Das Kreuz mit dem Rücken

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Wirbelsäulenchirurgie: Das Kreuz mit dem Rücken - Medizin - Wissen - FAZ.NET
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Medizin
Wirbelsäulenchirurgie
Das Kreuz mit dem Rücken
Von Rainer Flöhl
13. Juni 2008 Die Wirbelsäulenchirurgie kann die in sie
gesetzten Erwartungen offensichtlich noch immer nicht
erfüllen. Zwar steigt trotz aller Kritik die Zahl der
Operationen sowie der Abteilungen oder Kliniken für
Wirbelchirurgie, doch es fehlt vielfach an wissenschaftlichen
Belegen dafür, dass die Eingriffe die Leiden der Patienten
wirklich nachhaltig lindern. Besonders gilt dies für die
degenerative Spinalkanalstenose. Dabei handelt es sich um
Einengungen des Spinalkanals, der einer Röhre gleich das
Rückenmark vom Hals bis zur Wirbelsäule umhüllt.
Beachtliche Fortschritte in der
Wirbelsäulenchirurgie
Verengungen, die durch ganz unterschiedliche anatomische
Strukturen - etwa Bandscheiben, Wirbelfortsätze, Bänder
oder das Wirbelgelenk selbst - ausgelöst werden können,
führen zu Veränderungen, die die Funktion des Rückenmarks beeinträchtigen. Am
häufigsten ist die Hals- und die Lendenwirbelsäule betroffen. Es kommt zu Störungen der
Nervenfunktion, die Hände oder Beine, aber auch die Blasenfunktion betreffen können.
Nachweis durch Kernspintomographie
Zum Nachweis von Veränderungen an der Wirbelsäule hat sich die Kernspintomographie
bewährt. Doch es besteht kein eindeutiger Zusammenhang zwischen den erkennbaren
Veränderungen und den Beschwerden. Das dürfte unter anderem damit
zusammenhängen, dass die starken Belastungen, denen die Wirbelsäule ausgesetzt ist,
beispielsweise zu Verdickungen von Bändern oder zu Veränderungen an den
Knochenstrukturen führen, die man nicht als krankhaft bezeichnen, sondern eher als einen
individuellen Anpassungsprozess auffassen sollte.
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Das ganze Ausmaß des Dilemmas, mit dem sich die
Neurochirurgen und Orthopäden bei der Behandlung
solcher Stenosen konfrontiert sehen, lassen drei Artikel
erkennen, die kürzlich im "Deutschen Ärzteblatt" (Bd. 105,
S. 365-379) erschienen sind. In einem Leitartikel befasst
sich Rolf Kalff von der Klinik für Neurochirurgie der
Universität Jena mit der aktuellen Situation, die eher von
Wildwuchs als von wissenschaftlich gesichertem Vorgehen bestimmt wird. Kalff stützt sich
dabei auf zwei Beiträge seiner Kollegen Frerk Meyer (Oldenburg), Wolfgang Börm
(Flensburg) und Claudius Thomé (Heidelberg) zur Therapie cervicaler und lumbaler, also
Hals- und Lendenwirbelsäule betreffender, Stenosen. Die Autoren gehören zur Sektion
Wirbelsäule der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie.
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Zahl der Eingriffe nimmt zu
Unstrittig ist, dass - nicht zuletzt von der medizintechnischen Industrie, aber auch von
einer hohen Erwartungshaltung der Patienten angetrieben - die Zahl der Eingriffe wegen
der unterschiedlichen Beeinträchtigungen des Rückenmarks zunimmt. Hinzu kommt, wie
Kalff schreibt, dass die Boulevardpresse suggeriert, vielen Patienten könne durch die
rechtzeitige Erkennung und Beseitigung der Stenose geholfen werden. Doch Thomé, Meyer
und Börm zeigten, dass therapeutische Entscheidungen sich nicht auf systematische
Studien mit überzeugenden Ergebnissen stützen könnten.
Die klinischen Erfahrungen und das chirurgische Repertoire des Operateurs seien oft die
einzigen Entscheidungsgrundlagen. Obwohl das Vorhandensein einer degenerativen
Stenose nicht gleichbedeutend mit Nervenschäden sei, werde der Läsion an sich ein
"Krankheitswert" beigemessen. Deshalb verwundert es nicht, dass sich die Ergebnisse aller
Behandlungsverfahren, ob herkömmlich mit Massagen, Gymnastik und Medikamenten
oder chirurgisch, meist nicht unterscheiden. Hinzu kommt, dass es inzwischen eine
Vielzahl klassischer oder minimal-invasiver Operationsverfahren gibt, die eine Beurteilung
der Leistungsfähigkeit einzelner Maßnahmen erschweren. So ist für Kalff das am wenigsten
invasive Verfahren keineswegs immer auch das ideale. In diesem Zusammenhang warnt
er auch vor einer Art Stufentherapie mit wiederholten Eingriffen.
Es fehlen Studien, die eine Bewertung erlauben
Das Fazit Kalffs ist eindeutig: Es fehlen Studien, die eine Bewertung der einzelnen
Behandlungsverfahren erlauben. Solche systematischen Untersuchungen könnten auch
nicht von einzelnen Institutionen erbracht werden. Als Vorbild nennt Kalff die "Swedish
Lumbar Spine Study Group", die alle spinalen Eingriffe im Land erfasst und auswertet. Das
führe dazu, dass keine Operationsmethode ungeprüft breiter angewandt werden kann. Für
den deutschsprachigen Raum könnte "Spine Tango", ein Erfassungssystem der
europäischen Wirbelsäulengesellschaft, diese Rolle übernehmen. Allerdings sind die
Hürden, zuverlässige Erkenntnisse zu gewinnen, hoch, denn die Ergebnisse von Eingriffen
an der Wirbelsäule können auch bei richtiger Diagnose und perfekt ausgeführter Operation
erheblich schwanken. Mehr Forschung sei daher unerlässlich, wolle man das Vertrauen von
Orthopäden und Patienten in die Wirbelsäulenchirurgie nicht untergraben. All zu große
Erwartungen sind also derzeit illusionär.
Text: F.A.Z.
Bildmaterial: ddp
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