Kurzlehrbuch Innere Medizin - ReadingSample - Beck-Shop

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Kurzlehrbuch Innere Medizin
von
Hanns-Wolf Baenkler, Hartmut Goldschmidt, Johannes-Martin Hahn, Martin Hinterseer, Andreas Knez
1. Auflage
Thieme 2010
Verlag C.H. Beck im Internet:
www.beck.de
ISBN 978 3 13 141672 8
Zu Inhaltsverzeichnis
schnell und portofrei erhältlich bei beck-shop.de DIE FACHBUCHHANDLUNG
314 Störungen des Glukosestoffwechsels 6 Endokrinologie und Stoffwechsel
6.2.5 Genetische Diagnostik
6
Bei fraglicher Geschlechtszuordnung, primärer Amenorrhö oder primärem Hypogonadismus (s. S. 354
und S. 357) ist häufig ein Karyogramm indiziert.
Wichtig ist die Einleitung einer genetischen Untersuchung bei medullärem Schilddrüsenkarzinom, da
hier ein MEN II (s. S. 363) vorliegen könnte, das eine
Untersuchung und evtl. prophylaktische Schilddrüsenresektion betroffener Familienangehöriger nach
sich ziehen könnte.
Ebenfalls indiziert ist eine Diagnostik hinsichtlich
MEN I bei Insulinom (s. S. 354), Glukagonom (s. S.
354) oder Karzinoid und gleichzeitigem Hyperparathyroidismus.
Nach histologischer Bestätigung eines Phäochromozytoms sollte ebenfalls eine genetische Diagnostik
eingeleitet werden (MEN II, s. S. 363, von Hippel-Lindau-Syndrom, s. S. 394, Neurofibromatosis von Recklinghausen).
Praxistipp
Mit zunehmender Kenntnis der genetischen
Ursachen von Erkrankungen ist für die Zukunft
eine Zunahme der Indikationen für genetische
Diagnostik zu erwarten.
6.3 Störungen des
Glukosestoffwechsels
gisch vermittelten Typ A lassen sich inselzellspezifische Autoantikörper nachweisen (InsulinAutoantikörper, zytoplasmatische Inselzellantikörper, Antikörper gegen Glutamatdecarboxylase
[GAD] oder Antikörper gegen Tyrosinphosphatase
[IA2]), was beim idiopathischen Typ B nicht gelingt.
Typ-2-Diabetes (häufigste Form): beginnt meist
erst im höheren Lebensalter. Ursächlich besteht
hier ein Missverhältnis zwischen der Insulinsekretion, die relativ zu gering ist und einer zunehmend schlechteren peripheren Insulinwirkung
(Insulinresistenz). Beim Typ-2-Diabetes ist eine
vermehrte Glukoseproduktion in der Leber infolge
gesteigerter Glukoneogenese und Glykogenolyse
zu beobachten.
andere spezifische Typen: z. B. medikamentös induzierter Diabetes mellitus, Diabetes im Rahmen
anderer endokrinologischer Erkrankungen (z. B.
Cushing-Syndrom), Diabetes bei Pankreaserkrankungen, bei neurologischen Erkrankungen (z. B.
Wolfram-Syndrom, Friedreich-Ataxie) oder die
dominant vererbten MODY-Formen (maturityonset diabetes of the young).
Gestationsdiabetes: Blutzuckererhöhung in der
Schwangerschaft bei nicht vorbekanntem Diabetes
mellitus. Eine Selbstkontrolle auf Ketonkörper im
Urin ist wegen erhöhter Ketoseneigung sinnvoll.
Key Point
MERKE
Unter den Stoffwechselstörungen kommt
dem Diabetes mellitus eine besondere
Bedeutung zu, denn seine Prävalenz steigt
kontinuierlich an. Vor allem der Anstieg des
Typ-2-Diabetes ist die Folge von falscher
Ernährung, Bewegungsmangel und Übergewicht. Diese Risikofaktoren sind maßgeblich an weiteren Zivilisationskrankheiten
beteiligt (z. B. Bluthochdruck und Fettstoffwechselstörungen). Die Risikofaktoren zu
beseitigen ist schwierig, da die erworbenen
Verhaltensmuster meist nur schwer zu
verändern sind.
Auch wenn es einen Erkrankungsgipfel im jugendlichen Alter gibt, kann sich der Typ-1-Diabetes
prinzipiell in jedem Alter manifestieren.
Die Manifestation des Typ-2-Diabetes verlagert sich
wegen zunehmender Adipositas und körperlicher
Inaktivität in jüngere Jahre und ist bisweilen bei
Jugendlichen zu beobachten.
6.3.1 Diabetes mellitus
Definition Beim Diabetes mellitus handelt es sich
um eine Glukosestoffwechselstörung mit erhöhten
Blutzuckerwerten aufgrund eines relativen oder
absoluten Insulinmangels.
Einteilung Die aktuelle Klassifikation des Diabetes
mellitus beruht auf den Kriterien der Amerikanischen
Diabetes Gesellschaft und versucht pathogenetischen
Kriterien zu folgen:
Typ-1-Diabetes: absoluter Insulinmangel durch
Versagen der insulinsezernierenden β-Zellen im
Pankreas (Langerhans-Inseln). Beim immunolo-
Epidemiologie
In Deutschland leben derzeit ca. 6 Millionen Menschen mit Diabetes mellitus. Diese Zahl hat seit 1998
um ca. 40 % zugenommen. In der Altersgruppe zwischen 55 und 74 Jahren gibt es etwa gleich viele Menschen, die einen bekannten Diabetes haben, wie Menschen, die einen Diabetes haben, ohne dies zu wissen.
Als Folge des Übergewichts steigt auch bei Jugendlichen das Vorkommen des Typ-2-Diabetes.
Klinik
Bei der Erstmanifestation des Typ-1-Diabetes finden
sich wegen des absoluten Insulinmangels häufig die
klassischen Symptomen: Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust und Ketoazidose (s. S. 319).
aus: Baenkler u.a., KLB Innere Medizin (ISBN 9783131416728), © 2010 Georg Thieme Verlag KG
6 Endokrinologie und Stoffwechsel Störungen des Glukosestoffwechsels 315
Praxistipp
MERKE
Die klassischen Symptome des Diabetes mellitus sind
Polyurie, Polydipsie und Gewichtsverlust.
Demgegenüber werden die meisten Patienten mit
Typ-2-Diabetes zufällig diagnostiziert z. B. im Rahmen
bereits vorhandener Sekundärkomplikationen (Herzinfarkt, diabetisches Fußulkus). Bei genauem Nachfragen finden sich jedoch auch hier häufig Polyurie, Polydipsie und Gewichtsverlust. Seltener erfolgt die Erstmanifestation im Rahmen des hyperosmolaren
Komas (s. S. 320).
Die weitere Klinik wird durch die chronischen, vor
allem vaskulären Komplikationen bestimmt (s. S.
320). Als weitere Symptome des Diabetes mellitus
können allgemeine Leistungsminderung, Inappetenz,
Heißhunger durch passagere Hypoglykämien (im
Frühstadium des Typ-2-Diabetes durch Hyperinsulinämie), vermehrte Infektanfälligkeit, Pruritus, Sehstörungen und Nachlassen von Libido und Potenz auftreten.
Praxistipp
Leicht oder passager erhöhte Blutzuckerwerte
können lange Zeit symptomlos bleiben und so
die Diagnosestellung erheblich verzögern.
Diagnostik
Erste und wichtigste Maßnahme bei Verdacht auf Diabetes mellitus ist die Blutzuckermessung.
Wichtig ist hierbei, dass nur qualitätskontrollierte Labormethoden benutzt werden – Geräte zur Blutzuckerselbstmessung sind nicht geeignet. Außerdem
sind die Normwerte abhängig vom Material (Vollblut
oder Plasma, venöses oder kapilläres Blut). Die Grenzwerte für venöses Plasma sind in Tab. 6.1 angegeben
(alle Angaben in diesem Kapitel beziehen sich auf venöses Plasma).
Serumwerte für die Diabetesdiagnostik sind
mit Vorsicht zu betrachten, da in diesem Fall
durch den noch erhaltenen Stoffwechsel der
Erythrozyten falsch niedrige Blutzuckerwerte
resultieren können.
Bei Vorliegen der klassischen Symptome des Diabetes
mellitus ist mit dem zweimaligen Nachweis eines Gelegenheitsblutzuckers von > 200 mg/dl die Diagnose
eines Diabetes mellitus gestellt.
MERKE
Der zweimalige Nachweis eines Blutzuckerwertes
> 200 mg/dl ist beweisend für einen Diabetes mellitus, wenn zusätzliche klassische Symptome vorliegen.
Liegen keine klassischen Symptome vor oder ist der
Gelegenheitsblutzucker < 200 mg/dl, so beruht die
Diagnose heute im Wesentlichen auf der Bestimmung der Nüchternglukose (normal < 100 mg/dl):
Bei zweimaligem Nachweis einer Nüchternglukose
(nach einer Fastenzeit von mindestens 8 Stunden)
von ≥ 126 mg/dl liegt ein Diabetes mellitus vor.
Bei
einem
Nüchternblutzucker
zweimalig
≥ 100 mg/dl, aber < 126 mg/dl, liegt ein gestörter
Nüchternblutzucker (impaired fasting glucose)
vor.
Bei gestörter Nüchternglukose wird ein oraler Glukose-Toleranztest (oGTT) empfohlen (Abb. 6.6a).
Bei einem 2-h-Wert von ≥ 200 mg/dl liegt ein Diabetes mellitus vor.
Bei einem 2-h-Wert ≥ 140 mg/dl, aber < 200 mg/dl,
besteht eine gestörte Glukosetoleranz (impaired
glucose tolerance, Abb. 6.6b).
Gestörte Nüchternglukose und gestörte Glukosetoleranz können allerdings auch gemeinsam vorkommen
(Tab. 6.1).
Tabelle 6.1
Diagnostische Kriterien des Diabetes mellitus
Befund
nüchtern*
Normalbefund
< 100 mg/dl
gestörte Nüchternglukose
100–125 mg/dl
beliebiger Tageszeitpunkt
< 140 mg/dl
gestörte Glukosetoleranz
Diabetes mellitus
2-h-Wert im oGTT***
140–199 mg/dl
≥ 126 mg/dl
≥ 200 mg/dl**
≥ 200 mg/dl
* nüchtern = keine Kalorienzufuhr in den letzten 8 Stunden
** + klassische Symptome Polyurie, Polydipsie, Gewichtsverlust
*** oGTT: über 3 Tage Ernährung mit > 150 g Kohlenhydrate am Tag, dann 12 Stunden nüchtern bleiben und morgens zum Zeitpunkt 0
Einnahme von 75 g Glukose in 250–300 ml Wasser innerhalb von 5 Minuten. BZ-Bestimmung zu den Zeitpunkten 0 und nach 2 Stunden.
aus: Baenkler u.a., KLB Innere Medizin (ISBN 9783131416728), © 2010 Georg Thieme Verlag KG
6
316 Störungen des Glukosestoffwechsels 6 Endokrinologie und Stoffwechsel
Glukose (mg/dl) kapillär
Insulin (mlU/l)
C-Peptid (ng/ml)
150
15
100
10
50
5
0
0
0
30
a
6
60
90
120
180
Zeit nach 75 g Glukose in min
250
Glukose (mg/dl)
20
20
OGTT
200
15
150
10
100
Glukose (mg/dl) kapillär
Insulin (mlU/l)
C-Peptid (ng/ml)
50
0
5
Insulin oder C-Peptid
Glukose (mg/dl)
200
Abb. 6.6 oGTT. a Normalbefund,
b gestörte Glukosetoleranz
Insulin oder C-Peptid
OGTT
0
0
30
60
90
120
180
Zeit nach 75 g Glukose in min
b
Die Empfehlung, einen oralen Glukosetoleranztest bei
Nüchternblutzuckerwerten ≥ 100 mg/dl durchzuführen, ist ein Kompromiss. Bekannt ist nämlich, dass der
prädiktive Wert für die Entstehung eines Diabetes
mellitus und atherosklerotischer Folgeerkrankungen
für die gestörte Glukosetoleranz größer ist als für
die gestörte Nüchternglukose.
Außerdem haben zahlreiche Patienten mit Diabetes
nach 2-h-Wert des oGTT noch einen Nüchternblutzucker < 126 mg/dl. Die meisten dieser Patienten
haben eine gestörte Nüchternglukose. Ohne oralen
Glukosetoleranztest würden diese Patienten übersehen und keine adäquate Therapie erhalten. Es finden
sich daher durchaus auch Argumente, die Indikation
für einen oralen Glukosetoleranztest bei Vorliegen anderer Komponenten des metabolischen Syndroms
(Übergewicht, arterieller Hypertonus, Fettstoffwechselstörung) noch großzügiger zu stellen.
Praxistipp
Für die Beurteilung des oralen Glukosetoleranztests ist es wichtig zu wissen, dass
längeres Fasten oder eine kohlenhydratarme
Ernährung auch beim Gesunden einen
pathologischen 2-h-Wert verursachen
können. Außerdem beeinflussen eine
Reihe von Medikamenten den Test
(Glukokortikoide, Phenytoin, Furosemid).
Bei Schwangeren mit erhöhtem Diabetesrisiko erfolgt
zwischen der 24. und 28. Schwangerschaftswoche der
oGTT mit 50 g Glukose, der zu einem beliebigen Tageszeitpunkt und unabhängig von der letzten Nahrungsaufnahme durchgeführt werden kann. Ein 1-h-Wert
> 140 mg/dl ist auffällig und muss durch einen weiteren oralen Glukosetoleranztest (dann mit 75 g) überprüft werden. Hier gelten jedoch andere Grenzwerte.
Die Bestimmung des HbA1c wird zur Diagnose des
Diabetes mellitus noch nicht herangezogen. Er eignet
sich für die Kontrolle der Effektivität einer eingeleiteten Therapie und gibt den Prozentanteil des mit Glukose verbundenen roten Blutfarbstoffs an, der normalerweise bei ca. 4–6 % liegt und direkt vom Blutzucker
abhängt. Wegen der bislang fehlenden Standardisierung sind die HbA1c-Werte verschiedener Laboratorien nicht direkt vergleichbar (ein solcher standardisierter HbA1c-Wert wird aktuell vom IFCC eingeführt). Aus dem HbA1c-Verlauf lässt sich eine Aussage
über die Blutzuckereinstellung der letzten acht bis
zehn Wochen treffen.
Schwieriger als die Diagnose des Diabetes mellitus ist
die Zuordnung. Folgende Anhaltspunkte können hier
weiterhelfen:
Patienten mit einem Typ-2-Diabetes sind meist
übergewichtig und zeigen eine deutliche familiäre
Häufung.
Verdächtig für Typ-1-Diabetes sind normalgewichtige Personen mit meist akutem Beginn
der Erkrankung.
aus: Baenkler u.a., KLB Innere Medizin (ISBN 9783131416728), © 2010 Georg Thieme Verlag KG
6 Endokrinologie und Stoffwechsel Störungen des Glukosestoffwechsels 317
Der Nachweis von Autoantikörpern bestätigt die Diagnose des Typ-1-Diabetes, fehlende Autoantikörper
schließen jedoch einen idiopathischen Typ-1-Diabetes nicht aus. Hilfreich kann hier die Bestimmung
des C-Peptids (Bestandteil des Proinsulins) nüchtern
oder nach Stimulation mit Glukagon sein (als Ausdruck der Funktionsfähigkeit der β-Zellen), das beim
Typ-2-Diabetes oft erhöht ist und beim Typ-1-Diabetes niedrig oder niedrig normal gemessen wird.
Unter den anderen spezifischen Diabetestypen ist die
Zuordnung dann einfach, wenn Pankreaserkrankungen, endokrinologische oder neurologische Erkrankungen vorliegen. An einen MODY-Diabetes sollte
man dann denken, wenn in den letzten drei Generationen ein früh manifester „Typ-2“-Diabetes aufgetreten ist, meist mit normalem Gewicht.
Therapie
Typ-1-Diabetes
Patienten mit Typ-1-Diabetes müssen wegen des
absoluten Insulinmangels immer mit Insulin behandelt werden. Eine ausreichend gute Einstellung kann
hier nur mit dem sogenannten Basis-Bolus-Prinzip
(intensivierte Insulintherapie, Abb. 6.7) erreicht werden. Ausnahmen von diesem Therapieprinzip sind
nur unter ganz bestimmten Bedingungen oder bei
Kindern und Jugendlichen zu akzeptieren.
Beim Basis-Bolus-Prinzip wird ein Verzögerungsinsulin als Basismedikation benutzt. Jeweils vor den Mahlzeiten wird zusätzlich an deren Kohlenhydratgehalt
angepasst ein kurzwirksames Insulin injiziert. An Verzögerungsinsulinen werden heute im Wesentlichen
NPH-(Neutrale-Protamin-Hagedorn-)Insulin oder Insulinanaloga benutzt, an kurzwirksamen Insulinen
vor allem Normalinsuline oder ebenfalls noch schnel-
4 x BZ
a 7.00
19.00
7.00 Uhr
4 x BZ
b 7.00
19.00
7.00 Uhr
Abb. 6.7 Basis-Bolus-Prinzip. a Zweimalige Gabe von Verzögerungsinsulin, b einmalige Gabe von Verzögerungsinsulin
(BZ = Blutzuckermessung).
ler und kürzer wirksame Insulinanaloga. Alternativ
kann der Insulinbedarf auch über eine kontinuierliche
subkutane Infusion mittels Insulinpumpe verabreicht
werden, hierbei können auch die präprandialen Insulinboli über die Pumpe abgegeben werden.
Typ-2-Diabetes
Die Basis der Therapie des Typ-2-Diabetes ist die Umstellung von Ernährung und Lebensgewohnheiten
(vor allem ausreichende Bewegung, ca. 150 Minuten/Woche) mit dem Ziel, das Körpergewicht zu normalisieren, was zu einer Verbesserung der Blutzuckerwerte beiträgt. Viele Patienten können auf diese
Weise auch ihren Tabletten- bzw. Insulinbedarf deutlich reduzieren.
Ernährung und Lebensgewohnheiten Die Zusammensetzung der Nahrung sollte nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung ein
Übermaß an Fett (insbesondere gesättigte Fettsäuren)
vermeiden. Nach aktuellen Vorstellungen sollte der
Diabetespatient ca. 50 % komplexe Kohlenhydrate,
ca. 20 % Proteine und ca. 30 % Fette zu sich nehmen.
Beim übergewichtigen Typ-2-Diabetiker sollte zu Beginn der Therapie eine kalorienreduzierte Kost stehen. Diese Verhaltensweisen müssen in einem Kurs
eingeübt werden, um effektiv zu werden.
Das Ausmaß des Übergewichts wird durch den
sogenannten Body-Mass-Index (BMI) erfasst:
Körpergewicht [kg]
Körperlänge im Quadrat [m2 ]
Ein Patient mit einem BMI > 25 gilt als übergewichtig,
ein Patient mit einem BMI > 30 als adipös.
Die Kalorienmenge richtet sich nach Körperkonstitution und körperlicher Aktivität. Sowohl Diäten mit
sehr niedrigen Kalorienmengen (< 800 kcal/d), wie
auch moderate Diäten mit ca. 1500 kcal/d können –
je nach Motivation und Konstitution des Patienten –
sinnvoll sein.
Beim normgewichtigen Patienten mit Typ-2-Diabetes
ist eine Kalorienreduktion offensichtlich nicht erforderlich.
Bewegung ist vor allem für den Typ-2-Diabetiker
neben einer gesunden Ernährung eine gute Möglichkeit, aktiv etwas gegen die Erkrankung zu tun.
Muskelarbeit steigert den Energieverbrauch, bewirkt
eine insulinunabhängige Glukoseaufnahme in die
Muskulatur, verbessert zudem langfristig die Empfindlichkeit der Zellen für Insulin und führt so zu
einer Senkung des Blutzuckers.
Orale Antidiabetika Waren Lebensstilveränderungen unzureichend, kommen sowohl beim normgewichtigen wie auch beim übergewichtigen Typ-2-Diabetiker orale Antidiabetika zum Einsatz.
Hier gibt es unterschiedliche Substanzklassen, die je
nach Patient bevorzugt eingesetzt werden können.
aus: Baenkler u.a., KLB Innere Medizin (ISBN 9783131416728), © 2010 Georg Thieme Verlag KG
6
318 Störungen des Glukosestoffwechsels 6 Endokrinologie und Stoffwechsel
Dies sind die Biguanide, Thiazolidindione, Sulfonylharnstoffe, Glinide, Gliptine (Dipeptidyl-Peptidase4-[DPP4-]Hemmer) und α-Glukosidase-Hemmer.
Diese Präparate können einzeln den Blutzucker im
Mittel um 20–40 mg/dl senken und den HbA1c-Wert
um jeweils etwa 1 %. Sie wirken in einigen Kombinationen additiv.
MERKE
6
Ziel der Therapie ist die Absenkung des HbA1c auf
einen Wert < 6,5 %, wobei abhängig von der individuellen Sitaution auch ein höherer HbA1c akzeptabel
sein kann (geriatrische Patienten, HypoglykämieNeigung, Gewichtszunahme etc. ).
Biguanide: Das Biguanid Metformin hat sich besonders bei übergewichtigen Typ-2-Diabetikern als sehr
wirkungsvoll erwiesen. Es hemmt die hepatische Glukoneogenese und hat keinen direkten Effekt auf die
Insulinsekretion. Aus diesem Grund besteht bei alleiniger Gabe von Metformin kein Risiko der Hypoglykämie.
Beachtet werden müssen allerdings die Kontraindikationen (Niereninsuffizienz, schwere Leberschädigungen, schwere Herzinsuffizienz, akute Ischämie)
wegen der Gefahr des Auftretens von Laktatazidosen.
Vor Kontrastmittelgabe und geplanten Operationen
muss Metformin pausiert werden. Nebenwirkungen
sind insbesondere Meteorismus und Diarrhöen, weshalb die Einnahme einschleichend erfolgen sollte.
Praxistipp
Bei Personen mit gestörter Glukosetoleranz
und somit erhöhtem Diabetesrisiko konnte
ein präventiver Effekt von Metformin,
Thiazolidindionen und Acarbose nachgewiesen werden, wobei der Effekt gleich
oder schwächer war als der von Lebensstiländerungen.
Thiazolidindione: Sie werden auch Glitazone oder
Insulinsensitizer genannt, weil sie ebenfalls die
Insulinsensitivität verbessern. Ihre Wirkung setzt
langsam im Verlauf von 2–8 Wochen ein. Auch bei dieser Gruppe gibt es keinen direkten Effekt auf die Insulinsekretion, weshalb auch ihre alleinige Gabe nicht
mit einem Risiko der Hypoglykämie verbunden ist.
Als Nebenwirkungen sind insbesondere Gewichtszunahme und periphere Ödeme zu nennen, selten kann
es zu einer Anämie kommen. Die Kombination mit
Metformin oder Sulfonylharnstoffen ist additiv wirksam, allerdings ist die Gewichtszunahme mit Sulfonylharnstoffen häufig ausgeprägter als mit Metformin. Thiazolidindione sind bei bestehender Herzinsuffizienz kontraindiziert. Weiterhin kam es bei post-
menopausalen Frauen zu vermehrten Knochenfrakturen.
Sulfonylharnstoffe: Binden an einen spezifischen Rezeptor auf der β-Zelle des Inselorgans und steigern die
Schließung eines K-ATP-Kanals. Folge ist eine verstärkte Sekretion von Insulin. Dies erklärt zum
einen, dass diese Substanzen nur wirken können,
wenn die β-Zelle überhaupt noch in der Lage ist, Insulin zu sezernieren, und zum anderen, warum bei Gabe
von Sulfonylharnstoffen ein erhöhtes Hypoglykämierisiko besteht. Da die Wirkdauer der meisten Präparate recht lang ist (teilweise > 24 Stunden), kann es
insbesondere bei Intoxikationen zu schweren und
prolongierten Hypoglykämien kommen. Andererseits
setzt die Wirkung schnell ein, so dass der Blutzucker
rasch gesenkt werden kann. Bei weiterer Verschlechterung der Insulinsekretion kann die stimulierende
Wirkung im Verlauf nicht mehr ausreichend sein.
Glinide: Diese Gruppe ist relativ neu und wirkt auf
molekularer Ebene im Wesentlichen wie die Sulfonylharnstoffe. Sie beeinflussen den K-ATP-Kanal auf den
β-Zellen und erhöhen so die Freisetzung von Insulin.
Unterschiede bestehen vor allem in der Pharmakokinetik. Glinide wirken sehr schnell und haben auch
eine vergleichsweise kurze Halbwertszeit. Diese Charakteristika erlauben eine Einnahme direkt zu jeder
Mahlzeit, was eine bessere zeitliche Steuerung der Insulinsekretion ermöglicht. Ansonsten bestehen nach
derzeitigem Kenntnisstand die gleichen Risiken und
Nebenwirkungen wie bei den Sulfonylharnstoffen.
Gliptine: Gliptine hemmen die DDP4, wodurch der
Abbau von GLP-1 (glucagon-like peptide 1) und GIP
(gastric inhibitory polypeptide) gehemmt wird. Der
Anstieg von GLP-1 und GIP stimuliert dann die
Insulinsekretion.
GLP-1-Analoga: Exenatide und Liraglutide stimulieren die Insulinsekretion und möglicherweise auch
die Regeneration von β-Zellen. Sie werden in fester
Dosis s. c. injiziert. Der Stellenwert von Gliptinen
und GLP-1-Analoga könnte vor dem Einsatz von Insulin liegen.
α-Glukosidase-Hemmer: Miglitol, Voglibose und
Acarbose hemmen die α-Glukosidasen im Darm.
Dies führt zu einer verzögerten Aufspaltung von komplexen Kohlenhydraten und zu einem flacheren Blutzuckeranstieg. Die Effekte auf die Blutzuckersenkung
und den HbA1c sind gut belegt und die Substanz bewirkt keine Gewichtszunahme. Auch in der Prävention des Typ-2-Diabetes konnte bei Risikopersonen
ein positiver Effekt gezeigt werden. Nebenwirkungen
der Therapie sind vor allem initial Meteorismus und
bisweilen Durchfälle, weshalb auch hier die Therapie
einschleichend begonnen werden sollte.
Therapieformen Je nach Konstitution des Patienten
sollte neben der Lebensstiländerung eine Stufentherapie mit oralen Antidiabetika durchgeführt werden.
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6 Endokrinologie und Stoffwechsel Störungen des Glukosestoffwechsels 319
Therapie beim adipösen, insulinresistenten Typ2-Diabetiker: Es ist sinnvoll zunächst eine Therapie mit einer Substanz zu beginnen, die zu einer
Verbesserung der Insulinsensitivität führt, also
z. B. Metformin. Metformin ist Mittel der ersten
Wahl, da es im Vergleich zu vielen anderen Antidiabetika die Gewichtsabnahme erleichtert. Bei
nicht ausreichendem Therapieerfolg kann eine
Kombination mit Gliptinen, Sulfonylharnstoffen,
Gliniden oder auch Thiazolidindionen erfolgen.
Die Monotherapie mit Sulfonylharnstoffen ist weniger geeignet, weil darunter oft noch eine Gewichtszunahme auftritt. Sollte die Kombinationstherapie nicht zur Absenkung des Blutzuckers ausreichen, muss eine Therapie mit Insulin begonnen
werden.
Therapie beim normalgewichtigen Typ-2-Diabetiker: Beim eher schlanken Diabetespatienten, der
meist führend eine Insulinsekretionsstörung hat,
sollte zunächst eine Therapie mit insulinotropen
Substanzen begonnen werden, also z. B. Sulfonylharnstoffe oder Glinide. Bei deutlicher Insulinresistenz kann auch eine Verbesserung der Insulinwirkung sinnvoll sein. Bei fehlendem Therapierfolg muss auch hier eine Therapie mit Insulin begonnen werden.
Zusätzlich zur oralen Medikation kann ein basales,
lang wirkendes Insulin eingesetzt werden. Alternativ
sind auch präprandiale Gaben eines kurzwirksamen
Insulins möglich. Ist auch hierunter die Blutzuckereinstellung unbefriedigend, so sollte im weiteren Verlauf bei Patienten mit guter Compliance eine intensivierte Insulintherapie eingeleitet werden. Für ältere
Patienten kann die Durchführung dieser Therapieform mitunter schwierig sein, weshalb hier die
konventionelle Insulintherapie mit zweimal täglicher
Mischinsulininjektion sinnvoller sein kann. Mischinsuline bestehen aus einer fixen Kombination von
kurzwirksamem Insulin und Verzögerungsinsulin
(am gebräuchlichsten 25–30 % und 75–70 %).
Akute Komplikationen
MERKE
Neben den akuten Komplikationen des Diabetes
mellitus sind vor allem die Sekundärkomplikationen
bei chronisch erhöhtem Blutzucker von großer
sozialmedizinischer Bedeutung.
Kurzfristige Veränderungen des Blutzuckers können
zu akuten Beschwerden führen (Tab. 6.2). Auslöser hyperglykämischer Entgleisungen sind typischerweise
Infektionen, eine unzureichende Insulintherapie
oder die Erstmanifestation eines Diabetes mellitus.
Tabelle 6.2
Akute Symptome der Hyperglykämie
Durstgefühl
Übelkeit, Erbrechen
Sehstörungen
Polyurie
Bauchschmerzen,
akutes Abdomen
zerebrale Krampfanfälle
Nykturie
Kussmaul-Atmung
Somnolenz,
Verwirrtheit
allgemeine
Schwäche
Azetongeruch
Stupor, Koma
Ketoazidose
Eine diabetische Ketoazidose entsteht bei einem sehr
ausgeprägten Insulinmangel, der eine gesteigerte Lipolyse und Ketogenese bewirkt. Dies führt zu metabolischer Azidose und Elektrolytentgleisungen. Die Ketoazidose ist eine typische und schwere Komplikation
beim Diabetes mellitus Typ 1. Zur Kompensation der
metabolischen Azidose wird die Atemtätigkeit erhöht
(Kussmaul-Atmung).
Klinik Häufig sind Bauchschmerzen, Übelkeit oder
Erbrechen. Die Insulintherapie sollte bei Patienten
mit bekanntem Diabetes und Übelkeit nicht vollständig unterbrochen werden, da sich hierdurch erst eine
Ketoazidose entwickeln kann.
MERKE
Bei Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen eines
Patienten mit Diabetes immer an eine diabetische
Ketoazidose denken und Ketonkörper im Urin sowie
den Blut-pH-Wert kontrollieren.
Diagnostik Bei Ketoazidose Nachweis von Aceton
im Urin. Die Blutzucker-Spiegel liegen oft zwischen
400 und 800 mg/dl, sie können aber auch niedriger
sein.
Therapie Im Mittelpunkt der Therapie stehen die Insulingabe und die Flüssigkeits- und Elektrolytsubstitution. Patienten mit manifester Ketoazidose sollten
intensivmedizinisch versorgt werden. Die Insulingabe
(Altinsulin) erfolgt initial intravenös, ab einem Blutzucker von 200 mg/dl wird zusätzlich Glukoselösung
verabreicht. Eine Azidosekorrektur z. B. durch Bikarbonat ist ab einem pH von < 7,1 zu erwägen.
Praxistipp
Wichtig bei einer Ketoazidose ist die frühzeitig
Kaliumgabe, um das be- oder entstehende
Kaliumdefizit auszugleichen.
aus: Baenkler u.a., KLB Innere Medizin (ISBN 9783131416728), © 2010 Georg Thieme Verlag KG
6
320 Störungen des Glukosestoffwechsels 6 Endokrinologie und Stoffwechsel
Hyperosmolares Koma
6
Das hyperosmolare Koma findet sich meist bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2, die Blutzuckerwerte
sind sehr hoch (zum Teil > 1000 mg/dl). Konsekutiv
entstehen Dehydratation und Elektrolytverschiebungen. Das vorhandene Insulin hemmt Lipolyse und Ketogenese und verhindert so eine Ketoazidose (BlutpH-Wert normal). Komplikationen können zentralnervöse Symptome, aber auch Volumenmangelschock
oder Nierenversagen sein.
Klinik Polyurie, Polydipsie und ein allgemeines
Schwächegefühl stehen im Vordergrund. Im fortgeschrittenen Stadium entwickeln sich Bewusstseinsstörungen bis zum Koma.
Therapie Flüssigkeitssubstitution: durchschnittlich
werden 4–6 Liter innerhalb der ersten 24 h ersetzt;
Elektrolytsubstitution: frühzeitig Kaliumgabe. Insulin sollte initial intravenös verabreicht werden. Patienten mit hyperosmolarem Koma müssen intensivmedizinisch versorgt werden.
Hypoglykämie
Hypoglykämien können bei allen Patienten vorkommen, die mit insulinotropen Substanzen und Insulin
behandelt werden (DD Insulinom!, s. S. 353). Vor
allem bei Typ-1-Diabetikern ist es eine häufige Komplikation. Je besser die Blutzuckereinstellung ist,
umso höher ist das Risiko von Hypoglykämien.
Klinik Bei Blutzuckerwerten:
< 60 mg/dl: autonome Symptome, wie Schwitzen,
Zittern, Schwäche, Schwindel, Hunger, Unruhe
und Kältegefühl sowie Palpitationen und Tachykardie, bisweilen Apathie, Handlungsunfähigkeit
< 50 mg/dl: neuroglukopenische Symptome, wie
Verwirrung, Sprachstörungen, Benommenheit,
Kopfschmerzen, Sehstörungen oder Krampfanfälle
< 40 mg/dl: schwere neurologische Defizite mit
deliranten Zuständen und Koma.
Diese Grenzwerte können im Einzelfall höher oder
niedriger liegen.
Gerade Typ-1-Diabetiker nehmen vor dem Auftreten
von schweren neuroglukopenischen Komplikationen
keine Warnsignale mehr wahr. Auch die physiologische Gegenregulation einer Hypoglykämie (z. B.
durch Glukagon, Kortison etc.) kann verloren gehen
(„Hypoglycemia unawareness“), z. B. wenn häufige
Hypoglykämien nachts unbemerkt auftreten. Bei derartigen Störungen ist das Risiko für schwere Hypoglykämien deutlich erhöht. Durch Schulung kann die
Wahrnehmung verbessert werden.
Therapie Akut wird die Hypoglykämie mit der Zufuhr von Glukose therapiert. Beim ansprechbaren Patienten geschieht dies durch die orale Gabe von Traubenzucker (30–50 g), beim bewusstseinsgestörten Patienten wird Glukose intravenös verabreicht.
Alternativ: Glukagon-kit: Fertigspritze, 0,5–1 mg pulverisiertes Glukagon und Lösungsmittel zur intramuskulären Injektion durch Dritte, Wirkungseintritt
nach ca. 10–15 Minuten. Insbesondere bei Patienten
mit Sulfonylharnstoff-induzierten Hypoglykämien
muss das Risiko von prolongierten Hypoglykämien
(> 24 h) beachtet werden.
Chronische Komplikationen
Makrovaskuläre Komplikationen
Der Diabetes mellitus, und hier insbesondere der Diabetes mellitus Typ 2 im Rahmen des metabolischen
Syndroms, ist mit dem Auftreten von makrovaskulären Komplikationen assoziiert. Insbesondere kommt
es vermehrt zu Herzinfarkten, Schlaganfällen und
pAVK.
Grundsätzlich sollte bei jedem Diabetespatienten einmal pro Jahr ein Belastungs-EKG durchgeführt werden und der Gefäßstatus erhoben werden. Bei Auffälligkeiten muss entsprechend eine weitergehende
Diagnostik durchgeführt werden.
Für die Prognose entscheidend ist die Behandlung der
kardiovaskulären Risikofaktoren, insbesondere Rauchen, Blutdruck, Lipide und Blutzucker.
Mikrovaskuläre Komplikationen
MERKE
Jeder Diabetespatient muss im Hinblick auf die Klinik
der Hypoglykämie und mögliche Therapieoptionen,
insbesondere das Mitführen von Traubenzucker,
geschult werden.
Beim bewusstlosen Patienten muss differenzialdiagnostisch immer an eine Hypoglykämie gedacht
werden.
Unterscheidung von:
leichten Hypoglykämien: Patient spürt Symptome und kann diese erfolgreich behandeln und
schweren Hypoglykämien: Patient kann sie nicht
mehr selbst behandeln.
Die Schädigung der kleinen Gefäße ist eine typische
diabetische Komplikation und betrifft vor allem die
Augen, Nieren und Nerven.
Die Komplikationen entwickeln sich über Jahre und
sind direkt mit der Blutzucker- und Blutdruckeinstellung verknüpft. Sie können therapeutisch
durch normnahe Blutzuckerwerte und eine gute Blutdruckeinstellung verhindert oder zumindest vermindert werden.
Ca. 50 % der Patienten weisen bei Diagnosestellung
eines Diabetes mikrovaskuläre Komplikationen auf,
deshalb ist eine entsprechende Diagnostik zu diesem
Zeitpunkt einzuleiten. Im Weiteren sollten Verlaufsuntersuchungen einmal pro Jahr durchgeführt werden.
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6 Endokrinologie und Stoffwechsel Störungen des Glukosestoffwechsels 321
Retinopathie: Die diabetische Retinopathie zählt in Industrienationen zu den häufigsten Erblindungsursachen. Typischerweise ist die beginnende Retinopathie
symptomlos. Es werden zwei Formen unterschieden,
was insbesondere prognostisch bedeutsam ist:
nichtproliferative Retinopathie (NPDR, Abb. 6.8 b)
• milde NPDR: durch Mikroaneurysmen und Cotton-Wool-Exsudate charakterisiert
• moderate NPDR: einzelne intraretinale Blutungen sowie perlschnurartige Venenveränderungen
• schwere NPDR: zahlreiche Mikroaneurysmen,
intraretinale Blutungen in 4 Quadranten oder
perlschnurartige Venen in 2 Quadranten oder
sogenannte intraretinale mikrovaskuläre Anomalien in 1 Quadrant (4-2-1-Regel).
proliferativer diabetische Retinopathie (PDR)
• Papillenproliferationen, ausgeprägte Gefäßproliferationen und Glaskörpereinblutungen.
Erst im Stadium der schweren NPDR oder bei PDR
kommt es beispielsweise durch Glaskörpereinblutungen oder Netzhautablösungen zu Beschwerden.
Auch eine diabetische Makulopathie mit Makulaödem ist eine häufige Komplikation. Sie fällt dem Patienten vor allem durch einen zunehmenden Visusverlust auf und führt oft zur Erblindung.
a
b
Abb. 6.8 Funduskopie. a Normalbefund, b nichtproliferative
diabetische Retinopathie
Um diese Veränderungen zu erkennen, sollte einmal
pro Jahr eine Augenhintergrunduntersuchung (Funduskopie) durchgeführt werden. Neben der normnahen Einstellung des Blutzuckers und des Blutdrucks
sind spezielle ophthalmologische Verfahren wie die
retinale Laserkoagulation und Netzhautchirurgie gesicherte Therapien der diabetischen Retinopathie.
Nephropathie: s. S. 378
Neuropathie: Unter einer diabetischen Polyneuropathie (PNP) versteht man Störungen des peripheren
sensomotorischen und autonomen Nervensystems.
Die Häufigkeit einer PNP hängt direkt mit dem Lebensalter, der Diabetesdauer und der Blutzuckereinstellung zusammen. Formen der diabetischen Neuropathie:
periphere, symmetrische, distale Form: vorwiegend sensibel, zu etwa 10 % schmerzhaft
asymmetrische, proximale Form: oft Beckengürtel
und Oberschenkel betroffen
Hirnnerven und
autonome Neuropathie: parasympathisches und
sympathisches Nervensystem.
Klinik Die Patienten berichten über Taubheit, ein
Gefühl, dass Ameisen über ihre Haut laufen, brennende Füße (burning feet), ein vermindertes Vibrationsempfinden und/oder vermindertes Temperaturempfinden. Eine Beteiligung von motorischen Nerven
zeigt sich an den entsprechenden Ausfällen. Eine
autonome Neuropathie kann durch ein Völlegefühl
(Gastroparese) oder Herzrhythmusstörungen (z. B.
Herzrasen ohne körperliche Anstrengung, Verlust
der Herzfrequenzvariabilität: z. B. fehlender Herzfrequenzanstieg während Inspiration) auffällig werden.
(Postprandiale) Durchfälle, Blasenstörungen, Pupillenstörungen und Hypohidrose können ebenfalls vorkommen.
Diagnostik Die klinisch-neurologische Untersuchung steht an erster Stelle und sollte einmal pro
Jahr durchgeführt werden:
Sensibilität: Vibration (Stimmgabel), Temperatur
(kalt/warm) und Berührungssensibilität (Monofilament)
Reflexe und
Motorik.
Die Bestimmung der autonomen Neuropathie erfolgt
angepasst an die Beschwerden: Messung der Herzfrequenzvariabilität bei Ruhetachykardie oder eine
Kipptischuntersuchung bei orthostatischer Dysregulation, Manometrie bei Verdacht auf eine Gastroparese. Wichtig ist die Erfassung einer erektilen Dysfunktion, die bei Diabetespatienten häufig ist.
Differenzialdiagnose Es kommen bei einer PNP
zahlreiche Ursachen in Betracht, vor allem die Alkohol-induzierte PNP und rheumatische Erkrankungen.
Therapie Grundsatz der Therapie ist die optimale
Einstellung von Blutzucker und Blutdruck. Als Ver-
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6
322 Störungen des Glukosestoffwechsels 6 Endokrinologie und Stoffwechsel
6
such eines spezfischen Therapieschemas werden in
Deutschland derzeit vor allem Thiaminderivate und
alpha-Liponsäure genutzt. Bei neuropathischen
Schmerzen: selektive Serotonin-Reuptakehemmer
(SSRI), Gabapentin, Amytryptilin oder Opioide sowie
Capsaicin lokal. Die Gastroparese kann durch Prokinetika (Domperidon, Metoclopramid, Erythromycin)
positiv beeinflusst werden. Eine spezielle Therapie
der kardiovaskulären, autonomen Neuropathie ist
meist nicht erforderlich, ggf. können Kompressionsstrümpfe oder körperliches Training hilfreich sein. Zur
Therapie der erektilen Dysfunktion stehen selektive
Hemmer der Phosphodiesterase V zur Verfügung (Sildenafil, Vardenafil, Tadalfil). Hier müssen die Kontraindikationen beachtet werden, die bei Diabetespatienten häufig vorliegen (Nitrattherapie, schwere
Herz-Kreislauf-Erkrankungen).
Praxistipp
Die diabetische Neuropathie kann erhebliche
Beschwerden bei den Patienten verursachen.
Jeder Diabetespatient sollte einmal pro Jahr
klinisch-neurologisch sorgsam untersucht
werden. Zusätzlich zur Blutzuckersenkung
und Blutdruckeinstellung stehen z. T.
spezifische Therapiemaßnahmen zur
Symptombehandlung zur Verfügung
(z. B. Phosphodiesterase-Hemmer bei
erektiler Dysfunktion).
Diabetisches Fußsyndrom: Ungefähr 70 % aller Fußamputationen werden in Deutschland bei Patienten
mit Diabetes durchgeführt. Hauptrisikofaktoren sind
eine Neuropathie, eine pAVK und ungeeignetes
Schuhwerk. Zur Unterscheidung zwischen neuropathisch und ischämisch bedingtem Fußsyndrom siehe
Tab. 6.3.
Abb. 6.9
Diabetisches Fußsyndrom: neuropathische Ulzera
Diabetische Fußläsionen können nach verschiedenen
Klassifikationen eingeteilt werden, in Deutschland ist
die Wagner-Klassifikation verbreitet (Tab. 6.4).
Therapie Optimale Einstellung von Blutzucker und
Blutdruck. Spezifische Therapie je nach Stadium und
Ursache.
Neuropathisch bedingtes Fußsyndrom (Abb. 6.9):
Entlastung: entlastende Einlage, Entlastungsschuhe (angepasste Maßschuhe)
lokale Wundbehandlung und
Therapie einer Infektion.
Vaskulär bedingtes Fußsyndrom (Abb. 6.10):
Revaskularisierung und
lokale Therapie.
Zusätzlich müssen bei Vorliegen einer pAVK alle anderen Risikofaktoren therapiert werden (Rauchen,
Cholesterin!). Bei Knochenbeteiligungen und Nekrosen ggf. operative Intervention.
Tabelle 6.3
Unterschiede zwischen den Fußsyndromen
neuropathisches Fußsyndrom
ischämisches Fußsyndrom
Anamnese
Diabetes mellitus
Diabetes mellitus
Nikotinabusus
arterieller Hypertonus
Klinik
keine Claudicatio intermittens
Claudicatio intermittens
häufig schmerzlos
im Stadium III Ruheschmerz
schmerzlose Läsionen
Läsionen schmerzhaft
vermindertes Temperatur-, Vibrations- und
Berührungsempfinden
normales Temperatur-, Vibrations- und
Berührungsempfinden
Inspektion
rosige Haut, warme, trockene Füße
blasse Haut, kühle Füße
Fußpulse
tastbar
nicht tastbar
Lokalisation der Ulzera
druckbelastete Stellen (Abb. 6.9)
Akren (Abb. 6.10)
Achillessehnenreflex
schwach bis nicht auslösbar
normal
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6 Endokrinologie und Stoffwechsel Störungen des Lipidstoffwechsels 323
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Abb. 6.10
Diabetisches Fußsyndrom: vaskulär bedingt
Abb. 6.11
mittel
Diabetisches Fußsyndrom: diagnostische Hilfs-
Tabelle 6.4
Diabetische Fußläsionen: Wagner-Klassifikation
Grad
Läsion
0
keine Läsion, ggf. Fußdeformation
1
oberflächliches Ulkus
2
tiefes Ulkus bis zur Gelenkkapsel, Sehnen oder
Knochen
3
tiefes Ulkus mit Abszedierung, Osteomyelitis
oder Infektion der Gelenkkapsel
4
Teilnekrose im Bereich des Vorfußes oder der
Ferse
5
Nekrose des gesamten Fußes
MERKE
Konservative Maßnahmen können Amputationen
häufig verhindern, deshalb sollte in spezialisierten
Zentren behandelt werden.
Prophylaxe Diabetespatienten sollten die Füße einmal pro Jahr durch den Arzt inspizieren lassen
(Abb. 6.11), wenn Risikofaktoren vorliegen (z. B. Neuropathie), häufiger. Selbstinspektion einmal täglich,
Schulung in Fußpflege und Prävention von Fußverletzungen.
Diagnose: Es wird eine Ketoazidose diagnostiziert.
Prozedere: Unter Flüssigkeitssubstitution und einer
initial intravenösen Insulintherapie kommt es zu einer
deutlichen Verbesserung der Symptomatik, nach zwei
Tagen ist die Patientin beschwerdefrei. In nachfolgenden Untersuchungen sind C-Peptid und Insulin nicht
nachweisbar, GAD65 (Glutamat-Decarboxylase 65) ist
hochtitrig positiv, HbA1c 11,2 %. Damit insgesamt Diagnose einer Ketoazidose bei Neumanifestation eines
Typ-1-Diabetes-mellitus. Die Patientin wird auf ein intensiviertes Insulinschema eingestellt und kann das
Krankenhaus nach 10 Tagen beschwerdefrei verlassen.
Die weitere Diabetestherapie wird ambulant begleitet.
6.4 Störungen des Lipidstoffwechsels
Key Point
Fettstoffwechselstörungen sind eine wichtige
und relativ gut therapierbare Ursache der
Atherosklerose. Störungen des LDLCholesterinstoffwechsels treten weitgehend
getrennt von denen des HDL-Cholesterins und
der Triglyzeride auf, die oft im Rahmen des
metabolischen Syndroms oder bei Adipositas
verändert sind (HDL-Cholesterin erniedrigt,
Triglyzeride erhöht).
FALLBEISPIEL
Anamnese: 37-jährige Patientin, die aufgrund einer
akuten Verschlechterung des Allgemeinzustandes in
die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht wird.
Zwei Tage zuvor hatte die Patientin beim Abendessen
mit dem Ehemann Übelkeit und abdominelle Schmerzen bemerkt. Nachfolgend Erbrechen. Am folgenden
Tag wird die Patientin gastroskopiert, wobei sich ein
Normalbefund zeigt.
Laboruntersuchung: Hier zeigt sich im Labor ein Blutzucker von 173 mg/dl, dreifach positive Ketonkörper
im Urin sowie im kapillären Blut ein pH von 7,2.
Ätiologie und Pathogenese Die Lipoproteine im
Plasma bestehen aus Lipiden und Apolipoproteinen.
Nach ihrer Auftrennung im elektrischen Feld werden
unterschieden:
Chylomikronen: keine Wanderung
very low Density Lipoproteins (VLDL, prä-betaLipoproteine)
low Density Lipoproteins (LDL, beta-Lipoproteine)
high Density Lipoproteins (HDL, alpha-Lipoproteine).
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