Numerische Lösung singulärer Anfangswertprobleme mit dem expliziten Euler-Verfahren Maximilian Brunner betreut von Ao. Univ. Prof. Dr. Ewa B. Weinmüller 7. Juni 2017 1 Problemstellung und Vorbemerkungen Wir wollen das explizite Euler-Verfahren für ein Anfangswertproblem mit konstanter und diagonalisierbarer Matrix M ∈ Rn×n betrachten: M z(t) + f (t), t σ(M ) ⊆ R− , z 0 (t) = z ∈ Rn , t ∈ (0, 1], (1) z(0) = 0 =: z0 Man transformiert (1) auf Diagonalgestalt (D = V −1 M V ) mit v(t) := V −1 z(t) und g(t) := V −1 f (t): 1 v 0 (t) = Dv(t) + g(t), t v(0) = V −1 z0 = 0 =: v0 (2) Das Euler-Verfahren kann nicht bei t = 0 gestartet werden. Wir verwenden stattdessen ein äquidistantes Gitter ∆h := (ti0 , ti0 +1 , . . . , tN ) und betrachten Folgen von solchen Gittern, wobei i0 fest ist. Dabei gelten tj = h j, j = i0 , . . . , N , h = N1 und i0 > 0, limh→0 ti0 = 0 und limh→0 N = ∞. Die Lösungsoperatoren F und Fh (mit xh = (xi0 , . . . , xN ) ∈ Rn(N −i0 +1) ) sind dabei wie folgt definiert: F : C 1 [0, 1] → C 0 [0, 1] x 7→ F (x) := x0 (t) − 1t Dx(t) − g(t), t ∈ (0, 1] x(0) − v0 (3) Fh : Rn(N −i0 +1) → Rn(N −i0 +1) xj+1 −xj h xh 7→ Fh (xh ) := − xi0 − vh;i0 x −x 1 tj Dxj − g(tj ), j = i0 , . . . , N − 1 ! (4) wobei auch die Ableitung in (4) mit j+1h j diskretisiert wird. Die exakte Lösung von (3) äquivalent zur Lösung von F (v) = 0; analog ist die Approximationslösung vh zur Schrittweite h von (4) äquivalent zur Lösung von Fh (vh ) = 0. Um die Konvergenz dieses Verfahrens zu zeigen, benötigt man zunächst zwei Definitionen: Definition 1 (Konsistenz). Sei v eine Lösung der Gleichung F (v) = 0 mit F : U → E2 , U ⊆ E1 , wobei (E1 , k · k1 ) und (E2 , k · k2 ) Banachräume seien. Betrachte die Familie von Näherungsproblemen Fh (vh ) = 0 auf den Banachräumen (E1h , k · kh1 ) und (E2h , k · kh2 ), wobei Fh : E1h → E2h gelte. Um eine Beziehung zwischen den Problemen F (v) = 0 und Fh (vh ) = 0 zu erhalten, gebe es lineare Abbildungen R1h und R2h , sodass Rih : Ei → Eih , lim kRih (x)khi = kxki ∀x ∈ Ei , i ∈ {1, 2} h→0 gilt. Die Familie Fh heißt konsistent mit dem Problem F (v) = 0, wenn für die ("exakte") Lösung v gilt lim kFh (R1h (v))kh2 = 0. h→0 Die Familie hat Konsistenzordnung p > 0, wenn kFh (R1h (v))kh2 = O(hp ) für h → 0 gilt. Definition 2 (Stabilität). Seien (E1 , k · k1 ) und (E2 , k · k2 ) Banachräume, U ⊆ E1 und F : U → E2 ein Operator. F heißt stabil, wenn es eine Konstante K > 0 gibt mit kx − yk1 ≤ KkF (x) − F (y)k2 ∀x, y ∈ U. Für eine Familie Fh , h ∈ (0, h0 ], h > 0, von Operatoren, cf. Definition 1, spricht man von Stabilität, wenn die Ungleichung kxh − yh kh1 ≤ KkFh (xh ) − Fh (yh )kh2 gleichmäßig, d.h. mit einer von h unabhängigen Konstante K, gilt. Bemerkung 1 (Konvergenz). Ist die Familie Fh stabil und konsistent im Sinne der Definitionen 1 und 2, dann sind die Näherungslösungen vh von Fh (vh ) = 0 konvergent gegen die Lösung v von F (v) = 0, wegen lim kvh − R1h (v)kh1 ≤ K lim kFh (R1h (v))kh2 = 0 h→0 2 h→0 Stabilität Betrachtet man nun Gleichung (2) komponentenweise. Diese lautet: λ vi (t) + gi (t), t v(0) = V −1 z0 = v0 vi0 (t) = Maximilian Brunner Numerik singulärer Anfangswertprobleme (5) 2 Sei nun Rh (v) := (v(ti0 ), . . . , v(tN )). Mit Gleichung (5) gilt: ! − tλj v(tj ) − gj , j = i0 , . . . , N − 1 lh := Fh (Rh (v)) = v(ti0 ) − v(0) − ti0 v 0 (0) ! v(tj+1 )−v(tj ) 0 (t ), j = i , . . . , N − 1 (5) lj+1 , j = i0 , . . . , N − 1 − v j 0 h =: = li0 v(ti0 ) − v(0) − ti0 v 0 (0) v(tj+1 )−v(tj ) h (6) Die letzte Gleichung beschreibt einen expliziten Eulerschritt, der statt F (0, v(0)), das man nicht auswerten kann, v 0 (0) verwendet (aus der Analysis bekannt). Dabei ist die Schrittlänge i0 · h, wobei meist i0 = 1 gilt. Man will nun den Ausdruck Rh (v) − vh =: εh (LHS Stabilitätsungleichung) mit lh abschätzen (RHS), wobei εh Lösung der Gleichung ! εj+1 −εj λ − ε − l , j = i , . . . , N − 1 j j+1 0 h tj =0 (7) εi0 − li0 ist. Für die Abschätzung von εh in lh brauchen wir drei Lemmata: Lemma 1. Sei λ = σ + iκ ∈ C mit σ = R(λ) > 0 fest gewählt. Definiere für j ≥ k ≥ 1 k = j, 1, zkj (λ) := j−1 Q λ (1 − l ), 1 ≤ k < j, j = 2, 3, . . . l=k Dann gibt es ein η > 0 und ein C ≥ 1, sodass η k , 1 ≤ k ≤ j, j = 1, 2, . . . |zkj (λ)| ≤ C j (8) Lemma 2. Sei h > 0, tj := jh, k > j ≥ j0 > 0 und γ ∈ R, dann gilt k−1 X htγ−1 l l=j ( c1 |tγk − tγj |, γ 6= 0, ≤ c2 ln ( ttkj ), γ = 0. (9) Lemma 3. Sei γ > 0. Für die Lösung der linearen Differenzengleichung erster Ordnung εj+1 −εj h − λ tj εj − tγ−1 lj+1 , j = i0 , . . . , N − 1 j εi0 − li0 ! =0 (10) gilt (für γ = 1 entspricht das dem Problem (7)) i−1 i−2 Y i−1 Y X hλ hλ εi = 1+ li0 + 1+ htγ−1 ll+1 + htγ−1 i−1 li l tl tk l=i0 l=i0 k=l+1 =: zi0 ,i (−λ)li0 + i−2 X zl+1,i (−λ)htγ−1 ll+1 + htγ−1 i−1 li , l l=i0 i = i0 + 1, . . . , N. Maximilian Brunner Numerik singulärer Anfangswertprobleme (11) 3 zlk (−λ) ist wie in Lemma 1 definiert. Produkte bzw. Summen, bei denen der obere Index kleiner als der untere ist, sind als leer aufzufassen, d.h. solche Summen sind gleich 0, solche Produkte gleich 1. Dieser Beweis folgt im Wesentlichen aus einem Induktionsargument. Weiters gelten die Abschätzungen1 für Konstanten C > 0: |εi | ≤ C(|li0 | + tγi 3 |lk |) (12) ≤ C(klh kh ), i = i0 , . . . , N. (13) max i0 +1≤l≤N Konsistenz Lemma 4. Sei lh definiert wie in (6).Ist v ∈ C 2 ([0, 1]; Rn ) dann gilt klh kh = O(h), |li0 | = O(h2 ). 4 Aussage und Anmerkungen Laut Lemmata 3 und 4 ist der Operator Fh stabil und konsistent, sofern D nur negative Realteile besitzt. Damit konvergieren die Näherungslösungen vh gegen die exakte Lösung v. Für v ∈ C 2 ([0, 1]; Rn ) ist die Konvergenzordnung 1. Sei y die Lösung der ursprünglichen Differentialgleichung. Sei weiters yh := V vh , wobei vh die mit dem expliziten Eulerverfahren berechneten Näherungslösungen der transformierten Diffentialgleichung seien. Sei z ∈ C 2 ([0, 1]; Rn ) die Lösung des ursprünglichen Problems. Rücktransformation mittels zh := V vh liefert kzh − Rh zkh = kV vh − V Rh (v)kh ≤ kV kkvh − Rh (v)kh = O(h) zusammen mit den obigen Lemmata den zugehörigen Beweis. Bei erlaubten Eigenwerten 0 wird das ganze technisch anspruchsvoller, aber nicht wesentlich anders. Ebenso sind die Aussagen auch für Jordon-Matrizen zeigbar. Dann ist jedoch etwas mehr Arbeit nötig, da dann die Gleichungen bei (5) noch einen Störterm durch die 1 auf der Nebendiagonale haben. Diese Gleichungen sind dann noch nicht entkoppelt. Dies ist auch ein Grund, weshalb die Lemmata nicht nur für spezielle γ gezeigt wurden. 1 Unter der h-Norm können wir uns die ∞-Norm vorstellen. Da der diskretisierte Raum endlichdimensional ist, kann man die Äquivalenz aller Normen verwenden. Maximilian Brunner Numerik singulärer Anfangswertprobleme 4