Quelle: bmp von Angelika Bauer-Delto „Neurofibrome können sehr entstellend wirken und betroffene Kinder psychosozial stark belasten.“ Prof. Victor-Felix Mautner Die Neurofibromatose zählt zu den häufigsten hereditären Erkrankungen und ist dennoch im Bewusstsein von Medizinern wie Öffentlichkeit wenig präsent. Einer der möglichen Gründe, warum die Erkrankung oft erst nach Jahren erkannt wird, sind ihre „vielen Gesichter“, erklärte Prof. Victor-Felix Mautner, Leiter der Neurofibromatose-Ambulanz der Universitätsklinik für Zahn-, Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie Hamburg-Eppendorf anlässlich der Jahrestagung der Gesellschaft für Neuropädiatrie im September in Mannheim. Eine Neurofibromatose kann sich unterschiedlich stark ausgeprägt an verschiedenen Organen manifestieren, vor allem am Nervensystem, an der Haut, den Augen und Knochen. Die Multisystemerkrankung erfordert daher häufig eine interdisziplinäre Betreuung der Patienten [1]. NF1 – eine Tumorsuppressorstörung Am häufigsten sieht der Pädiater die Neurofibromatose Typ 1 (NF1, Recklinghausen-Krankheit), mit der etwa eines von 3 000 Säuglingen geboren wird. NF1 wird durch Mutationen im NF1-Gen auf Chromosom 17q11.2 verursacht. Bei etwa der Hälfte der Patienten liegt eine Spontanmu- tation vor und es finden sich keine weiteren Betroffenen in der Familienanamnese, berichtete Mautner. Die NF1-Genmutation führt zu einem Mangel an funktionsfähigem Neurofibromin, einem natürlichen Tumorsuppressor. Dieses Defizit hat eine gestörte Ras-vermittelte Signaltransduktion zur Folge. Die GTPase Ras reguliert Proliferation, Differenzierung und Überleben von Zellen [1]. Patienten mit NeurofibrominDefizienz tragen ein erhöhtes Risiko, an Tumoren zu erkranken, erklärte der NF-Experte. Namensgebend sind Neurofibrome, gutartige periphere Nervenscheidentumoren (Abbildung 1 ). Diese bestehen aus SchwannZellen, Perineuralzellen, Fibroblasten und Mastzellen. Neurofibrome können kutan oder subkutan auftreten. Bis zum frühen Erwachsenenalter haben fast alle Patienten mit NF1 Neurofibrome entwickelt. Etwa die Hälfte leidet an einem plexiformen Neurofibrom (PNF), das netzartig entlang eines Nervs an der Haut oder auch im Körperinneren entstehen kann (Abbildung 1 b). PNFs können das umgebende Gewebe infiltrieren oder verdrängen und zu Knochenhypertrophie führen. Das Wachstum ist umgekehrt proportional zum Lebensalter. In der Folge kann es zu sensorischen Störungen, Pädiatrix 7/2010 11 Breites Spektrum klinischer Zeichen In unterschiedlichen Altersstufen können verschiedene klinische Zeichen auf eine NF1 hindeuten [1–3, 6]: Babys und Kleinkinder haben in der Regel noch keine Neurofibrome, PNFs sind aber gelegentlich bereits im Säuglingsalter unter der Haut zu tasten. Hellbraune Pigmentflecken (Café-au-lait-Flecken, Abbildung 1c) sollten dagegen schon beim Neugeborenen an eine NF1 denken lassen, empfahl Mautner. Diese Pigmentstörung manifestiert sich bei fast allen Kindern mit NF1 spätestens bis zur Pubertät. Ab dem Kleinkindalter tritt bei 85 Prozent eine sommersprossenartige Hyperpigmentierung (Freckling; Abbildung 1 d) in den Achselhöhlen und Leisten auf. Ein weiteres charakteristisches Symptom sind Pigmentanreicherungen auf der Regenbogenhaut, sogenannte Lisch-Knötchen (Irishamartome). Jeder siebte Betroffene bekommt ein Optikusgliom, das etwa bei der Hälfte symptomatisch wird, insbesondere durch eine eingeschränkte Sehfähigkeit. In seltenen Fällen haben betroffene Neugeborene eine übermäßige Krümmung des Schienbeins (Tibiadysplasie) oder eine Fehlbildung der Augenhöhle (Keilbeindysplasie). Bei zehn Prozent der Kinder entwickelt sich eine klinisch relevante Wirbelsäulenverkrümmung (Skoliose). Neurofibromatose Schmerzen und funktionellen Beeinträchtigungen kommen. Mit einem Lebenszeitrisiko von rund zehn Prozent entwickelt sich aus einem PNF ein maligner peripherer Nervenscheidentumor (MPNST), eine der häufigsten Todesursachen infolge NF1 [1–3]. In der Tiefe des Körpers wachsende PNFs werden bei der klinischen Untersuchung oft nicht erkannt, erklärte Mautner. Um die Tumorlast zu bestimmen, könne daher eine Ganzkörper-Magnetresonanztomografie sinnvoll sein [4]. Das Tumorvolumen lasse sich heute mittels computergestützter dreidimensionaler, volumetrischer Berechnungen am genauesten erfassen, so der NF-Experte weiter. Wie Verlaufsbeobachtungen seiner Arbeitsgruppe mittels MRT ergaben, zeigen PNFs im Kindesalter meist ein rasches Wachstum, das – anders als bei Erwachsenen – nicht unbedingt auf eine Entartung in ein MPNST hinweist [5]. Die NF1 ist zudem mit einem erhöhten Risiko für weitere benigne wie maligne Neoplasien assoziiert [1 – 3]. Dazu zählen zerebrale Hamartome, Hirntumoren wie Gliome oder Medulloblastome, Tumoren des Nebennierenmarks (Phäochromozytome), die juvenile chronische myeloische Leukämie sowie bösartige Weichteiltumoren (vor allem Rhabdomyosarkome im Becken). Abbildung 1: Kutane Neurofibrome (a), plexiformes Neurofibrom (b), Café-au-lait-Flecken (c) und axilläres Freckling (d) zählen zu den charakteristischen Symptomen der NF1 Quelle: Prof. V.-F. Mautner Pädiatrix 7/2010 Neurofibromatose 12 „Plexiforme Neurofibrome sollten bei Auftreten von Beschwerden oder schnellem Wachstum so bald wie möglich mikrochirurgisch entfernt werden.“ Prof. Marcos Tatagiba Auch kongenitale Herzerkrankungen, insbesondere Pulmonalstenosen, werden bei NF1 beobachtet. Etwa zwei Prozent der NF1-Patienten leiden unter Bluthochdruck, der bei etwa einem Drittel durch eine Nierenarterienstenose verursacht wird. Aneurysmen können auch in anderen Gefäßen, beispielsweise in den Hirnhäuten, Pankreas, Milz und Ileum, auftreten. Neuropsychologische Störungen bei jedem zweiten Kind Bei jedem zweiten Kind mit NF1 kommt es zudem zu psychomotorischen Entwicklungsverzögerungen und Teilleistungsstörungen. Einige Kinder weisen schwere kognitive Beeinträchtigungen und einen IQ unter 70 auf, berichtete Mautner. Lernbehinderungen werden vor allem im Schulalter auffällig. Mehr als ein Drittel der Kinder erfüllt die Kriterien für ein Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) [1]. Die Heranwachsenden fühlen sich nicht nur aufgrund ihrer sichtbaren Hautveränderungen, sondern auch durch motorische sowie kognitive Defizite häufig ausgegrenzt und entwickeln Minderwertigkeitsgefühle bis hin zu Depressionen, so der Experte weiter. Anhand der diagnostischen Hauptkriterien (siehe Kasten rechts oben) lasse sich die Diagnose NF1 meist bis zum Schulalter sichern. Nur bei unklarem klinischem Bild sei eine Mutationsanalyse in Erwägung zu ziehen. Große Deletionen im NF1-Gen, die mit schweren Verläufen assoziiert sind, können weniger aufwendig und kostengünstiger durch eine Markeranalyse ausgeschlossen werden. Um Probleme und Komplikationen frühzeitig erkennen und gezielt intervenieren zu können, sollten regelmäßig mindestens einmal jährlich Kontrolluntersuchungen erfolgen, empfahl Mautner. Da bislang keine kausale Therapie der NF1 zur Verfügung steht, erfolgt eine Behandlung der Symptome, die im Laufe der Zeit auftreten. Plexiforme Neurofibrome – eine therapeutische Herausforderung Neurofibrome, die kosmetisch stören oder Beschwerden verursachen, können durch einen erfahrenen Operateur chirurgisch oder per Laser entfernt werden. Allerdings ist bei NF1 das Risiko für eine hypertrophe Narbenbildung erhöht. Auch bei oberflächlichen, kutanen PNFs ist meist eine komplette Exzision möglich. Diagnostische Kriterien der NF1 (nach [6]) Eine NF1 kann sicher diagnostiziert werden, wenn mindestens zwei der folgenden Kriterien erfüllt sind: • sechs oder mehr Café-au-lait-Flecken mit einem Durchmesser von mindestens 0,5 cm • zwei oder mehr kutane oder subkutane Neurofibrome oder ein plexiformes Neurofibrom • axilläres oder inguinales Freckling • Optikusgliom • mindestens zwei Irishamartome • Knochenfehlbildungen wie Keilbeindysplasie, Tibiadysplasie oder Skoliose oder eine Pseudarthrose der langen Röhrenknochen • Verwandter ersten Grades mit NF1 Eine große Herausforderung ist die Entfernung interner PNFs. Prof. Marcos Tatagiba, Ärztlicher Direktor der Neurochirurgischen Universitätsklinik Tübingen, berichtete über seine Erfahrungen: Von 2007 bis 2009 wurden bei 16 Kindern im Alter zwischen vier und 16 Jahren NF1-assoziierte PNFs operiert. Indikationen waren Schmerzen, funktionelle Beeinträchtigungen oder ein rasches Tumorwachstum. Die mikrochirurgischen Eingriffe erfolgten unter einem intraoperativen elektrophysiologischen Monitoring, um bei drohenden Schädigungen der motorischen Funktionsfähigkeit die Operation rechtzeitig beenden zu können. Bei 13 der Kinder konnte eine signifikante Reduktion der Tumormasse erfolgen, ohne dass es zu Funktionsverlusten kam. Während der bis zu zweieinhalb Jahren andauernden Nachbeobachtungsphase kam es weder zu Rezidiven noch zu einem Wiederauftreten der präoperativen Beschwerden. Bei drei Kindern mit MPNST wurden für eine radikale Resektion Einschränkungen der motorischen Funktion in Kauf genommen. Von erfahrenen Operateuren durchgeführt, sind bei PNFs mikrochirurgische Eingriffe unter neurophysiologischem Monitoring durchaus erfolgversprechend, so das Resümee des Experten. Da im Kindesalter mit einem stetigen Wachstum von PNFs zu rechnen sei, sollte eine Resektion bei Auftreten von Beschwerden oder schnellem Wachstum so früh wie möglich erfolgen. Pädiatrix 7/2010 13 Pharmakotherapie für Lerndefizite in der Entwicklung Je nach Lokalisation und Wachstumsverhalten können manche PNFs und MPNSTs nicht operiert werden, ohne umliegendes Gewebe zu schädigen und/oder zu funktionellen Defiziten zu führen. Inoperable MPNSTs sprechen auch auf herkömmliche Chemotherapeutika und Strahlentherapie nur unbefriedigend an [1]. Daher zielen intensive Forschungsbemühungen [7] darauf ab, die komplexen pathophysiologischen Mechanismen der NF1 besser zu verstehen und daraus neue medikamentöse Therapieansätze zu entwickeln. Zu den vielversprechenden therapeutischen Ansätzen zählen Tyrosinkinase-Inhibitoren. PNFs zeigen eine verstärkte Aktivität der Tyrosinkinasen, die Zellwachstum und Zellteilung fördern. Daher hoffen Forscher, durch die medikamentöse Gabe von TyrosinkinaseInhibitoren, die diese Enzyme blockieren, das Tumorwachstum hemmen zu können. Eine dieser Substanzen ist Imatinibmesylat, das bereits unter anderem bei der chronisch myeloischen Leukämie und bei gastrointestinalen Stromatumoren eingesetzt wird. In Zellkulturen und bei Mäusen mit PNFs konnte ein hemmender Effekt auf die Zellvermehrung und das Tumorwachstum beobachtet werden [8, 9]. Erste Daten zum Einsatz von Imatinib bei Menschen mit PNF sind uneinheitlich: Bei einem dreijährigen Kind mit einem lebensbedrohlichen PNF, das die Atemwege zusammendrückte, verkleinerte sich der Tumor durch eine dreimonatige Gabe von Imatinib um 70 Prozent [9]. Bei sechs eigenen Patienten, die im Rahmen eines Heilversuchs Imatinib erhielten, ließ sich radiologisch allerdings keine Regression der Tumoren feststellen, berichtete Mautner. Eine offene Pilotstudie mit Imatinib wird derzeit von der Universität Indiana durchgeführt (siehe unter: Weitere Informationen). Eine weitere Substanz, die zurzeit in offenen Phase-II-Studien überprüft wird, ist Sirolimus (Rapamycin) [10]. Das Immunsuppressivum ist in Deutschland zur Vermeidung von Abstoßungsreaktionen bei Nierentransplantationen zugelassen. Es hemmt das Signalprotein mTOR (mammalian target of Rapamycin), das eine wichtige Rolle bei der Zellteilung und Zellvermehrung spielt. Neurofibrome weisen eine erhöhte Aktivität von mTOR auf. Die Forscher hoffen, durch die Gabe des mTOR-Inhibitors Sirolimus das Wachstum von PNFs verlangsamen oder stoppen zu können. Ein weiteres wichtiges Forschungsfeld ist die Behandlung von Entwicklungs- und Lerndefiziten, die die Lebensqualität von Patienten mit NF1 stark beeinträchtigen können. Bei ADHS kann eine Behandlung mit Methylphenidat Konzentration sowie schulische und soziale Integration signifikant verbessern [11]. Kinder mit Entwicklungsverzögerung und Teilleistungsstörungen profitieren von Krankengymnastik, Ergotherapie und Psychomotoriktraining [1]. Motorisches Training führt zur Ausbildung neuer Synapsen und verbessert neuronale Vernetzungen, erklärte Prof. Volker Mall, Leitender Oberarzt an der Universitätsklinik für Neuropädiatrie und Muskelerkrankungen Freiburg. Die synaptische Plastizität gilt als neurophysiologisches Korrelat jeglicher Form erfolgreichen Lernens. Der bei NF1 gestörte Ras-Signalweg spielt auch eine zentrale Rolle bei der Regulation synaptischer Plastizität. Im Mausmodell konnte gezeigt werden, dass die genetisch determinierten Entwicklungs- und Lerndefizite bei NF1 mit einer eingeschränkten synaptischen Plastizität einhergehen [12]. Forscher versuchen derzeit, durch Ras-Inhibitoren die synaptische Plastizität zu fördern und dadurch Lernstörungen medikamentös zu verbessern. In NF1-Maus-Modellen wurde bereits nachgewiesen, dass Lovastatin Lernbehinderungen und Aufmerksamkeitsstörungen verbessern kann [13]. Derzeit wird Lovastatin in einer placebokontrollierten Studie der Universität Alabama bei Kindern mit NF1 überprüft (siehe unter: Weitere Informationen). Bislang sei die NF1 zwar nicht heilbar, so das Resümee der Referenten. Die intensiven Forschungsbemühungen lassen jedoch hoffen, Morbidität und Lebensqualität der Patienten zunehmend verbessern zu können. Pädiatrix 7/2010 Umfassende wissenschaftliche und praktische Informationen für Ärzte wie Betroffene bietet der Bundesverband Neurofibromatose – Von Recklinghausen Gesellschaft e. V. unter: www.von-recklinghausen.org Neurofibromatose Neue antitumorale Behandlungsperspektiven „Eine medikamentöse Beeinflussung der synaptischen Plastizität könnte Lerndefizite verbessern.“ Prof. Volker Mall Neurofibromatose 14 Literatur 1. 2. 9. microenvironment containing Nf1+/-- and c-kit- Kehrer-Sawatzki H et al.: Klinik und Genetik der dependent bone marrow. Cell 2008; 135(3): 437-448 Neurofibromatose Typ 1. Med Gen. 2009; 21(4): 519- 10. 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Kontakt: Frau Hierl, Tel.: 069/ 963 76 26-18, E-Mail: [email protected] Pädiatrix 7/2010