Lehrmaterialien zum Kontaktstudiengang Psychiatrie I (Teil II) Projekt OPEN – OPen Education in Nursing Das diesem Bericht zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung, und Forschung unter dem Förderkennzeichen 16OH12001 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor/bei der Autorin. Diagnosestellung und medizinisch–therapeutische Ansätze Entwicklung der Psychiatrie Entwicklungen in der Psychiatrie: • 1911: Eugen Bleuler definiert den Schizophreniebegriff • 1913: Karl Jaspers – Allgemeine Psychopathologie • 1931: Kurt Schneider: Klinische Psychopathologie Entwicklung der Psychiatrie Die psychopharmakologische Revolution: 1952 Entdeckung der Neuroleptika, seither wachsende Nutzung der psychopharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten 1952 Entdeckung der Neuroleptika, 1958 Der Begriff Behaviour Therapy wird von Wolpe und von Eysenck unabhängig voneinander eingeführt. 1991 ICD-10-F (psychisch): Konsens zur diagnostischen Klassifikation. Deskriptiv; störungs- statt krankheitsorientiert; Konzept der Komorbidität. Seit etwa 1960–1985 Entwicklung und Verbreitung von vielfältigen psychotherapeutischen Ansätzen Vielfalt der Therapierichtungen (n. Grawe et. al. 1994) Psychodynamische Therapien (z.B. Psychoanalyse; Psychoanalyt. Kurztherapie; Individualtherapie; Katathymes Bilderleben) Humanistische Therapien (Klientenzentrierte Gesprächstherapie; Psychodrama; Gestalttherapie; Bewegungs- und körperorientierte Therapie) Kognitiv-behaviorale Therapien (Syst. Desensibilisierung, Konfrontationsbehandl.; Biofeedback; Kognitive Therapien; Problemlösungstherapie; Selbstmanagement-Therapie; soziales Kompetenztraining) Copyright F. Mattejat 2003 Vielfalt der Therapierichtungen (n. Grawe et. al. 1994) Systemische und interpersonale Therapien (Familientherapiemodelle z.B. Mailänder Modell; Lösungsorientierte Kurztherapie; narrative Ansätze; Interpersonale Therapie) Entspannungsverfahren und trancetherapeutische Verfahren (Autogenes Training; Progressive Muskelentspannung; Meditation; Hypnose/Trancetherapie) Copyright F. Mattejat 2003 Psychiatrisches Krankheitsmodell Vulnerabilität-Stress-Modell: geht von einer biologisch verankerten oder durch eine frühkindliche Traumatisierung erworbene Ätiologie aus, diese führt zu einer Vulnerabilität. Der pathogene Einfluss von sozialen oder biologischen Stressoren begünstigt den Ausbruch der Krankheit. Durch entsprechende Medikamente wird versucht, die angenommenen Defizite im biologischen Bereich zu kompensieren Umgang mit Diagnosen Diagnosen entstanden aus dem defizitorientierten psychiatrischen Krankheitsmodell und sie sind fester Bestandteil jeder psychiatrischen Tätigkeit Eine Diagnose vereinfacht die Kommunikation aller an der Behandlung beteiligten Bei manchen Patienten können Diagnosen auch nützlich sein. Sie können zur Schuldentlastung dienen, weil damit eine Störung assoziiert wird, für die der Patient nicht verantwortlich ist Diagnosen können auch schädlich sein. Sie können die Hoffnung wegnehmen und damit die Möglichkeit der Veränderung und Entwicklung. AUFGABEN DER DIAGNOSTIK UND KLASSIFIKATION Dokumentation Klassifikation DIAGNOSE Begründung und Rechtfertigung Prognose Indikation Aufgaben der Diagnostik Evaluation Differenzialdiagnostik Institutionelle Zuweisung Erklärung Beschreibung Vergütung Qualitätssicherung Diagnosestellung Im Rahmen der Diagnostik sollen folgende Faktoren erfasst werden: Prädispositionierende Faktoren Auslösende Faktoren Aufrechterhaltende Faktoren Diagnosestellung Faktoren, die eine erhöhte Vulnerabilität für eine psychische Erkrankung bedingen. Genetische Disposition, Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen, Frühentwicklungsstörungen, Traumatische Ereignisse, Alkohol- oder Drogenkonsum Prädispositionierende Faktoren Diagnosestellung Faktoren, die bei einer erhöhten Vulnerabilität die psychische Erkrankung auslösen. Bei hoher Vulnerabilität häufig „normale“ Lebensereignisse, akute Lebensbelastung (life event), Tod eines Angehörigen, Mobbing durch Kollegen etc. Auslösende Faktoren Diagnosestellung Faktoren, die nach Auslösung der Erkrankung zu deren Aufrechterhaltung beitragen. Fortgesetzter Alkohol- oder Drogenkonsum, medikamentöse Non-Adhärenz (mangelnden Therapietreue), Gesamtbehandlungsabbruch. Aufrechterhaltende Faktoren Diagnosestellung Diagnostisch berücksichtigt werden muss: die aktuelle Situation ((Krankheiten, Beschwerden, Probleme etc., aber auch Lösungsansätze, Coping, etc.) der psychopathologische Befund. die Krankheitsanamnese mit Risikofaktoren für die Entwicklung der Erkrankung, Vorbehandlung, etc. die soziale Anamnese (Biographie, Situation in Schule und Beruf, Wohnsituation, finanzielle und familiäre Situation) Diagnosestellung die somatische Untersuchung (internistische/neurologische und körperliche Untersuchung, Blutuntersuchungen, ggf. MRT, EEG, Lumbalpunktion). die Risikountersuchung zu eigen-, fremd- und therapiegefährdendem Verhalten. Neben der Erfassung der Psychopathologie stehen also weitere diagnostische Möglichkeiten zur Verfügung, die sich spezifisch für jede Erkrankung unterscheiden können. Der psychopathologische Befund Die Psychopathologie ist die Lehre von Symptomen und Syndromen psychischer Erkrankungen und ist ein Teilgebiet der Psychiatrie und der Psychologie Es werden aktuelle psychische Störungen auf der Basis von Befragung und Beobachtung im Gespräch beschrieben Der psychopathologische Befund ist ein Befund der psychopathologische Symptome (Auffälligkeiten und Veränderungen) mit Hilfe fest definierter Begriffe erfasst Ein Befund beschreibt grundsätzlich nur objektiv Beobachtbares zu einem bestimmten Zeitpunkt. Der psychopathologische Befund Die Erhebung des psychopathologischen Befundes ist das Kernstück der psychiatrischen Diagnostik. Auf dem Boden zunächst allgemeiner Patientenbeschreibungen entwickelte sich eine wissenschaftliche Methodenlehre zur exakteren Erfassung krankhafter seelischer Zustände. Neben der phänomenologischen Beschreibung der Symptome spielen auch subjektive Einflussfaktoren eine große Rolle. Psychopathologische Befunderhebung Anamnese: Erscheinungsbild (Kleidung, Körperpflege, Statur, Tonus, Gestik, Mimik, etc.) Veränderungen der Bewusstseinslage Veränderungen der Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffassung Veränderungen des Gedächtnisses (Merkfähigkeit, Neugedächtnis, Altgedächtnis, umschriebene Amnesien) Störungen der Intelligenz Psychopathologische Befunderhebung Anamnese: Formale Denkstörungen Inhaltliche Denkstörungen, insbesondere Wahnerleben Wahrnehmungsstörungen, z.B. Halluzinationen Ich-Störungen Veränderungen der Affektivität Zwänge, Phobien, Ängste, hypochondrische Befürchtungen Störungen des Antriebs und der Psychomotorik Krankheitsgefühl und Krankheitseinsicht Eigen- oder Fremdgefährdung Psychopathologische Befunderhebung Bewusstseinsstörungen werden klinisch differenziert in Quantitative Qualitative Bei Bewusstseinsstörungen besteht in der Regel auch eine Störung von Auffassung und Gedächtnis eine unterschiedlich ausgeprägte Erinnerungsstörung für die Zeit der Bewusstseinsstörung bis zur Amnesie Vorkommen: bei schweren organischen Störungen. Psychopathologische Befunderhebung Quantitative Bewusstseinsstörungen: Bewusstseinhelligkeit (-klarheit, Wachheit bzw. Vigilanz) kann quantitativ vermindert sein mit skalarer Abstufung der Bewusstseingrade in: Benommenheit (leichter Grad der Bewusstseinstrübung: Verminderung von Konzentration, Aufmerksamkeit, Merkfähigkeit und Besinnlichkeit), Somnolenz (starke Schläfrigkeit, Pat. Ist aber weckbar), Sopor (tiefschlafänlicher Zustand; Pat. Ist mit Mühe weckbar, kurzzeitige einsilbige Antworten), Koma (stärkster Grad der Bewusstseinstrübung; Pat. ist nicht erweckbar und zeigt keine oder ungerichtete Reaktionen auf Schmerzreize), Psychopathologische Befunderhebung Quantitative Bewusstseinsstörungen: Quantitative Bewusstseinsstörungen werden nicht erfragt, sondern beobachtet: Ist der Patient schläfrig, leicht erweckbar, nicht erweckbar? Ist der Patient schwerbesinnlich, abgelenkt, versteht einfache Fragen und Aufforderungen nicht, verlangsamt, behält keine Gesprächsinhalte? Psychopathologische Befunderhebung Qualitative Bewusstseinsstörungen: Das Bewusstsein kann qualitativ gestört sein als gestörtes Sichzurechtfinden in Zeit und Raum und persönlicher Situation, häufig mit Ergebnis einer Orientierungsstörung: Zeitlich: wann sind Sie in die Klinik gekommen? Welches Datum haben wir heute? Örtlich: wo sind wir hier gerade? Zur Person: wie heißen Sie? Wie alt sind Sie? Wann und Wo sind Sie geboren? Situativ: in welcher Einrichtung sind wir hier? Psychopathologische Befunderhebung Formales Denken: Es handelt es sich dabei um Denk- und Sprachablauf (wie wird gesprochen und gedacht?) Denkverlangsamung (schleppender Gedankengang mit zähfließender Sprache und langsamer Reaktion) Denkhemmung (das Denken, die Konzentration- und Merkfähigkeit wird als gebremst empfunden) Einengung, Grübeln Psychopathologische Befunderhebung Formales Denken: Umständlichkeit, Weitschweifigkeit (verliert sich in Einzelheiten, ohne vom Ziel abzukommen) Ideenflucht (immer neue Einfälle im Gespräch, keine straffe Zielvorstellung des Denkens – vom Hundertsten ins Tausenste) Zerrfahrenheit, Inkohärenz (Auflösung des logischen Zusammenhanges eines Gedankenganges) Sperrung / Gedankenabreißen (plötzliches Abreisen des Gedankenganges mit Pausen im Denken und Sprechen) Perseveration (wiederholen von Worten und Daten, die vorher im Gespräch verwendet wurden und im Gesprächsverlauf nicht mehr sinnvoll sind) Psychopathologische Befunderhebung Inhaltliche Denkstörungen: Inhaltliche Denkstörungen sind Störungen im Inhalt des Denkens (»Was«) Wahn Zwangssymptome Phobien Überwertige Ideen Psychopathologische Befunderhebung Wahn: Eine inhaltlich falsche und starre Überzeugung, die Lebensführung behindernd und unkorrigierbar Zwangssymptome: sind Gedanken, Vorstellungen oder Handlungsimpulse, die sich immer wieder aufdrängen. Überwertige Ideen: emotional stark besetzte Erlebnisse oder Gedanken meist negativer Art (die Patienten können sich zeitweise von den Ideen distanzieren) Psychopathologische Befunderhebung Wahrnehmungsstörungen: Halluzinationen- sind Wahrnehmungserlebnisse ohne entsprechenden Außenreiz, die aber als wirkliche Sinneseindrücke aufgefasst werden. Es werden unterschieden: Akustische z.B. Stimmenhören, Melodien, Akoasmen (Geräusche) Optische Trugwahrnehmungen einzelner Bilder oder ganzer Szenen Olfaktorische Geruchshalluzinationen Gustatorische Geschmackshalluzinationen Taktile/haptische Berührungshalluzinationen Coenästhesien Bizarre Körperempfindungsstörungen Psychopathologische Befunderhebung Ich-Störungen: können als besondere Form inhaltlicher Denkstörungen gesehen werden (eine Störung des Urteils), so, dass die Grenze zwischen Ich und Umwelt durchlässig erscheint. Depersonalisation: Der eigene Körper wirkt fremd, unwirklich, verändert Derealisation: Die Umgebung erscheint fremd, unwirklich, verändert Gedankenausbreitung: Die Gedanken des Patienten gehören nicht mehr ihm allein, andere können daran teilhaben Gedankenentzug: Gefühl, dass die eigenen Gedanken abgezogen, weggenommen werden Psychopathologische Befunderhebung Ich-Störungen: Gedankeneingebung: Gedanken werden als von außen gesteuert, gemacht, gelenkt empfunden Willensbeeinflussung: Handlungen werden als von außen gesteuert empfunden Leibliche Beeinflussung: Körperempfindungen (oft Coenästhesien) werden als von außen gemacht erlebt Psychopathologische Befunderhebung Veränderungen der Affektivität: kurz andauernde Affekte wie Wut, Trauer, Freude längerfristig bestehende Stimmungen, z.B. Depression, Euphorie, Gleichgültigkeit weitere mögliche Veränderungen der Affektivität: • z.B. Affekt-/bzw. Stimmungslabilität • Affektinkontinenz (nicht hemmbarer Affektausdruck) • Affektarmut • Affektverflachung • Affektstarre, Verlust der Schwingungsfähigkeit, Gefühl der Gefühllosigkeit (in der Depression) Psychopathologische Befunderhebung Störungen des Antriebs: • Antriebsarmut • Antriebshemmung • Antriebssteigerung • Umtriebigkeit Psychomotorik: Motorische Unruhe • Agitiertheit • Theatralisches Verhalten • Logorrhoe• Mutismus• Stupor (motorische Bewegungslosigkeit)• • Echolalie• Echopraxie Psychopathologische Befunderhebung Suizidalität: • Passive Todeswünsche • Aktive Suizidgedanken • Zunehmende suizidale Einengung • Vorbereitungshandlungen • Akute Suizidalität • Parasuizidale Handlung / Geste Psychopathologische Befunderhebung Fremdgefährdung: Impulse, Gedanken, Absichten oder Pläne, jemanden Schaden zuzufügen oder aggressiv gegen anderen zu sein. Risikofaktoren: - frühere fremdaggressive Handlungen - Ankündigung oder Androhung von Gewaltakten - Gewaltakte in der Familie oder Umgebung - Diskrepanz zwischen Fremd- und Eigenanamnese: Bagatellisierung ICD-10 Kategorien F0 Organische und symptomatische psychische Störungen F1 Psychische Störungen durch psychotrope Substanzen F2 Schizophrenie, schizotype und wahnhafte Störungen F3 Affektive Störungen F4 Neurotische, Belastungs-und somatoforme Störungen F5 Verhaltensauffälligkeiten in Verbindung mit körperlichen Störungen F6 Persönlichkeits-und Verhaltensstörungen F7 Intelligenzminderung F8 Entwicklungsstörungen F9 Verhaltens-und emotionale Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend F99 nicht näher bezeichnete psychische Störung Psychopharmaka Psychopharmaka: Man unterscheidet heute verschiedene Gruppen von Psychopharmaka: 1. Antidepressiva 2. Neuroleptika / Antipsychotika 3. Phasenprophylaktika 4. Nootropika / Antidementiva 5. Tranquilizer / Hypnotika 6. Schlafmittel Antidepressiva Antidepressiva sind eine heterogene Gruppe von Pharmaka, die bei depressiven Syndromen einen stimmungsaufhellenden und/oder antriebsverbessernden Therapieeffekt haben sie werden hauptsächlich gegen Depressionen, aber auch bei anderen psychischen Störungen wie z.B.: bei Zwangsstörungen und Panikattacken, generalisierten Angststörungen, Essstörungen, chronischen Schmerzen, etc. eingesetzt Antidepressiva Antidepressiva… wirken erst nach 2 – 4 Wochen haben Nebenwirkungen, bereits zu Therapiebeginn können mit anderen Arzneimitteln interagieren ausreichend hoch dosieren für therapeutischen Effekt Antidepressiva Wirkung von Antidepressiva: stimmungsaufhellend (thymoleptisch) antriebssteigernd (thymeretisch) antriebsneutral oder antriebsdämpfend beruhigend (sedierend) angstlösend (anxiolytisch) Einteilung von Antidepressiva • TZA (Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva) • SSRI (Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer) • SNRI (Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer) • SSNRI (Selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer): Venlafaxin, Duloxetin • NASSA (Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum): Mirtazapin • MAO-Hemmer: Jatrosom, Moclobemid • Johanniskraut Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva z.B.: Doxepin, Imipramin (Tofranil ®),Amitriptylin(Saroten ®), Opipramol(Insidon ®) Einsatzbereich: aufgrund ihrer Nebenwirkungen sind Trizyklika heutzutage selten Mittel der ersten Wahl man greift jedoch bei schweren und/oder chronischen Fällen auf sie zurück, etwa wenn die Patienten nicht auf neuere Substanzen ansprechen dann stellen Trizyklika eine Alternative in der medikamentösen Therapie dar Tri- und Tetrazyklische Antidepressiva SSRI (selective serotonin reuptake inhibitors) Z.B.: Fluoxetin (Fluctin ®),Citalopram, Escitalopram (Cipralex®), Sertralin (Zoloft®), Paroxetin (Seroxat®, Tagonis®) Einsatzbereich: Depression, Panikstörungen, Zwangsstörungen, Bulimie, posttraumatische Belastungsstörungen, SSRI sind die am häufigsten eingesetzten Antidepressiva SSRI gleich wirksam wie ältere Antidepressiva, jedoch mit weniger unerwünschten Wirkungen Haben geringere Toxizität bei Überdosierung im Vergleich zu den älteren Antidepressiva Antidepressiva Selektiver Serotonin- / NoradrenalinWiederaufnahmehemmer • Gastrointestinale Beschwerden, • Müdigkeit, Kopfschmerzen, • Libidomangel, • Schlafstörungen NRI / SNRI Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (NRI): Z.B.: Reboxetin (Edronax®, Solvex®) Einsatzbereich: akute Depressive Erkrankungen, darunter mit Antriebsstörungen einhergehende Depressionen Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (SNRI): gehören: Venlafaxin (Trevilor®), Duloxetin (Cymbalta®) Einsatzbereich: sind Depressionen und Angststörungen NRI / SNRI Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer unerwünschte Wirkungen: gastrointestinale Beschwerden, Schwitzen, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Tachykardie Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer unerwünschte Nebenwirkungen: initial Magen-Darm-Beschwerden, Vermehrte (Nacht-)Schweißbildung, Tachykardie NASSA (Noradrenerges und spezifisch serotonerges Antidepressivum Noradrenerges Antidepressivum: dazu gehört: Mirtazapin (Remergil®) Einsatzbereich: Depression unerwünschte Nebenwirkungen: Müdigkeit, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme Monoaminooxidase -Hemmer MAO-Hemmer: MAO-Hemmer wirken, indem sie das Enzym Monoaminooxidase (MAO) hemmen, welches für den Abbau der Neurotransmitter sorgt. Dadurch steigt die Konzentration der Neurotransmitter in der Nervenzelle an. dazu gehört: Moclobemid (Aurorix®) unerwünschte Nebenwirkungen: Schwindel, Kopfschmerzen, Schlafstörungen Pflanzliche Präparate Johanniskrautpräparate sind frei verkäuflich Werden in Form von verschiedenen Präparaten angeboten Zur Behandlung von leichten bis mittelschweren Depression Gut verträgliches Naturheilmittel Müdigkeit, Unruhe, Schwindel, Magen-Darm-Probleme, Gewichtszunahme Hohe Sonnenempfindlichkeit oft Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten, kann die Wirkung herabsetzten und sogar aufheben, z.B. der Antibabypille, Herzmedikamente, Asthmapräperate, Blutgerinnungspräperate, Insulin und sogar andere Antidepressiva Neuroleptika / Antipsychotika sehr häufig wird der Begriff Neuroleptika für antipsychotische Substanzen verwendet. Dieser Begriff ist sowohl geschichtlich als auch international geprägt Zeigen therapeutische Wirksamkeit bei psychotischen Störungen Neuroleptika bewirken eine Blockade der Dopaminrezeptoren Klassifikation der Neuroleptika Typische Neuroleptika: hochpotente: Haloperidol (Haldol ®) Benperidol (Glianimon ®) Perphenazin (Dezentan ®) Zuclopenthixol (Ciatyl- Z ®) Flupentixol (Fluanxol® ) mittelpotente: Perazin (Taxilan ®) Melperon (Melneurin ® /Eunerpan ®) Klassifikation der Neuroleptika niederpotente Neuroleptika: Chlorprothixen (Truxal® ) Sulpirid ( Dogmatil ®) Pipamperon (Dipiperon® ) Thioridazin (Melleril®) Atypische Neuroleptika 1973 Clozapin (Leponex®) 1990 Zotepin (Nipolept®) 1994 Risperidon (Risperdal®) 1996 Olanzaoin (Zyprexa ®) 1999 Amisulpirid (Solian®) 2000 Quetiapin (Seroquel®) 2002 Ziprasidon (Zeldox®) 2004 Aripriprazol (Abilify®) Neuroleptika / Antipsychotika Indikation: akute psychotische Zustandsbilder im Rahmen einer Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis exogene Psychosen (drogeninduziert) chronisch verlaufende schizophrene Psychosen Rezidivprophylaxe bei chron. rezidivierenden schizophrenen Psychosen psychomotorische Erregtheit Zusätzlich: Blockade Serotonin-, Histamin-, Muscarin- und Adreno-Rezeptoren Neuroleptika / Antipsychotika Wirkmechanismen: 1) Dopaminrezeptoren: D1-Rezeptorengruppe: D1, D5: vor allem Cortex, Hippocampus D2-Rezeptorengruppe: N. caudatus, limbisches System (N. accumbens, Amygdala, Hippocampus, Cortex); D3, D4-Rezeptorengruppe: limbisches System, zusätzlich entsteht in unterschiedlichem Ausmaß eine Blockade von anderen Rezeptoren: Alpha1-adrenergen-Rezeptoren: Orthostatische Hypotension, Schwindel Muskarin-cholinergen-Rezeptoren: Obstipation, Mundtrockenheit, H1-Histaminen-Rezeptoren: Sedierung / Dämpfung 5HT2-Rezeptoren: Gewichtszunahme Dopaminrezeptoren / -bahnen Neuroleptika / Antipsychotika Die wichtigsten unerwünschten Wirkungen in der Behandlung mit Neuroleptika sind Störungen in der Extrapyramidalmotorik. Diese Nebenwirkungen beruhen auf einer Beeinflussung des zerebralen Dopaminstoffwechsels. Weitere wichtige unerwünschte Wirkungen: Frühdyskinesien (auftretende Bewegungsstörungen) Parkinson-Syndrom (Parkinsonoid): Rigor, Akinese, Gangstörung, Tremor Akathisie (Unfähigkeit ruhig zu sitzen) Spätdyskinesien Neuroleptika / Antipsychotika Weitere wichtige unerwünschte Wirkungen: Akute Dystonien: bizarre Verdrehungen, Spasmen der Zungen-, Schlund-, Gesichtsmuskulatur; Malignes neuroleptisches Syndrom: dabei handelt es sich um ein potenziell lebensbedrohliches medikamenteninduziertes Krankheitsbild. Die Kernsymptomatik besteht aus Hyperthermie ohne Infektnachweis, Schwitzen, Rigor der Skelettmuskulatur, wechselnder Bewusstseinsstörung. Des weiteren besteht eine vegetative Dysfunktion mit Herzfrequenz- und Blutdruckschwankungen. Ist auch nach Absetzen der Neuroleptika noch möglich. Neuroleptika / Antipsychotika Weitere unerwünschte Wirkungen: Perioraler Tremor: nach Monaten oder Jahren der Therapie tardive Dyskinesie: nach Monaten oder Jahren der Therapie entstehen insbesondere orofaciale Dyskinesien (Tics im Gesichtsbereich) aber auch Schaukelbewegungen des Körpers anticholinerg: Mundtrockenheit, Obstipation, Miktionsstörungen bis zum Harnverhalten, 5 Akkomodationsstörungen, Hypotonie, orthostatische Dysregulation Neuroleptika / Antipsychotika Weitere klinisch relevante Nebenwirkungen: kardiovaskulär: Tachykardien, Verlangsamung der Überleitung im Herz, Gewichtszunahme Clozapin: Es stellt als erstes sogenanntes "atypisches Neuroleptikum eine Ausnahme dar. Risperidon: geringe extrapyramidale Nebenwirkungen, es treten selten Agitiertheit, Schwindel und eine leichte Gewichtszunahme auf. Phasenprophylaktika Unter Phasenprophylaktika ((Stimmungsstabilisierer )werden Substanzen zusammengefasst, die eingesetzt werden um das Wiederauftreten zukünftiger Krankheitsphasen affektiver Psychosen zu verhindern oder zumindest in Ausmaß und/oder Dauer zu reduzieren. Wichtige Phasenprophylaktika sind: Lithium (Hypnorex®/ret, Quilonom®) Carbamazepin (Tegretal® /ret), Valproinsäure (Ergenyl®, Ergenyl chrono®, Orfiril®, Orfiril long®), Quetiapin (Seroquel® / prolong®) Lamotrigin (Elmendos®). Lithium Indikation: Phasenprohylaxe bei unipolar rezidivierender Depression Phasenprophylaxe bei bipolar affektiver Störung Akuttherapie der Manie Akuttherapie und Phasenpropylaxe der schizoaffektiven Störungen therapieresistente Schizophrenie Aufgrund der geringen therapeutischen Breite sind regelmäßige Kontrollen des Serumspiegels notwendig. Therapeutischer Bereich: 0,5-0,8 mmol/l. Lithium unerwünschte Wirkungen: Gewichtszunahme, Kreislaufstörungen, einschlägiger Tremor, Unruhe, Übelkeit, Erbrechen, Veränderungen des Blutbildes Leukozytose, Müdigkeit, Diarrhoe Durchfall Ab einem Lithium-Spiegel von 2,0 mmol/l treten Intoxikationssymptome auf. Carbamazepin Indikation: Phasenprohylaxe bei bipolaren affektiven Störungen Akutbehandlung von Manien Akutbehandlung von schizomanischen Episoden Unerwünschte Wirkungen: Veränderungen des Blutbildes allergische Hautreaktionen Leukopenien Transaminaseerhöhung Valproat Indikation: Prophylaxe bei bipolaren Störungen Akutbehandlung Manie Unerwünschte Wirkungen: Sedierung Tremor Gangunsicherheit vorübergehender Haarausfall Ernährungsstörungen (geringer oder übermäßiger Appetit) Thrombozytopenie Nierenfunktionsstörung Antidementiva Sind Medikamente die Gehirnfunktionen verbessern sollen. Dabei geht es um Gedächtnis, Konzentrations-, Lern- und Denkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Urteilsvermögen und Orientierung. Neben neuropathologischen Veränderungen sind verschiedene Neurotransmitter betroffen. Insbesondere besteht ein Mangel an Azetylcholin (zu wenig )/ Glutamat zu viel Antidementiva Zu den Acetylcholinesterasehemmern gehören: Exelon®, Aricept®, Reminyl®) Unerwünschte Wirkungen: Müdigkeit, Kopfschmerz und Schwindel, Durchfall und Übelkeit, Herzrhythmusstörungen (Bradykardie) Hautreaktionen. Tranquilizer Es werden die Psychopharmaka zusammengefasst, die zur Behandlung von Angstzuständen, Schlafstörungen und Unruhezuständen eingesetzt werden Häufigste Anwendung in dieser Gruppe finden die Benzodiazepine Das Abhängigkeitspotential dieser Substanzen ist sehr groß deshalb sollte die Indikation eng gestellt werden, die Dosis soll so niedrig wie notwendig verordnet werden Dauer: möglichst nicht über sechs Wochen hinaus Tranquilizer Benzodiazepine wie: Lorazepam (Tavor ®), Rivotril ®, Lexotanil ®, Valium ®, Adumbran ® Wirkmechanismus: anxiolytisch (angstlösend) antikonvulsiv (krampflösend) muskelrelaxierend (muskelentspannend) sedativ (beruhigend) hypnotisch (schlaffördernd) Tranquilizer Unerwünschte Wirkungen von Benzodiazepinen: Hohes Abhängigkeitspotential Beeinträchtigung der Reaktionszeit Konzentrationsschwäche, Ataxie, paradoxe Reaktionen, Cave bei i.v. Gabe: Atem- und Herzstillstand Schlafmittel Sind Medikamente, die eingesetzt werden um den Schlafvorgang zu fördern: Benzodiazepine Nicht-Benzodiazepin-Agonisten: Zopiclon (Optidorm® ,Somnosan®, Ximovan®), Zaleplon(Sonata®) und Zolpidem (Bikalm®, Stilnox®, Zoldem®) Es gibst auch verschiedene Neuroleptika (z.B.:Melperon, Pipamperon, Dominal®), Antidepressiva (z.B. Remergil) oder Antihistaminika die eine schlaffördende Wirkung haben (z.B.: Promethazin) Schlafmittel Unerwünschte Wirkungen: Nicht-Benzodiazepin haben ein geringeres Risiko der unerwünschten Wirkungen im vergleich zu Benzodiazepinen Durchschlafstörungen je nach Dosis und Dauer der Einnahme besteht ein Abhängigkeitsrisiko bei entsprechender Anamnese Kontaktstudiengang DHBW - PsychiatrieDozent: B.Sc. Pflege/Pflegeleitung Gesundheits- und Krankenpfleger für Psychiatrie Dipl.-Forst-Ing.(FH) 26.04.2017 Sven Kittel BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 1 Zeitlicher Ablauf 9.00 – 12.15Uhr: Einführung in die neurobiologischen Grundlagen 13.00 – 16.15Uhr: Psychiatrischer Notfall / Krisenmanagement 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 2 Gliederung 1. Grundlagen psychiatrischer Notfälle 2. Rechtlicher Kontext 3. Diskussion 4. Quellen 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 3 1. Grundlagen psychiatrischer Notfälle machen etwa 15–20% der Notarzteinsätze aus (dritthäufigste Anlass) stationär, teilstationär oder ambulant behandelten Patienten medizinische Notfallsituation Ziel: rasch Gesundheit wiederherzustellen, weitere Gesundheitsschäden zu vermeiden oder Überleben sicherzustellen primär medizinische Maßnahmen erforderlich Fließende Übergänge zwischen psychischer Krise und psychiatrischem Notfall seelischen Krise: Versagen der Bewältigungsmechanismen bei traumatisierenden Erlebnissen oder Konfliktsituationen Krisenintervention: Wiederherstellung der psychischen Mechanismen zur Bewältigung des Erlebten oder des inneren Konfliktes Behandlung: psychotherapeutische Behandlungsansätze und sozialpsychiatrische Maßnahmen 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 4 Einteilung und Ursachen psychiatrischer Notfälle nach der Art der Symptomatik 1. Erregung 2. Verwirrtheit 3. Stupor/Mutismus 4. Suizidalität 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 5 1. Erregung Anspannung, Getriebenheit, Unruhe sowie Rededrang, Schreien und verbal aggressives Verhalten bis zur Zerstörung von Gegenständen oder auch zu Angriffen auf Personen selbst und fremd gefährdenden Handlungen Erregungszustände häufig bei: • Intoxikationen • Manie • schizophrenen Psychosen • Angst • Belastungsreaktionen • Hypoglykämie sowie • organischen Psychosyndromen, wie beginnender Enzephalitis oder Myokardinfarkt Aufgrund der Unspezifität können sich dahinter viele andere Krankheiten verbergen 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 6 2. Verwirrtheit Orientierung zu Person, Ort, Zeit und Situation pathologisch verändert Situationsverkennungen sowie Trugwahrnehmungen Personen- und Möglich sind: Bewusstseinsstörungen und Vigilanzschwankungen wie Somnolenz oder Sopor + Agitiertheit Mögliche selbst und fremd gefährdende Handlungen Häufig bei: organischen Psychosyndromen, z. B. Dehydratation, Entzugsdelir oder Krampfanfall 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 7 3. Stupor/Mutismus Mutismus: psychopathologische Veränderung mit wenigen Worten oder überhaupt nicht Patient antwortet auf Ansprache nur Selektiver Mutismus: selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen im Unterschied zum „Mutismus“ keine vollständige Verstummung Stupor: neben Mutismus keine adäquate motorische Reaktion auf äußere Reize katatonen Stupor: verharren die Patienten über einen längeren Zeitraum in den verschiedensten Körperstellungen Mögliche selbst und fremd gefährdende Handlungen z. B. Übergang beim katatonen Stupors im Rahmen einer schizophrenen Dekompensation in „Bewegungssturm“ Analoge Reaktionen beim Raptus melancholicus Ursachen: zahlreiche neurologische und psychiatrische Erkrankungen (z. B. ischämische Durchblutungsstörung, Parkinsonkrise, Schizophrenien, Depressionen, Belastungsreaktionen, psychische Traumatisierungen oder dissoziative Zustände 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 8 4. Suizidalität unterschiedliche Grade der Selbstgefährdung: • passive Todeswünsche • Suizidgedanken • Suizidimpulse • differenzierte, konkrete Suizidpläne Mögliche selbst und fremd gefährdende Handlungen: Schwer erkennbare Grenze zwischen selbstverletzendem Verhalten (emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen) oder Handgelenksschnitt aus suizidaler Absicht ein erweiterter Suizid (oft gegen eigene Kinder) Ursachen: Suizidalität ist bei jeder psychischen Störung möglich 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 9 Somatische Verursachung psychopathologischen Veränderungen häufig unspezifisch (Verwirrtheit und Erregung) Durch: z.B. verleugnete Einnahme von Medikamenten und Drogen oder Schädelhirntraumata, beginnende Enzephalitiden, Meningitiden, bisher unerkannte Epilepsien, hypo- und hyperglykämische Zustände, Hypo- oder Hyperthyreosen, Dehydratation, Elektrolytentgleisungen und Autoimmunerkrankungen, intrakranielle Tumore, Hirninfarkte oder cerebrale Blutungen körperliche Untersuchung, die Blutentnahme, die radiologische Diagnostik und ggf. Lumbalpunktion Anzeichen: Bewusstseinsstörung, akute Orientierungsstörung, Fieber, Kopfschmerzen, neurologische Seitendifferenzen, vegetative Befunde wie Hyper- und Hypotonie, Pulsbeschleunigung, unregelmäßiger Puls psychiatrischen Notfallpatienten: Kontrolle der Vitalparameter inkl. Atemfrequenz und Pupillengröße, ggf. Überwachung per Sitzwache 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 10 Besonderheiten psychiatrischer Notfälle Schwierige Anamnese + hoher zeitlicher Aufwand + Verweigerung der körperliche Untersuchung durch mitunter fehlende Krankheits- und Behandlungseinsicht gezieltes Erfassen bestimmter Laborparameter, das konventionelle Notfall-Röntgen und bildgebende Untersuchungen, z. B. Notfall-CCT, zum Ausschluss einer intrakraniellen Blutung Urinprobe für Drogenscreening Konsile durch andere Fachdisziplinen (Neurologen oder Internisten) suizidalen Patienten oder bei aggressiven Verhaltensweisen Sicherung des Patienten Evtl. Fixierung mit fortlaufender Kontrolle der Vitalparameter (wie Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Pupillenweite) und ständigen Überwachung durch Sitzwache nötig 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 11 Besonderheiten • Fremdanamnese (Rettungssanitäter, Polizisten, Angehörige, etc.) + Kontaktdaten + Betreuung? • Besonderheit: Migrationshintergrund (Dolmetscher, etc.) • Verhaltensweisen (Geduld, Akzeptanz, Ansprechstruktur, etc.) • Professioneller Umgang (interdiszipl. Team, personelle Ausstattung) • • Sicherheitssysteme (Rufsysteme für das Personal, Kommunikationstechniken, Deeskalationsschulungen, Sicherungsmöglichkeiten Einhaltung rechtlicher Aspekte (UBG; § 1906 BGB; PsychKG, Konkludente Einwilligung oder rechtfertigenden Notstand im Sinne des § 34 StGB) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 12 Auswahl geeigneter Psychopharmaka Haloperidol (z. B. Haldol) bei nicht zu beherrschenden Erregungs- und Verwirrtheitszuständen Behandlung neuroleptikainduzierter extrapyramidalmotorischer Symptome (EPS), z. B. Biperiden (z. B. Akineton). akute Sedierung: Diazepam (z. B. Valium) oder auch Lorazepam (z. B. Tavor) Gabe (Vorsicht vor Atemdepression) akuten deliranten Zuständen: Clomethiazol (z. B. Distraneurin) Saft (Vorsicht vor Atemdepression) bekannter Anfallsneigung: Carbamazepin (Tegretal) oder Clonazepam (Rivotril) Anflutung nicht schnelle akuter, schwer depressiver Zustände: sedierenden Antidepressivums wie Mirtazapin (z. B. Remergil) oder Amitriptylin (z. B. Saroten) oral oder als Infusion Lebensalter des Patienten + Körpergewicht = Dosierung körperlichen Vorerkrankungen (kardiale!!) Weiterbehandlung mit Neuroleptika und Antidepressiva Kontrolle der Veränderungen des Blutbilds (auf Leukopenie oder Leberenzymanstiege) und QTc-Zeit-Verlängerungen im EKG 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 13 Wichtige Syndrome bei psychiatrischen Notfällen Unterscheidung zwischen akuter Intoxikation oder Entzugssyndrom mit oder ohne Delir schweren Alkoholrausch: Sprachstörungen, Gangstörungen, Nystagmus, Orientierungsstörung sowie Bewusstseinsstörungen bis zum Koma Weitere Gefährdung durch Aspiration, Sturz, Erregungszustände oder auch Erfrierungen Suizidversuch Mischintoxikation von Alkohol und Medikamenten Opiate: akuten Opiatintoxikation mit schwerwiegender Atemdepression bis Atemstillstand Miosis der Pupillen Erste-Hilfe-Maßnahmen + Notarzt Antidot Naloxon (kürzere Halbwertszeit als Opiatwirkung!!!) Entzugssyndrome bei Opiaten zwar subjektiv belastend, medizinisch weniger gefährlich als Alkohol- oder Benzodiazepinentzugssyndrom Immer: Überwachung der Vitalparameter, der Atemfrequenz und -tiefe sowie der Pupillenweite 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 14 Kokain oder Amphetaminen: im Rausch ausgeprägte Aggressivität Hauptentzugssyndrom Müdigkeit oder prolongiertes (verlängertes) Schlafen depressive Zustände ggf. mit Suizidalität Delir und Verwirrtheitszustand Auftreten im Alkohol- oder Benzodiazepinentzug oder Überdosierung mit Antiparkinson-Medikamenten beim älteren Menschen Alkohol- oder Benzodiazepinentzugsdelire haben unbehandelt eine Letalität von 10–25%, die Gefahr eines Entzugskrampfanfalls beträgt ca. 50% Symptome: akuter Beginn mit fluktuierendem Verlauf Bewusstseinsstörungen, Orientierungsstörungen, Verwirrtheit, Aufmerksamkeitsstörungen oder optische Halluzinationen, flüchtigen Wahneinfällen sowie psychomotorischer Unruhe (z. B. Nesteln). vegetativen Entgleisung (Hypertonie, Tachykardie, Schweißneigung, Tremor und Fieber) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 15 Therapie: Benzodiazepinentzugsdelir Substitution von Benzodiazepinen substituiert Bei einem Alkoholentzugsdelir Behandlung mit Clomethiazol oder Diazepam Überdosierung der Antiparkinson-Medikation Reduktion bzw. ein kurzes Absetzen Benzodiazepinintoxikation Flumazenil (Anexate) starke Erregungszustände bei schneller intravenöser Verabreichung des Medikaments unklare Ursache eines Delirs immer stationäre intensivmedizinische Ursachensuche Grundsätzlich: Kontrolle und Dokumentation der Vitalparameter 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 16 Wernicke-Enzephalopathie bei chronischem Alkoholismus durch einen Vitamin B1-Mangel seltenes, aber lebensbedrohliches Krankheitsbild Symptomatik: Augenmuskellähmungen, Ataxie mit Gang- und Sprachstörung, Nystagmus, Verwirrtheitszustände, möglicherweise Delir, Bewusstseinsstörung und Krampfanfälle Behandlung: Substitution von Vitamin B1 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 17 Depressives Syndrom Symptome: Herabgestimmtheit bis Gefühl der Gefühllosigkeit, Antriebsstörung, Interesseverlust und Hoffnungslosigkeit, evtl. Wahnideen (Schuld, Sünde, Verarmung, Hypochondrie) innere Leere depressive Stimmung kann durch Aufmunterung von außen nicht verbessert werden Etwa 80% aller depressiv Erkrankten haben Suizidgedanken, Schlafstörungen und Konzentrationseinschränkungen vorhanden Therapie: Einsatz von Antidepressiva im Vordergrund, bei Suizidalität ein sedierendes Antidepressivum, z. B. Mirtazapin oder Amitriptylin Überwachung (nach Suizidstufen) Bei ausgeprägter Agitiertheit evtl. zusätzliche Sedierung mit einem Benzodiazepin 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 18 Manisches Syndrom Symptome: Rededrang und Ideenflucht, fehlender Krankheitseinsicht Stimmung glücklich-euphorisch oder gereizt und aggressiv, ohne Schlafbedürfnis, Größenwahn; Geldausgaben und promiskuitives (freizügiges) Verhalten, Schulden affektiven Mischzuständen, z. B. depressiver Verstimmung aber gesteigertem Antrieb Suizidalität möglich Fremdaggressivität Prüfen der Unterbringungsvoraussetzungen (PsychKG) Therapie Es sollte eine rasche Aufsättigung mit einem stimmungsstabilisierenden Medikament (z. B. Valproat) erfolgen. Häufig ist eine zusätzliche Behandlung mit einem Antipsychotikum (z. B. Olanzapin oder Haloperidol) sinnvoll, ggf. kombiniert mit einem Benzodiazepin (z. B. Diazepam oder Lorazepam). 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 19 Schizophrenes Syndrom häufigste Grund sind paranoid-halluzinatorische Verlaufsformen akustischen Halluzinationen (mit imperativen Charakter Verfolgungswahn) begründen den vorliegenden Symptome: Eigen- oder Fremdgefährdung psychiatrische Notfallsituation Evtl. Übergang einer Katatonie in febrile Katatonie (Extremform und sehr selten) n mit katatonem Stupor, Fieber und vegetativer Entgleisung (schwere Tachykardie und Hypertonie sowie Elektrolytverschiebungen, Exsikkose und Halluzinationen, bis zum akutem Nierenversagen) internistischen Abteilung auf einer Intensivstation (+EKT) Therapie: Sicherung des Patienten und Eigensicherung (bei fremdaggressives Verhalten) Behandlung z. B. mit Risperidon oder Haloperidol und Lorazepam 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 20 Notfälle durch Neuroleptika/Antipsychotika klassischen Neuroleptika: Frühdyskinesien wie Zungen-, Schlund- oder Blickkrämpfen Biperiden (Akineton). maligne neuroleptische Syndrom: Bewusstseinsstörung, Fieber, Rigor, Leukozytose und Kreatinkinaseerhöhung (CK) lebensgefährlich, bei Verdacht oder unvollständig ausgeprägten Symptomen sofortige Absetzung bei Vollausprägung Intensivstation Einsatz von Neuroleptika: Agranulozytosegefahr; senken Krampfschwelle, Hypotonien oder Harnverhalt Clozapinbehandlung: nach standardisierten Schema Durchführung engmaschiger Blutbildkontrollen Clozapin und Olanzapin: Stoffwechselentgleisungen (Diabetes mellitus) und andere atypischen Neuroleptika: metabolische Syndrome 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 21 Angst und Panik Symptome: Herzrasen, Atemnot, Thoraxschmerz und Todesangst, Zittern, Schwindel und Hyperventilation und Angst vor einem Herzinfarkt Auftreten plötzlich und ohne erkennbaren Anlass relativ häufig und vor dem 30. Lebensjahr Ausschluss Myokardinfarkt oder pektanginösen Anfall Erstmanifestationen internistische Ausschlussdiagnostik Therapie: Panikattacken sind selbst limitierend Betreuung und/oder Gabe beruhigender Medikation (keine Benzodiazepine!!) Einleitung psychotherapeutischer Maßnahmen 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 22 Suizidalität Bei jedem psychisch Kranken erfolgt Abklärung der Suizidalität behandelbare psychische Erkrankung konkrete Suizidgefahr die Suizidalität? Suizidversuche in Vorgeschichte meist Gespräch: Wie konkret ist Abfolge der Suizidalität: • passiver Todeswunsch • unkonkrete Suizidgedanken • konkreter Suizidplan • Abschiedsvorbereitungen • Suizidhandlung ausgeprägter Suizidalität: Sicherheitsvorkehrungen und Überwachungen psychiatrische Grunderkrankung behandeln 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 23 Unterbringsmaßnahmen Sicherheitsgesetze der Länder: 1. Öffentlich-rechtliche Unterbringung nach Psychisch-Krankengesetz (Unterbringungsgesetze) 2. Zivilrechtlicher Grundlage gemäß § 1906 BGB (bei Minderjährigen nach § 1631b BGB) 3. Zwangseinweisung nach §126a StPO und §63, 64 StGB (MRV) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 24 Öffentlich-rechtliche Unterbringung sofort wirksame Zwangseinweisungen nach bestehenden Landesgesetzen: PsychischKranken-Gesetz (PsychKG) bzw. Unterbringungsgesetzen (jedes Bundeslang hat eigene!!) Inhalt: Bestimmungen für Sofortmaßnahmen durch die Verwaltungsbehörden Voraussetzung immer aktuelles ärztliches Zeugnis Inhaltlich werden Selbst- oder Fremdgefährdungen vorausgesetzt, durch psychische Störung bedingt und nicht abwendbar sind Sofortige oder „vorläufige“ Unterbringungen gelten höchstens bis Ablauf des Folgetages bei Polizei (in BW 48h fürsorgliche Zurückhaltung in Psychiatrie) Nach Einweisung erfolgt Aufnahmeuntersuchung Bei schweren Störungen (Gefährdung weiter angenommen und keine freiwillige Behandlungsgrundlage) wird Betreuungsgericht eingeschaltet Bei Unterbringungen nach den Psychisch-Kranken-Gesetzen ist stets das Gericht zuständig, an dessen Ort die Unterbringung zu veranlassen ist (§ 313 Abs. 3 FamFG) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 25 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 26 Zivilrechtlicher Grundlage gemäß § 1906 BGB Betreuungsrechtliche Unterbringungen nach § 1906 Abs. 1 und 2 BGB bewirken Zwangseinweisungen durch zuständigen Betreuer Genehmigung des Betreuungsgerichtes nach Antrag des Betreuers Voraussetzung: • Betroffene leidet an einer psychische Krankheit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung • Betroffene erkennt die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht, obwohl er von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme überzeugt wurde • ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Unterbringung muss zum Wohl des Betreuten erforderlich sein, • um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden, der durch keine andere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann • der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme muss die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 27 Zwangseinweisung nach §126a StPO und §64 StGB (MRV) • Zwangsweise Einweisungen psychisch oder suchtkranker Straftäter • nach strafrechtlicher Bestimmungen im einstweiligen Verfahren nach • § 126a StPO (einstweilig) und • materiell rechtlich nach den § 63 und § 64 StGB (Maßregelvollzug) Bedingung: Schuldunfähigkeit nach §20StGB und droht weitere Straftaten zu begehen (Nicht zu verwechseln mit Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 28 Gefahr im Verzug oder vorläufige Unterbringung Polizeibehörden können Personen bei Gefahr im Verzuge auch nach den Sicherheits- und Ordnungsgesetzen oder Gefahren-Abwehrgesetzen der Länder festhalten Personen, die psychisch auffällig erscheinen, noch auf der Polizeiwache einem Notarzt oder je nach Verfügbarkeit der Dienste einem Psychiater vorgestellt Oder Polizeibeamte bringen Betroffene gleich in eine psychiatrische Klinik und ersuchen dort, das weitere Verfahren einzuleiten Zwangseinweisung: Personen werden in einer psychiatrischen Klinik notfallmäßig auf einer geschlossenen Station zurückgehalten „zwangsweise Zurückhaltung“: bis dahin freiwillige Behandlung wiederrufen und Patient stark gefährdet erscheint gehen will Ähnlich: Patient hat Klinik verlassen und Anzeichen für eine akute Gefahr eines Suizides besteht Polizei sucht dann Patienten Sofortiger Vollzug unter Anwendung der Länder-Unterbringungsgesetze oder auf betreuungsrechtlicher Grundlage 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 29 Vorläufige Unterbringung – Einstweilige Anordnung Obwohl im Gesetzestext als Ausnahme bezeichnet, ist es in der Praxis fast der Normalfall, dass die Unterbringungsgenehmigung als einstweilige Anordnung erfolgt (§ 331 FamFG). Mit dieser einstweiligen Anordnung kann die Unterbringung für maximal 6 Wochen genehmigt werden. Diese Frist kann nach Anhörung des Sachverständigen (§ 333 FamFG) auf insgesamt 3 Monate verlängert werden. Anstelle des Gutachtens genügt ein ärztliches Zeugnis. Des Weiteren ist wie bei der endgültigen Unterbringung der Betroffene persönlich anzuhören. Bei Gefahr im Verzuge kann auf Anhörung des Betroffenen sowie auf Anhörung und Bestellung des Verfahrenspflegers vor Erlass der einstweiligen Anordnung verzichtet werden. Die Anhörungen sind unverzüglich nachzuholen. Das Gericht hat abzuwägen, ob die Gefährdung der Rechtsgüter anderer oder Gesundheitsgefährdung des Betroffen eine Unterbringung und somit eine Einschränkung des Freiheitsrechts des Betroffenen, einschließlich des Rechts des Betroffenen zur Krankheit rechtfertigt und verhältnismäßig ist (Verhältnismäßigkeitsprinzip). 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 30 Freiheitsentziehung wenn eine dieser Bedingungen gegeben ist: • Der Betroffene wird auf einem beschränkten Raum festgehalten • Sein Aufenthalt wird ständig überwacht • Die Kontaktaufnahme mit Personen außerhalb wird durch Sicherungsmaßnahmen verhindert • Bettgitter oder Gurte sind angebracht worden • Einsatz von Sedierung, d.h. stark beruhigender oder dämpfender Medikamente 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 31 Besonderheiten: Bundesverfassungsgericht (BVerfG)1981: Betreute haben in gewissen Grenzen ein Recht auf „Freiheit zur Krankheit“: Ambulante Zwangsbehandlung ist nicht erlaubt (keine zwangsweise Depotspritzen) Stationäre Zwangsbehandlung ist bei einem nicht-einwilligungsfähigen Patienten bei erheblicher Selbst- oder Fremdgefährdung nach dem Maßstab der Verhältnismäßigkeit (§ 34 StGB) gestattet Drohende Verfestigung (Chronifizierung) einer Erkrankung rechtfertigt keine Zwangsbehandlung Zwangsbehandlung ist dann erlaubt, wenn sicher ist, dass der Patient danach, wenn er wieder einwilligungsfähig ist, der Behandlung zustimmt Oder wenn eine erhebliche Gefahr für Mitpatienten oder das Krankenhauspersonal nicht mit milderen Mitteln abzuwenden ist (§ 32 StGB; § 34 StGB) 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 32 Unterbringung und Patientenverfügung Festlegungen ärztlicher Maßnahmen (Behandlung oder Nicht-Behandlung) in bestimmten Situationen ist verbindlich, wenn durch diese Festlegungen der Wille des Betreuten für eine konkrete Behandlungssituation eindeutig und sicher festgestellt werden kann Mediziner und Betreuer oder Bevollmächtigte müssen eine derart verbindliche Patientenverfügung beachten Die Missachtung des Patientenwillens, also eine Zwangsbehandlung, kann als Körperverletzung strafbar sein (nicht bei erheblicher Fremdgefährdung) Jede Behandlung ist immer ein Eingriff in das in Art. 2 Abs. 2 GG garantierte Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 33 Unterbringungsverfahren Verfahrensfähigkeit des Betroffenen Der Betroffene ist unabhängig von seiner Geschäftsfähigkeit im Unterbringungsverfahren verfahrensfähig, kann also Anträge stellen, sich äußern, Rechtsmittel einlegen, einen Anwalt beauftragen (§ 316 FamFG) Anhörung des Betroffenen Das Betreuungsgericht muss den Betroffenen persönlich anhören. Das Gericht unterrichtet ihn über den möglichen Verlauf des Verfahrens (§ 319 FamFG) Die Anhörung findet meist innerhalb der Klinik statt, weil das Gericht zuvor bereits wegen der besonderen Eile die Unterbringung vorläufig genehmigt hat. Denn die genannten Verfahrensschritte, zu denen auch die Bestellung eines Verfahrenspflegers und ein Sachverständigengutachten gehört, können wegen der Eilbedürftigkeit der Unterbringung oft zunächst nicht stattfinden. 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 34 Vorführung zur Anhörung Sofern der Betroffene sich weigert, an der Anhörung teilzunehmen, hat die Betreuungsbehörde oder die nach Psychisch-Krankenrecht zuständige Behörde ihn auf Anweisung des Gerichtes zur persönlichen Anhörung (§ 319 Abs. 5 FamFG) und zur Untersuchung durch den Sachverständigen (§ 322 in Verbindung mit § 283 und § 284 FamFG) vorzuführen Die zwangsweise Vorführung von Betroffenen zu Anhörungen und Untersuchungen stellt einen schweren Eingriff in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen dar (Art. 2 Grundgesetz). Daher muss der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hier besonders streng beachtet werden. 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 35 Entlassung Sofortige vorläufige Unterbringung: Wurde der Betroffene aufgrund behördlicher Anordnung sofort vorläufig untergebracht, von der Polizei eingeliefert oder vom Leiter des Krankenhauses festgehalten und ergibt sich nach der Eingangsuntersuchung, dass die Voraussetzungen einer Unterbringung nicht vorliegen, ist der Betroffene vom Anstaltsleiter zu entlassen. Vorläufige Unterbringung: Ist der Betroffene aufgrund gerichtlicher Entscheidung vorläufig untergebracht, • ist er zu entlassen, wenn die vom Gericht bestimmte Dauer abgelaufen ist oder • kann er entlassen werden, wenn die weitere Unterbringung aus medizinischen Gründen nicht mehr erforderlich ist. Endgültige Unterbringung: Ist der Betroffene durch das Betreuungsgericht endgültig untergebracht, darf er nur entlassen werden, wenn • die vom Gericht festgelegte Frist abgelaufen ist oder • die Unterbringung durch wirksamen Beschluss des Gerichts aufgehoben ist. Wirksam ist der Beschluss erst, wenn er dem Betroffenen bekannt gemacht wurde. Eine frühere Entlassung des Betroffenen wäre wegen § 120 StGB (Gefangenenbefreiung) strafbar. 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 36 Zwangsmedikation Am 25.2.2013 wurde das Betreuungsgesetz geändert. Seither unterliegt die Zwangsmedikation per BtG dem Richtervorbehalt. „zur Abwendung eines erheblichen gesundheitlichen Schadens“ Ein Arzt, der nicht direkt an der Behandlung des Betroffenen beteiligt ist, prüft die Notwendigkeit der Zwangsmedikation und stellt fest, dass keine andere zumutbare Behandlungsform zur Verfügung steht. Betreuungsgericht muss die Maßnahme explizit anordnen. Beschluss Angaben zum Präparat, der Dosis, der Applikationsform, des Vergabeintervalls, der Höchstdosis und auch medikamentöse Behandlungsalternative Anordnung nur für zwei Wochen Insgesamt max. 6 Wochen zwei Wege 26.04.2017 muss Betreuungsgericht die Anordnung verlängern „Gutachtenverfahren“ (Regelfall) oder „Attestverfahren“ (Ausnahme) BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 37 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 38 Die Beschränkung ärztlicher Zwangsbehandlung auf untergebrachte Betreute ist mit staatlicher Schutzpflicht nicht vereinbar Pressemitteilung Nr. 59/2016 vom 25. August 2016 http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2016/bvg16-059.html Oder https://psychiatrietogo.de/2017/03/01/aktualisierung-meineskurzleitfadens-zu-den-rechtsgrundlagen-stationaerer-psychiatrischerbehandlungen/ Adobe Acrobat Document 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 39 3. Quellen • • Amberger A, Roll S (2010) Psychiatriepflege und Psychotherapie. 1. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag Hell W (2013) Alles Wissenswerte über Staat, Bürger, Recht. 7. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag 26.04.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 40 http://www.landesrechtbw.de/jportal/;jsessionid=A8EC824478F9FE2B9B 6E68ACB1225932.jp80?quelle=jlink&query=Psyc hKG+BW&psml=bsbawueprod.psml&max=true&ai z=true#jlr-PsychKGBWpP20 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 42 Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit 26.04.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 41 Kontaktstudiengang DHBW - PsychiatrieDozent: B.Sc. Pflege/Pflegeleitung Gesundheits- und Krankenpfleger für Psychiatrie Dipl.-Forst-Ing.(FH) 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 1 Zeitlicher Ablauf 9.00 – 12.15Uhr: Ethische Grundlagen 13.00 – 16.15Uhr: Der Pflegeprozess 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 2 Gliederung 1. Begrifflichkeiten und ethische Grundlagen 2. Rechtlicher Kontext 3. Diskussion 4. Quellen 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 3 Warum Ethik in der Psychiatrie? In der Psychiatrie gibt es eine Reihe wiederkehrender Konflikte Reduktion auf einen einzigen Grundkonflikt: Autonomie (Selbstbestimmung, liberale therapeutische Grundhaltung) und Fürsorge (Fremdbestimmung, Paternalismus, auf Kontrolle ausgerichtete Grundhaltung, Steinert 2001: 33ff.) 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 4 1. Begrifflichkeiten und ethische Grundlagen Ethik ist angewandte Philosophie, die nach Antworten auf Lebensfragen (Lebensgestaltung, Umgang der Menschen miteinander, Lebensziele) sucht und bei der Beurteilung des Handelns hilft (SBK, 1990). Ethik als Teil der praktischen Philosophie (Roth/Zierath, 1999: 4) bezieht sich auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit moralischen Angelegenheiten (Seiffert, 1992: 56). Moral ist die praktische Anwendung von ethischen Angelegenheiten. Ethik handelt vom richtigen und falschen Handeln und versucht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden (Davis, 1986). Quelle: Sauter D, Abderhalden C et al. (2011) Lehrbuch Psychiatrische Pflege. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 5 Werte Werte sind bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards und Leitvorstellungen, die menschliches Handeln oder auch Entscheidungen leiten. wesentlicher Bezugspunkt für menschliches Handeln. Entscheidungen für oder gegen eine Handlung werden – bewusst oder unbewusst – beeinflusst von Dingen, die einem Menschen wichtig bzw. wertvoll erscheinen Diese Aussage gilt für alle Menschen und in nahezu allen Situationen (Entscheidung für oder gegen Kauf eines Autos, Auswahl täglichen Kleidung oder Entscheidung für oder gegen aktive Sterbehilfe) persönlichen Lebensgeschichte, seiner Erziehung und seiner Zugehörigkeit zu einer kulturellen und religiösen Gruppe persönliche Werte, d. h. Aspekte, die ihm als wesentlich für ein gutes und richtiges Leben erscheinen 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 6 12.05.2017 Freiheit Gehorsam Solidarität Gleichheit Aufrichtigkeit Menschenwürde Frieden Freundschaft Gemeinschaft Besonnenheit Barmherzigkeit Klugheit Fleiß Ordnungsliebe Minderheitenschutz Leben Gerechtigkeit Mitmenschlichkeit Bescheidenheit Zuverlässigkeit Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 7 Kulturelle Werte Religiöse Werte nichtmoralisch oder moralisch Werte Ethik: Diskussion moralischen Werte und Normen 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 8 Persönliches Wertesystem Alle Werte, die ein Mensch für sich und sein Handeln als wichtig erkennt, werden in einem persönlichen Wertesystem geordnet. moralischen und nichtmoralischen Werten werden hierarchisch angeordnet Werteskala Die Wertesysteme der einzelnen Menschen können sich stark voneinander unterscheiden 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 9 Wertekonflikte Aufgrund der Freiheit bei der Gestaltung eines Wertesystems gegenüber dem Wertesystems andere Menschen im Dialog für alle Beteiligten tragbare Lösung finden Prozess des sorgfältigen Abwägens, die an einem Wertekonflikt beteiligten Werte systematisch zu diskutieren. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 10 Werthaltung anhaltende Neigung, sich so zu verhalten, dass das eigene Wertesystem im Handeln zum Ausdruck kommt Gutes (Werte) zu tun und zu fördern bzw. Böses (Nichtwerte) zu unterlassen Wert „Aufrichtigkeit“ im Konflikts eher das Aussprechen der Wahrheit ethisch „gute“ Gesinnung Ausbildung: die Erfahrungen durch Handeln in vorherigen Situationen andere Menschen als Vorbilder, z. B. Eltern, Freunde etc. bestimmte Werthaltung vorleben (unbewussten Wissens + innere Haltung schnelle Entscheidungen möglich) Wertvorstellungen verfestigen und verinnerlicht 12.05.2017 BSc Werthaltung Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 11 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 12 Normen „Richtschnur“, „Maßstab“ oder „Regel“ Normen haben einen verbindlichen Charakter (DIN genormt A4) im zwischenmenschlichen Bereich Werte zu schützen Funktion, die ihnen zugrunde liegenden Unter Normen werden verbindliche Leitlinien oder Regeln verstanden, die das moralische Handeln von einzelnen Menschen oder Gruppen leiten, ohne dass diese in jeder Situation erneut über grundlegende Werte nachdenken müssen. koordinieren das menschliches Handeln ermöglichen soziale Ordnung Gemeinschaft vereinbarte Normen: „Du sollst nicht töten, stehlen, lügen etc.“ Nichtbefolgen von Normen innerhalb einer Gesellschaft hat nachteilige Konsequenzen juristische Bestrafung 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 13 Allgemeine und konkrete Normen Allgemeine Normen sind handlungsleitende Prinzipien und gelten für alle Menschen gleichermaßen keine genauen Angaben, Art Kompass, der die Richtung des Handelns vorgibt Beispiele: Gerechtigkeit, Autonomie, Aufrichtigkeit etc. Konkrete Normen beziehen sich auf Handlungen in Abhängigkeit von bestimmten Situationen, gesetzliche Bestimmungen Schutz menschlichen Lebens (allgemeine Norm) Sterbehilfe geleistet werden“ (konkrete Norm) 12.05.2017 BSc „Es darf keine aktive Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 14 Moralprinzip Prinzipien und konkreten Normen übergeordnet ist das so genannte Moralprinzip = Grundnorm menschliches Handeln hat Auswirkungen auf andere Menschen nicht nur so zu handeln, wie es für einen selbst, sondern so, wie es für alle Menschen zuträglich wäre. z. B. das Gebot der Nächstenliebe in der christlichen Religion „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ Kant: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1785, zitiert nach Amelung 1992, S. 65) Verständnis, Befolgen und tatsächliche Umsetzen von Werten und Normen von Menschen in praktisches Handeln wird als Moral bezeichnet. Moral: „Sitte“ oder „Charakter“ „sittlich“ bzw. „moralisch“ 12.05.2017 menschlichen Handelns Verwendung Adjektive BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 15 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 16 Gewissen Unterscheidungsfähigkeit Gutes von Bösem oder Werte von Nichtwerten persönliche moralische Instanz, sich in konkreten Situationen für gutes und richtiges Handeln zu entscheiden Vorraussetzung: Vorstellung oder Gefühl, was ist „gut“ und „richtig“ Herausbildung im Laufe der Entwicklung Kenntnis von geltenden Werten und Normen + Austausch mit anderen Menschen (Eltern, Lehrer, Freunde) ungute Gefühl bzw. „schlechte Gewissen“ bei „verbotenen“ Einklang mit dem Gewissen vollzogen gutes Gefühl („sanftes Ruhekissen“) Gewissensinhalte können nicht vorgeschrieben und niemand darf gegen sein Gewissen zu Handlungen gezwungen werden Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 17 Wichtige Begriffe der Ethik 12.05.2017 Begriff Definition Wert Bewusste oder unbewusste Orientierungsstandards bzw. Leitvorstellungen für menschliches Handeln (Beispiel: Freundschaft, Luxus, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe etc.) Werthaltung Neigung, sich aufgrund von Werten so zu verhalten, dass diese Werte im Handeln zum Ausdruck kommen Allgemeine Normen (Prinzipien) Verbindliche Leitlinien oder Regeln, die das moralische Handeln von einzelnen oder Gruppen von Menschen leiten. Prinzipien schützen die ihnen zugrunde liegenden Werte (Beispiel: Gerechtigkeit, Autonomie etc.) Konkrete Normen Konkretisierung allgemeiner Normen in einer bestimmten Situation (Beispiel: Es darf keine aktive Sterbehilfe geleistet werden) Moralprinzip Grundnorm, die die Notwendigkeit moralischen Handelns begründet (Beispiel: Die „Goldene Regel“: Handele nur so, wie du selbst behandelt werden möchtest) Moral Gelebte, praktizierte moralische Überzeugung von einzelnen oder Gruppen von Menschen Gewissen Persönliche moralische Instanz, inneres Gefühl für „richtig“ und „falsch“, unterstützt bei der Unterscheidung zwischen Werten und Nichtwerten BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 18 Fallbeispiel für Normenkonflikte in der Psychiatrie „Ob man einen Patienten, der zum Fenster hinausspringen möchte, daran hindern darf, ist kein ethisches Problem. Hier gibt es klare rechtliche und fachliche Vorgaben: Wer nicht einschreiten würde, würde sich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen. Ein ethisches Problem entsteht erst dann, wenn dieser Patient nach einer gewissen Stabilisierung eine Woche später alleine in die Stadt möchte und wir entscheiden müssen, ob dies verantwortbar ist.“ (Steinert 2001: 32) 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 19 Johannes ist ein 21-jähriger Patient auf einer offenen psychiatrischen Station. Er leidet unter einer bipolaren Störung und durchlebt trotz seines jugendlichen Alters bereits die zweite depressive Episode, die sich bereits über Wochen hinzieht. Zwar verbessert sich sein Antrieb zögerlich, aber immer noch quälen ihn Suizidgedanken. Die Klinik stellt Patienten aus den offenen Bereichen stundenweise zwei internetfähige Rechner zur Verfügung. Jeder Patient kann sich hier sogar sein eigenes Profil passwortgeschützt einrichten. Johannes ist sehr internetaffin und nutzt diesen Service, u. a. surft er in speziellen Foren, Chats und Blogs zum Thema Depression/Suizid und hat Kontakt zu anderen Betroffenen. Steven, ein Pflegender im offenen Bereich, schaut ihm eines Tages über die Schulter. Als Johannes das bemerkt, reagiert er fahrig und ist bemüht, die aufgerufene Seite zu verdecken. Scherzhaft spricht der Pfleger ihn darauf an und macht Andeutungen. Der Patient rechtfertigt sich: Er sehe sich Seiten von Selbsthilfegruppen an. Der verantwortungsbewusste Steven wird jedoch skeptisch. Er fragt sich: Wenn es sich angeblich nur um Selbsthilfegruppen handelt, warum reagiert Johannes nervös? Später erhält der Pfleger den Hinweis eines Mitpatienten: Johannes surfe auf „gefährlichen“ Internetseiten, die ihn in seinen Gedanken an Selbsttötung bestärken. Als Johannes mal nicht auf Station ist, verschafft sich Steven mithilfe der IT-Abteilung Zugriff auf Johannes’ Profil. Tatsächlich findet er im Browserverlauf Internetforen, die autodestruktives Verhalten fördern. Mit Einträgen wie „Er hat es geschafft!“ bewundern Teilnehmer den Suizid anderer. Steven rekonstruiert die Einträge seines Patienten. Alles deutet darauf hin, dass er sich bald das Leben nehmen möchte. Johannes wird umgehend in den geschlossenen Bereich verlegt. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 20 Aufgabe Bitte bewerten Sie die Situation aus Sicht: • des Stationsarztes • Bruder des Patienten • des Patienten selbst • einer Kollegin 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 21 Grundkonflikt zwischen Anatomie und Fürsorge Der Stationsarzt: „Der Pfleger kam seiner professionellen wie auch ethischen Verantwortung nach. Er hat das Leben des jungen Patienten gerettet.“ Der Bruder des Patienten: „Der Pfleger hat ohne Einwilligung Johannes’ private Daten eingesehen, seine Intimsphäre verletzt und sein Vertrauen missbraucht. Ich finde das unmoralisch!“ Der Patient: „Dem Recht auf Leben steht das Recht auf Selbsttötung ebenbürtig gegenüber. Jeder hat das Recht, aus dem Leben zu scheiden. Jemanden notorisch vor sich selbst schützen, und zwar unter Zuhilfenahme von Zwangsmaßnahmen ist vollkommen absurd. Man kann keine Verantwortung für andere übernehmen!“ Die Kollegin: „Es ist unethisch, den Patienten gleich wegzuschließen. Vielleicht hätte man zuerst mit ihm reden müssen. Vielleicht wollte er sich nur in dieser virtuellen Welt wichtig machen und hat sogar Wertschätzung aus den positiven Reaktionen auf seine Absichtserklärungen geschöpft.“ Konflikt zwischen unterschiedlichen ethische Normen und Urteilen Zur Lösung muss mindestens eine andere Norm gebrochen werden Normenkonflikt 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 22 „Bezogen auf die Psychiatrie ist in unserer Gesellschaft z. B. feststellbar, dass die absolute Suizidverhütung vor einigen Jahrzehnten ein Wert war, für den man selbstverständlich auch länger dauernde und (aus heutiger Sicht) entwürdigende Behandlungs- und Unterbringungsformen von Patienten in Kauf nahm. Heute werden die Rechte auf Selbstbestimmung und Intimsphäre höher geschätzt.“ (Steinert 2001: 32) 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 23 Ethik griechischen Wort „ethos“ für „gewohnter Ort des Lebens, Sitte oder Charakter“ Teilbereich der Philosophie und keine exakte Wissenschaft (keine „fertigen“, konkreten Handlungsanweisungen ) griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) Aufgaben: Ethik beschäftigt sich mit der systematischen Betrachtung von Werten und Normen Ethik untersucht das menschliche Handeln hinsichtlich seiner moralischen Qualität Ethik beschreibt die in einer Gesellschaft geltenden Werte und Normen und untersucht, ob diese zu rechtfertigen sind Ethik versucht, allgemein gültige Grundsätze zu formulieren, und löst damit das Handeln des einzelnen Menschen aus der persönlichen Beliebigkeit 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 24 Formen der Ethik 3 Formen: deskriptive Ethik, normative Ethik und Metaethik deskriptive Ethik (beschreibende Ethik) stellt die in einer Gesellschaft, Institution, Berufsgruppe oder Kultur geltenden ethischen Grundsätze, Werte und Normen dar. Dabei geht es der deskriptiven Ethik nicht um eine Wertung oder Beurteilung der beschriebenen Handlungen. Sie stellt lediglich fest, welche Werte und Normen innerhalb einer Gruppe Geltung haben, versucht diese zu erklären und kann so zu einer Theorie über menschliches Verhalten in verschiedenen Situationen führen. Metaethik schließlich beschäftigt sich mit methodischen und sprachlichen Fragen, die die Ethik allgemein betreffen. Führt Überlegungen, mit welchen sprachlichen Begriffen ethische Diskussionen geführt und welche Methoden dabei angewandt werden sollten. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 25 normative Ethik: untersucht die in einer Gesellschaft geltenden ethischen Normen und Werte und bewertet sie hinsichtlich ihrer moralischen Qualität. Dabei werden ethische Kriterien bzw. Prinzipien und Modelle zur Bewertung menschlichen Handelns entworfen. Aufgabe der normativen Ethik ist es darüber hinaus, Begründungen für gutes und richtiges Handeln bereitzustellen. Die normative Ethik kann im Rahmen ethischer Konflikte und Probleme Orientierungshilfe für Entscheidungen geben. Für das tägliche Leben hat diese Form der Ethik die größte Relevanz. Einteilung: 12.05.2017 folgenorientierte und nicht-folgenorientierte Theorien Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 26 Formen der Ethik 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 27 Folgenorientierte Theorien betrachten die Folgen bzw. Konsequenzen, die eine menschliche Handlung nach sich zieht, und bewerten sie nach einem höchsten Ziel. Hauptvertreter: Utilitarismus („nützlich“) eine Handlung gilt als ethisch gerechtfertigt, wenn ihre positiven Folgen die negativen Folgen für alle von dieser Handlung betroffenen Menschen überwiegen (ungeklärt, was ist positive oder negative Folge) U. unwichtig, ob die Handlung selbst von moralischen Wert ist: Beispiel der Notlüge: Die Handlung als solche widerspricht dem ethischen Prinzip der Wahrhaftigkeit, wenn dadurch aber z. B. Menschen vor Schaden bewahrt werden können, darf gelogen werden Problem: niemand kann alle Folgen einer Handlung voraussehen 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 28 Nicht-folgenorientierte Theorien werden die Folgen einer Handlung bei ihrer Bewertung völlig außer Acht gelassen Deontologie („Erforderliche“ oder „Pflicht“) gelten Handlungen als sittlich richtig, wenn sie Grundsätzen folgen, die in sich gut sind betonen die innere Qualität einer Handlung – ohne Berücksichtigung der Folgen, die die jeweilige Handlung nach sich zieht. deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) als wichtigster Vertreter: „Kategorischen Imperativ“: „Handele nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde“ (Kant 1785, zitiert nach Amelung 1992). die Pflicht, die Wahrheit zu sagen, als gut erkannt wird, besteht die unbedingte Verpflichtung, in jeder Situation die Wahrheit zu sagen – unabhängig davon, welche Folgen hieraus entstehen können. Notlügen, die vielleicht größeren Schaden abwenden, sind im Rahmen dieser Ethiktheorie nicht zu rechtfertigen. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 29 Problem der Deontologie: schenkt konkreten Situation, in der gehandelt werden muss, keine Beachtung ethischen Bewertung von menschlichen Handlungen ohne die Folgen der Handlung einzubeziehen beide Ansätze sind für die alltägliche menschliche Praxis zu einseitig Verantwortungsethik alle an einer Handlung beteiligten Elemente bei der ethischen Bewertung einer Handlung berücksichtigt Folgen + Handlung selbst + motivierende Gesinnung Modell der „personalistischen Verantwortungsethik“ als Grundlage für die Pflegeethik (niederländischen Pflegewissenschaftler und Ethiker Arie van der Arend und Chris Gastmans 1996) 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 30 Modell der „personalistischen Verantwortungsethik Quelle: Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 31 2. Fallbeispiel Frau Hitzmann, 29 Jahre alt, ist vor vier Tagen an einer angeborenen Fehlbildung des Nierenbeckens der linken Niere operiert worden, die zu immer wiederkehrenden Nierenbeckenentzündungen geführt hatte. Um die Operationsnaht im Nierenbecken vor einer Insuffizienz zu schützen, wurde die bei dieser Art von Operation (Nierenbeckenplastik) übliche Nierenfistel gelegt, eine Drainage, die den Urin direkt aus dem Nierenbecken in ein Ableitungssystem überführt. Frau Hitzmann meldet sich in der Nacht mit Schmerzen und einem Druckgefühl in der Nierengegend, die sie nicht schlafen lassen. Die nachtdiensthabende Pflegeperson, die erst kürzlich ihr Pflegeexamen abgelegt hat und ihren ersten alleinverantwortlichen Nachtdienst absolviert, erneuert den Verband und kontrolliert die Einstichstelle der Nierenfistel, die sich als unauffällig darstellt. Sie gibt sich viel Mühe, den ableitenden Schlauch neu zu befestigen, damit er Frau Hitzmann nicht stört, weil sie vermutet, dass der alte Verband zu fest verklebt war und die Schmerzen ausgelöst hat. Als das Druckgefühl nach einer Stunde nicht nachgelassen hat, verabreicht sie Frau Hitzmann die vom Arzt für den Bedarfsfall angeordneten Analgetika. Kurze Zeit darauf fühlt Frau Hitzmann sich etwas besser. Wenngleich sie nicht ganz beschwerdefrei ist, beschließen die Pflegeperson und Frau Hitzmann gemeinsam, den diensthabenden Arzt nicht zu verständigen, sondern bis zum Morgen zu warten. Als die Nierenfistel am Morgen durch den zuständigen Arzt kontrolliert wird, stellt sich heraus, dass sie verstopft ist. Hierdurch konnte der Urin nicht abfließen, hat sich im Nierenbecken gestaut und das Druckgefühl verursacht. Glücklicherweise ist die Operationsnaht nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass Frau Hitzmann eine erneute Operation erspart werden konnte. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 32 1. Wie würden Sie die motivierende Gesinnung der Pflegeperson in diesem Fall beurteilen? 2. War die Handlung der Pflegeperson richtig oder falsch? 3. Hätten Sie sich in dieser Situation anders verhalten? Wenn ja, warum? 4. Welche Rolle spielt pflegerisches Fachwissen bei der ethischen Bewertung einer Pflegehandlung? Quelle: Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 33 3. Fallbeispiel Frau Pasternak Frau Pasternak, eine 23-jährige Büroangestellte, leidet seit über einem halben Jahr an einer schweren Depression. Seit über 10 Wochen hat sie, auf ihren Wunsch hin, keinen Kontakt zu ihrem langjährigen Freund. In einem Augenblick guter Verfassung bittet sie ihre pflegerische Bezugsperson, mit dem Freund zu telefonieren, und ihn zu bitten, er möge sie in den nächsten Tagen besuchen kommen. Die Bezugsperson ruft den Freund an. Er meldet, dass die Beziehung mit seiner Freundin beendet sei. Er könne die Freundschaft mit einer so kranken Frau unmöglich aufrechterhalten. Nach dem Telefongespräch fragt die Patientin, wann wohl der Freund vorbeischaue. Die Bezugsperson von Frau Pasternak sagt – allerdings mit schlechtem Gewissen – der Patientin, dass der Freund keinen konkreten Termin für einen etwaigen Besuch genannt habe. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 34 Bitte bewerten Sie den Fall Fr. Pasternak aus Utilitaristischer und Deontologischer Sichtweise. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 35 Frau Pasternak – Utilitaristische Überlegungen Im Dienst des Glücks der Patientin verschiebt die Bezugsperson die Mitteilung über die beendete Beziehung zu ihrem Freund. Obwohl der sittliche Wert und die ethische Motivation dieses Verhaltens der Bezugsperson fragwürdig sind, will sie mit diesem Vorgehen verhindern, dass Frau Pasternak tief zurück in die Depression fällt. Die Bezugsperson erwartet, dass die Patientin in ein paar Tagen die schlechte Nachricht besser auffassen werde. Für die Bezugsperson selbst bringt die Vorenthaltung der Botschaft – wenigstens kurzfristig – etwas Erleichterung (Glück). 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 36 Frau Pasternak – Deontologische Überlegungen Aus deontologischer Sicht handelt die Bezugsperson grundlegend falsch, denn das Glück von Frau Pasternak darf nicht vor der Wahrheit stehen. Die Pflegende handelt aus Neigungen (Mitgefühl, Ehrlichkeit, Liebe) heraus und nicht aus Pflicht, wie Kant dies fordert. Das mutmaßliche Ergebnis der Handlung – die Vermeidung eines depressiven Rückfalls – ist in diesem Fall dem guten Willen der Wahrheitsäußerung entgegengesetzt. Man kann auch vermuten, dass das Handeln der Pflegenden von Egoismus (sich keine Schwierigkeiten einhandeln) motiviert ist. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 37 Ein ethisches Koordinatensystem 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 38 Absolutistische Ethik Erich Fromm (1900–1980), Soziologe, Psychoanalytiker geht davon aus, dass alle Menschen vor den folgenden Fragen der menschlichen Existenz stehen: ■ Auf was beziehe ich mich im Leben? (Bezogenheit) ■ Was geschieht, wenn ich nicht mehr bin? Welche Zeichen kann ich setzen, damit ich mich selbst transzendieren kann? (Transzendenz) ■ Wo oder was ist meine Heimat, und wo bin ich verwurzelt? (Verwurzelung) ■ Wie finde ich zu meiner eigenen Identität? (Identität) ■ Woran orientiere ich mich im Leben? (Orientierung) 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 39 zur Bewältigung der Lebensaufgaben grundsätzlich zwei Wege: einen positiven oder einen negativen (Gut und Schlecht) absolutistischer Standpunkt Bewältigung der: Bezogenheit durch Narzissmus oder Liebe Transzendenz durch Destruktivität oder Kreativität Verwurzelung durch Inzest oder Brüderlichkeit Identität durch Herdenkonformität oder Individualität Orientierung durch Irrationalität oder Vernunft Ethisch sind alle Handlungen, welche die positive Verwirklichung der intrinsischen Bedürfnisse des Menschen erlauben Beispiel: Menschenrechte der UNO (Prinzipien sollen unabhängig von Kultur, vom politischen System, von der vorherrschenden Religion usw. gelten) 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 40 Relativistische Ethik alle Erfahrungsaussagen gelten nur relativ = Relativismus alle Erkenntnisse gelten für den Erkennenden nur subjektiv = Subjektivismus Demnach kontextuell ausgerichtet um eine Handlung oder Absicht verstehen und bewerten zu können, muss man den Gesamtzusammenhang kennen und verstehen Eine Handlung X kann in Kontext A ethisch richtig sein, in Kontext B aber vollkommen falsch erlaubt Berücksichtigung transkultureller Unterschiede (oft im psychiatrischen Pflegealltag vorhanden) Beispiel: Ein armer Arbeiter entwendet Geld, um seine Familie zu ernähren. Nach absolutistischer Ethik («Du sollst nicht stehlen») begeht der Mann Diebstahl und handelt ethisch falsch. Nach relativistischer Ethik ist die Geldentwendung einfühlbar und ethisch zu rechtfertigen. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 41 Individualismus ethischer Standpunkt, „dem zufolge jeder Mensch das Recht und die Pflicht hat, vor allem seine eigene Persönlichkeit zu größtmöglicher Vervollkommnung zu entwickeln, da sein Sonderdasein einen Eigenwert darstellt, der dem Wert der Gruppen (Volk, Staat usw.) nicht untergeordnet werden darf“ (Austeda,1981). 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 42 Paternalistische Ethik = väterliche Bevormundung oder fürsorgliche Bestimmung über einen anderen Menschen ethisch gut und richtig ist, über Menschen zu bestimmen, die nicht im Stande sind, selbst vernünftige Entscheide zu treffen. gegenüber Psychiatrie-PatientInnen nach Chodoff (zitiert in Szasz, 1987) charakterisieren: „Es muss anerkannt werden, dass diese ernstlich kranken Leute nicht in der Lage sind, bewusst und vernünftig darüber zu entscheiden, was für sie das Beste ist.“ Gesetzgebung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung (Schweizerisches Zivilgesetzbuch, Artikel 397a) beruht auf dem Paternalismus In diesem Gesetzestext heißt es, dass bestimmte Personen (etwa Geistes- oder Suchtkranke) in eine geeignete Anstalt eingewiesen werden können, wenn einer solchen Person „die nötige persönliche Fürsorge nicht anders erwiesen werden kann“. Finzen zu dem Thema Zwangsmedikation: „Es gibt Situationen, in denen psychisch Kranke ein Recht darauf haben, dass ihnen gegen ihren Willen geholfen wird“ (Finzen, 1993). 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 43 paternalistische Haltung kein naives, unreflektiertes Ethiksystem Befürworter leben mit ethische Konflikten Paternalismus reflektiert und es wird um Rechtfertigungen gerungen Finzen: „Wir sind zugleich davon überzeugt, dass jede Behandlung gegen den Willen der Kranken eine zuviel ist» (Finzen, 1993). Duffy (1995) hat mit Blick auf die ständige Überwachung Suizidaler – eine Überwachung bis in die Toilette hinein – darauf hingewiesen, dass ein solches paternalistisches Vorgehen im Widerspruch zur humanistischen Orientierung vieler Pflegenden steht und zu Rollenkonflikten in der Pflege führen kann. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 44 Ethik der Autonomie Kreis der Antipsychiatrie ( Goffman, Szasz oder Fanon), vertreten eine „Ethik des Widerstands“ oder der Autonomie (Goffman, 1973) Paternalismus und Autonomie als 2 Gegensätze Psychiatrie als ein Ort sozialer Kontrolle, wo PatientInnen unterdrückt werden (Hopton, 1995) Psychiatrische Institutionen gelten als schädlich gelten (s. etwa Goffman, 1973), ist Widerstand der PatientInnen als gesunde, natürliche Reaktion auf die psychiatrische Unterdrückung anzusehen Fanon (zitiert in Hopton, 1995) vergleicht die Unterdrückung psychiatrischer PatientInnen mit kolonialer Unterdrückung Aggression und Gewalt gegenüber Psychiatern oder anderen Therapeuten sind daher ebenso verständlich wie der Widerstand eines unterdrückten Volkes gegen eine Kolonialherrschaft. Daher ethisch richtig, sich gegen eine unterdrückende Institution wie die Psychiatrie zu wehren oder sich autonom zu verhalten 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 45 Vier Quadranten ethischer Argumentation Grundkonflikt: Selbstbestimmung vs. Fremdbestimmung Findet Berücksichtigung im «ethischen Koordinatensystem» vier Quadranten mit verschiedenen ethischen Orientierungen: 1. Quadrant I (rechts oben): Diese Autonomie darf grundsätzlich nicht angetastet werden. 2. Quadrant II (links oben): In diesem speziellen Fall und unter diesen speziellen Bedingungen wird Autonomie gewährt. 3. Quadrant III (links unten): In diesem speziellen Fall und unter diesen Umständen ist es ethisch gerechtfertigt, über einen anderen Menschen zu bestimmen. 4. Quadrant IV (rechts unten): Hier bestimmen wir grundsätzlich über einen anderen Menschen. Quelle: Sauter D, Abderhalden C et al. (2011) Lehrbuch Psychiatrische Pflege. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 46 Ein ethisches Koordinatensystem 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 47 Ethische Prinzipien (Quelle: Roth/Zierath, 1999) ■ Das Prinzip der Wahrhaftigkeit besagt, dass man dazu verpflichtet ist, die Wahrheit zu sagen. ■ Das Prinzip der Autonomie gewährt dem Individuum Freiheit und Selbstbestimmung. ■ Das Prinzip der Gerechtigkeit bedeutet, dass alle Personen gleichwertig respektiert und behandelt werden. ■ Das Prinzip Gutes tun/Schaden vermeiden bedeutet, anderen Menschen in ihrem Wohlbefinden zu helfen und mögliche Schädigungen einzugrenzen. ■ Beim Prinzip der Integrität des Lebens geht es um die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens und um den Wert des Menschen schlechthin. ■ Das Prinzip der Treue verpflichtet, Versprechen einzuhalten und verbindlich zu sein. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 48 Quelle: Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 49 Frau Pasternak – Ethische Prinzipien ■ Wahrhaftigkeit: Die Pflegende verletzt dieses Prinzip, erzählt aber streng genommen keine Lüge. ■ Autonomie: Die Pflegende greift der Autonomie der Patientin vor, indem sie stellvertretend entscheidet, dass die Kunde vom Beziehungsabbruch Frau Pasternak schlecht tut. ■ Gerechtigkeit: Dieses Prinzip greift nicht, da es nicht um die Verteilung von Ressourcen geht. ■ Gutes tun/Schaden vermeiden: Die Bezugsperson fasst die Verhinderung eines mutmaßlichen depressiven Rückfalls als guten Dienst für die Patientin auf. ■ Integrität des Lebens: Im Moment der Handlung der Pflegenden wird dieses Prinzip nicht verletzt. ■ Treue: Dieses Prinzip greift nicht, da die Pflegende der Patientin nichts verspricht. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 50 Wo würden Sie sich anhand des 1. Fallbeispieles des Pflegers Johannes als Team/als Pflegeperson verorten? 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 51 Ein ethisches Koordinatensystem 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 52 Der Pfleger Johannes verhält sich in der konkreten Situation sehr fürsorglich (Feld III–Feld IV), die Haltung seiner Kollegin könnte in Feld II verortet werden. Folgen abschätzen Darüber hinaus macht es Sinn, sich über wahrscheinliche Folgen einer Entscheidung Gedanken zu machen. Die Folgenabschätzung ist ein reines Analyseinstrument und suggeriert keine teleologische Ethik als Bewertungsgrundlage. Folgen für den Patienten: Fühlt sich der Patient u. U. nicht mehr „anerkannt“? Fühlt er sich „überrollt“? soziale Folgen: Kommen andere Patienten zu kurz? Werden Mitpatienten ebenfalls durch die Maßnahme(n) geschädigt/eingeschränkt? strukturelle Folgen: Brechen wir Klinikstandards, Berufs- oder Rechtsnormen? Folgen für das Team/Pflegende: Wie verändert die Maßnahme unsere/meine Beziehung zum Patienten? 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 53 Der Ethik-Kodex des ICN für Pflegende Der folgende Ethik-Kodex für Pflegende wurde 1953 vom Internationalen Pflegerat (ICN) angenommen und 2000 überarbeitet (ICN, 2000). Pflegende haben drei grundlegende Aufgaben: Gesundheit zu fördern, Krankheit zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen, Leiden zu lindern. Es besteht ein universeller Bedarf an Pflege. Untrennbar von Pflege ist die Achtung der Menschenrechte, einschließlich des Rechts auf Leben, auf Würde und auf respektvolle Behandlung. Sie wird ohne Rücksicht auf das Alter, Behinderung oder Krankheit, das Geschlecht, den Glauben, die Hautfarbe, die Kultur, die Nationalität, die politische Einstellung, die Rasse oder den sozialen Status ausgeübt. Die Pflegende übt ihre berufliche Tätigkeit zum Wohle des Einzelnen, der Familie und der sozialen Gemeinschaft aus; sie koordiniert ihre Dienstleistungen mit denen anderer beteiligter Gruppen. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 54 Ethischer Entscheidungsprozess 12.05.2017 Sven Kittel BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 55 Häufige ethische Probleme im psychiatrischen Alltag Zwangsmaßnahmen (Isolierung, Zwangsmedikation, Fixierung) und Freiheitseinschränkungen Sanktionen und Entzug von Rechten und Privilegien (Kürzung des Taschengelds, Ausgangssperre) Vorenthaltung von wichtigen Informationen Dosierung der Wahrheit aus (angeblicher) Rücksicht auf mögliche Reaktionen («therapeutisches Belügen») Ungleichmäßige Verteilung von Ressourcen oder Zuwendung. Quelle: Sauter D, Abderhalden C et al. (2011) Lehrbuch Psychiatrische Pflege. 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 56 Klinische Ethikberatung institutioneller Rahmenbedingungen und Organisationsformen klinische Ethikberatung: • unterstützt die Entscheidungsfindungsprozesse in schwierigen ethischen Dilemmasituationen • entwickelt ethische Leitlinien für die jeweilige Einrichtung • organisiert die ethische Aus- und Weiterbildung des Personals 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 57 Quelle: Amberger A, Roll S (2010) Psychiatriepflege und Psychotherapie. 12.05.2017 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 58 3. Quellen • • • Amberger A, Roll S (2010) Psychiatriepflege und Psychotherapie. 1. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 3. Auflage, Stuttgart: Thieme Verlag Sauter D, Abderhalden C et al. (2011) Lehrbuch Psychiatrische Pflege. 3. Auflage, Bern: Huber Verlag 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 59 Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit 12.05.2017 BSc Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie - 60 Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- 1. Fallbeispiel - Normenkonflikt Johannes ist ein 21-jähriger Patient auf einer offenen psychiatrischen Station. Er leidet unter einer bipolaren Störung und durchlebt trotz seines jugendlichen Alters bereits die zweite depressive Episode, die sich bereits über Wochen hinzieht. Zwar verbessert sich sein Antrieb zögerlich, aber immer noch quälen ihn Suizidgedanken. Die Klinik stellt Patienten aus den offenen Bereichen stundenweise zwei internetfähige Rechner zur Verfügung. Jeder Patient kann sich hier sogar sein eigenes Profil passwortgeschützt einrichten. Johannes ist sehr internetaffin und nutzt diesen Service, u. a. surft er in speziellen Foren, Chats und Blogs zum Thema Depression/Suizid und hat Kontakt zu anderen Betroffenen. Steven, ein Pflegender im offenen Bereich, schaut ihm eines Tages über die Schulter. Als Johannes das bemerkt, reagiert er fahrig und ist bemüht, die aufgerufene Seite zu verdecken. Scherzhaft spricht der Pfleger ihn darauf an und macht Andeutungen. Der Patient rechtfertigt sich: Er sehe sich Seiten von Selbsthilfegruppen an. Der verantwortungsbewusste Steven wird jedoch skeptisch. Er fragt sich: Wenn es sich angeblich nur um Selbsthilfegruppen handelt, warum reagiert Johannes nervös? Später erhält der Pfleger den Hinweis eines Mitpatienten: Johannes surfe auf „gefährlichen“ Internetseiten, die ihn in seinen Gedanken an Selbsttötung bestärken. Als Johannes mal nicht auf Station ist, verschafft sich Steven mithilfe der ITAbteilung Zugriff auf Johannes’ Profil. Tatsächlich findet er im Browserverlauf Internetforen, die autodestruktives Verhalten fördern. Mit Einträgen wie „Er hat es geschafft!“ bewundern Teilnehmer den Suizid anderer. Steven rekonstruiert die Einträge seines Patienten. Alles deutet darauf hin, dass er sich bald das Leben nehmen möchte. Johannes wird umgehend in den geschlossenen Bereich verlegt. 12.05.2017 BSc Ethische Grundlagen Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- Aufgabe: Bitte bewerten Sie die Situation aus Sicht: • des Stationsarztes • Bruder des Patienten • des Patienten selbst • einer Kollegin Quelle: Amberger A, Roll S (2010) Psychiatriepflege und Psychotherapie. Verlag 12.05.2017 BSc 1. Auflage, Stuttgart: Thieme Ethische Grundlagen Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- 2. Fallbeispiel Frau Hitzmann, 29 Jahre alt, ist vor vier Tagen an einer angeborenen Fehlbildung des Nierenbeckens der linken Niere operiert worden, die zu immer wiederkehrenden Nierenbeckenentzündungen geführt hatte. Um die Operationsnaht im Nierenbecken vor einer Insuffizienz zu schützen, wurde die bei dieser Art von Operation (Nierenbeckenplastik) übliche Nierenfistel gelegt, eine Drainage, die den Urin direkt aus dem Nierenbecken in ein Ableitungssystem überführt. Frau Hitzmann meldet sich in der Nacht mit Schmerzen und einem Druckgefühl in der Nierengegend, die sie nicht schlafen lassen. Die nachtdiensthabende Pflegeperson, die erst kürzlich ihr Pflegeexamen abgelegt hat und ihren ersten alleinverantwortlichen Nachtdienst absolviert, erneuert den Verband und kontrolliert die Einstichstelle der Nierenfistel, die sich als unauffällig darstellt. Sie gibt sich viel Mühe, den ableitenden Schlauch neu zu befestigen, damit er Frau Hitzmann nicht stört, weil sie vermutet, dass der alte Verband zu fest verklebt war und die Schmerzen ausgelöst hat. Als das Druckgefühl nach einer Stunde nicht nachgelassen hat, verabreicht sie Frau Hitzmann die vom Arzt für den Bedarfsfall angeordneten Analgetika. Kurze Zeit darauf fühlt Frau Hitzmann sich etwas besser. Wenngleich sie nicht ganz beschwerdefrei ist, beschließen die Pflegeperson und Frau Hitzmann gemeinsam, den diensthabenden Arzt nicht zu verständigen, sondern bis zum Morgen zu warten. Als die Nierenfistel am Morgen durch den zuständigen Arzt kontrolliert wird, stellt sich heraus, dass sie verstopft ist. Hierdurch konnte der Urin nicht abfließen, hat sich im Nierenbecken gestaut und das Druckgefühl verursacht. Glücklicherweise ist die Operationsnaht nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass Frau Hitzmann eine erneute Operation erspart werden konnte. 12.05.2017 BSc Ethische Grundlagen Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- Aufgabe: 1. Wie würden Sie die motivierende Gesinnung der Pflegeperson in diesem Fall beurteilen? 2. War die Handlung der Pflegeperson richtig oder falsch? 3. Hätten Sie sich in dieser Situation anders verhalten? Wenn ja, warum? 4. Welche Rolle spielt pflegerisches Fachwissen bei der ethischen Bewertung einer Pflegehandlung? Quelle: Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 12.05.2017 BSc Ethische Grundlagen Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- 2. Fallbeispiel Frau Hitzmann, 29 Jahre alt, ist vor vier Tagen an einer angeborenen Fehlbildung des Nierenbeckens der linken Niere operiert worden, die zu immer wiederkehrenden Nierenbeckenentzündungen geführt hatte. Um die Operationsnaht im Nierenbecken vor einer Insuffizienz zu schützen, wurde die bei dieser Art von Operation (Nierenbeckenplastik) übliche Nierenfistel gelegt, eine Drainage, die den Urin direkt aus dem Nierenbecken in ein Ableitungssystem überführt. Frau Hitzmann meldet sich in der Nacht mit Schmerzen und einem Druckgefühl in der Nierengegend, die sie nicht schlafen lassen. Die nachtdiensthabende Pflegeperson, die erst kürzlich ihr Pflegeexamen abgelegt hat und ihren ersten alleinverantwortlichen Nachtdienst absolviert, erneuert den Verband und kontrolliert die Einstichstelle der Nierenfistel, die sich als unauffällig darstellt. Sie gibt sich viel Mühe, den ableitenden Schlauch neu zu befestigen, damit er Frau Hitzmann nicht stört, weil sie vermutet, dass der alte Verband zu fest verklebt war und die Schmerzen ausgelöst hat. Als das Druckgefühl nach einer Stunde nicht nachgelassen hat, verabreicht sie Frau Hitzmann die vom Arzt für den Bedarfsfall angeordneten Analgetika. Kurze Zeit darauf fühlt Frau Hitzmann sich etwas besser. Wenngleich sie nicht ganz beschwerdefrei ist, beschließen die Pflegeperson und Frau Hitzmann gemeinsam, den diensthabenden Arzt nicht zu verständigen, sondern bis zum Morgen zu warten. Als die Nierenfistel am Morgen durch den zuständigen Arzt kontrolliert wird, stellt sich heraus, dass sie verstopft ist. Hierdurch konnte der Urin nicht abfließen, hat sich im Nierenbecken gestaut und das Druckgefühl verursacht. Glücklicherweise ist die Operationsnaht nicht in Mitleidenschaft gezogen worden, so dass Frau Hitzmann eine erneute Operation erspart werden konnte. 12.05.2017 BSc Ethische Grundlagen Kontaktstudiengang DHBW - Psychiatrie- Aufgabe: 1. Wie würden Sie die motivierende Gesinnung der Pflegeperson in diesem Fall beurteilen? 2. War die Handlung der Pflegeperson richtig oder falsch? 3. Hätten Sie sich in dieser Situation anders verhalten? Wenn ja, warum? 4. Welche Rolle spielt pflegerisches Fachwissen bei der ethischen Bewertung einer Pflegehandlung? Quelle: Lauber A (2012) Grundlagen beruflicher Pflege. 12.05.2017 BSc Ethische Grundlagen