Strukturwandel internationaler Beziehungen

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Jens Siegelberg
Klaus Schlichte Hrsg.
Strukturwandel
internationaler
Beziehungen
Zum Verhältnis von Staat und
internationalem System seit dem
Westfälischen Frieden
Jens Siegel berg . Klaus Schlichte (Hrsg.)
Strukturwandel
internationaler Beziehungen
Jens Siegelberg . Klaus Schlichte (Hrsg.)
Strukturwandel
internationaler
Beziehungen
Zum Verhältnis von Staat und
internationalem System seit dem
Westfälischen Frieden
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1. Auflage Oktober 2000
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Ursprünglich erschienen bei Westdeutscher Verlag GmbH, Wiesbaden, 2000
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Umschlaggestaltung: Horst Dieter Bürkle, Darmstadt
ISBN 978-3-531-13527-4
ISBN 978-3-663-11562-5 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-663-11562-5
Inhalt
Vorwort
9
Jens Siege/berg
Staat und internationales System - ein strukturgeschichtlicher Überblick
11
Grundlagen und Leitvorstellungen
58
EkkehartJ(rippendorJr
Die Erfindung der Außenpolitik
61
Heinz Duchhardt
Grundmuster der internationalen Beziehungen in der Frühen und
Späten Neuzeit
74
Peter Nitschke
Grundlagen des staatspolitischen Denkens der Neuzeit: Souveränität,
Territorialität und Staatsraison
86
Entwicklung und Differenzierungen
102
Ho/ger Th. Gräf
Funktionsweisen und Träger internationaler Politik in der Frühen Neuzeit
105
Udo Bermbach
Über bürgerliche Politikauffassungen
124
Dietrich Jung
Gewaltkonflikte und Modeme. Historisch-soziologische Methode und die
Problemstellungen der Internationalen Beziehungen
140
Bruno Schoch
Nationalismus - Überlegungen zur widersprüchlichen Erfolgsgeschichte
einer Idee
167
Gustav Schmidt
Nationalstaat, Weltmarkt und imperiale Expansion. Zum Verhältnis von
Politik und Ökonomie im 19. Jahrhundert
194
Hans-Hermann Hartwich
Vom absolutistischen Staat zum europäischen Mehrebenensystem.
Souveränität und Gewaltmonopol in Deutschland
217
Michae/ Brzoska
Staat und internationales System im kurzen 20. Jahrhundert
231
Erosion und Perspektiven
254
Klaus Schlichte
Staatsbildung und Staatszerfall in der "Dritten Welt"
260
Lothar Brock
Modernisierung und Entgrenzung. Zwei Perspektiven der Weltgesellschaft
281
Lars Brozus
Globale Konflikte im 21. Jahrhundert: Deutungen internationaler Politik
nach der Bipolarität
304
Rainer TetzlafJ
Staatenwelt und Demokratie. Zur Transformation der Demokratie
durch Globalisierung
323
Dirk Messner
Globalisierung und Global Governance - Entwicklungstrends
am Ende des 20. Jahrhunderts
350
Hermann Weber
Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Die Frage der Legalität der NATOLuftangriffe auf Jugoslawien unter dem Gewaltverbot der UN-Charta
378
Dieter Senghaas
"Konstruktiver Pazifismus" - eine Vision fiir das 21. Jahrhundert
417
Ulrich Albrecht
Klaus Jürgen Gantzel- eine wissenschaftlich-biographische Skizze
431
Autoren
437
Vorwort
Dieser Band ist aus einer Vortragsreihe hervorgegangen, die im Wintersemester
1998/99 im Rahmen des Allgemeinen Vorlesungswesens an der Universität Hamburg stattgefunden hat. Für diese Vortragsreihe gab es einen doppelten Anlaß: 1998
jährte sich zum 350ten Mal der Abschluß des Westfiilischen Friedens, der als Geburtsstunde des modemen Staatensystems, der zentralen Struktur der internationalen
Politik, galt. Die Genese, Wandlung und Erosion des Westfalischen Systems und des
Verhältnisses von Staat und internationalem System waren bzw. sind Gegenstand der
Vortragsreihe und dieses Bandes. Und ebenso wie die Vortragsreihe ist auch der
vorliegende Band eine Ehrung filr Klaus Jürgen Gantzel, der 1999 als Professor rur
Politikwissenschaft der Universität Hamburg emeritien wurde.
Doch dieser Band hat nur in Grenzen den Charakter einer Festschrift. Vielmehr
steht, ganz im Sinne des Geehrten, die inhaltliche Orientierung im Vordergrund. Mit
der ThemensteIlung verknüpft sich das Interesse der Herausgeber, die historische
Dimension des Gegenstandes der politikwissenschaftlichen Subdisziplin "Internationale Beziehungen" wieder stärker in das Bewußtsein des Faches zu rücken. So wurden über die Themen der Vortragsreihe hinaus zusätzliche Beiträge, auch von Geschichtswissenschaftlern und einem Völkerrechtler aufgenommen. Neben langjährigen Kollegen und Mitarbeitern von Klaus Jürgen Gantzel sind so in diesem Band
Wissenschaftler vertreten, die, ohne persönliche Beziehung zum Geehrten, allein aus
inhaltlichen Gründen mitwirken. Die Themen der Beiträge stellen dennoch nur eine
Auswahl dar, die sich aus den Forschungsgebieten der beteiligten Autoren, dem
Stand der Vorarbeiten und der Schwerpunktsetzung - der Ausbreitung und der Geschichte des von Europa ausgehenden Prozesses der Verstaatlichung der Welt und
der Beziehungen zwischen diesen Staaten als "internationales System" - ergeben hat.
Der Band ist in drei Teile gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit den Grundlagen und Leitvorstellungen des "Westfälischen Systems". Ein zweiter, größerer Teil
befaßt sich mit der Entwicklung und den Differenzierungen dieses Systems bis zum
Zweiten Weltkrieg behandelt. Der dritte Teil des Bandes stellt nicht nur die politischen Veränderungen heraus, die sich als Erosion des "Westfiilischen Systems" interpretieren lassen, sondern umfaßt auch Beiträge, die die jüngeren theoretischen und
begrifflichen Bemühungen darstellen, mit denen innerhalb des Faches auf diese Umbruchprozesse reagiert wird. Die Veränderungen des Verhältnisses von Staat und
internationalem System und die wechselseitigen Bezüge der Beiträge werden samt
ihren fachwissenschaftlichen Implikationen in kurzen Zwischenbetrachtungen der
Herausgeber resümiert. Ein strukturgeschichtlicher Überblick über das Thema leitet
diesen Band ein.
Unser Dank gebührt vor allem den Autoren dieses Bandes, die mit viel Geduld
und Engagement zum erfolgreichen Abschluß eines nicht einfachen Produktionsprozesses beigetragen haben.
Hamburg, im August 2000
Klaus Schlichte, Jens Siegelberg
Staat und internationales System - ein strukturgeschichtlicher
Überblick
Jens Siege/berg
Heute, unter den Bedingungen der Globalisierung, wird der Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und internationalen Entwicklungen überall deutlich, und die
Frage nach Rolle und Zukunft des Staates ist durch die sich· rasch ausweitenden
grenzüberschreitenden Verflechtungen und Handlungszusammenhänge in den Mittelpunkt öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses gerückt. Schon der Zerfall
der Sowjetunion, der das Ende der bipolaren Ordnung des internationalen Systems
nach sich zog, hat diesen Zusammenhang deutlich gemacht. Es gibt also keinen
Zweifel daran, daß die Entwicklung von Staat und internationalem System eng zusammenhängen. Wie sie aber zusammenhängen, ist vor allem für die Vergangenheit
kaum untersucht. Wer sich bislang mit dem internationalen System und seiner Geschichte beschäftigt hat, betrachtete den Staat meist als black-box und die internationalen Beziehungen als Resultat autonom handelnder staatlicher Akteure. Wer sich
dagegen mit dem Staat und seiner historischen Entstehung beschäftigte, hatte entweder den Einzelfall im Auge oder befaßte sich mit politischer Theorie- und Ideengeschichte und kümmert sich daher nicht weiter um internationale Entwicklungen. Das
Resultat dieser poIitikwissenschaftlichen Arbeitsteilung ist, daß der Zusammenhang
der Entwicklung von Staat und internationalem System bis heute ein Desiderat geblieben ist. Ähnliches gilt übrigens für die Geschichtswissenschaft.
Während aber die Geschichtswissenschaft dazu neigt, aus Angst vor realitätsfernen Verallgemeinerungen die großen Entwicklungslinien aus dem Auge zu verlieren,
begnügt sich die Politikwissenschaft in der Regel damit, Geschichte als Reservoir
von Ereignissen und Entwicklungen zum Abgleich mit der Gegenwart zu nutzen oder
sie mit unzulässigen Verallgemeinerungen zu überziehen. So verstellte die vorherrschende "realistische" Theorie internationaler Beziehungen der Wissenschaft jahrzehntelang den Blick auf die Entwicklungen und das Verhältnis von Staat und internationalem System. Heute wird deren machtpolitisch-etatistischer Reduktionismus
kaum noch akzeptiert. Denn die Annahme einer selbstgenügsamen Abgeschlossenheit der Staaten, denen es gelingt, die divergierenden gesellschaftlichen Interessen in
dem einen und einzigen "nationalen Interesse" zu bündeln, ist angesichts einer ganz
anderen Empirie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Und auch von der ,,Anarchie" der
Staatenwelt, die Robert Gilpin in unübertroffen amerikanischer Knappheit charakterisiert hat - "I1's a jungle out there" -, kann angesichts der internationalen Regelungsdichte nicht mehr gesprochen werden.
Ich werde in diesem Beitrag versuchen, die historische Entwicklung von Staat
und internationalem System sowohl in ihrer Eigenlogik als auch in ihrem Verhältnis
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Jens Siegel berg
zueinander darzustellen, ihre Verbindungslinien, Schnittstellen und wechselseitigen
Einflüsse herauszuarbeiten und dabei die Schwächen von Politik- und Geschichtswissenschaft zu venneiden. Der Aufsatz ist in drei Kapitel unterteilt:
Ausgehend von einer kurzen Charakterisierung der mittelalterlichen Gesellschaft, aus deren Zerfall Staat und internationales System gleichennaßen hervorgingen, wird zunächst die frühe Neuzeit, also die Zeit vom 16. bis Ende des 18. Jahrhunderts, behandelt. Diese Zeit war geistesgeschichtlich die Epoche des Rationalismus und der Aufklärung, politisch die Epoche des Absolutismus und ökonomisch die
Zeit der frühkapitalistischen Fonnierung der Marktgesellschaft. Es war die Konstitutionsphase des frühmodernen Staates und des europäischen Staatensystems, das bereits über Europa hinausgriff und eine erste, noch sehr unvollkommene Welteinheit
schuf.
Die zweite Entwicklungsphase von Staat und internationalem System reicht von
der Französischen Revolution bis über die erste Dekade des 20. Jahrhunderts. Es war
die Epoche der Industrialisierung und des Aufstiegs des Bürgertums, die den europäischen Nationalstaat als Resultat zweier ineinandergreifender Entwicklungen hervorbrachte: der Verstaatlichung der Gesellschaft "von oben" und der Vergesellschaftung des Staates "von unten". Der Nationalismus, der ein Motor dieser Prozesse
war, bildete auch den Antrieb fiir den Imperialismus, der zu einer neuen Aufteilung
der Welt und in Europa zum Weltkrieg fiihrte.
Die dritte Entwicklungsphase beginnt mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und
endet mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts. An ihrem Anfang standen gewaltige
Umbrüche, die eine neue, zukunftsweisende Ordnung von Staat und internationalem
System zunächst nicht zuließen. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entwikkelten sich die uns vertrauten Fonnen, in denen sich die Staatenwelt und die Weltordnung präsentieren und die nun, im Übergang zum 21. Jahrhundert, zur Disposition zu stehen scheinen. International begann mit der Dekolonisation der zweite große
Staatenbildungsprozeß, der die postkolonialen Staaten der Dritten Welt entstehen
ließ und zu einer umfassenden Verstaatlichung der Welt fiihrte. Überlagert wurde
das neue Weltstaatensystem seit dem Zweiten Weltkrieg durch den Ost-WestKonflikt, der auch zum allgemeinen Ordnungs- und Interpretationsrahmen fiir die
internationalen Beziehungen wurde. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung der sozialistischen Staatenwelt, die eine dritte Welle von Staatsgründungen
auslösten, zerbrach auch die bipolare Struktur des internationalen Systems. Unter
diesen Rahmenbedingungen kam es zu einer erheblichen Differenzierung von Staatlichkeit: In den entwickelten bürgerlichen Gesellschaften vollzog sich durch den
Aufstieg der Lohnabhängigen zum politischen Subjekt ein weiterer Demokratisierungsschub und v.a. in Westeuropa die Entwicklung des Staates zum Wohlfahrtsstaat. In den zentralisierten Gebietseinheiten der ehemaligen Kolonialmächte hatten
sich hybride Formen des Staates herausgebildet, die die gemeinsame Basis sehr unterschiedlicher Entwicklungswege der postkolonialen Staaten darstellten. Und
schließlich scheiterte am Ende dieser dritten Phase der 1917 begonnene Versuch, ein
sozialistisches Staats- und Entwicklungsmodell aufzubauen.
Staat und internationales System
13
1. Die Entstehung des früh modernen Staates und des europäischen
Staatensystems
Die mittelalterliche Welt, aus der heraus sich Staat und Staatensystem entwickeln
sollten, war zutiefst geprägt von der religiösen Sinngebung des Lebens; die Territorien und Souveränitätsverhältnisse waren zersplittert, und die Sippen, Gefolgschaften
und Verbände lagen in ununterbrochenem Streit, so daß Fehden, Gewalt und Krieg
allgegenwärtig waren. Die Menschen waren unlösbar verwachsen mit ihrem Land,
das ihre Lebensgrundlage, zugleich aber auch die Quelle von Macht und Reichtum
der Adelsherrschaft bildete. Das soziale Leben lag noch fest eingebettet in familiale,
dörfliche und regionale Beziehungen und war geprägt von persönlichen Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnissen. Über allem thronten Kaiser und Papst als übergeordnete, gleichwohl konkurrierende weltliche und geistliche Autoritäten, und die
Idee der Universalmonarchie und der Einheit des christlichen Abendlandes verband
alles zu einem einheitlichen mittelalterlichen Kosmos - auch wenn der Dualismus
von Kaiser und Papst und die autonome Macht feudaler und ständischer Interessen
die Zentralisierung der Herrschaft verhinderten, so daß die Universalmonarchie zwar
Leitidee, aber nie Realität mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Verhältnisse wurde.
Die Kraft der primären Bindungen des sozialen Lebens ließ eine Verselbständigung einzelner Lebensbereiche kaum zu, so daß politische und ökonomische Herrschaft noch unmittelbar miteinander verbunden waren und auch Staat und Gesellschaft noch nicht voneinander geschieden werden konnten. Die politische Ordnung
war also ein untrennbarer Teil des allgemeinen Lebens, und entsprechend fehlte auch
der Raum tUr eine vom allgemeinen Denken abhebbare politische Theorie (Miethke
1993 :48). Das politische Denken blieb, ebenso wie die Legitimation politischer
Herrschaft, in die Begrundungszusammenhänge der universalen christlichen Ordnung eingebunden.
Die politischen Gebilde der mittelalterlichen Reiche und Länder hatten noch
nichts gemein mit dem modemen Staat im Sinne einer verselbständigten Herrschaftseinheit, die mit eigenen Machtmitteln ausgestattet souverän über ein klar umgrenztes Territorium gebietet (Heller 1983: 132f.). Und selbst der spätmittelalterliche
Ständestaat war noch weit davon entfernt, eine politische Einheit darzustellen. Im
Gegenteil, alle Funktionen, die der modeme Staat rur sich beansprucht, waren damals auf verschiedene Träger verteilt: auf den grundbesitzenden Adel, das städtische
Bürgertum, die Geistlichkeit und andere ständische Organisationen und Gruppen. Sie
alle waren weitgehend autonome Herrschaftsträger eigenen Rechts und verhinderten
die innere Einheit des Staates durch ihre angestammten feudalen und ständischen
Rechte und Privilegien, die sie erfolgreich gegenüber dem Landesherm geltend
machten. Nach außen blieb die staatliche Macht durch die übergeordneten Instanzen
des Papst- und Kaisertums beschränkt, die beide die Stellung eines Universalherrschers gegenüber den Monarchien des christlichen Europa tUr sich beanspruchten.
Kurzum, die Zentralisierung von Herrschaft wurde im Innem wie von außen durch
widerstreitende Herrschaftsansprüche verhindert.
14
Jens Siegelberg
Und sowenig die politischen Verbände des Mittelalters schon als Staaten zu bezeichnen sind, sowenig lassen sich ihr Beziehungen zueinander als zwischenstaatliche oder internationale Beziehungen bezeichnen. Denn ihr Verhältnis entsprach nicht
dem gleichberechtiger Staaten zueinander. Es existierte vielmehr ein vertikales System der Ober- und Unterordnung der verschiedenen Herrschaftsträger, die nicht
über Gebietshoheiten, sondern über Einzelkompetenzen verfUgten, so daß "auf demselben Gebiet nebeneinander Befugnisse mehrerer Machhaber wirksam (waren)"
(Diner 1993: 62). Die zahlreichen großen, kleinen und kleinsten Herrschaftseinheiten, die sich im Zuge der Feudalisierung gebildet hatten, standen auch nur in lockeren vertraglichen Verbindungen (Heller 1983:144), und die lokalen Gewalten innerhalb der mittelalterlichen Reiche betrieben "in gewissen Grenzen selbständige Politik
innerhalb und außerhalb des Landes" (Brunner 1990: 4). Die Ordnung der verschiedenen Mächte und Herrschaftseinheiten war also eine abgestufte Hierarchie, eine fest
gefUgte Rangordnung, in der die Monarchen, Fürsten und anderen Herrschaftsträger
je nach Status und Würde eine vorgegebene Position innehatten - ein System gleichberechtigter Beziehungen konnte innerhalb dieser Ordnung weder praktiziert noch
gedacht werden.
Der Durchbruch zu moderner Staatlichkeit, der sich aus dieser Gesamtkonstellation heraus seit dem Spätmittelalter vollzog, war denn auch kein plötzliches Ereignis,
sondern ein komplexer und diskontinuierlich verlaufender Prozeß langfristiger Veränderungen, der in einigen Fällen bis in das späte 18. Jahrhundert andauerte. Im
Deutschen Reich etwa wurden die mittelalterlichen Zustände noch bis zu seinem Ende 1806 mitgeschleppt (Schmitt 1993: 47). Und wenn es überhaupt erlaubt ist, den
Beginn dieser Entwicklung zu verorten, so können die italienischen Stadtrepubliken
der Renaissance wie Venedig, Florenz oder Mailand als Geburtsstätten frühmoderner
Staatlichkeit gelten. Hier hatten sich im Übergang zur Neuzeit die bewegenden
Kräfte der Moderne zuerst formiert: Renaissance und Humanismus leiteten einen
Gesellschafts- und Kulturwandel ein, der mit der Loslösung aus der mittelalterlichen
Eingebundenheit in die kirchliche und feudale Ordnung einherging und in dem alles
Weltliche zunehmend als sachlicher und naturgesetzlicher Zusammenhang gesehen
wurde. Durch den aufblühenden Handel und die beginnende Formierung der Marktgesellschaft hatten überdies auch nüchterne Interessenabwägung, kalkulierende Planung und rechenhafte WirtschaftsfUhrung Einzug in das Denken und Handeln gefunden und standen nun Pate fUr eine rational kalkulierende Interessen- und Machtpolitik der sich konstituierenden Staaten.
Damit waren auch die Voraussetzungen gegeben fUr eine Verselbständigung des
politischen Denkens. Und es war der Florentiner Niccolo Machiavelli (1469-1527),
der heute als einer der ersten Theoretiker der Staatsraison und des europäischen
Staatensystems gilt, der diesen Entwicklungen in seinen politischen Schriften Ausdruck verlieh. Vor dem Hintergrund des Kampfes um die Vorherrschaft in Italien
zwischen Frankreich und Spanien, der Italien aus einem System unabhängiger und
um Gleichgewicht bemühter Teilstaaten in ein von Fremdherrschaft gezeichnetes
Land verwandelte, sah er die zwischenstaatlichen Beziehungen als einen machtpoli-
Staat und internationales System
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tisch ausgetragenen Interessenkonflikt, dem sich die Technik der Politik anzupassen
habe. Zur Wahrung der zu seiner Selbsterhaltung notwendigen Macht müsse sich der
Staat von Recht und Moral freimachen und unabhängig von Religion und Ethik handeln können. Denn, so wird Machiavelli von Münkler paraphrasiert, "nicht der Verstoß gegen die Gebote Gottes, sondern der gegen die Gesetze der Politik habe Italien
zugrunde gerichtet" (1985: 35). Alles müsse sich daher dem politischen Ziel der
"Erhaltung des Staates um jeden Preis und mit allen Mitteln" unterordnen (ebd. 36).
Der "Realismus" Machiavellis blieb im politischen Denken nicht unwidersprochen. Die Emanzipation des Staates von der Religion und die Idee der Staatsraison
aber standen von nun an auf der Agenda der politischen Ideen, und die ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen, die in Italien zum Durchbruch gekommen waren und den Übergang zur Modeme markieren, griffen nun rasch über
auf die Länder West- und Mitteleuropas. An diesen ineinandergreifenden Entwicklungen zerbrach schließlich das einheitliche mittelalterlich-religiöse Weltbild, und
die Reformation löste die kirchliche Einheit des Abendlandes auf. "Inhalt und Grenzen der religiös-geistigen, politisch-sozialen und sittlich-moralischen Ordnung wurden neu bestimmt" (van Dülmen 1987a: 4). Vernunft und Rationalismus begannen,
die Dominanz eines im christlichen Glauben verwurzelten Denkens und Handelns
innerhalb einer durch Offenbarung erfaßten Welt aufzulösen und leiteten die Trennung von geistlicher und weltlicher Ordnung ein, die nach den konfessionellen Bürgerkriegen im Absolutismus zur Unterordnung der Moral unter die Politik (KoselIeck 1973: 37 u. 130) und im modemen Staat schließlich zur Trennung von Staat und
Kirche führen sollte.
Diese Auflösung der Glaubens- und Kulturgemeinschaft des Mittelalters war begleitet von der Ausschaltung und Entmachtung der feudalen und ständischen Gewalten auf der einen und der Zentralisierung herrschaftlicher Macht auf der anderen
Seite. Max Weber hat diesen Prozeß moderner Staatenbildung als politische Enteignung physischer Gewalt und ihre Monopolisierung durch den politischen Verband
bezeichnet (vgl. Weber 1988). Hintergrund und Triebkraft rur diese Entwicklung
waren neben den genannten zeitgeschichtlichen Veränderungen die Religions- und
Bürgerkriege, die im Gefolge von Reformation und Gegenreformation stattfanden
und schließlich in den Dreißigjährigen Krieg mündeten, und die nahezu den gesamten europäischen Kontinent verwüsteten. Wie stark diese kriegerische Zerstörung der
gesellschaftlichen Ordnung zur Triebfeder rur die Veränderung der politischen und
sozialen Zustände wurde, zeigen die Arbeiten der beiden wohl bedeutendsten Staatsphilosophenjener Zeit, Jean Bodin (1529-1596), und Thomas Hobbes (1588-1679).
Für sie wurden die konfessionellen Bürgerkriege in England und auf dem Kontinent
zum Erfahrungshintergrund und zum Antrieb rur die theoretische Begründung und
Legitimation absolutistischer Staatsgewalt. Bodin lieferte eine streng rationale Begründung einer einheitlichen und unteilbaren staatlichen Souveränität, die vom Fürsten ausgeübt wird. "Durch ihn gewinnt die Idee des modemen Staates ein erstes systematisches Fundament" (Bermbach 1985:134). Ein halbes Jahrhundert später entwickelte Hobbes in seinem Hauptwerk "Leviathan" eine "Theorie der Legitimation
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Jens Siegel berg
absoluter Staatsgewalt" (Schwan 1993: 187), die in der Möglichkeit der vertraglichen Überwindung des Naturzustandes des Kampfes aller gegen alle begründet liegt.
Eine Beendigung der Glaubenskriege schien beiden ohne die absolute Verftlgungsgewalt eines mit allen erforderlichen Machtmitteln ausgestatteten Souveräns nicht
denkbar. Um die gesellschaftliche Ordnung und den Frieden dauerhaft zu garantieren, mußte der Souverän alle Macht, also Regierung, Gesetzgebung, Rechtsprechung, Militär usw., auf sich vereinen, und er mußte unabhängig von den gesellschaftlichen Gruppen handeln können.
Historisch war dieser Prozeß der Ausschaltung der feudalen Gewalten allerdings
kein Akt der Vernunft, sondern ein langwieriger und blutiger Machtkampf um das
staatliche Gewaltmonopol. In Anlehnung an Reinhardt Koselleck (1973: 20) läßt
sich sagen, daß die Aussicht auf eine Beendigung der Glaubenskämpfe durch die
Verwandlung der religiösen Alternative zwischen Gut und Böse in die politische
Alternative zwischen Frieden und Krieg zum Sieg des Fürstenstaates gefiihrt hat.
"Erst als das konfessionelle Prinzip diskreditiert war, konnte sich das Fürsten- und
Staats interesse selbstbewußt als rein säkulares Prinzip und oberste Maxime internationaler Politik artikulieren" (Schilling 1991: 23). Damit war ein entscheidender
Schritt getan zur Herausbildung einer gesonderten und übergeordneten Sphäre des
Politischen, deren Legitimation darin bestand, durch die Monopolisierung von Gewalt die Gesellschaft zu befrieden.
Mit dem Kampf um die Monopolisierung herrschaftlicher Gewalt im Innern gewann auch der außenpolitische Aspekt der Souveränität zunehmend an Bedeutung.
Daß die religiösen Bürgerkriege kraft unumschränkter Souveränität der Herrscher im
absolutistischen Staat zu Ruhe kamen und sich in Abgrenzung zu anderen Staaten ein
politischer Innenraum zu etablieren begann, "bewirkte nach außen die Entfaltung einer zwischenstaatlichen, überindividuellen Verbindlichkeit" (Koselleck 1973: 33).
Die Staaten wurden zu unabhängig voneinander existierenden Rechtssubjekten, die
nun ungeachtet ihrer inneren Verfassung oder Religion auf der Basis der Gleichberechtigung Verträge und Abkommen schließen konnten. Durch die innere Konsolidierung wurden auch die Kriege gleichsam nach außen abgelenkt, an die Stelle der
Bürgerkriege traten Kriege in zwischenstaatlicher Form (vgl. Schmitt 1997: 112ff.).
In den "Kabinettskriegen" des Absolutismus zeigte sich diese Tendenz zu reinen
Staatenkriegen und zur Bürokratisierung und Professionalisierung des Krieges, die
nun aber auch die Möglichkeit zu seiner völkerrechtlichen Hegung bot. Der Hobbessche Naturzustand des bellum omnium contra omnes war damit gewissermaßen aus
einem zwischenmenschlichen zu einem zwischenstaatlichen Verhältnis geworden,
das völkerrechtlichen Regelungen prinzipiell offenstand.
Mit dem Westfälischen Frieden von 1648, der den ersten Versuch einer gesamteuropäischen Friedensordnung darstellt, endete die lange Phase konfessionell aufgeladener Kriege, die den gesamten Kontinent erfaßt hatten. In diesen Kriegen war es
allerdings keineswegs nur um religiöse Konflikte gegangen, sondern v.a. auch um
ökonomisch-soziale und machtpolitische Auseinandersetzungen zwischen Ständegesellschaft und absoluter Monarchie, die sich mit unterschiedlichen Konflikten der eu-
Staat und internationales System
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ropäischen Mächte - wie etwa dem habsburgisch-französichen Dauerkonflikt um die
Vorherrschaft in Europa - verschränkten (van Dülmen 1982: 399ff.) . Der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Friede fuhrten zwar zu einer territorialen Neuordnung und halfen damit, ein neues europäisches Staatensystem zu begründen, aber
der Friede stellte "kein revolutionäres Werk dar, das die sozial-politische Struktur
Europas grundlegend geändert hätte, er war im Gegenteil ein Element der Neuordnung aristokratischer Herrschaft" (van Dülmen 1982: 411).
Der Sieg des Fürstenstaates korrespondierte nicht nur mit dem Entstehungsprozeß der Souveränität als zentrales Merkmal moderner Staatlichkeit; derselbe Prozeß
unterwarf die mittelalterlichen Personenverbände zugleich dem Territorialprinzip.
Das Land, das Territorium wurde zu einem Herrschaftsraum, der alle Gebietsbewohner gleichermaßen erfaßte und sie zu Untertanen des Landesherm machte. Die
Überwindung der angestammten Rechte und Privilegien der Stände und Gefolgschaften und deren Nivellierung zu Untertanen bildete auch die historische Voraussetzung fur die allmähliche Konstituierung des Staates als Rechtseinheit und fur die
spätere Verwandlung der Untertanen in formal gleichgestellte Staatsbürger. Dieser
territorial definierte souveräne Staat trat also im Laufe der frühen Neuzeit an die
Stelle der hierarchisch-feudalen Gliederung der mittelalterlichen Gesellschaften.
In bezug auf das internationale System fuhrten die Durchsetzung des Souveränitätsprinzips und die Konstituierung des Staates als Territorialstaat zu einer neuen
Qualität der zwischenstaatlichen Beziehungen und markierte den Durchbruch zur
Formierung des europäischen Staatensystems. Denn die Durchsetzung souveräner
Staatsgewalt umfaßt von vornherein zwei Aspekte: nämlich die höchste und letztinstanzliche Entscheidungsgewalt im Innern und die Handlungsfähigkeit nach außen.
Nach außen aber war die Handlungsfähigkeit jedes einzelnen Staates begrenzt durch
die konkurrierenden Herrschaftsansprüche anderer Staaten, was sie letztlich zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Souveränitätsrechte zwang. Als Mitglied der Staatengemeinschaft, die sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu formieren begann und
jetzt im 17. Jahrhundert immer deutlicher Gestalt annahm, galt aber nur, wer im Innern über die Souveränität verfugte, also keinem Höheren unterworfen war. Nur wer
im Besitz der Souveränität war, wurde als gleichrangiges Mitglied der Staatengemeinschaft anerkannt - und zwar unabhängig von seiner realen Macht oder Größe,
von Konfession, Staatsform oder Verfassung (Malettke 1996: 30). Diese prinzipielle
Gleichberechtigung der Staaten auf der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung
ihrer Souveränität bedeutete den entscheidenden Durchbruch zur europäischen
Staatenordnung, die zur Grundlage und zum Modell fur das internationale System
wurde. Auch das Territorialprinzip fand seine Entsprechung im internationalen System: Die räumliche Aufteilung der Welt - wie sie zuerst von Spanien und Portugal
mit dem Vertrag von Tordesillas 1494 beansprucht und später durch die abgegrenzten Herrschaftsgebiete und Interessenssphären der Kolonialmächte faktisch vollzogen wurde - gehörte zum ursprünglichen Gliederungsprinzip des internationalen Systems.
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Jens Siegelberg
Man kann also sagen, daß Souveränität und Territorialität gleichermaßen konstitutiv waren für die Entstehung des Staates wie auch des Staatensystems. Die hierarchisch-feudale Ordnung des Mittelalters wurde erst durch die Monopolisierung der
Herrschaftsbefugnisse in ein System gleichberechtigt nebeneinander stehender, souveräner Territorialstaaten verwandelt. Mit der wechselseitigen Respektierung ihrer
Souveränität und der räumlichen Abgrenzung der Herrschaftsgebiete gegeneinander
verband sich zugleich das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen Staaten. Dabei spielte es für die gegenseitige Anerkennung als
Mitglied des Staatensystems keine Rolle, wie die staatliche Herrschaft erworben oder
ausgeübt wurde - was zählte, war allein der Besitz der Souveränität. Während aber
die Souveränität im Innern immer umstritten blieb und sich die Herrschaftsformen
durch die gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikte ständig veränderten, hat
sich das Prinzip der Nichteinmischung in der internationalen Politik bis heute erhalten. Mit Blick auf das internationale System kann also festgehalten werden, daß sich
die bis heute gültigen völkerrechtlichen Grundprinzipien der Souveränität, der territorialen Integrität und der Nichteinmischung bereits im Laufe der frühen Neuzeit zu
Grundlagen des zwischenstaatlichen Verkehrs entwickelten.'
In den internationalen Beziehungen dieser Zeit bildeten sich noch weitere
Strukturen heraus, die bis in unser Jahrhundert hinein nachwirken: nämlich das "System des Gleichgewichts" als Prinzip der Machtverteilung zwischen den Staaten und
das "System der Pentarchie", also der Vorherrschaft von fünf Staaten, die die Geschicke Europas und der Welt nachhaltig bestimmt haben. In der hier gebotenen
Verkürzung kann man sagen, daß das Gleichgewichtssystem auf der internationalen
Ebene die notwendige Ergänzung zur Herausbildung staatlicher Souveränität darstellte. Denn mit dem Zerfall der mittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Vorstellung
von einem übergeordneten Universalreich wurde ein neues Prinzip der Machtverteilung zwischen den entstehenden Staaten notwendig. Vorbild waren auch hier
wieder die italienischen Stadtrepubliken der Renaissance, die schon im 15. Jahrhundert ein frühes Modell des Mächtegleichgewichts praktiziert hatten. Von hier aus
fand der Begriff Eingang in die politisch-historische Sprache des 16. Jahrhunderts
(Fenske 1994: 961). Und so wurde die alte Vision vom christlichen Universalreich
zunehmend verdrängt durch säkulare Ordungsvorstellungen und rationale Interessenabwägungen der Staaten, die durch das Bild von den ausgeglichenen Waagschalen
symbolisiert wurden und sich mit der Vorstellung vom Gleichgewicht der Mächte
verbanden.
Zwei Ziele standen dabei im Vordergrund: Zum einen sollte das Gleichgewicht
den Frieden zwischen den Staaten sicherstellen, so wie die Souveränität den Frieden
im Innern gewährleisten sollte. Zum anderen zielte die Idee des Gleichgewichts auf
die gegenseitige Beschränkung der Mächte. Es ging darum, den gerade entstehenden
Pluralismus der europäischen Staatenwelt gegen die drohende Übermacht einzelner
Hinsichtlich der Entwicklung des Völkerrechtsverkehrs mit der außereuropäischen Welt und der
Regelungen zwischen den europäischen Kolonialmächten in bezug auf Übersee ergibt sich ein differenzierteres Bild: vgl. hierzu Jörg Fisch (1984) "Die europäische Expansion und das Völkerrecht".
Staat und internationales System
19
Staaten zu sichern. Diese Vorkehrungen gegen die einseitige Vorherrschaft einer
Macht hatten durchaus einen realen Hintergrund: Sie resultierten aus der Erfahrung
hegemonialer Bestrebungen zunächst v.a. der Habsburger und später Frankreichs,
die nun durch eine flexible Bündnispolitik zwischen den Staaten aufgewogen werden
konnten.
Das Ziel der Kriegsverhinderung aber konnte durch das Prinzip des Gleichgewichts letztlich nicht erreicht werden. Die Entstehung des Staates wie auch des
Staatensystems blieb ein gewaltsamer Prozeß. Und die konkrete Gestalt der europäischen Staatenordnung und des internationalen Systems wurde auch weiterhin durch
unzählige Kriege immer wieder umgeformt. Die großen Vereinbarungen wie der
Westllilische Friede 1648 oder der Wiener Kongreß 1815 konnten die Dynamik der
gewaltsamen Veränderungen zwar zeitweilig abschwächen oder stillstelIen, aber
nicht grundsätzlich unterbinden. Es mag daher sein, daß die Gleichgewichtspolitik
manchen Krieg verhindern half; dafiir aber war es nun möglich, im Namen des
Gleichgewichts Kriege zu fUhren. Wie immer die Bilanz letztlich aussehen würde,
eindeutig wäre sie nicht. Sicher ist dagegen, daß die Friedenskongresse seit der Jahrhundertmitte, also der Westtalische Frieden und eine Reihe nachfolgender Friedensvereinbarungen, dazu beitrugen, das Prinzip des Mächtegleichgewichts als außenpolitische Leitvorstellung zu stärken und zur Grundlage der europäischen Staatenpolitik zu machen (vgl. Scheuner 1964). Die Vorstellung vom Gleichgewicht der Staaten
"galt dem 17., vornehmlich aber dem 18. und frühen 19. Jahrhundert als wichtiger,
wenn nicht zentraler Leitbegriffaußenpolitischen Handeins" (Fenske 1994: 959), der
mit dem Frieden von Utrecht 1713, der den Spanischen Erbfolgekrieg beendete,
auch als völkerrechtliches Prinzip Eingang in das internationale Vertragswesen fand.
Später wurde das Gleichgewicht von Friedrich Gentz sogar als "Verfassung der europäischen Staaten" (zit. nach Münkler 1985a: 310) bezeichnet. Zudem stärkte die
Politik des Gleichgewichts die Diplomatie als Instrument der Außenpolitik, so daß
diplomatische Vertretungen in den europäischen Hauptstädten zu festen Einrichtungen wurden (vgl. Duchhardt 1997: 19-40).
Unabhängig vom Gleichgewicht und der formalen Gleichheit aber wurde die
reale Machtposition der einzelnen Staaten zunehmend durch ihre politische, militärische und wirtschaftliche Potenz bestimmt. Dadurch veränderte sich auch das Kräfteverhältnis zwischen den Staaten. So wurde das habsburgische Spanien als Hegemonialmacht des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts durch die wachsende Opposition Frankreichs, die Unabhängigkeit der Niederlande und den Aufstieg
Englands aus dem Kreis der europäischen Großmächte verdrängt. Auch Schweden
verlor seine vormals dominierende Stellung im Ostseeraum an Rußland. Und
schließlich konnte auch Preußen zu einer Großmacht aufsteigen, so daß zu Beginn
des 18. Jahrhunderts fUnf Staaten den Rang dominierender Mächte innehatten. Die
bereits etablierten Großmächte Frankreich, Großbritannien und Österreich und die
Aufsteiger Rußland und Preußen bildeten die Staaten der sogenannten (vgl. ebd. 95188). Damit hatte sich das europäische Staatensystem seit der Zeit des habsburgischen Universalismus über einen vom Gegensatz zwischen Spanien und Frankreich
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Jens Siegelberg
geprägten Dualismus schließlich seit dem frühen 17. Jahrhundert in das multipolare
Mächtesystem der Pentarchie verwandelt (vgl. Schilling 1991; Duchhardt 1996).
Diese tunf europäischen Großmächte sollten ihre dominierende Rolle bis zum Ersten
Weltkrieg behalten.
Die Qualifikation als Pentarchiestaat lag sowohl in der militärischen und ökonomischen Potenz als auch in einer regionalen Ordnungs funkt ion begründet, die eng
mit dem Entstehen nationaler Wirtschaftsräume und der geographischen Geschlossenheit als Leitgedanke der Epoche zusammenhing: ,,( ... ) überall war der kompakte,
durch keine Enklaven oder Binnengrenzen behinderte politische Raum das Ziel des
politischen Handeins" (Durchhardt 1997: 409). Veränderungen innerhalb dieses
Mächtesystems galten nur dann als legitim, wenn sie mit den Vorstellungen von der
"balance of power" in Einklang standen. Dieser Konsens änderte natürlich nichts
daran, daß die Staaten auch weiterhin versuchten, dem Gleichgewichtsprinzip ihre
eigene Interpretation aufzuzwingen, was England in seiner Rolle als Wächter des
Gleichgewichts auf dem Kontinent auch in zunehmendem Maße gelang: Infolge der
industriellen Revolution sollte England schließlich auch zur unumstrittenen Hegemonialmacht des 19. Jahrhunderts aufsteigen. Das generelle Spannungsverhältnis
zwischen Hegemoniestreben und Gleichgewicht blieb bis in unser Jahrhundert ein
Grundproblem nicht nur der europäischen Staatengeschichte (vgl. Dehio 1997).
Faßt man nun all diese internationalen Aspekte zusammen, kann man sagen, daß
sich die Strukturen, Mechanismen und Instrumente der europäischen Staatenbeziehungen, die sich in der frühen Neuzeit herausbildeten, als äußerst dauerhafte und lebensfahige Muster internationaler Politik und Beziehungen erwiesen haben. Im Innern der Staaten dagegen war die Entwicklung aufgrund der ökonomischen und sozialen Transformationsprozesse permanenten Veränderungen unterworfen. Und so
war der Sieg des Fürstenstaates in der Epoche des Absolutismus auch nur der erste
Schritt auf dem Weg zu moderner Staatlichkeit.
Wie sich in dieser Epoche die Entwicklung frühmoderner Staatsgewalt in den
verschiedenen Ländern Europas tatsächlich vollzog, kann hier nicht im einzelnen
dargestellt werden. Sie brachte je nach politischer Konstellation, ökonomischem
Entwicklungsstand und sozialen Strukturen ganz unterschiedliche Formen von Staatlichkeit hervor. Das absolutistische Frankreich und das libertäre System in England
aber repräsentierten im Übergang zur Neuzeit die langfristig lebenstahigen Alternativen staatlicher Formation. 2 In England entstand schon früh ein parlamentarisch geprägtes politisches System. In den meisten Ländern Europas dagegen war die politische Einheit das Werk des Absolutismus (Schmitt 1993: 47). Der Absolutismus
brachte überall eine starke Ausdehnung der Staatstätigkeit mit sich. Im Innern wurden zentrale Verwaltungsstrukturen eingetuhrt, das zersplitterte Rechtssystem wurde
vereinheitlicht, ein stehendes Heer geschaffen und das Finanz- und Steuersystem
2
Einen kurzen Überblick Ober die frUhneuzeitlichen Herrschaftssysteme und den frUhmodernen Staat
bietet van DOlmen (1982: 167-192 u. 321-361). Ausftlhrlicher hierzu: Hagen Schi uze (1995): "Staat
und Nation in der europäischen Geschichte". Eine äußerst detaillierte vergleichende historische
Untersuchung der Entwicklung bürgerlicher Staatsgewalt in England und Frankreich hat Heide Gerstenberger (1990) in ihrer umfangreichen Studie "Die subjektlose Gewalt" vorgelegt.
Staat und internationales System
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ausgebaut. Parallel dazu wurden die häufig noch verstreut liegenden Herrschaftsgebiete arrondiert und der Staat als territoriale Einheit verwirklicht.
Diesen Entwicklungen diente auch der Merkantilismus, der trotz einiger Unterschiede als "gemeinsame Finanz-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der europäischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts" (ZechlReichelt 1985: 561) angesehen
werden kann. Es war der planmäßige Versuch, einen einheitlichen Wirtschaftsraum
zu schaffen, der eine Vorstufe zu den nationalen Märkten und Volkswirtschaften des
19. Jahrhunderts bildete. "Im Kern ist der Merkantilismus eine Theorie der kapitalistischen Entwicklung innerhalb einer Nation unter der Bedingung weltwirtschaftlicher Verflechtungen und Abhängigkeiten" (ebd.). Binnen- und Außenhandel, Infrastruktur und Gewerbe wurden systematisch gefördert und ebenso systematisch besteuert, und die adelige Guts- und Hauswirtschaft des Mittelalters wurde abgelöst
durch die Ökonomie des ganzen Landes, die nun zum Gegenstand staatlicher Planung wurde. Zu den langfristigen Folgen dieser ökonomischen Absicherung des absolutistischen Staates gehörten wachsender Protektionismus und staatlicher Dirigismus, die die sozialen und produktiven Kräfte des aufkommenden Kapitalismus, das
Bürgertum und die Industrie, zunehmend behindern sollten (Himmelmann 1995:
317). Seinen theoretischen Ausdruck fand dieser ökonomisch-soziale Wandlungsprozeß hin zu den Nationalökonomien des 19. Jahrhunderts in Adam Smith Epochenwerk "Der Wohlstand der Nationen" von 1776. Für ihn sollte nicht mehr der
Staat, sondern die "unsichtbare Hand" des Marktes den Wohlstand aller und den
Reichtum des Landes erhöhen.
Die im Zuge des Absolutismus neu entstehenden staatlichen Institutionen dienten zugleich der Integration der entmachteten feudalen und ständischen Gruppen.
Auch der pompöse Hofstaat mit seinem Prunk und Zeremoniell, den wir heute mit
absolutistischer Herrschaft verbinden, war nicht nur Zeichen dekadenter Verschwendungssucht, sondern hatte durchaus soziale und machtpolitische Funktionen. Im Innern diente er der Distinktion gegenüber den Untertanen, v.a. aber der Disziplinierung und Domestizierung des Adels und seiner Integration in Regierung, Verwaltung
und Militär (vgl. van Dülmen 1982: 324ff.); nach außen repräsentierte er Macht und
Ansehen im System der europäischen Staaten.
Der enge Zusammenhang zwischen innerer und äußerer Machtentfaltung des absolutistischen Staates zeigte sich auch in den Kriegen des Absolutismus. Viele Kriege dieser Epoche hatten eine gemeinsame Ursache: den Erbfall einer Dynastie (vgl.
Kunisch 1979). Denn nicht Staatsvolk, Nationalität oder Sprache, sondern die Dynastien waren die Klammem der Staatengebilde, die durch Eroberungs- oder Heiratspolitik entstanden waren und sich allmählich aus lose zusammenhängenden Territorialstaaten in ständigen Konflikten zu fest umrissenen Machteinheiten formten. Wurde dieser Zusammenhang durch Erbfolgestreitigkeiten zwischen den untereinander
verwandten europäischen Herrscherhäusern geflihrdet, so war auch die territoriale
Integrität des Staates unmittelbar in Frage gestellt (Kunisch 1987: 423ff.). Dabei
stellten Ehrgeiz, Ruhmsucht, Prestigestreben und Machtgewinn Leitmotive fiirstlichen Handeins dar, die über die vielen Kriege, die "wegen Erbfolgen gegen Erbfein-
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Jens Siegelberg
de" (Barudio 1984: 20) geführt wurden, zu großen Umverteilungen der politischen
Gewichte in Europa beitrugen (vgl. Berenger 1996). Die Voraussetzungen für die an
Ruhm und Ehre orientierte Macht- und Eroberungspolitik waren freilich innerer Natur: Der Adel und die privaten Kriegsunternehmer mit ihren ad hoc zusammengestellten Söldnertruppen hatten die Verfiigungsgewalt über Waffen und Soldaten verloren. An ihre Stelle war ein stehendes Heer unter staatlicher Regie getreten, das nun
auch als Merkmal außenpolitischer Souveränität galt. Zu seiner Unterhaltung, Finanzierung und Kontrolle machte dieser ständige Militärapparat regelmäßige Steuere innahmen, eine funktionierende Bürokratie und Administration sowie ein hohes Maß
an Disziplin und Loyalität notwendig (vgl. Krippendorff 1985: 272-295; Duchhardt
1997: 40-61). Militärische Organisation und kriegerische Expansion waren also gleichermaßen Motoren für die Entstehung des frühmodernen Staates wie auch des europäischen Staatensystems.
Durch diesen Ausbau des Verwaltungsapparates gewann der absolutistische
Staat immer mehr an Eigengewicht und begann, sich von der Person des Herrschers
abzulösen. Zugleich wurde die Dominanz dynastischer Interessen mehr und mehr rationalen Kalkülen unterworfen, was auch den Erfordernissen des aufkommenden
Kapitalismus entsprach, der sich mit seiner rationalen Wirtschaftsführung nun immer
stärker Geltung verschaffte. Je stärker sich die Verwaltungsorganisation des Staates
ausweitete, verzweigte und das Land durchdrang, um so mehr verselbständigten sich
Verwaltung und Bürokratie (Conze et al 1997: 21). Die vom Fürsten personifizierte
Staatsgewalt wurde durch den Verwaltungs staat mehr und mehr entpersonalisiert und
durch die Funktionsmechanismen rationaler Verwaltung ersetzt. Und bald repräsentierte der Staatsapparat die Einheit des Staates ebenso wie die Person des Herrschers
(vgl. Conze et al 1997: 4-25; van Dülmen 1982: 333-343). Die im Begriff der Souveränität bereits angelegte Möglichkeit, daß sich der Staat auch gegenüber seinem
Repräsentanten verselbständigt, wurde gegen Ende des Ancien Regime historische
Realität. Der Prozeß der Ablösung der persönlichen Herrschaft des Souveräns durch
die sachliche Herrschaft der Verwaltung hatte begonnen.
Von einer nach heutigen Maßstäben rein sachlichen Amtsführung, von rationaler
Verwaltung und von einer ökonomischen Selbständigkeit des Staates durch ein geregeltes Steuersystem mit stetigen Einnahmen zur Erfüllung der Staatsaufgaben aber
war der absolutistische Staat trotz allem noch weit entfernt. "Im modemen Staat sind
die Regierenden und Verwaltenden vom Eigentum an den Verwaltungsmitteln, sowie
von jeder privaten Nutzung der Steuerquellen und Hoheitsrechte völlig ausgeschlossen. Die ökonomische Verselbständigung der Staatsrnacht kommt darin zum Ausdruck, daß das staatliche Vermögen samt allen sachlichen Verwaltungsmitteln niemandem, weder dem Staatsoberhaupt, noch der Beamtenschaft, gehören" (Heller
1983: 149). Die Unvollkommenheit des frühmodemen Staates zeigt sich in der nur
unregelmäßigen und privilegierte Stände ausschließenden Besteuerung sowie in der
noch fehlenden Trennung von öffentlichen und privaten Belangen. Die Ämter in Behörden und Zentralverwaltung stellten für ihre Inhaber, also v.a. für Adel und das
aufsteigende Bürgertum, noch einträgliche Pfründe dar, die Einkommen, Prestige
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und Privilegien versprachen. Ein solches Verhalten war damals keineswegs - wie
man es heute werten würde - Ausdruck persönlichen Fehlverhaltens, sondern legitimes und weitgehend akzeptiertes Verhalten, also Teil der Systemrationalität des Absolutismus. Eine klare Trennung von Amt und Amtsinhaber, von Öffentlichem und
Privatem existierte noch ebensowenig wie ein modemes Berufsbeamtentum, das keine Appropriation des Amtes kennt und sich an rein sachlicher Amtsfilhrung orientiert.
Diese Unzulänglichkeiten und die ungeteilte Macht absolutistischer Herrschaft
bildeten dann auch die Angriffspunkte filr neue staatstheoretische Konzepte und
Vorstellungen. Getragen von den geistes geschichtlichen Grundströmungen des Rationalismus und der Aufklärung wurden nun auch individuelle Freiheitsrechte, Gewaltenteilung und liberale Verfassungen oder Volkssouveränität in den Mittelpunkt
theoretischer Überlegungen gestellt, die sich mit Namen wie Locke, Montesquieu,
oder Rousseau verbinden. Mit der Aufklärung wuchs auch die Kritik am europäischen Staatensystem, dessen Gleichgewicht im Wechselspiel von Kriegen und Verträgen ausbalanciert wurde. Man betrachtete den absolutistischen Staat nicht mehr
als Garanten des inneren Friedens, sondern als Ursache der Staatenkriege. Kurzum,
der mit ungeteilter Macht ausgestattete Leviathan wurde zu einer negativen Utopie,
und der Aufstand gegen das Ancien Regime bahnte sich an.
2. Staat und internationales System im 19. Jahrhundert
Der eigentliche Bruch mit der alten Gesellschaftsordnung und eine Neuformierung
politischer Herrschaft vollzog sich im Zentrum Europas erst mit der Französichen
Revolution und der industriellen Revolution, die in der Mitte des 18. Jahrhunderts in
England begonnen hatte und nun immer stärker auch den Kontinent erfaßte. Beide
Revolutionen waren keine nationalen, sondern von vornherein europäische Revolutionen, die über Europa auch auf die Welt ausgreifen sollten. Die französische Revolution hatte mit ihrer Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte den Rahmen abgesteckt filr die politischen und sozialen Aufgaben der Zukunft, und die industrielle
Revolution wurde zur bestimmenden Kraft und zur materiellen Basis filr die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen, die das "lange" 19. Jahrhundert, also die
Zeit zwischen 1789 und 1914, prägen sollten. Das Zusammenwirken dieser beiden
Entwicklungen setzte eine bis dahin nicht gekannte Dynamik gesellschaftlicher Modernisierung ins Werk. Es war der Beginn der ersten großen Entwicklungsphase des
industriellen Kapitalismus, die erst zu Beginn unseres Jahrhunderts enden sollte.
Diese Entwicklungsphase hat die gesamten Lebensverhältnisse innerhalb der Staaten
und Gesellschaften revolutioniert, sie hat sich nachhaltig auf die Beziehungen der
europäischen Mächte ausgewirkt, und sie hat den Rest der Welt zum Adressaten kapitalistischen Fortschritts und bürgerlicher Herrschaftsanspruche gemacht.
Auch die Kolonien wurden nun in den Dienst der industriekapitalistischen Entwicklung gestellt. Der Kolonialismus alten Stils wandelte sich infolge der Industriali-
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