nach einem anerkannten Protokoll validiert sein (z.B. DIN 58130 oder dem internationalen Protokoll der European Society of Hypertension). • Beim Anlegen des Gerätes sollten zwei Kontrollmessungen mittels Standard-Blutdruckmessgerät durchgeführt werden, um etwaige Abweichungen des ABDM-Gerätes sofort zu erkennen. • Sofern keine seitenabhängigen Blutdruckunterschiede von mehr als 10 mmHg vorliegen, sollte die Blutdruckmanschette am nicht-dominanten Arm angelegt werden, um die Gefahr von Bewegungsartefakten zu reduzieren. • Jeder Patient muss eine Einweisung in den Messablauf erhalten. Auf die Vermeidung des häufigsten Fehlers durch Armbewegungen des Patienten während der Messung ist bei Anlage der Apparatur besonders hinzuweisen. • Wie bei der konventionellen Blutdruckmessung ist auch bei der ABDM die Manschettengröße dem Oberarmumfang anzupassen (siehe oben). 4. Systolische Blutdruckmessungen unter Belastung werden nicht als Routinebestimmung empfohlen aufgrund nicht ausreichender Datenlage hinsichtlich einer über die konventionelle Blutdruckmessung hinausgehenden zusätzlichen Relevanz und aufgrund pathophysiologischer Imponderabilien [European Society of Hypertension 2003]. Risikostratifizierung beim MVS Risikostratifizierung beim MVS Um eine Fehl-, Unter- und Überversorgung zu vermeiden ist eine sorgfältige Risikostratifizierung vor Einleitung einer effektiven und angemessenen Therapie sowie für die Festlegung der individuellen Therapieziele notwendig. Da jede einzelne zusätzliche Komponente des MVS das kardiovaskuläre Risiko weiter ansteigen lassen kann, ist es wichtig, das absolute Risiko einer Person in Bezug auf KHK zu bestimmen. Die Kategorie des Risikos bestimmt die Intensität des weiteren Vorgehens. Vom individuellen Risiko abhängig sind Therapieziele sowie Art und Umfang der Differential-Therapie. Auch Arzt und Patient sind an einer Schätzung des individuellen Risikos für Akut- und Spätfolgen des MVS interessiert. Neuere Daten ermöglichen auf der Basis epidemiologischer Studien (Bsp. Framingham [Wilson et al. 1998], PROCAM [Assmann et al. 2002], SCORE [De Backer et al. 2003], UKPDS [Stevens et al. 2001]) eine Kalkulation des Individualrisikos. Das individuelle Risiko wird determiniert durch: • Anzahl und Ausprägung genetischer Faktoren einschließlich des Geschlechtes, • das Alter und • weitere (beeinflussbare) Risikofaktoren wie intraabdominale Adipositas, hoher Blutdruck, Störungen des Fett- und Kohlehydrat-(KH-) Stoffwechsels, proinflammatorischer Status, Rauchen und psychosoziale Risikokonstellation bei reduzierter physischer Aktivität und Fehlernährung. Bei manifestem D. m. Typ 2 besitzen Blutdruck und LDL-C die größte Bedeutung als Risikofaktor. Definition Risikostratifizierung beim MVS: Das MVS bezeichnet ein kardiovaskuläres Hochrisikoprofil, das aus einem Cluster von Risikofaktoren besteht. Jede einzelne Komponente des MVS bedeutet ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko, aber als Kombination vervielfacht es sich [Stamler et al. 1989]. Das individuelle Risiko wird durch zusätzliche Begleit- und Folgeerkrankungen wesentlich erhöht. Das 10-Jahres-Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis wird am besten mittels des PROCAM Scores (s. Tab. 7) bestimmt, um Personen zu identifizieren, die ein so hohes Risiko haben, dass eine intensivierte Therapie gerechtfertigt ist [Assmann et al. 2002]. Das Risiko wird anhand der erreichten Punktzahl sehr detailliert fortlaufend bestimmt (s. Tab. 7c). Eine Zusammenfassung in Risikokategorien ist empfehlenswert: < 10%, 10 – 20%, 20 – 30% und > 30%. Ein 10-Jahres-Risiko von > 30% stellt die höchste Risikokategorie dar und entspricht dem Risiko einer Person mit einer bekannten KHK oder mit D. m. Typ 2 (KHK-Risikoäquivalent). Für manifeste Diabetiker kann zur Risikostratifizierung auch der UKPDS-Risiko-Score [Stevens et al. 2001] benutzt werden, der die Einstellungsqualität des D. m. mit berücksichtigt (HbA1c-Werte). 19 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Den Effekt einer Modifikation beeinflussbarer Risikofaktoren hat die INTERHEART-Studie [Yusuf et al. 2004] untersucht (isolierte und additive Risiken bei MVS mit/ohne zusätzliche Risikofaktoren). Als erhöht bzw. kritische Grenzwerte gelten dabei hsCRP-Konzentrationen über 1 bzw. 3 mg/l [Myers et al. 2004]. Zur Zeit wird der praktische Wert der hsCRP-Bestimmung noch unterschiedlich eingeschätzt [Levinson et al. 2005; Ridker 2004]. Das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse kann bei Patienten mit MVS weiter erhöht werden durch einen proinflammatorischen Zustand. Auch ein prothrombotischer Status sowie eine Mikroalbuminurie erhöhen das Risiko weiter. Tab. 7a PROCAM-Score www.assmann-stiftung.de [Assmann et al. 2002] LDL-Cholesterin (mmol/l) HDL-Cholesterin (mmol/l) < 2.6 2.63 – 2.74 2.75 – 2.87 2.88 – 3.00 3.01 – 3.13 3.14 – 3.25 3.28 – 3.39 3.40 – 3.52 3.53 – 3.65 3.66 – 3.78 3.79 – 3.91 3.92 – 4.04 4.05 – 4.17 4.18 – 4.30 4.31 – 4.43 4.44 – 4.56 4.57 – 4.69 4.70 – 4.82 4.83 – 4.95 4.96 – 5.09 > 5.10 < 0.91 0.94 – 0.96 0.99 – 1.01 1.04 – 1.07 1.09 – 1.12 1.14 – 1.17 1.20 – 1.22 1.25 – 1.27 1.30 – 1.33 1.35 – 1.38 1.40 – 1.43 > 1.43 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Triglyzeride (mmol/l) < 1.15 0 1.15 – 1.71 2 1.73 – 2.29 3 > 2.3 4 Systolischer Blutdruck (mmHg) Alter (Jahre): 35 bis 65 Alter – 35 < 110 110 – 119 120 – 129 130 – 139 140 – 149 150 – 159 > 160 0 1 2 3 4 5 6 Nüchternblutzucker (mmol/l) Zigarettenrauchen Nie Früher zur Zeit 0 2 9 Blutdrucksenkendes Mittel < 6.66 > 6.66 0 3 Nein Ja 0 2 Diabetes Nein Ja 0 4 Familiäre Belastung Nein 0 Ja 5 Frauen haben im Alter zwischen 45 und 65 nach den bisherigen Ergebnissen der PROCAM-Studie generell ein deutlich niedrigeres Herzinfarktrisiko – nur 1/4 des Risikos gleichaltriger Männer. Ausnahme: Frauen mit D. m. Typ 2 haben etwa das gleiche Herzinfarktrisiko wie gleichaltrige Männer mit D. m. Typ 2 [Assmann et al. 2002]. 20 Risikostratifizierung beim MVS Tab. 7b PROCAM-Score www.chd-taskforce.de [Assmann et al. 2002] LDL-Cholesterin (mg/dl) < 100 101 – 105 106 – 110 111 – 115 116 – 120 121 – 125 126 – 130 131 – 135 136 – 140 141 – 145 146 – 150 151 – 155 156 – 160 161 – 165 166 – 170 171 – 175 176 – 180 181 – 185 186 – 190 > 191 – 195 > 196 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 HDL-Cholesterin (mg/dl) < 35 36 – 37 38 – 39 40 – 41 42 – 43 44 – 45 46 – 47 48 – 49 50 – 51 52 – 53 54 – 55 > 55 11 10 9 8 7 6 5 4 3 2 1 0 Triglyzeride (mg/dl) < 100 0 100 – 149 2 150 – 199 3 > 200 4 Systolischer Blutdruck (mmHg) Alter (Jahre): 35 bis 65 Alter – 35 < 110 110 – 119 120 – 129 130 – 139 140 – 149 150 – 159 > 160 0 1 2 3 4 5 6 Nüchternblutzucker (mg/dl) Zigarettenrauchen Nie Früher zur Zeit 0 2 9 Blutdrucksenkendes Mittel < 120 > 120 0 3 Nein Ja 0 2 Diabetes Nein Ja 0 4 Familiäre Belastung Nein 0 Ja 5 Tab. 7c PROCAM-Score www.chd-taskforce.de [Assmann et al. 2002] Anzahl der Punkte Herzinfarktrisiko in 10 Jahren (%) Anzahl der Punkte Herzinfarktrisiko in 10 Jahren (%) <8 9 – 11 12 – 13 14 – 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7 0.8 0.9 1.0 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.7 1.9 2.1 2.2 2.4 2.6 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 2.9 3.2 3.5 3.8 4.1 4.5 4.7 5.2 5.6 6.0 6.9 7.3 8.2 9.1 10.1 12.0 12.0 12.8 13.4 14.3 16.7 Anzahl in Punkten 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 > 73 Herzinfarktrisiko in 10 Jahren (%) 18.3 19.0 21.3 23.6 25.4 27.8 30.1 32.0 34.0 36.0 38.0 41.0 43.0 45.0 48.0 51.0 54.0 57.0 > 60 21 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Therapieziele beim MVS Die Festlegung der Zielwerte erfolgt stets nach der Risikostratifizierung (s. S. 19 – 21), d. h. die Zielwerte werden in Abhängigkeit vom Vorliegen des Risikos (bzw. anderer Risikofaktoren oder Begleiterkrankungen) definiert: Die Anzahl und die Ausprägung bestehender Risikofaktoren und bereits vorhandene Gefäßveränderungen bestimmen sämtliche Therapieziele bzw. Zielwerte. Die (Individual-)Prognose und der Zustand des Patienten sind stets zu berücksichtigen. Bis jetzt existieren jedoch keine allgemein anerkannten Therapieziele für das MVS als Ganzes, außer für die einzelnen Krankheiten als Komponenten des Clusters. Da alle bisherigen Definitionen des MVS (IDFCon-sensus [Eckel et al. 2005], NCEP-III-Kriterien [ATPIII 2002], die WHO-Definition [WHO 1999] und die deutschen Definitionen [Hanefeld et al. 1981, Def. Tab.1]) mindestens 3 Krankheiten (oder deren Vorstadien) des tödlichen Quartetts erfordern, um die Diagnose zu rechtfertigen, verkörpern diese Patienten eine „Hochrisikogruppe“. 22 Ein Wegweiser für die Kategorisierung und die Festlegung von Therapiezielen beim MVS sollte – beispielsweise entsprechend dem NCEP-IIIProgramm für Risikokategorien -– der Nachweis von kardiovaskulären Erkrankungen (Myokardinfarkt, dokumentierte KHK, Schlaganfall, AVK) sein: Wenn das MVS mit arteriosklerotischen Krankheiten assoziiert ist, sollten für diese Personen die Kriterien des „sehr hohen Risikos“ zutreffen [Isomaa et al. 2001]. Durch Extrapolation sollte das globale Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse als ein Wegweiser benutzt werden, um Zielgrößen und Risikokategorien für Patienten mit MVS zu definieren. Gegenwärtig schließt die Tab. 8 arbiträre Grenzwerte für die Hyperglykämie und die Dyslipidämie ein, die nicht evidenzbasiert sind, sondern Extrapolationen von epidemiologischen Studien darstellen. Sie zeigen, dass das Risiko entlang eines Kontinuums ansteigt, das weit unterhalb von akzeptierten Grenzwerten für einzelne Krankheiten des MVS beginnen kann. CAVE: Beim MVS sind stets mindestens 3 Faktoren vorhanden. Deshalb gibt es beim MVS kein niedriges Risiko! t Generelle Therapieziele • Vermeidung des Fortschreitens der Krankheiten des MVS, • primäre Prävention von D. m. Typ 2 und kardiovaskulärer Erkrankungen, die ihren Ursprung im MVS haben, in dem die Patienten aus ihrem hohen bzw. höchsten Risikobereich herausgeführt werden (in der Regel eine Stufe tiefer). Therapieziele beim MVS Tab. 8 Anzustrebende Zielwerte beim MVS (in Anlehnung an ATP III [ATPIII 2002] und Hanefeld [Hanefeld et al. 2005]) * Zielwerte Einheit Gewicht Taillenumfang % cm TG mmol/l mg/dl HDL- C mmol/l mg/dl mmol/l mg/dl Anteil Männer Frauen High risk: KHK-10-J-Risiko 20 – 30 % 3 Faktoren vorhanden, kein D. m. anzustrebender → optimaler Zielwert Very high risk:* KHK-10-J-Risiko > 30 % > 3 Faktoren oder zusätzlich D. m. (KHK-Äquivalent) oder manifeste KHK anzustrebender → optimaler Zielwert Reduzieren um 5 % 102 → 94 88 → 80 Reduzieren um 5 % <102 → 94 < 88 → 80 2.2 200 Männer Frauen → 1.7 → 150 > 0.9 > 35 > 1.0 > 40 3.4 130 < 1.7 < 150 > 1.1 > 43 > 1.3 > 50 LDL- C mmol/l mg/dl → 2.6** → 100 RR mmHg NüchternGlukose mmol/l i.P. mg/dl mmol/l kap. mg/dl 7.0 126 6.0 110 → → → → 6.0 110 5.6 100 6.0 110 5.5 100 → 5.6 → 100 → 5.3*** → 95 pp. Glukose mmol/l mg/dl 8.9 160 → 6.7 →120 7.8 140 → 6.0 → 110 HbA1c % – (normal) 140/90 → 130/85 Da, sobald ein D. m. vorliegt, auch ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko vorhanden ist (= KHK-Äquivalent), sind sämtliche Zielwerte niedriger einzustellen als bei Patienten ohne diesen zusätzlichen Risikofaktor. ** Aufgrund neuer Studiendaten [Cannon et al. 2004; Colhoun et al. 2004; Nissen et al. 2004] wird diskutiert, eine LDL-CSenkung auf < 2,6 mmol/l (100 mg/dl) dann anzustreben, wenn das KHK-Risiko in den nächsten 10 Jahren zwischen 10 und 20 % liegt bzw. das LDL-C sogar auf < 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl) abzusenken bei Hochrisikopatienten, bei denen die Wahrscheinlichkeit für ein Koronarereignis in den nächsten 10 Jahren über 30% liegt. *** Für Kapillarblut liegen keine Daten/Angaben vor. 2.6 100 → 1.8** → 70 130/85 → 120/80 < 6.1 (bei Diabetikern) Diese strengen Zielwerte sollen allmählich, schrittweise erreicht werden. In der Praxis sind zunächst individuelle Therapieziele zu vereinbaren. 23 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom t t t Empfohlene Häufigkeit von Kontrolluntersuchungen Die Kontrolle der Laborparameter sollte mindestens halbjährlich erfolgen in Abhängigkeit vom individuellen Risiko, von der Höhe der Werte bzw. der laufenden Therapie, um das Fortschreiten des MVS und den Therapieerfolg ausreichend beurteilen zu können. Bei Patienten mit „very high risk“ Kontrollen einmal pro Quartal. Zusätzlich sollte der Patient zur eigenverantwortlichen Selbst-Kontrolle von Blutdruck und Gewicht angehalten werden. BEHANDLUNGSZIEL KÖRPERGEWICHT / TAILLENUMFANG (BEI MVS) Für die Adipositas könnte das wünschenswerte Körpergewicht die Zielgröße sein, wobei auch der Taillenumfang abnimmt. Dies ist jedoch kein realistisches Ziel. Lebensstilinterventions-Studien bei Personen mit IGT zur Prävention des D. m. haben gezeigt, dass eine Reduzierung des Übergewichts um etwa 5% eine realistische Zielgröße war, die signifikant zur Prävention des D. m. Typ 2 beitrug und assoziierte Komponenten des MVS verbesserte [Knowler et al. 2002; Tuomilehto et al. 2001; Pan et al. 1997]. Eine Lebensstilmodifikation mit den Zielen von ca. 7% Gewichtsreduktion und 150 Minuten körperlicher Aktivität pro Woche verminderte die Inzidenz von neu entdecktem D. m. um bis zu 58% [Knowler et al. 2002; Tuomilehto et al. 2001]. Ein mittlerer Gewichtsverlust von 5,6 kg reduzierte die Inzidenz von D. m. Typ 2 auf 4,8 pro 100 Patientenjahre, die „number needed to treat“ (NNT) war 7, d. h. es mussten 7 Patienten behandelt werden, um 1 Diabetesmanifestation zu verhindern (NNT = 7). Da Adipositas eine chronische Erkrankung mit hoher Rezidivrate ist, ist es unabdingbar, über die eigent24 liche Phase der Gewichtsreduktion hinaus eine langfristige Gewichtskontrolle zu erreichen. Dabei ist die Stabilisierung des reduzierten Gewichts bzw. eine fortdauernde mäßige Gewichtsabnahme dem Streben nach Normalgewicht vorzuziehen [SIGN 1996]. BEHANDLUNGSZIEL BLUTFETTE (BEI MVS) Zielwerte für HDL-C und TG s. Tab. 8. Aufgrund neuer Studiendaten [Cannon et al. 2004; Colhoun et al. 2004; Nissen et al. 2004; HPS 2002] wird diskutiert, bei Patienten mit sehr hohem Risiko (very high risk), d. h. wenn die Wahrscheinlichkeit für ein Koronarereignis in den nächsten 10 Jahren über 30% liegt, das LDL-C auf < 1,8 mmol/l (< 70 mg/dl) zu senken. Wenn das KHK-Risiko in den nächsten 10 Jahren zwischen 10 und 20% liegt ist eine LDL-C-Senkung auf < 2,6 mmol/l (100 mg/dl) zu empfehlen. BEHANDLUNGSZIEL BLUTDRUCK (BEI MVS) Die in Tab. 8 empfohlenen Blutdruckwerte basieren auf den Leitlinien der Deutschen HochdruckLiga [Deutsche Hochdruck-Liga 2003]. Sogar eine scheinbar kleine Reduktion des Blutdrucks (RR) hat einen signifikanten präventiven Effekt auf kardiovaskuläre Ereignisse. Eine Reduktion des systolischen RR um 3 mmHg führte zu einer 8%igen Reduktion der Schlaganfall-Mortalität und zu einer 5%igen Reduktion der Mortalität an KHK [Stamler et al. 1989]. BEHANDLUNGSZIEL BLUTZUCKER (BEI MVS) Da der D. m. als KHK-Äquivalent bezeichnet wird, gelten bei Typ-2-Diabetikern die Ziele wie bei Hochrisikopatienten (very high risk) (s. Tab. 8, Spalte 2). Generell ist die möglichst normnahe Einstellung des Nüchtern- und postprandialen Blutzuckers sowie HbA1c (Gluko-Trias) anzustreben [Turner et al. 1999]. Primäre Prävention des MVS Primäre Prävention des MVS Obwohl in den letzten Jahrzehnten in der Therapie des MVS durch verbesserte Behandlungsmethoden viel erreicht wurde, stehen wir nach wie vor – insbesondere durch die Zunahme der Zahl von Patienten mit D. m. Typ 2 – vor einem medizinischen, sozialen und ökonomischen Problem [Zimmet et al. 2001]. Das MVS (und insbesondere der D. m. Typ 2) sind für eine wirksame Primärprävention prädestiniert, da ein Großteil der Erkrankungen – neben genetischen Faktoren – durch den Lebensstil bedingt ist und diese Erkrankungen durch entsprechende Interventionen beeinflussbar sind. Die Ergebnisse von mehreren großen internationalen Studien [Lindstrom et al. 2003; Chiasson et al. 2002; Knowler et al. 2002; Tuomilehto et al.2001; Eriksson et al. 1999; Pan et al. 1997]) belegen mit hoher Evidenz, dass die Prävention der Facetten des MVS (insbesondere der D. m. Typ 2) mit einer Lebensstil-Intervention in bis zu 60% oder mit einer frühen medikamentösen Intervention in 25% – 31% bei Risikopersonen mit einer IGT möglich und erfolgreich durchführbar ist. Zur Prävention des MVS als Primärziel wurden jedoch bisher noch keine Daten über kontrollierte klinische Studien (mit ganzheitlichem Ansatz) publiziert. LEBENSSTIL-INTERVENTION (DES MVS) In verschiedenen Studien (der DQDPS [Pan et al. 1997] sowie der DPS [Tuomilehto et al. 2001; Eriksson et al. 1999]), in denen der Effekt einer Lebensstil-Modifikation (durch intensivierte Diätschulung und Bewegungsprogramme) auf die Konversion vom IGT-Stadium zum D. m. Typ 2 untersucht wurde, konnte eine Diabetes-Risikoreduktion um 46% bzw. um 58% in einem dreijährigen follow-up erreicht werden. Die entscheidende Wirkvariable zur Senkung der Diabetesinzidenz war dabei die erreichte Gewichtsreduktion. Als Ergebnis dieser Studien wurden folgende Richtwerte zur Lebensstil-Intervention formuliert, deren Einhaltung/Umsetzung entscheidend für eine Verhinderung bzw. Verzögerung des D. m. Typ 2 und damit des MVS ist: 1. Gewichtsreduktion um 7% 2. körperliche Aktivität (150 Minuten/Woche) 3. faserhaltige Ballaststoffe (15g/1000 kcal Nahrungsaufnahme) 4. Fettanteil maximal 30% der tgl. Gesamtenergiezufuhr sowie 5. Anteil gesättigter Fettsäuren maximal 10% der tgl. Gesamtenergiezufuhr Notwendig ist die Umsetzung der Ergebnisse mit Modellen, die eine gezielte Prävention für die breite Bevölkerung ermöglichen. MEDIKAMENTÖSE PRÄVENTION (DES MVS) Bemerkenswert sind die Resultate von Xenical in der XENDOS-Studie [Torgerson et al. 2004], in der das Risiko von Patienten mit einer IGT, einen D. m. Typ 2 zu entwickeln, untersucht wurde. Bei denen, die Orlistat erhielten und ihre Lebensgewohnheiten modifizierten, lag das Risiko um 37% niedriger als bei jenen, die allein ihren Lebensstil änderten. Diese Studie zeigte als erste, dass durch Behandlung der IGT auch die kardiovaskulären Begleitkrankheiten signifikant reduziert werden können. 25 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom In der DREAM-Studie [DREAM 2006] verminderte die Behandlung mit 8 mg/d Rosiglitazon bei Personen mit IFG, IGT die Progression zum D. m. Typ 2 um 62%. Unter Rosiglitazon sanken die Leberwerte und der Blutdruck leicht. NW: Das Risiko einer Herzinsuffizienz stieg allerdings leicht an. In der DPP-Studie [Knowler et al. 2002] erwies sich ebenfalls die Lebensstil-Modifikation als effektivste Maßnahme (Reduktion der Diabetesinzidenz um 58% im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe). Die Einnahme von Metformin bei Personen mit IGT reduzierte die Diabetes-Inzidenz um 31 % in drei Jahren. 26 CAVE: Eine medikamentöse Intervention bei Diabetes-Vorstadien ist in Deutschland noch nicht zugelassen. t Im Rahmen der STOP-NIDDM Studie [Chiasson et al. 2002] konnte ebenfalls bei Personen mit einer IGT gezeigt werden, dass die regelmäßige Einnahme von Acarbose zu einer relativen Diabetes-Risikoreduktion um 36% führt. Gleichzeitig erfolgte eine Reduktion des Hypertonie-Risikos um 34 % und eine Reduktion kardiovaskulärer Ereignisse um 49 % [Chiasson et al. 2003]. Fazit: Als Ergebnis der genannten Studien wird die bevölkerungsweite Umsetzung der Prävention des MVS in erster Linie auf Basis einer Motivation zur Lebensstiländerung empfohlen. Der größere Effekt einer Lebensstiländerung besteht sicherlich darin, dass neben der Diabetesprävention durch stärkere Auswirkungen auf Gewicht, Blutdruck und Fettstoffwechsel die Prävention des MVS im Mittelpunkt steht. Der präventive Effekt bezüglich des MVS ist sicher noch höher als der diabetespräventive Effekt. Von entscheidender Bedeutung aber wird es sein, wie die Risikopersonen motiviert werden können, die Lebensstiländerung langfristig stabil umzusetzen. Spezifische Therapie des MVS Spezifische Therapie des MVS BASISTHERAPIE DURCH LEBENSSTIL-ÄNDERUNG (s. auch Adipositas-Leitlinien der DAG [Hauner et al. 2005]) Die Basistherapie umfasst eine Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie mit dem Ziel der dauerhaften Gewichtsreduktion, Besserung der Insulinresistenz und positiver Beeinflussung des Risikofaktoren-Clusters des MVS. Eine Modifikation des Lebensstils ist der wichtigste und effektivste Teil in der Prävention und Therapie des MVS. Deshalb sollte die Gewichtsreduktion immer am Anfang der Behandlung des MVS stehen. Dabei ist die Motivation der Betroffenen zur Änderung ihres Lebensstils – die Verhaltensmodifikation – eine anspruchsvolle Aufgabe und Grundlage jeder effektiven Therapie. Eine gründliche Verhaltensdiagnostik ist notwendig mit Analyse von • Patientenproblemen (z. B. in der Familie, bei der Arbeit, im sozialen Umfeld) • Ursachen, die zu Übergewicht und Bewegungsmangel geführt haben • Kenntnissen, die nicht in Verhalten umgesetzt worden sind, z. B. Selbstkontrolle von Gewicht, Blutdruck, Blutzucker, Nahrungsmenge/ Energieaufnahme • Motivation und Strategien zur Lebensbewältigung (z. B. Mitwirken von Psychologen, Mitarbeit in Selbsthilfegruppen) Es existiert überzeugende Evidenz für den Nutzen von Lebensstiländerungen bei der Prävention des D. m. Typ 2 bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz (IGT) (s. Kapitel Prävention). Neue Zielgrößen des MVS sind darauf gerichtet, die subklinische chronische Entzündung und die Hyperkoagulabilität (durch Lebensstilmodifikation) zu minimieren. Studien zeigen, dass eine Gewichtsreduktion (Korrektur des Übergewichts) alle Komponenten des MVS verbessern kann [Ornish et al. 1990]: Eine Gewichtsreduktion um etwa 10 kg ist assoziiert mit: • Senkung des Blutdrucks (RR) um 10 – 20% • Abnahme der Serum-TG um 30% • Senkung des LDL-C um 15% (Senkung des Spiegels von kleinen, dichten LDL-Partikeln) • Anstieg des HDL-C um 8% • Abnahme des Nüchternblutzuckers um 30 – 50% • Abnahme des HbA1c-Wertes um 2% • Verbesserung der Insulinresistenz (in Relation zur RR-Senkung) [Su et al. 1995] • Reduktion der Diabetes-assoziierten Todesfälle um 30% Gewichtsverlust kann die nüchtern und nach (75 g) Glukosebelastung gemessenen Glukosekonzentrationen und Insulinspiegel signifikant senken [Katzel et al. 1995]. 27 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Die Lebensstilmodifikation sollte auf 3 Säulen beruhen: 1 Ernährungstherapie, um eine Gewichtszunahme zu vermeiden bzw. ein Übergewicht zu korrigieren. Über- und Fehlernährung korrigieren, Kalorienbilanz, Alkohol reduzieren. 2 Erhöhung der körperlichen Aktivität im täglichen Leben und in der Freizeit mit einer Betonung von Ausdauerübungen. 3 Meiden schädigender Noxen wie Rauchen, unangemessen hohe Alkoholzufuhr. Ernährungstherapie Die Ernährungsempfehlungen sollten ein tägliches Energiedefizit von mindestens 500 kcal vorsehen, das vor allem durch eine Reduktion der Nahrungsfette erreicht werden soll. Damit ist eine Senkung des Ausgangsgewichts um 5 – 10% innerhalb von 6 Monaten möglich. t Fettmodifikation bei Dyslipidämie: Durch eine Reduktion der Aufnahme von gesättigtem Fett und von Cholesterol mit der Nahrung wird LDL-C vermindert. Diäten mit hohem Gehalt an einfach ungesättigten Fetten verbessern die TGund HDL-Spiegel, zusätzlich treten günstige Effekte auf erhöhte Spiegel der kleinen dichten LDL im atherogenen Muster B auf [Garg 1998]. Der Konsum von Polyensäuren sollte begrenzt werden. Eine Ernährungsmodifikation (wenig Fett, hoher Ballaststoffgehalt) kann Diabetespräventiv wirken [Tuomilehto et al. 2001]. CAVE: Eine extreme Restriktion der Fettaufnahme kann eher zu potentiell unerwünschten als zu erwünschten Effekten führen [Knopp et al. 1997]. Ein Fettanteil unter 25% der Gesamt-Kalorien kann die TG ansteigen und HDL abfallen lassen wegen des niedrigen Fett- und des hohen KH-Anteils. 28 Qualität und Quantität der Kohlenhydrate bei Dyslipidämie: Eine negative Korrelation zwischen dem „glykämischen Index“ und HDL wurde demonstriert [Frost et al. 1999]. Eine Diät mit einem hohen Ballaststoffgehalt und niedrigem glykämischem Index ist wegen günstiger Effekte auf TG, Serum-Glukoseund Insulin-Spiegel zu bevorzugen. Deshalb wird ein Kohlenhydratkonsum von etwa 50% für Personen mit erhöhten TG und niedrigem HDL empfohlen [ATPIII 2002]. Die meisten Kohlenhydrate sollten von (Vollkorn-) Getreideprodukten, von Gemüse, Obst und Milchprodukten mit niedrigem Fettgehalt stammen. Ernährungsumstellung bei Hypertonie: Eine Kost mit hoher Zufuhr von Kalium, Calcium und Magnesium, die in Obst, Gemüse, Milchprodukten mit niedrigem Fettgehalt, Vollkornprodukten, Geflügel, Fisch und Nüssen („DASH-Diät”) enthalten sind, senkt signifikant den Blutdruck (RR) [Sacks et al. 2001]. Es werden nicht mehr als 6 g Kochsalz pro Tag empfohlen (keine Verwendung von salzhaltigen Konserven, nicht Zusalzen): Verglichen mit einer Kost mit höherem Salzgehalt (ca. 8,6 g/Tag) senkte eine Kost mit niedrigerem Salzgehalt (ca. 3,8 g/Tag) den systolischen RR um 11,5 mmHg bei Hypertonikern [Sacks et al. 2001; Whelton et al. 1998]. Die Supplementierung mit hohen Dosen von Omega-3-mehrfach-ungesättigten Fettsäuren – 3g oder mehr Fischöl pro Tag – reduziert den RR bei hypertensiven Personen [Appel et al. 1993]. Der Effekt von einfach ungesättigten Fettsäuren („Mediterraner Stil“) auf den RR hat nur wenig Beachtung gefunden, obwohl diese Kost offenbar mit einem verminderten Risiko von kardiovaskulären Erkrankungen einhergeht. Basistherapie des MVS Erhöhung der körperlichen Aktivität Der besondere Wert der Bewegungstherapie liegt in der Stabilisierung des Gewichtserfolges. t Vor Beginn eines körperlichen Trainings sollte eine kardiologische Untersuchung zum Ausschluss von Kontraindikationen erfolgen (z. B. Echokardiografie und Ergometrie). Patienten mit MVS ist nach Ausschluss von Kontraindikationen eine regelmäßige physische Konditionierung zu empfehlen, wobei aerobe Sportarten zu bevorzugen sind (Wandern, Radfahren, Laufen, Rudern, Schwimmen, Inline-Skating, Skilaufen). Die Herzfrequenz sollte bei körperlicher Aktivität stets im ausgetesteten ischämiefreien und beschwerdefreien Bereich liegen [Gohlke 2001]. CAVE: Hypoglykämien bei D. m. unter SH, Gliniden, Insulin → Dosisanpassung erforderlich. Jede Steigerung der körperlichen Aktivität ist günstig [Gohlke 2001]. Empfohlen wird folgende Trainingsfrequenz und -intensität Trainingsfrequenz: mindestens 3 x/ Woche Dauer: 30 – 60 min Herzfrequenz: 180 minus Lebensalter [Ewbank et al. 1995;Pavlou et al.1989] Die intensive Ausdauerbelastung sollte unterstützt werden durch eine aktive Lebensweise: Spazierengehen in Arbeitspausen, Treppensteigen statt Aufzug, Gartenarbeit etc. Effekt bei Dyslipidämie: Ein moderates körperliches Training (200 kcal/Tag) führt zu einer Verbesserung in dem TG/HDL-Verhältnis bei den meisten Individuen. Personen mit erhöhten TG und niedrigem HDL ziehen den größten Nutzen aus einem regelmäßigen Dauertrainings-Programm, aber nicht Personen mit isoliert niedrigem HDL-C oder einem HDL-Defizit [Katzmarzyk et al. 2003]. Effekt bei Hypertonie: Neben einer gesunden Ernährung hat körperliches Training nur Kurzzeiteffekte auf den RR. Eine aerobe Trainingsintervention kann eine Absenkung von 4 mmHg bewirken [Whelton et al. 2002]. Außerdem kann ein Stressabbau den Blutdruck günstig beeinflussen (z. B. Spaziergänge, autogenes Training). Effekt bei Diabetes: Durch Extrapolation aus allen Daten scheint es, dass besonders körperliche Bewegung einen wesentlichen Teil der Lebensstilmodifikation darstellt, um einen D. m. und assoziierte Erkrankungen des MVS zu verhindern. Effekt bei Hyperkoagulabilität sowie niedriggradiger Inflammation: Das Ausmaß der physischen Aktivität korreliert invers mit inflammatorischen und Gerinnungs-Faktoren [Wannamethee et al. 2002]. Lebensstiländerungen, die eine Gewichtsreduktion, einen leichten oder moderaten Alkoholkonsum, die regelmäßige Aufnahme von Kaltwasser-Fisch, körperliches Training und das Beenden von Rauchen einbeziehen, senken signifikant die Gerinnung, fördern die Fibrinolyse und vermindern die Plättchenaktivierung [Lee et al. 2003]. 29 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom MEDIKAMENTÖSE BEHANDLUNG DER METABOLISCH-VASKULÄREN RISIKOFAKTOREN Selbst bei den besten Anstrengungen im Rahmen der Lebensstilintervention verbleibt ein Bedarf an medikamentöser Intervention, da etwa 50 % der Personen mit MVS die Therapieziele ohne Medikamente nicht erreichen. Weiterhin wollen viele Menschen ihren Lebensstil nicht so ändern wie nötig oder sind nicht in der Lage, ihre physische Aktivität im erforderlichen Maße zu erhöhen. Deshalb sollen Medikamente analysiert werden, ob sie effektiv, sicher und bezahlbar für die Therapie des MVS und die Prävention der assoziierten kardiovaskulären Erkrankungen sind [Hanefeld et al. 2005]. Medikamenteninteraktionen, die Sicherheit und nicht zuletzt die Kosten müssen bei der Auswahl der Medikamente beachtet werden. Zur Problematik der Polypharmazie bei der Behandlung des MVS Im realen Leben ist eine lediglich auf die einzelne Krankheit bezogene Medikamententherapie wie z. B. bei D. m. Typ 2 oder bei Dyslipidämie tägliche Praxis, was rasch zu einer Polypharmazie mit 10 oder mehr verschiedenen Medikamenten führen kann. Es gibt Studien mit Lebensstilmodifikation [Hanefeld et al. 1991; Ornish et al. 1990] und mit Medikamenten zur Prävention der koronaren Herzkrankheit [ALLHAT 2002; Dagenais et al. 2001; Shepherd et al. 1995], des D. m. Typ 2 [Chiasson et al. 2003; Knowler et al. 2002; Tuomilehto et al. 2001; Pan et al. 1997] und der Adipositas [Torgerson et al. 2004] als primäre Zielgrößen, die beweisen, dass Medikamente, die die Insulinresistenz verbessern 30 oder die niedriggradige subklinische Inflammation reduzieren, auch günstige Effekte auf andere Krankheiten des MVS haben: dies gilt insbesondere für ACE-Hemmer, AT1-Blocker, Acarbose, Glitazone, Statine und Orlistat. Andererseits wurde für ß-Blocker und Diuretika gezeigt, dass sie die Insulinresistenz erhöhen und somit die Glykämielage verschlechtern. Dadurch wird die Diabetesinzidenz erhöht (s. Tab. 10). Medikamente mit kontraproduktiven Wirkungen auf Begleitkrankheiten sollten – soweit möglich – nicht vorrangig eingesetzt werden. So sollten die therapeutischen Optionen genau analysiert werden, ob sie ein integriertes Herangehen mit einer Korrektur von Risikofaktoren für Krankheiten des MVS anbieten: • Um die Zahl der eingesetzten Medikamente zu begrenzen, sollten synergistische und pleiotrope Effekte ausgenutzt werden. • Auf der anderen Seite ist es von höchster Wichtigkeit, negative Effekte auf die anderen Erkrankungen des MVS oder gefährliche Medikamenteninteraktionen zu vermeiden. • Bei jedem Medikament müssen Vorteile und Nebenwirkungen genau abgewogen werden (z. B. bei ß-Blockern). Prospektive kontrollierte Studien bei Patienten mit MVS und kardiovaskulären Ereignissen als primäre Zielgröße werden dringend benötigt, die den Nutzen beispielsweise von ACE-Hemmern/AT1Blockern, oralen Antidiabetika und Antiobesita in dieser Hochrisiko-Gruppe evaluieren. Medikamentöse Therapie des MVS Medikamentöse Therapie der Adipositas bei MVS Die medikamentöse Therapie der Adipositas sollte stärker zur Therapie des MVS und seiner Risikofaktoren sowie der assoziierten Erkrankungen eingesetzt werden. Dabei geht es nicht einfach um den Verlust an Körperfett, sondern um die Reduktion der intraabdominalen Adipositas [Despres et al. 1989], da nur das viszerale Fett, nicht das subkutane Fettgewebe, mit den Erkrankungen des MVS assoziiert ist. Zum Beispiel erhöhen die Glitazone („Insulinsensitizer“) wie Pioglitazon und Rosiglitazon das Körpergewicht, indem sie eine Umverteilung der intraabdominalen Adipositas mit Abnahme des viszeralen und Zunahme des subkutanen Fettgewebes induzieren [Carey et al. 2002]. So führt diese Veränderung der Fettverteilung zur Verbesserung der Insulinsensitivität [Campbell 2000] trotz Gewichtszunahme unter der Glitazontherapie. Gegenwärtig sind drei Medikamente verfügbar, die in klinischen Studien getestet wurden: • Orlistat (intestinaler Lipaseinhibitor) • Sibutramin (Dopamin-Agonist, der auch die Wiederaufnahme von Katecholaminen hemmt) • Rimonabant (Cannabinoid-1-Rezeptorblocker) Orlistat – Wirkung: • Reduktion des Übergewichts • therapeutische Effekte auf die Hyperlipidämie [Muls et al. 2001] • therapeutische Effekte auf die Diabeteskontrolle [Kelley et al. 2002] • Reduktion der Inzidenz von neu diagnostiziertem D. m. um 37% bei Personen mit Adipositas und IGT [Torgerson et al. 2004] Die Anwendung bleibt jedoch beschränkt wegen der Nebenwirkungen (Blähungen, Durchfälle) und der Kosten – in Deutschland durch die Patienten selbst zu bezahlen. Sibutramin – Wirkung: • Reduktion des HbA1c-Wertes bei Patienten mit D. m. Typ 2 • Verbesserung des atherogenen LipoproteinProfils [Dujovne et al. 2001] Das präventive Potential in Bezug auf kardiovaskuläre Endpunkte wird derzeit in der internationalen SCOUT-Interventionsstudie [Philip 2005] bei adipösen Personen und MVS und/oder arteriosklerotischen Erkrankungen gestestet. Die Anwendung bleibt jedoch beschränkt. In Deutschland müssen Patienten die Kosten selbst tragen. Rimonabant – Wirkung: • Reduktion des Taillenumfanges und des Übergewichtes [van Gaal et al. 2005, Pi-Sunyer et al. 2006] • Reduktion des HbA1c-Wertes bei Patienten mit D. m. Typ 2 [Scheen et al. 2006] • Erhöhung des HDL-C [Despres et al. 2005] • Erhöhung des Adiponektinspiegels [Despres et al. 2005] • Reduktion verschiedener Komponenten des MVS [van Gaal et al. 2005, Scheen et al. 2006] Somit lassen alle drei Medikamente positive Effekte auf die Facetten des MVS erkennen. Dies unterstreicht die zentrale Bedeutung der Reduktion des Übergewichtes für die Behandlung des MVS. 31 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Medikamentöse Therapie der Dyslipidämie bei MVS (Detaillierte Ausführungen zu Wirkungsmechanismus, Dosierung, Nebenwirkungen etc. s. Leitlinie Fettstoffwechselstörungen [Fischer et al. 2005]) Die medikamentöse Therapie sollte effektiv die Lipid-Trias (TG, HDL-C, LDL-C) beeinflussen, die Inflammation und die Insulinresistenz bzw. die Glukosetoleranz verbessern oder zumindest stoffwechselneutral sein [Meyers et al. 2004]. Die aggressive Korrektur der Lipid-Trias bei Patienten mit dem MVS ist eine wirksame und sichere Prävention von kardiovaskulären Erkrankungen. Die Auswahl eines Medikamentes der 1. Wahl hängt von dem Typ der Dyslipoproteinämie sowie von assoziierten Erkrankungen ab. Bei Personen mit niedrigem LDL-C ist besonders auf eine Korrektur von hohen TG und niedrigem HDL-C zu achten [Sacks et al. 2002]. Tab.9 Lipidpharmaka - metabolisch-vaskuläre Effekte und Endpunkte Wirkung der Lipidpharmaka Statine Fibrate HDL-C LDL-C TG FFS Lp(a) (↑) um 5 – 10% ↓↓↓ um 25 – 60 % (↓) um 5 – 10% ↑ ↓ ↓↓↓ Moderne Nikotinsäurepräparate um 10 – 15% um ca. 15% um 30 – 50 % ↑↑ ↓ ↓↓↓ ↓ ↓↓ pleiotrope Effekte bzgl. MVS hsCRP ↓ ↓↓ um 5 – 17% bei Pravastatin um 36 – 42 % bei Atorvastatin Fibrinogen PAI-1 ↓ ↓ ↓ ↓ ↓ Endpunkte Diabetesinzidenz ↓↓ KHK-Inzidenz ↓↓ ↓↓ Apoplex-Inzidenz 32 ↓↓ um 27 % bei Pravastatin um 27 % bei Pravastatin um 37 % bei Atorvastatin um 48% bei Atorvastatin (=) = (↓) ↓ = (↓) ↓ um 10 – 30 % um 10 – 25% um 20 – 50 % um ca. 20% um 10 – 30 % Medikamentöse Therapie des MVS Fibrate sind hocheffektiv in der Reduktion der TG und in der Erhöhung von HDL-C [Knopp 1999]. Fibrate haben einige pleiotrope Effekte (s. Tab. 9), die einen zusätzlichen Nutzen zur lipidsenkenden Wirkung bei Patienten mit dem MVS bringen könnten [Steiner 2001]: Sie reduzieren die Spiegel von hsCRP und Fibrinogen. Weiterhin wurde gezeigt, dass sie die flussvermittelte Vasodilatation am Unterarm verbessern. Kontrollierte klinische Studien, die Fibrate zur Prävention von arteriosklerotischen Erkrankungen als primäre Zielgröße verwendet haben, konnten den Nutzen einer Behandlung des Niedrig-HDLHypertriglyzeridämie-Syndroms bei Patienten mit MVS beweisen [Vakkilainen et al. 2003; Rubins et al. 1999; Elkeles et al. 1998; Frick et al. 1987]. Aber in der FIELD-Studie [Keech et al. 2005] hatte Fenofibrat bei Typ-2-Diabetikern keinen signifikanten Effekt auf das Risiko primärer kardialer Ereignisse. Die Gesamtmortalität war unter Fenofibrat vs. Plazebo nicht signifikant different – bei allerdings höherer Rate einer Statintherapie in der Plazebogruppe. Lediglich für Gemfibrozil liegen positive Endpunktdaten [Robins et al. 2001] in der Sekundärprävention vor. CAVE: Absolut kontraindiziert ist die Kombination Statin plus Gemfibrozil wegen hoher Myopathie- und Rhabdomyolysegefahr! t Statine sind die effektivsten LDL-C-senkenden Medikamente mit der besten Evidenz für die Prävention arteriosklerotischer Erkrankungen. Zudem erhöhen sie HDL-C und senken die TG (s. Tab. 9). Statine haben pleiotrope Effekte (s. Tab. 9), die zu ihrer antiarteriosklerotischen Potenz beitragen können [Albert et al. 2001; Costa et al. 2003; Nissen et al. 2004]. Da der D. m. ein KHKÄquivalent ist, macht sich eine Statin-Therapie in einem hohen Prozentsatz bei Patienten mit D. m. Typ 2 erforderlich. Die Reduktion von LDL-C durch Statine ist mit einer verbesserten endothelialen Funktion aufgrund einer gesteigerten NO-Freisetzung assoziiert [Sowers 2003; Tan et al. 2002]. Bis jetzt gibt es keine Studien, die spezifisch die Wirksamkeit von Statinen bei Populationen mit dem MVS analysieren. In einer Studie konnten die Inzidenzen sowohl von D. m. als auch der KHK bei Patienten mit MVS mit Pravastatin vermindert werden [Sattar et al. 2003; Freeman et al. 2001]. Dies wurde allerdings in keiner weiteren StatinStudie bestätigt. Atorvastatin senkte die Inzidenz des Myokardinfarktes bei D. m. Typ 2 und des Schlaganfalls [Colhoun et al. 2004]. Zehn kontrollierte prospektive Studien mit Subgruppen von diabetischen Patienten [Xydakis et al. 2004] zeigen konsistent, dass diese Hochrisiko-Gruppe mindestens den gleichen Nutzen von einer Statintherapie hat wie nicht-diabetische Studienteilnehmer. Die Kombination von Fenofibrat oder Bezafibrat mit Statinen ist mit einem leicht erhöhten Myopathie- bzw. Rhabdomyolyserisiko assoziiert (strenge Indikationsstellung, nur bei Hochrisikopatienten, engmaschige ALAT-, CK- und Kreatinin-Kontrollen!). Detaillierte Ausführungen zu Nebenwirkungen und Kontraindikationen s. Leitlinie Fettstoffwechselstörungen, S. 25 [Fischer et al. 2006]) Der Nutzen der Kombination Statin plus Fibrat ist NICHT belegt. 33 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Moderne Nikotinsäurepräparate sind wirksame Medikamente, um eine Dyslipoproteinämie bei Patienten mit dem MVS zu korrigieren. Sie erhöhen HDL-C, senken die TG und LDL-C [Meyers et al. 2004], die FFS und Lp(a). Wegen massiver Nebenwirkungen (Flush) konnten sich nicht-retardierte Formen nicht durchsetzen. Mit dem in Deutschland neu zugelassenen Niaspan® mit verzögerter Wirkstofffreisetzung treten frühere Nebenwirkungen wie Niacin-Flush, Brennen, Urtikaria nur noch in 10 – 15% auf, und die Compliance wurde wesentlich verbessert [Knopp et al. 1998; McKenney et al. 1994]. Über die folgenden pleiotropen Effekte (s. Tab. 9) in Bezug auf Parameter der niedriggradigen Entzündung und der Gerinnung, die in Beziehung zur Insulinresistenz stehen, wurde berichtet: Senkung von hsCRP, von PAI-1 [Kashyap et al. 2002; Chesney et al. 2000; Brown et al. 1995]. Mit der neuen Form (Niaspan®) mit verzögerter Wirkstofffreisetzung und niedriger bis moderater Dosierung (< 2000mg/Tag) kommt es nur zu marginalen Änderungen der Glukosetoleranz und des HbA1c [Elam et al. 2000]. In Studien führte Nikotinsäure zu einer signifikanten Senkung von kardiovaskulären Ereignissen und der Gesamt-Mortalität [Coronary Drug Project 1975]. Eine Medikamentenkombination von Statin plus Nikotinsäure (Niaspan®) ist häufig erforderlich, um das breite Spektrum von Lipoproteinanomalien, das charakteristisch für das MVS ist, zu korrigieren. 34 Mehrfach ungesättigte Fettsäuren In der GISSI-Studie [GISSI 1999] senkte die Gabe von mehrfach ungesättigten n-3-Fettsäuren die Häufigkeiten von Tod, nichttödlichem Herzinfarkt und Schlaganfall signifikant bei Patienten mit einem bereits durchgemachtem Infarkt. Medikamentöse Therapie der Hypertonie bei MVS (s. Leitlinie Hypertonie der Hochdruck-Liga [Deutsche Hochdruck-Liga 2003]) Antihypertensiva haben unterschiedliche pleiotrope Effekte auf die Erkrankungen und die zugrunde liegende Pathophysiologie des MVS. Dies ist wichtig für die Auswahl von in 1. Linie zu verwendenden Medikamenten und von Kombinationen. Bei Patienten mit MVS ohne KHK bzw. bei jungen adipösen Personen mit Dyslipidämie und/oder Prädiabetes • sollten ACE-Hemmer / AT1-Blocker Medikamente der 1. Wahl sein (gefolgt von Kalzium-Kanal-Blockern). • In der Mehrzahl der Fälle, die mit ACE-Hemmern/AT1-Blockern behandelt werden, sind niedrige Dosen von Diuretika auf längere Sicht zusätzlich erforderlich, um einen normnahen Blutdruck zu erreichen. Für Patienten mit MVS und mit KHK • sind selektive Beta-Blocker essentieller Teil der Behandlung. Medikamentöse Therapie des MVS Tab. 10 Antihypertensiva – metabolisch-vaskuläre Effekte und Endpunkte Antihypertensiva pleiotrope Effekte bzgl. MVS Insulinresistenz Glukosetoleranz HbA1c Lipide/Gesamt-C HDL-C LDL-C TG Nephro-protektiv Kardio-protektiv Insult-protektiv Diabetes-präventiv ACEAT1Hemmer Blocker (↓) = (↑)= (↓)= ↑= = = = = ja ja ja kaum = = = ↓= ja ja ja ja BetaBlocker ↑ ↓ ↑ = ↓ = ↑↑ unklar ja < 60 J ja < 60 J nein, Anstieg ↑ ↓ ↑ ↓ (=) ↑ ↑↑ = in Komb.T. in Komb.T. nein, sondern Anstieg = = = = = = = kaum kaum ja ja zentralwirkende Antihypertensiva (Moxinidin-Gruppe) ↓ (↑) (=) (↓) ↑ (=) ↓ (=) (↓) (=) AT1-Blocker sind bei MVS gleich effektiv wie ACE-Hemmer, aber teurer. Deshalb sind sie bei Nebenwirkungen der ACE-Hemmer (z. B. chronischer Husten) alternativ einsetzbar. Pleiotrope Effekte (s. Tab. 10): Nephro- und kardioprotektive Effekte sind erwiesen wie bei ACE-Hemmern [Croom et al. 2004; Suzuki et al. 2004; Viberti et al. 2002]. AT1-Blocker reduzieren die Albuminexkretion wie ACE-Hemmer bei D. m. Typ-2-Patienten mit Mikroalbuminurie [Mann et al. 2003; Sica et al. 2002]. Für einige AT1-Blocker wurde auch von einem positiven Effekt auf die Lipide berichtet. Ebenso wie ACE-Hemmer stimulieren AT1-Blocker das sympathische Nervensystem nicht und sind somit bei Patienten mit gestörter sympathovagaler Balance ideale Kombinationspartner für Diuretika, Beta-Blocker und Kalzium-Antagonisten. Studien: Ebenso sollen sie die Entwicklung eines D. m. bei Hypertonikern reduzieren [Scheen 2004]. t ACE-Hemmer sind inzwischen als Antihypertensivum der 1. Wahl bei D. m. akzeptiert. Dies gründet sich vor allem auf die pleiotropen Effekte (s. Tab. 10) wie die nephro- und kardioprotektive Wirkung [HOPE 2000] ACEHemmer reduzieren die Albuminexkretion bei diabetischen Patienten mit Mikroalbuminurie [Mann et al. 2003; Sica et al. 2002]. Darüber hinaus wird die Insulinresistenz reduziert. ACE-Hemmer haben nur marginale Effekte auf die Lipide. Sie stimulieren das sympathische Nervensystem nicht. Studien: ACE-Hemmer haben einen festen Stellenwert in der Sekundärprävention bei Postinfarktpatienten und bei Herzinsuffizienz. Sie führen zu einer guten Regression der LVH. Bei Hypertonikern soll die Diabetes-Entwicklung geringer unter ACEHemmern sein [Scheen 2004]. In der DREAMStudie [DREAM 2006] konnte Ramipril in einer Dosierung von 15 mg/d die Diabetesprogression jedoch nicht signifikant vermindern (um 9 %). CAVE: Bei Niereninsuffizienz: Dosisreduktion, Kontrolle von K+ und Krea, insbesondere zu Beginn der ACE-Hemmer-Therapie. Schleifendiuretika/ KalziumAntagonisten Thiaziddiuretika 35 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Schleifen- und Thiaziddiuretika Thiaziddiuretika sind aufgrund der ungünstigen pleiotropen Effekte (s. Tab. 10) bei Diabetikern und Patienten mit MVS nicht Mittel der 1. Wahl [Scheen 2004]. Von einer Monotherapie mit Thiaziddiuretika bei D. m. und MVS ist deshalb abzusehen. Thiaziddiuretika sind jedoch ideale Kombinationspartner für ACE-Hemmer/AT1-Blocker oder Beta-Blocker und sollten in keiner Kombinationstherapie fehlen. Pleiotrope Effekte (s. Tab. 10): Sie erhöhen TG und LDL-C und verschlechtern die Glukosetoleranz [Ferrari et al. 1991]. Studien: Sie führen zu einem signifikanten 36 Anstieg von neu diagnostiziertem D. m. [Barzilay et al. 2004]. CAVE: Bei eingeschränkter Nierenfunktion sollten Schleifendiuretika statt Thiaziddiuretika eingesetzt werden. t Beta-Blocker Den ungünstigen metabolischen Effekten der Beta-Blocker (s. Tab. 10) stehen positive blutdrucksenkende Effekte und die Sympathikusblockade (insbesondere bei Diabetikern mit gestörter sympathovagaler Balance) gegenüber. Andererseits sind Beta-Blocker bei Patienten mit MVS und nachgewiesener KHK heute essentieller Bestandteil der Sekundärprävention. Pleiotrope Effekte (s. Tab. 10): Ungünstige metabolische Effekte: sogar die ß1-selektiven Medikamente erhöhen die TG, senken HDL-C und verschlechtern die Insulinsensitivität. Sie führen zudem meist zu einer leichten Gewichtszunahme. Die Verwendung von Atenolol, einem ß1-selektiven Beta-Blokker, war in der UKPDS mit signifikant höheren HbA1c-Spiegeln und einer Gewichtszunahme im Vergleich mit dem ACE-Hemmer Captopril verbunden [UKPDS-Group 1998]. Es gibt konsistente Daten von prospektiven Studien, dass sie das Auftreten von D. m. vorverlegen (anstatt verhindern!) [Scheen 2004; Jacob 1998]. Kalzium-Antagonisten (CAA) Kalzium-Antagonisten sind bei Diabetikern nicht Mittel der 1. Wahl. Pleiotrope Effekte (s. Tab. 10): Sie haben offenbar keinen signifikanten Effekt auf die Pathophysiologie und Erkrankungen des MVS (stoffwechselneutral). Hinsichtlich organprotektiver Effekte sind sie den ACE-Hemmern unterlegen. Wie ACE-Hemmer/AT1-Blocker haben sie ein günstigeres hämodynamisches Wirkprofil als Beta-Blocker [Nürnberger 2006]. Begründung: stärkere Senkung des aortalen Blutdrucks, besondere Reduktion der arteriellen Steifigkeit, die für die Pathogenese der Hypertonie von hervorragender Bedeutung ist. Deshalb sind CAA bei älteren Patienten besonders wirksam. Studien: So ist eine deutliche Reduktion der Rate an zerebrovaskulären Insulten beschrieben [Staessen 1997]. Bei unzureichender Blutdrucksenkung unter o.g. Therapie können periphere und zentralwirksame (Moxonidin) Vasodilatantien zusätzlich eingesetzt werden: Moxonidin Moxonidin ist ein ideales Kombinationspräparat in der antihypertensiven Therapie des D. m. – als 3. oder 4. Präparat. Pleiotrope Effekte (s. Tab. 10): Es stimuliert als Imidazolin-Agonist im ZNS Alpha-2-Rezeptoren. Es hat eher günstige metabolische Effekte und löst durch den zentralen Angriffspunkt eine Sympathikolyse aus. Auch das Renin-Angiotensin-System wird supprimiert. Medikamentöse Therapie des MVS Medikamentöse Therapie des Prädiabetes und D. m. Typ 2 bei MVS Detaillierte Ausführungen zu Wirkungsmechanismus, Dosierung, Nebenwirkungen etc. s. Leitlinie D. m. Typ 2 [Schulze et al. 2002] Tab. 11 Antidiabetika – metabolisch-vaskuläre Effekte und Endpunkte Antidiabetika pleiotrope Effekte bzgl. MVS Übergewicht/intraabdominale Adipositas Insulinresistenz RR Lipide/Gesamt-C HDL-C LDL-C TG hsCRP Diabetesinzidenz Hypertonie-Inzidenz Myokardinfarkt-Inzidenz Apoplex-Inzidenz Acarbose Metformin ↓ ↓ca. 1kg (↓) (Leber) = ↓ ↓ ↓ ↓ ↓↓ um 36% ↓↓ um 34% ↓↓↓ um 65% ↓↓ um 31 % = ↓ Glitazone ↑/↓ ↓ ↓ ↓ ↑ (↓) ↓ ↓ ↓↓↓ um 62% (↓) ↓↓ um 22% ↓↓ um 18% Prädiabetes bei MVS Diabetes bei MVS Bislang wurden Interventionsstudien bei Prädiabetes nur bei gestörter Glukosetoleranz (IGT) durchgeführt. Es sind noch keine Daten von kontrollierten prospektiven Studien für Personen mit gestörter Nüchtern-Plasma-Glukose (IFG) verfügbar. Acarbose, Glitazone und Metformin können effektiv die Konversion von IGT zum Diabetes vermindern [Chiasson et al. 2003; DREAM 2006; Knowler et al. 2002], s. Kapitel Prävention S. 25, 26 und Tab. 11. Therapeutische sowie pleiotrope Effekte auf die Faktoren des MVS sind assoziiert mit einer signifikant niedrigeren Inzidenz von größeren kardiovaskulären Ereignissen (z. B. Myokardinfarkte). Momentan besteht jedoch nur die Möglichkeit eines “Off-label-use” bei IGT mit MVS. Metformin Die günstigen Effekte von Metformin auf Parameter des MVS bei klinisch manifestem D. m. wurden in der UKPDS [UKPDS-Group 1998] bestätigt. Metformin war das einzige Medikament in dieser Mega-Studie, das bei adipösen Patienten signifikant kardiovaskuläre Ereignisse verminderte. Es ist noch eine offene Frage, warum Metformin, trotz der Tatsache, dass es keine stärkere Reduktion von HbA1c als Glibenclamid und Insulin in den anderen Armen der UKPDS erreichte, in Bezug auf arteriosklerotische Erkrankungen überlegen war. Eine Möglichkeit könnte sein, dass es pleiotrope Effekte auf das Übergewicht hatte, während die Patienten in der Sulfonylharnstoff- und Insulin-Gruppe an Gewicht zunahmen. 37 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Glitazone Glitazone wie Pioglitazon und Rosiglitazon sind Insulinsensitizer, die auf zwei hauptsächliche pathogenetische Faktoren des MVS wirken: die Insulinresistenz und die intraabdominale Adipositas (s. Tab. 11). Pleiotrope Effekte: Glitazone haben günstige pleiotrope Effekte auf die Dyslipidämie und Hypertonie [Raji et al. 2003; Campbell 2000; Dormandy et al. 2005]. Die Reduktion des Blutdruckes wird bei Patienten mit D. m. Typ 2 und Hypertonie beschrieben [Grossman 2003]. Rosiglitazon vermindert die p.p. TG, HDL2 und die small dense LDL. Pioglitazon senkt die TG sowie die small dense LDL und erhöht HDL-C. Für Rosiglitazon konnte eine signifikante Abnahme von CRP beschrieben werden [Haffner et al. 2002], auch Pioglitazon senkt das hsCRP [Hanefeld, Publikation in Vorbereitung]. Die Glitazone vermindern die Steatosis hepatis [Promrat et al. 2004]. Studien: In der PRO-active-Studie senkte Pioglitazon 45mg/d vs. Plazebo bei Patienten mit KHK die kardiovaskulären Endpunkte Tod, Herzinfarkt und Schlaganfall [Dormandy et al. 2005]. In der ADOPT-Studie [Kahn 2006] konnte gezeigt werden, dass eine Monotherapie mit Rosiglitazon im Vergleich zu Glibenclamid bzw. Metformin bei mindestens 4jährigem Studienverlauf die Progression der Hyperglykämie bei bisher nicht medikamentös behandelten Typ-2-Diabetikern deutlich verlangsamen kann. Rosiglitazon war besonders effektiv bei übergewichtigen Personen, bei älteren Patienten und bei Frauen. Die Rate von kardiovaskulären Ereignissen war unter Rosiglitazon gleich wie unter Metformin. NW: Gewichtszunahme, Ödemneigung und höhere LDL-C als unter Metformin/Glibenclamid. 38 Insulintherapie Bisher liegen keine Endpunktstudien zur Prävention und Behandlung des MVS durch frühe Insulintherapie vor. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass durch strikte Normalisierung der Glykämiewerte bei Schwerkranken und Patienten mit koronarer Herzkrankheit durch Insulin die Endothelfunktion verbessert und die kardiovaskuläre Mortalität gesenkt werden konnte [Malmberg et al. 1995, van den Berghe et al. 2001]. Frühe Insulinierung mit HbA1c-Werten < 6.5% ist nicht mit einer stärkeren Gewichtszunahme und einem erhöhten Hypoglykämierisiko assoziiert. Eine normnahe Glykämiekontrolle mit HbA1c-Werten < 6.5% ist in vielen Fällen nur mit früher Insulinbehandlung bei D. m. Typ 2 und MVS erreichbar. Antihyperglykämische orale Antidiabetika wie Metformin, Acarbose und Insulinsensitizer sind Medikamente der 1. Wahl bei Personen mit D. m. Typ 2, die am MVS leiden. Weiterhin können effektiv in der Prävention von Erkrankungen des MVS ACE-Hemmer/AT1-Blocker und Statine sein, die vermutlich die Insulinsensitivität verbessern und/oder die niedriggradige Entzündung hemmen. Kardiovaskuläre Manifestationen des MVS Kardiovaskuläre Manifestationen des MVS EPIDEMIOLOGIE KARDIOVASKULÄRER KOMPLIKATIONEN (BEI MVS) 1. Koronare Herzerkrankung und Ischämische Kardiomyopathie 2. Arterielle Verschlusskrankheit einschließlich zerebrovaskulärer Komplikationen Epidemiologische Daten sind nur für das Metabolische Syndrom (MetS) verschiedener Definitionen und zudem spärlich vorhanden. Koronare Herzerkrankung (KHK) Neben den klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren (Rauchen, Hypertonie, Dyslipidämie, Diabetes) bedeutet das Vorliegen eines MetS als Risikofaktoren-Cluster eine weitere Risikosteigerung für die KHK um 35 – 60% [Sundström et al. 2006]. Das MetS kann in bis zu einem Drittel der Fälle bei Männern für die entstehende KHK verantwortlich gemacht werden [Wilson 2005)]. Nach einer Metaanalyse und nach einzelnen prospektiven Studien beträgt das relative Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen bei Vorliegen eines MetS zwischen 1,6 – 5,5 in Abhängigkeit vom Beobachtungszeitraum und von dessen Definition [Ford 2005; Meigs 2006; Isomaa 2001]. Je mehr Facetten des MetS nachweisbar sind, desto ausgeprägter sind die koronarangiographischen Veränderungen [Solymoss 2004]. Damit ist das MetS in seiner kompletten Ausprägung ein schwerwiegendes Risikofaktoren-Cluster für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität und wird bald das Rauchen als bisherigen Hauptrisikofaktor ablösen [Deen 2004; Sattar 2003; Eckel 1998]. So war in Deutschland im Jahre 2001 die KHK die häufigste Todesursache, ihr Anteil an allen Todesursachen umfasste 47% [Statistisches Bundesamt 2005]. Bei Diabetikern sind kardiovaskuläre Erkrankungen in bis zu 70% Todesursache [Libby 2005]. Die 30-Tage-Mortalität beim Diabetiker im akuten Myokardinfarkt ist etwa doppelt so hoch wie bei Nicht-Diabetikern. Infolge der Hochrisiko-Konstellation des Diabetikers gilt der D. m. Typ 2 heute als „KHK-Äquivalent” [Whitely 2005]. In einzelnen Studien entspricht das kardiovaskuläre Mortalitätsrisiko von Patienten mit D. m. ohne vorausgegangenen Herzinfarkt dem von Nichtdiabetikern mit Herzinfarkt [Grundy 2002]. Besondere Beachtung ist der stummen Ischämie des Diabetikers zu widmen (pathologische Q-Zacken im EKG, keine typische Angina-pectoris-Symptomatik, Dyspnoe als Ischämie-Pendant). Hinsichtlich der späteren Ausprägung einer Herzinsuffizienz kann dem MVS für Männer eine prädiktive Rolle unabhängig von einem vorab erlittenen Myokardinfarkt zugesprochen werden [Ingelsson 2006]. Arterielle Verschlusskrankheit (AVK) einschließlich zerebrovaskulärer Komplikationen Die AVK ist bei Patienten mit MVS deutlich häufiger als in der Normalbevölkerung (38% vs. 18%). Dabei konnte eine deutliche Korrelation zur Häufigkeit des Auftretens der AVK in Abhängigkeit der einzelnen Risikocluster des MetS nachgewiesen werden. Die höchste Prävalenz hat die Kombination der vier klassischen Risikofaktoren MVS [Costa 2004]. 39 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Umgekehrt wurde gezeigt, dass bei manifester AVK in 57% der Fälle gleichzeitig ein MetS nachgewiesen werden konnte [Olijhoek 2004]. Die zerebrovaskuläre Komplikation – manifester Apoplex – tritt bei bis zu 11,3% der Patienten mit MetS ebenfalls in Abhängigkeit der Anzahl der Risikofaktoren auf [Costa 2004]. In einer weiteren Erhebung konnte gezeigt werden, dass bei erlittenem Apoplex in 43% der Patienten ein MetS bereits besteht [Olijhoek 2004]. Ursächlich für zerebrovaskuläre Komplikationen sind neben den kardial bedingten Embolien (bei Vorhofflimmern) Erkrankungen der extrakraniellen hirnversorgenden Gefäße (20%) sowie Erkrankungen der intrakraniellen hinversorgenden Gefäße (80%) [Eckstein 2004]. PATHOGENESE KARDIOVASKULÄRER KOMPLIKATIONEN BEI MVS Die Pathogenese kardiovaskulärer Komplikationen beim MVS wird auf der Basis der genannten Risikofaktoren im wesentlichen durch folgende Komponenten vermittelt: • endotheliale Dysfunktion [Landmesser 2004], • prothrombotischer Blutgerinnungsstatus [Godsland 2005, Nieuwdorp 2005] und • systemische, chronisch inflammatorische Reaktion insbesondere auf eine Hyperlipoproteinämie [Biondi-Zoccai 2003]. Diese Komponenten stehen untereinander in direkter Wechselbeziehung und beeinflussen sich gegenseitig. Der Nachweis jeder einzelnen dieser drei Komponenten ist bereits mit einer erhöhten kardiovaskulären Morbidität verbunden [Schachinger 2000; Halcox 2002; Ridker 2003]. Gemeinsam führen sie zu makrovaskulären Veränderun40 gen im Sinne einer Atherothrombose [BiondiZoccai 2003] sowie zu Veränderungen der Mikrozirkulation [de Jongh 2004]. EINTEILUNG UND DIAGNOSTIK DER KARDIOVASKULÄREN KOMPLIKATIONEN BEI MVS Prinzipiell richten sich Diagnostik und Therapie der kardiovaskulären sowie der rein vaskulären Erkrankungen nach den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK) bzw. den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Angiologie (DGK). Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie sind mit angrenzenden Fachgesellschaften, mit den europäischen und US-amerikanischen Leitlinien, abgestimmt. An dieser Stelle sollen nur für die Praxis exemplarisch wesentliche Anteile aufgeführt werden. Für die Detailinformationen sind die Leitlinien abzurufen unter: Kardiologie: http://www. dgk.org/leitlinien/LL_KHK_DGK.pdf [DGK 2003] http://www. deutsche-diabetes-gesellschaft.de/redaktion/mitteilungen/leitlinien/LL Diabetes und Herz 120506.pdf [DDG 2006] http://www. versorgungsleitlinien.de/themen/khk/index html Angiologie: http://www.uniduesseldorf.de/WWW/AWMF/ll/065 -003-m.htm [DGA 2001] Neurologie: http://www.dgn.org/fileadmin/leitl/ischaem.pdf Kardiovaskuläre Manifestationen des MVS Die stabile Angina pectoris wird nach der CCS-Klassifikation vorgenommen [Campeau 1976; Campeau 2002]: CCS-Klassifikation (Canadian Cardiovascular Society) 0: Stumme Ischämie I: Keine Angina bei normaler/leichter körperlicher Belastung, Angina bei schwerer körperlicher Belastung II: Geringe Beeinträchtigung der normalen körperlichen Aktivität durch Angina pectoris III: Erhebliche Beeinträchtigung der normalen körperlichen Aktivität durch Angina pectoris IV: Angina pectoris bei geringster körperlicher Belastung oder bei Ruhe Schmerzen Die Einteilung der instabilen Angina erfolgt nach der Braunwald-Klassifikation [Hamm and Braunwald 2000]. Die initiale Diagnostik basiert im Wesentlichen auf: • Anamnese • 12-Kanal-Ruhe-EKG • akuten Ischämiemarkern für die instabile Situation Beim stabilen Patienten zusätzlich zum Nachweis von Ischämien: • Belastungs-EKG Das Belastungs-EKG ist mit einem positiven prädiktiven Wert von 85% bzw. einer Spezifität von ca. 80% und einer Sensitivität von ca. 50% für die Primärdiagnostik und die Verlaufskontrolle (jährliche Kontrolluntersuchungen) für diabetische und nichtdiabetische Patienten in der Regel ausreichend genau. Voraussetzung ist allerdings eine ausreichende Ausbelastung mit adäquatem Frequenzanstieg. t Koronare Herzerkrankung (KHK) Für die Manifestation der KHK ist die Unterscheidung in ein • akutes Krankheitsbild (akutes Koronarsyndrom: instabile Angina pectoris bis akuter Myokardinfarkt) und • stabiles Krankheitsbild (stabile Angina pectoris) entscheidend. Ergibt sich aus der Anamnese und dem Risikoprofil trotz eines negativen Belastungs-EKG bei individueller Ausbelastung oder bei Nichtdurchführbarkeit einer Ausbelastung doch der dringende Verdacht auf das Vorliegen einer hämodynamisch relevanten KHK, so sollten weitere Belastungsuntersuchungen im kardiologischen Fachbereich durchgeführt werden: An 1. Stelle stehen hier die beiden alternativ einsetzbaren bildgebenden Belastungsverfahren (mit einer Sensitivität von 82 – 86% und einer Spezifität von 54 – 56%): • Stress-Echokardiographie mit körperlicher oder pharmakologischer Belastung (Dobutamin) und • Myokardszintigraphie – alle gängigen Tracer mit körperlicher oder pharmakologischer Belastung (Dipyridamol oder Adenosin). Wann immer möglich, sollte eine physiologische (körperliche) Belastung bevorzugt durchgeführt werden [DDG 2006; Albers 2006]. Durch die transthorakale Echokardiographie erfolgt die Evaluation der linksventrikulären Funktion einschließlich der regionalen Kinetik. Nur bei nicht ausreichendem Schallfenster kommt hier der MRT eine Rolle zu. 41 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Noch keine Bedeutung in der täglichen Praxis aufgrund der geringen Verfügbarkeit haben: • Dobutamin-Stress-MRT (DSMR) sowie • Myokard-Perfusions-MRT mit pharmakologischer Belastung (Dipyridamol oder Adenosin, Spezifität und Sensitivität bis 90%). Arterielle Verschlusskrankheit (AVK) einschließlich zerebrovaskulärer Komplikationen Die Einteilung der AVK erfolgt nach den klinisch definierten Stadien nach Fontaine: Eine Indikation für die Koronarangiographie besteht: • bei Verdacht auf KHK mit Ischämienachweis und/oder eingeschränkter linksventrikulärer Funktion • bei akutem Koronarsyndrom und/oder Verdacht auf signifikante Progredienz einer bestehenden KHK [Dietz 2003; Silber 2005]. Fontaine-Stadien der arteriellen Verschlusskrankheit I: Beschwerdefreiheit bei objektiv nachweisbarer AVK II: Claudicatio intermittens IIa: Gehstrecke > 200m IIb: Gehstrecke < 200 m III: Ruheschmerz IV: Nekrose/ Gangrän Häufigkeit der kardiologisch-orientierten Untersuchungen (EKG, Belastungs-EKG und evtl.Echokardiographie): Empfehlung bei hohem Risikoprofil • beim asymptomatischen Patienten jährlich, • bei Symptomen entsprechend kürzeres Intervall. Die Diagnostik der AVK besteht initial aus einer Anamnese unter Berücksichtigung der Erhebung der freien Gehstrecke, des Beginns der Claudicatio bzw. Ruheschmerzen. Die klinische Untersuchung der Extremitäten sollte die Erhebung des peripheren Pulsstatus sowie etwaiger trophischer Veränderungen/Läsionen einschließen. In den Fachgesellschaften gibt es bisher keine starre Festlegungen der Untersuchungsfrequenzen. Apparativ hat die Messung des KnöchelArm-Index (ABI) die größte diagnostische Aussagekraft: Es erfolgt in Ruhelage eine Bestimmung des systolischen Verschlussdruckes am Arm (Blutdruckmessung) sowie am Knöchel mittels Blutdruckmanschette und Doppler-Stiftsonde. Aus den erhaltenen Werten wird ein Quotient gebildet. Bei Werten < 0,9 kann von einer bestehenden AVK ausgegangen werden [Diehm 2004; DGA 2001]. Bei auffälligen Befunden und positiver Klinik sollte die Zuweisung zum Angiologen zur weiterführenden Diagnostik (Farbduplexsonographie und ggf. Angiographie) erfolgen. 42 Versorgungsstrukturen Eine Ausnahme bildet der Befund bei Werten über 1.2: Hier muss eine Mediasklerose (beim Diabetiker typisch) vermutet werden. Im Falle trophischer Läsionen an den Füßen macht dieser Befund eine weiterführende Vorstellung beim Angiologen notwendig. Für die Diagnostik der hirnversorgenden Gefäße sollte initial eine Anamnese hinsichtlich neurologischer Symptome, die dem Carotiskreislauf (Amaurosis fugax, Aphasie, halbseitige motorische oder sensible Ausfälle) oder dem vertebrobasilaren Gebiet (Hirnstamm-, Kleinhirnsymptome) zuzuordnen sind, erfolgen. Anschließend erfolgt die lokale Untersuchung mit Palpation und Auskultation der Carotiden. Bei positivem Auskultationsbefund oder positiver Anamnese sollte eine baldestmögliche Vorstellung beim Angiologen oder Neurologen zur weiterführenden Abklärung (Farbduplex-Sonographie, ggf. Angiographie) erfolgen [DGA 2001]. THERAPIE Durch eine frühzeitige Erkennung und Behandlung des MVS ist es heute möglich, Gefäßkomplikationen zu verhindern oder deren Progression zu verzögern. Das therapeutische Vorgehen ergibt sich aus den Leitlinien der Fachgesellschaften und wird für jeden Patienten individuell festgelegt. Versorgungsstrukturen Die Erkennung und Behandlung von Patienten mit MVS: in erster Linie durch Hausärzte (Fachärzte für Allgemeinmedizin, hausärztlich tätige Internisten und Fachärzte für Kinder- und Jugendmedizin). Die Konsensuskonferenzen in Europa und in den USA haben eindeutig festgestellt, dass Hausärzte bei der Erfassung Gefährdeter wie auch der Verbesserung des Gesundheitsverhaltens, der Schulung zu gesunder Ernährung und gesunder Lebensweise eine besondere Rolle zukommt. Eine enge und gut funktionierende Kooperation im Sinne einer integrierten Versorgung ist jedoch für den Therapieerfolg bei der Behandlung des MVS entscheidend: Wie auch in der Diabetesbetreuung ist eine Verzahnung ambulanter, stationärer und rehabilitativer Leistungen notwendig. Problempatienten: Zuweisung zur weiteren Diagnostik und Therapie an eine Schwerpunktpraxis oder eine spezialisierte Stoffwechselambulanz. Als Bindeglied zwischen den Hausärzten und der hochspezialisierten stationären Einrichtung fungieren im ambulanten Bereich die diabetologischen Schwerpunktpraxen, die eng mit Kardiologen und Angiologen kooperieren, um diese Patienten umfassend zu diagnostizieren und effektiv behandeln zu können. Problem- oder therapierefraktäre Fälle mit akuten bzw. multiplen Komplikationen: In jedem Regierungsbezirk sollte darüberhinaus zur effizienten Betreuung von Problemfällen eine hochspezialisierte Ambulanz in Anbindung an eine Stoffwechselstation zur Verfügung stehen, die eng mit kardiologischen Einrichtungen kooperiert. 43 Praxis-Leitlinie Metabolisch-Vaskuläres Syndrom Eine große Bedeutung kommt einer engen Zusammenarbeit mit Kardiologen und Angiologen sowie Podologen zu, um hochgefährdete Patienten rasch zu erfassen und einer fundierten und umfassenden Therapie zuzuführen. Diese Abteilungen sollten ähnlich der Struktur der Diabetesbetreuung auch als Referenz-, Ausbildungs- und Fortbildungszentren fungieren. Die Therapieziele sind unter Mitarbeit von ausgebildeten DiätberaterInnen zu erreichen. Hier sind, wie in der Diabetologie, Einzel- und Gruppenschulungen sinnvoll. Selbsthilfegruppen können die Effektivität der Behandlung erhöhen, z. B. bei der Behandlung der Adipositas. Nur auf diesem Wege lassen sich die immensen Fortschritte in der Diagnostik und Therapie auch für alle Patienten mit komplizierten und therapieaufwändigen Formen auf breiter Basis nutzbar machen und vorhandene Ressourcen im Gesundheitswesen effektiv nutzen. 44 Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis [ADA/WHO 1997] ADA/WHO, E. (1997). "Report of the Expert Committee on the Diagnosis and Classification of Diabetes Mellitus." Diabetes Care 20(7): 1183-97, EG IV [Albert et al. 2001] Albert, M. A., E. Danielson, et al. (2001). 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Copyright © by Institut für Medizinische Informatik und Biometrie der Technischen Universität Dresden 53 Tab. 1 Definition / Diagnose eines MVS Ein MVS liegt in Anlehnung an ATP III vor, wenn mindestens 3 der aufgeführten Kriterien erfüllt sind [nach ATPIII 2002]: intraabdominale Adipositas Taillenumfang Männer Frauen erhöhte Triglyzeride erniedrigtes HDL-C Männer Frauen erhöhter Blutdruck erhöhte Glukose nüchtern* im Plasma kapillär 2-h-pp im oGGT** > 102 cm > 88 cm > 1.7 mmol/l (150 mg/dl) < 1.0 mmol/l ( 40 mg/dl) < 1.3 mmol/l ( 50 mg/dl) > 130/85 mmHg > 6.1 mmol/l (110 mg/dl) > 5.6 mmol/l (100 mg/dl) > 7.8 mmol/l (140 mg/dl) oder spezifische Therapie oder spezifische Therapie oder behandelte Hypertonie oder oder oder behandelter D. m. Typ 2 * Die Nüchtern-Glukose wird im Plasma (Natriumfluorid-Röhrchen) bestimmt, da zur Diagnosestellung die Plasmaglukose international üblich ist [s. ADA 1997]. CAVE: Es gelten andere Grenzwerte als im Kapillarblut! ** Bei einer erhöhten Nüchtern-Plasmaglukose > 6.1 – < 7.0 mmol/l ist ein oGTT indiziert, aber nicht notwendig für die Definition eines MVS. Ab 7.0 mmol/l liegt bereits ein D. m. Typ 2 vor, ein oGTT ist dann nicht mehr indiziert.