„Was leistet die Neuropsychologie für die Diagnostik und Wiedereingliederung psychisch kranker Menschen?“ Fortbildung am Kantonsspital Uri 19.1.2010 Dr. med. univ. Dr. phil. H.-J. Haupt Sozialpsychiatrischer Dienst Kanton Uri Was ist Neuropsychologie? • Die Klinische Neuropsychologie ist die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten, bezogen auf schädigungsbezogene Zustände und Veränderungen des Zentralnervensystems und daraus resultierender funktioneller Defizite, Aktivitätsstörungen und Einschränkungen der Partizipation an Lebensbereichen. • Die praktische Umsetzung der klinischen Neuropsychologie besteht in der Diagnose der Defizite und Einschränkungen aber auch Ressourcen und Kompetenzen, sowie darauf aufbauend, in der Entwicklung und Umsetzung therapeutischer Methoden. • In der Therapie wird die Schwere der Defizite vermindert, indem Ressourcen / Kompetenzen ausgebaut werden (Übersteuerung) und der Person eine bessere Anpassung an ihre Lebensumwelt ermöglicht. 2 © 2010 SPD Uri Besonderheiten • Neuropsychologie ist interdisziplinär verankert / vernetzt ↔ enger Bezug zu Neurowissenschaften • Daher keine Domäne der Neurologie oder „nur interessant“ bei Hirnverletzungen (Historie!!) • Historisch enge Bezüge zur Psychiatrie • PsychiaterInnen haben oft wenig neuropsychologische / neurowissenschaftliche Erfahrungen / Kenntnisse, NeuropsychologInnen eingeschränktes Psychiatrie-Know-how • Neuropsychologische Symptome und Funktionseinschränkungen sind die Kehrseite der Psychiatrie – Medaille • Trend: Psychiatrie und Neuropsychologie gehen auf einander zu 3 © 2010 SPD Uri Diagnostik und neuropsychologische Funktionsbereiche • • • • • • Aufmerksamkeit Exekutive Funktionen Wahrnehmung räumliche Leistungen Sprache Intellektuelle Leistungsfähigkeit 4 © 2010 SPD Uri Neuropsychologie und Psychiatrie • Neuropsychologische Störungen – die „Kehrseite“ länger bestehender psychischer Störungen und Probleme • vor allem Störungen – der Aufmerksamkeit – des Gedächtnisses (bes. Arbeitsgedächtnis) – der exekutiven Funktionen (Planen, Problemlösen usw.) – Verminderung der kognitiven Flexibilität • Nur bei bestimmten Störungen z.B. – Chronischer Stress (klassische PTBS, kPTBS, Burnout) – Chronische Depressionen – Zwangsspektrumsstörungen – Schizophrenie – Autismus – ADHD – Korsakov / Demenz 5 © 2010 SPD Uri IV-Kriterien eines invalidisierenden psychischen Gesundheitsschadens • Konzentrationsvermögen o uneingeschränkt o eingeschränkt Art _______________________________________ • Auffassungsvermögen o uneingeschränkt o eingeschränkt Art _______________________________________ • Anpassungsfähigkeit o uneingeschränkt o eingeschränkt Art _______________________________________ • Belastbarkeit o uneingeschränkt o eingeschränkt Art _______________________________________ 6 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom I Fall Frau D.; 25 Jahre • Psychiatrische Diagnosen: Asperger Syndrom (ICD 10: F84.5); sonstige anhaltende affektive Störung (ICD 10: F34.8) • Asperger Syndrom bei dieser Pat. nicht ganz einfach diagnostizierbar, da Pat. Symptomatik geschickt kaschiert • Anlass für neuropsychologische Diagnostik war IV-Auftrag die Eingliederungsfähigkeit einem Assessment zu unterziehen (Pat. bezog bis dato halbe Rente): Assessmentprozess erstreckte sich über neun Monate und mündete in 48-seitigem Assessment-Bericht an IV-Stelle Uri • Typische anamnestische Daten, ADOS- und AspergerChecklisten-Befunde; die Gilberg-Kriterien und AAA-Kriterien von Simon Baron-Cohen sind erfüllt (DSM IV- und ICD10Kriterien umstritten) 7 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom II Psychiatrische Asperger-Symptome • soziale Beeinträchtigung, d.h. Unfähigkeit mit Gleichaltrigen zu interagieren sowie Verständnismangel für soziale Signale (→ Kundenkommunikation) • repetitive Routinen: Angewiesensein auf routinisierte Abläufe im Alltag, schlechtes Zurechtkommen mit plötzlichen Veränderungen (→ z.B. keine Projekt- und Leitungsanforderungen) • Rede- und Sprachbesonderheiten: Oberflächlich gesehen besteht ein perfekter sprachlicher Ausdruck, trotzdem eine etwas formelle Sprache mit seltsamer Prosodie und einer Neigung, Bedeutungen, z.B. Andeutungen wortwörtlich aufzufassen und dadurch in Verwirrung zu geraten, es kommt häufig zu Fehlinterpretationen solcher Bedeutungen (→ kein Verkaufseinsatz) 8 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom III • Sicherung der Asperger-Diagnose zusätzlich durch neuropsychologische Diagnose einer nonverbalen Lernstörung (Aspergertypische „neuropsychologische Komorbidität“) • IV- und eingliederungsrelevante Funktions- und Aktivitätseinschränkungen auf psychiatrischen und neuropsychologischen Gebiet 9 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom IV Nonverbale Lernstörung – Symptome • • • • Diskrepanz zwischen Verbal- und Handlungsteil im Intelligenztest (allerdings „maskiert“ durch zusätzlich bestehende Rechensschwierigkeiten): aufgrund der „dissoziierten Intelligenzstörung“ → Einschränkungen bez. komplexer intell. Anforderungen und exekutiver Funktionen Fein- und grobmotorische Ungeschicklichkeit und Probleme mit räumlichen Zusammenhängen (→ handwerkliche Anforderungen) Schlechtes visuelles Gedächtnis und Erkennen: Probleme beim Gesichter wiedererkennen (→ Face-to-faceKundenkontakte) Defizite bei rasch sich ändernden Multitasking-Anforderungssituationen bezogen auf selektive Aufmerksamkeit (→ z.B. Autofahren) 10 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom V Nonverbale Lernstörung – Symptome f • • • • Fehlen der Fähigkeit, nonverbale Kommunikation zu verstehen (→ Kundenkontakte, Teamfähigkeit, Mobbinganfälligkeit) Defizite in der Beurteilung sozialer Situationen sowie der sozialen Interaktion (→ Kundenkontakte, Teamfähigkeit, Mobbinganfälligkeit) Schwierigkeiten, sich auf Veränderungen und neue Situationen einzustellen (nur einfache routinisierte Abläufe) Sensorische Überempfindlichkeit, dadurch Aufmerksamkeitsdefizite in Arbeitssituationen, wenn sensorischer Reiz auftritt 11 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom VI ⇒Einschneidende IV-relevante Funktions- und Aktivitätseinschränkungen - zahlreiche berufliche Tätigkeitsfelder sind versperrt (auch der Wunschberuf Krankenschwester) - Aufgrund der Lernstörung eingeschränkte Ausbildungsfähigkeit (daher nur HauswirtschaftsAnlehre) - Durch die Aufmerksamkeitsdefizite (bes. in spez. Belastungssituationen) auch Einschränkung der Leistungsfähigkeit unter quantitativen Aspekt (bezogen auf ihren derzeitigen Arbeitsplatz als Putzfrau in einem Heim) mit einer derzeitigen AUF von ca. 25% 12 © 2010 SPD Uri Nonverbale Lernstörung bei Asperger-Syndrom VII Resümee • Neuropsychologische Untersuchungsergebnisse unterstützen bei manchen Krankheitsbildern (wie z.B. ASD und ADS) die psychiatrische Diagnostik • Bei zahlreichen psychiatrischen Störungen erlauben erst die Neuropsychologischen Untersuchungsergebnisse die Definition eines umfassenden und eingliederungsrelevanten Leistungsbildes (Neuropsychologie als „Schrittmacher“ in der Reha) 13 © 2010 SPD Uri Ein Fall von Symptomvalidierung I Patient Herr G., 55 Jahre • Ex-Junkie, der Abstinenz mit kaltem Entzug geschafft hatte (vor 15 Jahren) ● Dann nach Durchleben einer massiven Angststörung schliesslich einen Job in einem Altdorfer Betrieb fand (und dort seitdem angestellt ist) ● Vor 3 Jahren Diagnose einer chronischen myeloischen Leukose 14 © 2010 SPD Uri Ein Fall von Symptomvalidierung II ● ● Danach Ausbildung einer massiven generalisierten Angststörung mit – Jeder Menge körperlicher Beschwerden – Symptome der Anspannung – Besorgnisse, Befürchtungen IV-Rentenantrag – Pat. sah keine Möglichkeit mehr weiter zu arbeiten – Vorstellung im SPD 15 © 2010 SPD Uri Ein Fall von Symptomvalidierung III • Pat. gab neben den Angstsymptomen massive Konzentrations- und Gedächtnisstörungen an (??) • Bei (auch chronischen) Angststörungen treten in der Regel keine neuropsychologischen Störungen auf • Symptomvalidierungstests: v.a. WordMemory-Test: 50% Leistung 16 © 2010 SPD Uri Ein Fall von Symptomvalidierung IV • Konfrontation mit Simulationsverdacht (zusammen mit Hausarzt) → Ankündigung einer ev. Mitteilung an die IV • oder Alternative: Wiedereingliederung durch IV: stufenweise Steigerung des Arbeitseinsatzes nach innerbetrieblicher Umsetzung & intensive Psychotherapie (2 x wöchentlich) • Heute arbeitet Herr G. 100% an seinem neuen Arbeitsplatz 17 © 2010 SPD Uri Ein Fall von Symptomvalidierung V Resümee • Neuropsychologische Negativbefunde können mitunter die psychiatrische Diagnostik (unter)stützen • Spezielle Tests zur Symptomvalidierung fundieren die neuropsychologische Diagnostik 18 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung I Fall Frau S., 42 Jahre • Diagnose war lange Zeit unklar (Sucht? Panikstörung? Borderline? Depression? Histrionisch?) – die berufliche Leistungsfähigkeit wurde zu verschiedenen Zeitpunkten auch von PsychiaterInnen unterschiedlich eingeschätzt: als Servicefachangestellte 40% AUF, dann wieder 60% AUF, später wieder keine AUF, da süchtig und „ausserdem wirkt sie auffallend gut gekleidet und perfekt geschminkt“ (… kann also, wenn sie will …) … • Hinweise, dass eine ernste psychische Erkrankung vorliegen könnte, erhielten wir vom Sozialamt (einem sehr aufmerksamen Sozialarbeiter fiel im alltäglichen Umgang die psychische Instabilität auf); zweimal PKZs wegen Suizidversuch bzw. dekompensiertem Suchtverhalten • Erst im Zuge einer sehr intensiven Psychotherapie begann sich die Pat. zu öffnen und die Erhebung einer gezielten Traumanamnese wurde möglich: Vergewaltigungen, Erleben des tödlichen Unfalls des Vaters, siebenjähriges schauderhaftes Stalking 19 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung II • • Da es Hinweise auf eine PTSD oder ähnliches sowie auf psychiatrische Komorbiditäten gab, umfassende klinische Interviews wie DIPS und IPDE Ergebnis: die Diagnosen 1. Komplexe postraumatische Belastungsstörung (ICD 10: F62.0) - bei St. nach „klassischer“ PTSD (ICD 10: F43.1) 2. Teilremittierte rezidivierende depressive Störung (ICD 10: F33.9) 3. Dysthymia (ICD 10: F34.1) 4. Panikstörung mit Agoraphobie (ICD 10: F41.0) 5. Sozialphobie (ICD 10: F40.1) 6. Spezifische Phobien (ICD 10: F40.2) 7. Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit (ICD 10: F10.2 und F13.2) 20 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung III • Ergebnis der umfassenden neuropsychologischen Diagnostik: vor allem Störungen – der selektiven Aufmerksamkeit – des Gedächtnisses (bes. Arbeitsgedächtnis) – der exekutiven Funktionen (Planen, Problemlösen usw.) – Verminderung der kognitiven Flexibilität • Ursachen – Chronischer schwerer Stress (komplexe PTBS, klass. PTBS) – Chron. Depressionen • Daneben umfassende arbeitspsychologische Diagnostik: Abklärung von Ressourcen, Motivation, Präferenzen. Ergebnis: Ausbildung zur Bibliothekarin sinnvoll 21 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung IV • Komplexe Psychotraumatische Belastungsstörung – Feindlich-misstrauisch – Emotionale Dysregulation – Sozialer Rückzug, Beziehungsschwierigkeiten – Leere, Hoffnungslosigkeit – Gefühl von Nervosität und Bedrohung – Somatisierungssymptome – Gefühl verändert zu sein bzw. anders als die Anderen zu sein • Klassische Psychotraumatische Belastungsstörung (bis zum 24.Lj) Vollbild mit – Flashbacks – Vermeidungstendenzen – Arousals 22 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung V Zweiphasiges Vorgehen bei der Rehabilitation 1. Stabilisierung • • • • • Abstinenz von Alk und Lexotanil Emotionale Beruhigung Beziehungsklärung (Familie), Aufbau eines HelferNetzwerks Definition von Ressourcen Beg. kognitive Traumabewältigung 2. Verbesserung der neuropsychologischen Funktionen (Aktuelle Reha) 23 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung VI Neuropsychologisch-psychiatrische Rehaziele • Verbesserung der Hirnleistung • Verbesserung der kognitiven Flexibilität • Verbesserung der SelbstmanagementKompetenzen („Opfer“) • Verbesserung der kommunikativen und sozialen Kompetenzen (Phobien) • Aufbau eines gesunden Selbstvertrauens und einer stabilen euthymen Emotionsregulation • Freiwillige Dauerabstinenz • Berufliche Wiedereingliederung 24 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung VII Bausteine • Arbeitsmedizinisch supervidiertes Arbeitstraining (Sprungbrett später Praktikum in Bibliothek) • Gehirngerechtes Lernen im PC-Training und Buchhaltungskurs • Ergotherapie • Einzel PT • Familien-Betreuung 25 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung VIII Gehirngerechtes Lernen im PC-Training und im Buchhaltungskurs: → Fokus Neuropsychologische Funktionseinschränkungen / Ressourcen / Kompentenzen • • • • • • • • Förderung durch Vermittlung von „raffinierten“ und altersgerechten Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Problemlösungstechniken Funktionsbezug Handlungsbezug (Können fördern) Selbstmanagement und damit Neuroplastizität fördern Mischung: Schnelle Jugend – weises Alter Modelling mit guten Beispielen Kooperierende Lernteams Aktivierung von Belohnungssystemen als wesentliche Lernbedingung – – – – – Emotionalität („Begeisterung“ „Mitgefühl“) fördern Angstfreiheit fördern Positive Lernatmo herstellen / entwickeln Situations-(Selbst-)kontrolle fördern (Ressourcen!!) Stressbewältigung verbessern 26 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung IX Einzel Psychotherapie: Neurofeedback erlernen & kombinieren mit Mentaltechniken – Ziel: Aufbau eines gesunden Selbstvertrauens und einer stabilen euthymen Emotionsregulation 27 © 2010 SPD Uri Neuropsychologische Aspekte eines Falls von komplexer posttraumatischer Belastungsstörung X Resümee • Oft sind psychiatrischneuropsychologische Doppelstrategien notwendig, um Wiedereingliederung zu effektivieren • Neuropsychologische Symptome stellen sich diskreter aber auch „hartnäckiger“ dar, man braucht zu ihrer Therapie einen sehr langen Atem 28 © 2010 SPD Uri