TARIFEINHEIT IN GEFAHR Piloten, Ärzte, Lokführer

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RECHT
ESSAY
TARIFEINHEIT
IN GEFAHR
Piloten, Ärzte, Lokführer – Spezialgewerkschaften der
selbsternannten Funktionseliten haben an Macht
gewonnen. Die ausgehandelten Spartentarifverträge
bringen den Grundsatz der Tarifeinheit ins Wanken.
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ie Tariflandschaft in Deutschland ist im Umbruch begriffen. Piloten, Ärzte und Lokführer
machen den Anfang, weitere selbsternannte
Funktionseliten könnten folgen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) scheint diese Entwicklung zu unterstützen – der Grundsatz der Tarifeinheit wankt.
Spartentarifverträge: Praktische und rechtliche Probleme Ein Arbeitgeber, der – nach Abschluss
Fotos: Archiv
eines für alle Arbeitnehmer geltenden Tarifvertrags
– von einer Spartengewerkschaft attackiert wird, kann
sich gegen Arbeitskampfmaßnahmen nicht adäquat
zur Wehr setzen. Die Friedenspflicht gegenüber den
(ihm nicht bekannten) Mitgliedern der anderen GeGrundsatz der Tarifeinheit Auf der Grundlage der werkschaft sowie das Verbot der selektiven Aussperrung
gefestigten Rechtsprechung dürften Spartentarifverträ- hindern ihn daran, selbst Arbeitskampfmittel zu ergreige gar nicht erst zur Anwendung
fen. Selbst wenn der Arbeitgeber
gelangen, jedenfalls dann nicht,
berechtigt wäre, alle Arbeitnehwenn für den betroffenen Betrieb
mer auszusperren, könnte hierein anderer Tarifvertrag gilt, der
durch in der Regel kein maßgeballe dort tätigen Arbeitnehmerlicher Druck auf die Spartenorgruppen erfasst. Nach dem seit
ganisation ausgeübt werden. In
den 50er Jahren vom BAG in stänerster Linie würde der Arbeitgediger Rechtsprechung angewandber vielmehr die Mitglieder der
ten Grundsatz der Tarifeinheit soll
großen Gewerkschaft treffen, die
nämlich in einem Betrieb jeweils
nämlich keine Streikunterstütnur ein Tarifvertrag gelten. Bei eizung erhalten. Damit bleibt ihm
nem Nebeneinander verschiedenichts anderes übrig, als etwaige
ner Verträge in einem Betrieb (TaStreiks der Spartengewerkschaft
rifpluralität) findet ebenso wie bei
hinzunehmen und letztlich deren
der Geltung mehrere Verträge auf
Tarifforderung zu akzeptieren.
ein Arbeitsverhältnis (TarifkonDie Arbeitskampfparität, die
Die Lufthansa sieht sich in der Regel mit
Forderungen mehrerer Gewerkschaften
kurrenz) der Spezialitätsgrundals Grundvoraussetzung für das
konfrontiert, so zum Beispiel im Sommer
satz Anwendung. Es setzt sich
Funktionieren unseres Tarifsys2008 auch vom Bodenpersonal der Lufthansa.
nur der Tarifvertrag durch, der
tems angesehen wird, wäre damit
dem Betrieb räumlich, betrieblich,
aufgehoben.
fachlich und persönlich am nächsAufgrund des organisationsten steht und deshalb den Erfordernissen und Eigenar- polischen Machtkampfs zwischen der großen Gewerkten des Betriebs und der darin tätigen Arbeitnehmer am schaft und der Spartenorganisation wird keine Gewerkbesten gerecht wird. Dies ist immer der Vertrag, der die schaft diejenige sein wollen, die den ersten Abschluss
Arbeitsbedingungen der im Betrieb beschäftigten Arbeit- tätigt. Ist eine Gewerkschaft hierzu dennoch bereit, so
nehmer einheitlich regelt, nicht hingegen der Spartenta- wird sie sich eine “Revisionsklausel” vorbehalten, die
rifvertrag, der nur für eine oder einzelne Berufsgruppen ihr einen sofortigen Ausstieg für den Fall ermöglicht,
gilt, wie das BAG zuletzt im Jahre 2006 entschied.
dass die von ihr festgelegten Konditionen von der Konkurrenzorganisation übertroffen werden. Nach dem
Änderung der Rechtsprechung steht an Seit je- verbesserten Abschluss macht sie hiervon Gebrauch
her wird der Grundsatz der Tarifeinheit im arbeitsrecht- und versucht nun ebenfalls nachzubessern. Auf diese
lichen Schrifttum heftig kritisiert. Es wird die Auffassung Weise schaukeln die konkurrierenden Gewerkschaften
vertreten, dass der ausschließlich aus übergeordneten die Tarifkonditionen wechselseitig hoch, bis schließlich
Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit ein Niveau erreicht ist, bei dem das Unternehmen keiabgeleitete Grundsatz gegen Art. 9 Abs. 3 GG verstoße, ne andere Wahl hat, als seine Aktivitäten ins Ausland zu
weil der Gewerkschaft, deren Tarifvertrag verdrängt wer- verlagern – soweit dies möglich sein sollte.
de, ein ganzer Wirtschaftszweig versperrt werde und weil
Schon allein die Existenz von Spezialistengewerkdem Arbeitnehmer, der dieser Koalition angehöre, die schaften für verschiedene Berufsgruppen, die jeweils
Geltung “seines” Tarifvertrages genommen werde.
zur Durchsetzung eigener Tarifregelungen berechtigt
Einige Kritiker rechnen damit, dass das BAG sich bei wären, hätte kontinuierliche Tarifauseinandersetzunnächster Gelegenheit vom Grundsatz der Tarifeinheit gen mit der einen oder anderen Organisation zur Folge.
verabschieden werde. Der Vorsitzende des 4. Senats des
Zur Verhinderung derartiger Entwicklungen, die an
BAG, Klaus Bepler, hatte wiederholt betont, dass von einer „englische Verhältnisse“ der Ära vor Margret Thatcher
abgeschlossenen Willensbildung innerhalb des Senats erinnern, wäre eine grundlegende Änderung des Arkeine Rede sein könne.
beitskampfrechts – verbunden mit einer deutlichen
Und tatsächlich beabsichtigt der vierte Senat nun, sei- Begrenzung des Streikrechts – unverzichtbar.
ne Rechtsprechung zur Tarifeinheit zu ändern: Eine entAuch die Anwendung eines Spartentarifvertrages
sprechende Anfrage an den zehnten Senat des obersten wäre mit kaum lösbaren Schwierigkeiten verbunden:
deutschen Arbeitsgerichts – der die bisher maßgebliche Nach dem Tarifvorrang des § 87 Abs. 1 Einleitungssatz
Auffassung vertritt – wurde mit Beschluss vom 27. Januar BetrVG muss die betriebliche Mitbestimmung weichen,
2010 gestellt. Somit hat nun das BAG die Gelegenheit, den sofern ein entsprechender Tarifvertrag im Betrieb Gelbisher geltenden Grundsatz der Tarifeinheit ins Wanken tung beansprucht. Bestehen aber unterschiedliche Tarifzu bringen.
verträge, so ist völlig unklar, wonach sich die Reichweite
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Überprüfung und Korrektur der Entgeltstruktur: Zunächst einmal ist zu analysieren, ob und
inwieweit die Entgelte “kampfstarker” Berufsgruppen
einem Vergleich mit der Vergütung entsprechender Arbeitnehmer in anderen Unternehmen (auch anderen
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• Managing Partner des Frankfurter Büros von Lovells LLP
• Seit 1996 als Rechtsanwalt zugelassen und ausschließlich auf dem
Gebiet des Arbeitsrechts tätig
• Mitherausgeber und Co-Autor „Beck‘sches Formularbuch Arbeitsrecht“, C.H. Beck
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Fotos: Archiv; Lovells LLP
der betrieblichen Mitbestimmung richtet. Einen praktiBranchen) und ähnlich qualifizierter Arbeitnehmer
kablen und konsequenten Lösungsvorschlag hierzu hat
im eigenen Unternehmen standhalten können. Gegebislang niemand vorgelegt.
benenfalls ist zu erwägen, Unzufriedenheiten durch
Nichts anderes gilt auch für die Behandlung beübertarifliche Zulagen und Boni, die durchaus auch
triebsverfassungsrechtlicher Normen in Tarifverträleistungsbezogene Komponenten enthalten können, zu
gen, wie etwa Regelungen zur Betriebsratsstruktur (§ 3
beseitigen. Auch sonstige Arbeitsbedingungen sollten
BetrVG) und zur Arbeitszeit. Es liegt auf der Hand, dass
auf den Prüfstand gestellt werden.
die Festlegung von Wahlbetrieben nur einheitlich geregelt werden kann; auch Arbeitszeiten können nicht von
Änderung der Bezugnahmeklauseln: Ausgeder Gewerkschaftszugehörighend von der Tarifeinheit wahrt
keit abhängig gemacht werden,
die große dynamische Verweijedenfalls soweit es um Schichtsungsklausel die Flexibilität des
plansysteme geht. Die im Betrieb
Arbeitgebers. Für den Fall, dass es
geltende Arbeitszeit kann nicht
zur Tarifpluralität kommen sollte,
für Arbeitnehmer in gleichen
können andere GestaltungsvariPositionen unterschiedlich – je
anten empfehlenswert sein. Zu
nach Gewerkschaftszugehörigdenken ist hierbei an die Geltung
keit – geregelt werden.
des vom Arbeitgeber einseitig
Da der Arbeitgeber in der
zu bestimmenden Tarifvertrags
Regel die Gewerkschaftszuge(§ 315 BGB) oder aber des bei
hörigkeit seiner Arbeitnehmer
Tarifabschluss repräsentativsten
nicht kennt und nach überwieTarifvertrags.
gender Ansicht auch nicht nach
ihr fragen darf, ist ungeklärt,
Durchführung von Umwie er die Anwendbarkeit des
strukturierungsmaßnahDer Marburger Bund ist mit über hunderttausend Mitgliedern die größte Ärztevereinigung
jeweils “richtigen” Tarifvertrags
men: Veränderungen der bein Europa. Verdi hat dagegen lediglich etwa
sicherstellen soll. Hinzu kommt,
trieblichen
Struktur
können
tausend Ärzte in ihren Reihen vorzuweisen.
dass Arbeitnehmer ihre Gedarauf abzielen, Spartenorganisawerkschaftszugehörigkeit nach
tionen die Durchsetzung eigener
Belieben wechseln und auch
Tarifverträge zu erschweren. Zu
mehreren Gewerkschaften gleichzeitig angehören
erwägen ist auch die Planung von Reorganisationen,
können. Nur die sichere Kenntnis des anwendbaren
die dazu beitragen, die Folgen der Geltung von SparTarifvertrags ermöglicht dem Arbeitgeber Planungstentarifverträgen im betrieblichen Alltag abzumildern;
sicherheit, andernfalls entsteht Chaos. Man denke nur
hierbei sind auch Outsourcing-Maßnahmen in Betracht
an Sanierungstarifverträge und Regelungen über Künzu ziehen.
digungsbeschränkungen. Ohnehin wäre es unzumutbar,
jede Auseinandersetzung über tarifliche Rechte vor den
Unterstützung der Gesetzgebungsinitiative:
Arbeitsgerichten auszutragen; erst dort könnte der ArKurz nach dem Stopp des Streiks der Piloten im Februar
beitnehmer als (darlegungspflichtiger) Anspruchsteller
haben Unternehmen und allen voran die Bundesvereiwomöglich dazu veranlasst sein, seine Gewerkschaftsnigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) die
zugehörigkeit offenzulegen.
Politik zum Handeln aufgerufen. Die BDA hatte schon
einmal an einer Gesetzgebungsinitiative gearbeitet, die
Präventive Maßnahmen Unternehmen und Per- zum Ziel hatte, die Tarifeinheit im Tarifvertragsgesetz
sonalverantwortliche sollten die aktuellen Diskussifestzuschreiben. Die Bundestagsfraktion der CDU/CSU
onen über Fall oder Fortbestand des Grundsatzes der
wird nach eigenem Bekunden gemeinsam mit dem ArTarifeinheit genau und aktiv verfolgen. Setzt sich eine
beits- und Wirtschaftsministerium prüfen, ob gesetzallgemeingültige Rechtsprechungsänderung durch und
licher Handlungsbedarf zur Sicherung der Tarifaumüssen Unternehmen sodann mittel- oder langfristig
tonomie besteht. Jedes Unternehmen, das “englische
befürchten, dass bereits bestehende oder noch zu bilVerhältnisse” vermeiden möchte, sollte erwägen, entdende Spartenorganisationen die Partikularinteressen
sprechende Gesetzesinitiativen zu unterstützen.
von Mitarbeitern in Schlüsselfunktionen wahrnehmen
könnten, sollten sie frühzeitig Strategien ausarbeiten,
um derartigen Bestrebungen entgegenzuwirken.
Hans-Peter Löw
Managing Partner des Frankfurter Büros der
Zumindest aber sollten die Folgen einer etwaigen Tainternationalen Anwaltssozietät Lovells LLP
rifpluralität abgemildert werden. Hierbei können beispielsweise folgende Maßnahmen sinnvoll sein:
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