RECHT ESSAY TARIFEINHEIT IN GEFAHR Piloten, Ärzte, Lokführer – Spezialgewerkschaften der selbsternannten Funktionseliten haben an Macht gewonnen. Die ausgehandelten Spartentarifverträge bringen den Grundsatz der Tarifeinheit ins Wanken. 94 H U M A N R E S O U R C E S M A N A G E R RECHT D ie Tariflandschaft in Deutschland ist im Umbruch begriffen. Piloten, Ärzte und Lokführer machen den Anfang, weitere selbsternannte Funktionseliten könnten folgen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) scheint diese Entwicklung zu unterstützen – der Grundsatz der Tarifeinheit wankt. Spartentarifverträge: Praktische und rechtliche Probleme Ein Arbeitgeber, der – nach Abschluss Fotos: Archiv eines für alle Arbeitnehmer geltenden Tarifvertrags – von einer Spartengewerkschaft attackiert wird, kann sich gegen Arbeitskampfmaßnahmen nicht adäquat zur Wehr setzen. Die Friedenspflicht gegenüber den (ihm nicht bekannten) Mitgliedern der anderen GeGrundsatz der Tarifeinheit Auf der Grundlage der werkschaft sowie das Verbot der selektiven Aussperrung gefestigten Rechtsprechung dürften Spartentarifverträ- hindern ihn daran, selbst Arbeitskampfmittel zu ergreige gar nicht erst zur Anwendung fen. Selbst wenn der Arbeitgeber gelangen, jedenfalls dann nicht, berechtigt wäre, alle Arbeitnehwenn für den betroffenen Betrieb mer auszusperren, könnte hierein anderer Tarifvertrag gilt, der durch in der Regel kein maßgeballe dort tätigen Arbeitnehmerlicher Druck auf die Spartenorgruppen erfasst. Nach dem seit ganisation ausgeübt werden. In den 50er Jahren vom BAG in stänerster Linie würde der Arbeitgediger Rechtsprechung angewandber vielmehr die Mitglieder der ten Grundsatz der Tarifeinheit soll großen Gewerkschaft treffen, die nämlich in einem Betrieb jeweils nämlich keine Streikunterstütnur ein Tarifvertrag gelten. Bei eizung erhalten. Damit bleibt ihm nem Nebeneinander verschiedenichts anderes übrig, als etwaige ner Verträge in einem Betrieb (TaStreiks der Spartengewerkschaft rifpluralität) findet ebenso wie bei hinzunehmen und letztlich deren der Geltung mehrere Verträge auf Tarifforderung zu akzeptieren. ein Arbeitsverhältnis (TarifkonDie Arbeitskampfparität, die Die Lufthansa sieht sich in der Regel mit Forderungen mehrerer Gewerkschaften kurrenz) der Spezialitätsgrundals Grundvoraussetzung für das konfrontiert, so zum Beispiel im Sommer satz Anwendung. Es setzt sich Funktionieren unseres Tarifsys2008 auch vom Bodenpersonal der Lufthansa. nur der Tarifvertrag durch, der tems angesehen wird, wäre damit dem Betrieb räumlich, betrieblich, aufgehoben. fachlich und persönlich am nächsAufgrund des organisationsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenar- polischen Machtkampfs zwischen der großen Gewerkten des Betriebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am schaft und der Spartenorganisation wird keine Gewerkbesten gerecht wird. Dies ist immer der Vertrag, der die schaft diejenige sein wollen, die den ersten Abschluss Arbeitsbedingungen der im Betrieb beschäftigten Arbeit- tätigt. Ist eine Gewerkschaft hierzu dennoch bereit, so nehmer einheitlich regelt, nicht hingegen der Spartenta- wird sie sich eine “Revisionsklausel” vorbehalten, die rifvertrag, der nur für eine oder einzelne Berufsgruppen ihr einen sofortigen Ausstieg für den Fall ermöglicht, gilt, wie das BAG zuletzt im Jahre 2006 entschied. dass die von ihr festgelegten Konditionen von der Konkurrenzorganisation übertroffen werden. Nach dem Änderung der Rechtsprechung steht an Seit je- verbesserten Abschluss macht sie hiervon Gebrauch her wird der Grundsatz der Tarifeinheit im arbeitsrecht- und versucht nun ebenfalls nachzubessern. Auf diese lichen Schrifttum heftig kritisiert. Es wird die Auffassung Weise schaukeln die konkurrierenden Gewerkschaften vertreten, dass der ausschließlich aus übergeordneten die Tarifkonditionen wechselseitig hoch, bis schließlich Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ein Niveau erreicht ist, bei dem das Unternehmen keiabgeleitete Grundsatz gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoße, ne andere Wahl hat, als seine Aktivitäten ins Ausland zu weil der Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wer- verlagern – soweit dies möglich sein sollte. de, ein ganzer Wirtschaftszweig versperrt werde und weil Schon allein die Existenz von Spezialistengewerkdem Arbeitnehmer, der dieser Koalition angehöre, die schaften für verschiedene Berufsgruppen, die jeweils Geltung “seines” Tarifvertrages genommen werde. zur Durchsetzung eigener Tarifregelungen berechtigt Einige Kritiker rechnen damit, dass das BAG sich bei wären, hätte kontinuierliche Tarifauseinandersetzunnächster Gelegenheit vom Grundsatz der Tarifeinheit gen mit der einen oder anderen Organisation zur Folge. verabschieden werde. Der Vorsitzende des 4. Senats des Zur Verhinderung derartiger Entwicklungen, die an BAG, Klaus Bepler, hatte wiederholt betont, dass von einer „englische Verhältnisse“ der Ära vor Margret Thatcher abgeschlossenen Willensbildung innerhalb des Senats erinnern, wäre eine grundlegende Änderung des Arkeine Rede sein könne. beitskampfrechts – verbunden mit einer deutlichen Und tatsächlich beabsichtigt der vierte Senat nun, sei- Begrenzung des Streikrechts – unverzichtbar. ne Rechtsprechung zur Tarifeinheit zu ändern: Eine entAuch die Anwendung eines Spartentarifvertrages sprechende Anfrage an den zehnten Senat des obersten wäre mit kaum lösbaren Schwierigkeiten verbunden: deutschen Arbeitsgerichts – der die bisher maßgebliche Nach dem Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz Auffassung vertritt – wurde mit Beschluss vom 27. Januar BetrVG muss die betriebliche Mitbestimmung weichen, 2010 gestellt. Somit hat nun das BAG die Gelegenheit, den sofern ein entsprechender Tarifvertrag im Betrieb Gelbisher geltenden Grundsatz der Tarifeinheit ins Wanken tung beansprucht. Bestehen aber unterschiedliche Tarifzu bringen. verträge, so ist völlig unklar, wonach sich die Reichweite M A I 2 0 1 0 95 RECHT Überprüfung und Korrektur der Entgeltstruktur: Zunächst einmal ist zu analysieren, ob und inwieweit die Entgelte “kampfstarker” Berufsgruppen einem Vergleich mit der Vergütung entsprechender Arbeitnehmer in anderen Unternehmen (auch anderen 96 • Managing Partner des Frankfurter Büros von Lovells LLP • Seit 1996 als Rechtsanwalt zugelassen und ausschließlich auf dem Gebiet des Arbeitsrechts tätig • Mitherausgeber und Co-Autor „Beck‘sches Formularbuch Arbeitsrecht“, C.H. Beck H U M A N R E S O U R C E S M A N A G E R Fotos: Archiv; Lovells LLP der betrieblichen Mitbestimmung richtet. Einen praktiBranchen) und ähnlich qualifizierter Arbeitnehmer kablen und konsequenten Lösungsvorschlag hierzu hat im eigenen Unternehmen standhalten können. Gegebislang niemand vorgelegt. benenfalls ist zu erwägen, Unzufriedenheiten durch Nichts anderes gilt auch für die Behandlung beübertarifliche Zulagen und Boni, die durchaus auch triebsverfassungsrechtlicher Normen in Tarifverträleistungsbezogene Komponenten enthalten können, zu gen, wie etwa Regelungen zur Betriebsratsstruktur (§ 3 beseitigen. Auch sonstige Arbeitsbedingungen sollten BetrVG) und zur Arbeitszeit. Es liegt auf der Hand, dass auf den Prüfstand gestellt werden. die Festlegung von Wahlbetrieben nur einheitlich geregelt werden kann; auch Arbeitszeiten können nicht von Änderung der Bezugnahmeklauseln: Ausgeder Gewerkschaftszugehörighend von der Tarifeinheit wahrt keit abhängig gemacht werden, die große dynamische Verweijedenfalls soweit es um Schichtsungsklausel die Flexibilität des plansysteme geht. Die im Betrieb Arbeitgebers. Für den Fall, dass es geltende Arbeitszeit kann nicht zur Tarifpluralität kommen sollte, für Arbeitnehmer in gleichen können andere GestaltungsvariPositionen unterschiedlich – je anten empfehlenswert sein. Zu nach Gewerkschaftszugehörigdenken ist hierbei an die Geltung keit – geregelt werden. des vom Arbeitgeber einseitig Da der Arbeitgeber in der zu bestimmenden Tarifvertrags Regel die Gewerkschaftszuge(§ 315 BGB) oder aber des bei hörigkeit seiner Arbeitnehmer Tarifabschluss repräsentativsten nicht kennt und nach überwieTarifvertrags. gender Ansicht auch nicht nach ihr fragen darf, ist ungeklärt, Durchführung von Umwie er die Anwendbarkeit des strukturierungsmaßnahDer Marburger Bund ist mit über hunderttausend Mitgliedern die größte Ärztevereinigung jeweils “richtigen” Tarifvertrags men: Veränderungen der bein Europa. Verdi hat dagegen lediglich etwa sicherstellen soll. Hinzu kommt, trieblichen Struktur können tausend Ärzte in ihren Reihen vorzuweisen. dass Arbeitnehmer ihre Gedarauf abzielen, Spartenorganisawerkschaftszugehörigkeit nach tionen die Durchsetzung eigener Belieben wechseln und auch Tarifverträge zu erschweren. Zu mehreren Gewerkschaften gleichzeitig angehören erwägen ist auch die Planung von Reorganisationen, können. Nur die sichere Kenntnis des anwendbaren die dazu beitragen, die Folgen der Geltung von SparTarifvertrags ermöglicht dem Arbeitgeber Planungstentarifverträgen im betrieblichen Alltag abzumildern; sicherheit, andernfalls entsteht Chaos. Man denke nur hierbei sind auch Outsourcing-Maßnahmen in Betracht an Sanierungstarifverträge und Regelungen über Künzu ziehen. digungsbeschränkungen. Ohnehin wäre es unzumutbar, jede Auseinandersetzung über tarifliche Rechte vor den Unterstützung der Gesetzgebungsinitiative: Arbeitsgerichten auszutragen; erst dort könnte der ArKurz nach dem Stopp des Streiks der Piloten im Februar beitnehmer als (darlegungspflichtiger) Anspruchsteller haben Unternehmen und allen voran die Bundesvereiwomöglich dazu veranlasst sein, seine Gewerkschaftsnigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die zugehörigkeit offenzulegen. Politik zum Handeln aufgerufen. Die BDA hatte schon einmal an einer Gesetzgebungsinitiative gearbeitet, die Präventive Maßnahmen Unternehmen und Per- zum Ziel hatte, die Tarifeinheit im Tarifvertragsgesetz sonalverantwortliche sollten die aktuellen Diskussifestzuschreiben. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU onen über Fall oder Fortbestand des Grundsatzes der wird nach eigenem Bekunden gemeinsam mit dem ArTarifeinheit genau und aktiv verfolgen. Setzt sich eine beits- und Wirtschaftsministerium prüfen, ob gesetzallgemeingültige Rechtsprechungsänderung durch und licher Handlungsbedarf zur Sicherung der Tarifaumüssen Unternehmen sodann mittel- oder langfristig tonomie besteht. Jedes Unternehmen, das “englische befürchten, dass bereits bestehende oder noch zu bilVerhältnisse” vermeiden möchte, sollte erwägen, entdende Spartenorganisationen die Partikularinteressen sprechende Gesetzesinitiativen zu unterstützen. von Mitarbeitern in Schlüsselfunktionen wahrnehmen könnten, sollten sie frühzeitig Strategien ausarbeiten, um derartigen Bestrebungen entgegenzuwirken. Hans-Peter Löw Managing Partner des Frankfurter Büros der Zumindest aber sollten die Folgen einer etwaigen Tainternationalen Anwaltssozietät Lovells LLP rifpluralität abgemildert werden. Hierbei können beispielsweise folgende Maßnahmen sinnvoll sein: