Evidenzbasierte Medizin (EBM) – eine Übersicht

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Reinhard Bornemann:
Evidenzbasierte Medizin (EBM) – eine Übersicht
Ausarbeitung für das Public-Health-Portal der Fakultät für Gesundheitswissenschaften
Januar 2003
Einleitung, Hintergrund
Definition: „Evidence-based medicine is the conscientious, explicit and judicious use of
current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The
practice of evidence-based medicine means integrating individual clinical expertise with
the best available external clinical evidence from systematic research“ (David Sackett)
(etwa: „Evidenzbasierte Medizin ist der bewusste, gewissenhafte und vernünftige
Gebrauch der derzeit besten wissenschaftlichen Grundlage zur Entscheidungsfindung
bei der Betreuung individueller Patienten, durch Verbindung der persönlichen klinischen
Erfahrung mit der besten verfügbaren Erkenntnis aus systematischer Forschung“)
Mit EBM wird eine aktuelle Strömung in der Medizin im angloamerikanischen Raum und
jüngst auch in Deutschland bezeichnet, die in erster Linie dem Arzt helfen soll, seinen
Patienten besser zu behandeln. Dabei ist der Name Programm: die praktizierte Medizin
soll „evidenzbasiert“ sein, also auf der Grundlage von wissenschaftlichen Belegen
erfolgen. Dies erscheint paradox, nimmt man doch an, dass die „Schulmedizin“ per se
eine wissenschaftliche Ausrichtung hat.
Betrachtet man jedoch den medizinischen Alltag in Arztpraxen und Krankenhäusern,
stellt man fest, dass dort eine große Bandbreite von verschiedenen
Behandlungsansätzen zu finden ist. Ursachen: verschiedene ärztliche „Schulen“, rasche
Veränderung des medizinischen Wissens, dessen unterschiedliche Durchdringungsrate
in den medizinischen Alltag, unterschiedliche personelle und materielle Ausstattung,
ökonomische Gesichtspunkte usw.
Dem steht – theoretisch – eine „beste wissenschaftliche Erkenntnis“ entgegen, die
allgemeinverbindlich sein und jedem Patienten zur Verfügung stehen sollte. Um zu
dieser Erkenntnis zu gelangen, muss prinzipiell alles verfügbare Wissen um ein
bestimmtes Krankheitsbild erfasst, bewertet und in Handlungsanleitungen umgesetzt
werden. Es ist offensichtlich (bzw. evident, hier einmal in der deutschen
Wortbedeutung), dass dies bei vielleicht einer Million jährlich publizierter medizinischwissenschaftlicher Artikel weltweit, davon noch ca. 100.000 von guter methodischer
Qualität (RCTs, s.u.), nicht leistbar ist. Selbst wenn man von vielleicht nur einigen
Dutzend deutschsprachiger Artikel in den wichtigsten Zeitschriften eines speziellen
Fachgebiets wie etwa der Inneren Medizin ausgeht, die jährlich veröffentlicht werden, ist
die durchschnittlich verfügbare ärztliche Lesezeit demgegenüber zu gering, um auf dem
Laufenden zu bleiben. Auch ist die ärztliche Kompetenz in der Bewertung
verschiedener Studiendesigns und damit der in entscheidender Weise auf der
Studienqualität basierender Validität der Ergebnisse unzureichend entwickelt. Das
Ergebnis ist i.d.R. ein ungefähres Wissen, das dem Arbeitsalltag zwar in der Regel
standhält, wohl aber noch zu verbessern ist.
Systematik der EBM
Wie geht die EBM praktisch vor ? Nacheinander erfolgen:
– die Erfassung des klinischen Problems
– die systematische Literatursuche
– die Bewertung von Relevanz und Validität der gefundenen Studien
– die Anwendung auf den eigenen Patienten.
(und last but not least die Evaluation des eigenen Tuns)
Erfassung des klinischen Problems
Als erstes wird zur Erfassung des Problems eine sog. „beantwortbare Frage“ gestellt.
Ist für MEINEN Patienten (z.B. bezogen auf Alter, Geschlecht, Krankheitsstadium,
Begleiterkrankungen)
eine bestimmte INTERVENTION (insbes. eine spezielle Therapie, aber auch
Diagnostik)
besser im VERGLEICH zu Alternativen (i.d.R. herkömmliche Therapie oder Placebo)
bezogen auf PATIENTENRELEVANTE Ergebnisse ?
Die genaue Bezeichnung des eigenen PATIENTEN ist insofern von Bedeutung, als man
versuchen sollte, bei der Literaturrecherche möglichst solche Studien zu finden, in
deren Untersuchungsgruppe der eigene Patient wiederzufinden ist. Es ist klar, dass es
kaum eine Studie geben wird, in der nur 45jährige Frauen mit erhöhtem Blutdruck und
ohne Begleiterkrankungen untersucht werden, aber umgekehrt sollten in den
beigezogenen Studien wenigstens zu einem nennenswerten Teil Frauen in dieser
Altersgruppe enthalten sein. Dieser Punkt ist um so schwieriger zu erfüllen; je genauer
man den eigenen Patienten abgebildet haben möchte, desto weniger Studien wird man
finden. Umgekehrt findet man leichter Studien mit inhomogenen oder vom eigenen
Patienten abweichenden Studienkollektiven, aber entsprechend weniger zuverlässig
wird die Aussage in Hinblick auf die Relevanz der Studieenergebnisse auf den eigenen
Patienten.
Die INTERVENTION sollte soweit spezifiziert sein, dass der Charakter genau dieser
Behandlung, etwa eines Diuretikums, gegenüber einem anderen Therapieprinzip, etwa
einem Betablocker, zur Geltung kommt. Diese Forderung ist i.d.R. leicht zu erfüllen.
Der VERGLEICH ist insoweit von Bedeutung, als der Arzt ja eine Entscheidung treffen
muss, welche Form der Behandlung, oder überhaupt eine Behandlung und nicht
stattdessen Zuwarten oder ein Plazebo etc. er wählt. Der letztlich eingeschlagene Weg
sollte sich im Vergleich mit Alternativen von diesen abheben, entweder in besserer
Wirksamkeit, oder bei gleicher Wirksamkeit wie die Alternative in geringeren
Nebenwirkungen, oder in besserer Akzeptanz durch den Patienten hinsichtlich der mit
der Therapie verbundenen Umstände, oder auch – bei gleicher Wirkung und
Nebenwirkung – hinsichtlich entstehender Kosten usw.
Der die EBM vielleicht am deutlichsten von der „konventionellen“ Medizin
unterscheidende Aspekt ist die Berücksichtigung von PATIENTENRELEVANTEN
Behandlungszielen. Man kann grob unterscheiden in:
– sog. „Endpunkte“ meist schwerwiegender Art wie Tod, Herzinfarkt, Lähmung,
Gliedmaßenverlust etc.
– Befindensstörungen wie z.B. Schmerzen
– „Surrogatparameter“.
Alle drei Parameter können in Studien gemessen werden und können einen
Erwartungshorizont begründen, an dem der Arzt sein Handeln bzw. der Patient sein
Behandeltwerden ausrichten kann.
Dabei geht die Schulmedizin von folgendem Konzept aus:
– Auf biochemischer bzw. physiologischer Ebene finden Prozesse statt, die nach
aktuellem Stand der Forschung als Ausgangspunkt für Krankheiten angesehen werden.
Diese Prozesse führen zu messbaren Größen wie etwa dem Cholesterinwert im Blut
oder dem Blutdruck. Diese Parameter dienen dann als Surrogat- bzw. Ersatzwerte
stellvertretend für einen erwarteten Krankheitsfortgang.
– Die auf diesem Boden entstehenden Krankheitsbilder können nach ihrer Entwicklung,
ihrer körperlichen/psychischen Ausprägung und ihren Folgen beschrieben und
klassifiziert werden.
– Schließlich entstehen Komplikationen dieser Krankheiten wie die o.g.
Befindensstörungen oder „Endpunkte“ bis hin zum Tod.
Als Beispiel für den Umgang mit Surrogatparametern sei der Cholesterinwert im Blut
genannt. Wird bei einem Patienten das Cholesterin als zu hoch gemessen, wird es
behandelt, z.B. in Form einer medikamentösen Cholesterinsenkung. Der Patient kann
sein erhöhtes Cholesterin nicht „fühlen“, hat also umgekehrt auch keinen unmittelbaren
bzw. „erlebbaren“ Benefit von dessen Senkung. Diese erfolgt stattdessen unter der
Vorstellung, dass dadurch der pathophysiologische Weg vom Cholesterin über die
Atherosklerose bis hin zu den genannten Folgen wie z.B. dem Herzinfarkt unterbrochen
werden kann.
Dieses Endziel z.B. eines Infarktes wird aber in der medizinischen Forschung oft nicht
berücksichtigt. Erklärlicherweise, weil zum einen die zeitliche Entwicklung der
Atherosklerose im Patienten über Jahrzehnte geht und man selten Studienpatienten
über solch einen langen Zeitraum verfolgen kann, man selten die notwendigen Mittel für
i.d.R. teure Langzeitstudien zur Verfügung hat und last but not least die „Endpunkte“ so
selten eintreten, dass die Unterschiede zwischen behandelten (bzw. mit einem neuen
Medikament behandelten) und unbehandelten (bzw. mit der Standardtherapie behandelten) Patienten so gering sind, dass Schlussfolgerungen auf die Überlegenheit der
neuen Therapie statistisch „nicht signifikant“ sind oder eine sehr große Fallzahl
erfordern.
Sehr viel leichter ist es daher, Surrogatparameter zu messen, weil diese i.d.R. rascher
und deutlicher auf eine Therapie reagieren und beliebig oft erhebbar sind, wie etwa
durch Blutentnahmen zur Cholesterinbestimmung. So lassen sich „signifikante“
Ergebnisse oft schon mit relativ kleinen Studiengruppen, z.B. 100 Probanden, in relativ
kurzer Zeit, z.B. in einem halben Jahr, erzielen. Ob die in einer solchen Studie gezeigte
Senkung des Cholesterinwertes um sagen wir 30 % auch eine Reduktion der
Sterblichkeit in gleichem Umfang zur Folge hat, bleibt offen, nicht zuletzt, wenn plötzlich
neue pathophysiologische Konzepte auftauchen, die den ursprünglichen
Pathomechanismus ergänzen oder gar ersetzen. Aktuelles Beispiel hierfür ist die
zunehmende Diskussion, ob anstelle des Cholesterins nicht eher entzündliche
Prozesse bei der Entstehung der Atherosklerose eine Rolle spielen, und man folglich
bislang die falschen Indikatoren (=Cholesterin) diagnostiziert und behandelt.
Aber nicht nur die Konzentration auf solche „qualitativ“ relevanten Endpunkte macht den
Unterschied der EBM aus, sondern auch deren „quantitative“ Bedeutung für den
Patienten. Ein Beispiel: gegeben sei ein 70-jähriger Patient mit Bluthochdruck. Die
(fiktive) Studienlage sagt, dass sein Herzinfarktrisiko ohne Blutdruckbehandlung in den
kommenden 10 Jahren bei 20 % liegt, mit Blutdruckbehandlung bei 10 %. Der Arzt lernt
dies, nach entsprechender Aufbereitung in der zu Grunde liegenden Publikation bzw.
aus dem darauf basierenden Pharma-Prospekt, als „50-%ige Reduktion des
Infarktrisikos“ kennen und vermittelt es entsprechend dem Patiemten weiter: „Sie
können Ihr Herzinfarktrisiko um die Hälfte senken, wenn Sie ...“. Nun gibt es aber nicht
einen 5-%igen Infarkt, sondern nur entweder-oder. Die aus der Studie gewonnene
Information einer 5-%igen Risikoreduktion funktioniert nur „statistisch“ in dem Sinne,
dass im gewählten Beispiel 10 Patienten diese Behandlung erhalten müssen, damit EIN
Infarkt nicht eintritt. Diese Anzahl wird als „number needed to treat“ (NNT) ausgedrückt.
Im gewählten Beispiel ist die NNT noch recht „gut“, in der Realität hingegen ist die sog.
„absolute Risikoreduktion“ (ARR) zwischen der neuen Therapie und der hergebrachten
bzw. dem Plazebo oft so gering, dass wesentlich mehr Patienten behandelt werden
müssten, um EIN bestimmtes Ereignis wie Herzinfarkt, Tod etc. zu vermeiden. Ist z.B.
ein bestimmtes Risiko ohne Behandlung 2 % und mit Behandlung 1 %, so müssten 100
Patienten behandelt werden, um ein Ereignis zu verhindern – die „relative
Risikoreduktion“ (RRR) hingegen wäre gleichsam eindrucksvoll bei 50 % (und würde
auch entsprechend in der Pharma-Broschüre herausgestellt) !
Doch es geht noch weiter: selbst wenn die Studienergebnisse niedrigere („gute“) NNTs
zeigen, der Einsatz dieser Therapie also einen Benefit schon ab einer geringen Anzahl
behandelter Patienten böte, gilt dies eben nur für die Studie. Es ist offensichtlich, dass
im Rahmen einer klinischen Studie die Behandlung konsequenter durchgeführt wird, mit
Überwachung der regelmäßigen Medikamenteneinnahme usw., als später im
medizinischen Alltag der Krankenhäuser und Arztpraxen; auch nehmen an solchen
Studien of entsprechend motivierte Patienten teil, die nicht mehr den
Durchschnittspatienten „draußen“ wiederspiegeln u.v.m. Dieses Phänomen ist bekannt
und wird mit den Begriffen „efficacy“ versus „effectiveness“ beschrieben, wobei
„efficacy“ den theoretischen Effekt einer Behandlung in einer bestimmten
Studienpopulation beschreibt und „effectiveness“ den tatsächlichen Effekt in einer
„natürlichen“ Umgebung außerhalb einer Studie (schließlich gibt es noch die
„efficiency“, mit der der jeweilige Ressourceneinsatz beschrieben wird, mit dem
verschiedenen Therapieansätze zu definierten Ergebnissen gelangen).
Derzeit ist es noch unüblich, die Patienten oder die Laien-Öffentlichkeit mit derlei
„statistischen Spitzfindigkeiten“ zu behelligen. Der Verfasser hat im übrigen versucht,
das Konzept von NNTs in der Patientenaufklärung einzusetzen, musste aber feststellen,
dass die Patienten nur in Ausnahmefällen an solchen Zahlen interessiert waren.
Stattdessen kam oft der lapidare Satz: „Ich weiß nicht, Sie sind doch der Arzt und
müssen mir raten, was ich tun soll“. Dies charakterisiert ein Problem der bisherigen
(überzogenen ?) Erwartungshaltung individueller Patienten gegenüber der
Erfolgschancen der Medizin bzw. der Kommunikation mit ihrem Arzt. Aber abgesehen
von dieser Schwäche der Einsetzbarkeit von EBM im klinischen Alltag kann EBM
zumindest auf Populationsbasis, bzw. im Rahmen des gesamten Medizin- bzw.
Gesundheitswesens, sehr wohl als Instrument zur Bewertung bisheriger bzw. auf dem
Prüfstand stehender neuer Verfahren herangezogen werden.
Systematische Literatursuche
In der EBM wird die Literaturrecherche stringenter gehandhabt als in herkömmlichen
Bearbeitungen von medizinischen Fragestellungen. In herkömmlichen medizinischen
Publikationen werden im Literaturverzeichnis mehr oder weniger Quellenverweise
aufgeführt. Der Leser muss sich darauf verlassen, dass die „wichtigsten“
Forschungsergebnisse enthalten sind, und dass nicht z.B. Studien nur deshalb nicht
enthalten sind, weil die Autoren ihre Suche nicht intensiv genug gestaltet haben oder
auch ihnen bekannte Studien, aus welchen Gründen auch immer, nicht
berücksichtigten. Das wohl stringenteste Konzept der Literaturrecherche wird zurzeit
von der Cochrane Collaboration verfolgt. Dort gibt es genaue Vorgaben, in welchen
Datenbanken nach welchen Stichworten bzw. Suchalgorithmen usw. gesucht werden
muss (Cochrane-Manual http://www.cochrane.de/cochrane/cc-man.htm).
Bewertung von Relevanz und Validität
Nach der Identifizierung der Literatur muss diese in Hinblick auf die Relevanz für die
gewählte Fragestellung durchgesehen und selektiert werden. Auch dies wird wiederum
beispielhaft von der Cochrane Collaboration vorgeführt, in einem formalen Prozess, der
sicherstellen soll, dass nur Arbeiten mit Bezug zur Fragestellung in die spätere
Auswertung gelangen. Umgekehrt müssen hierbei ausgesonderte Studien ebenso im
Literaturverzeichnis aufgeführt und der Grund für ihre Nicht-Berücksichtigung genannt
werden (dito Cochrane-Manual, s.o.).
Was die Validität der gefundenen Literatur angeht, so ist in einem weiteren Schritt die
interne „Qualität“ der Studie zu bewerten. Diese Qualitätsbewertung hat in den
vergangenen Jahren einen immer größeren Raum eingenommen. Es liegt nahe, dass
ein „schlechtes“ Studiendesign bzw. Mängel in der Studiendurchführung weniger valide
Ergebnisse liefern als „gute“ Studien (vgl. z.B. Consort-Statement).
Nach dieser „inneren“ Bewertung der gefundenen Studien folgt die „äußere“, d.h., das
Synthetisieren der verschiedenen Studienergebnisse zu einem gemeinsamen Ergebnis
bzw. zu einer gemeinsamen Aussage, ob die untersuchte Therapieform nun geeignet ist
oder nicht. In der herkömmlichen Literatur wurde in einem Review von einer „Kapazität“
die wissenschafliche Lage zu einer medizinischen Fragestellung in mehr oder minder
freier, man könnte auch sagen, willkürlicher Form, zusammengefasst. In der EBM
werden die gefundenen Aussagen nach einer bestimmten Hierarchie bewertet.
Da EBM seine Herkunft in der „kurativen“ (d.h. behandelnden) Medizin hat, legt es
naturgemäß den größten Wert auf therapierelevante Studien. Unter den verschiedenen
Studiendesigns gilt derzeit das RCT (randomised clinical trial) als der „Goldstandard“.
Davon ausgehend entsteht die höchste Evidenzstufe (Ia) durch das sytematische
Zusammenführen verschiedener RCTs mittels einer Metaanalyse. Die weiteren
Evidenzstufen sind in sog. „Evidenzlevels“ abgestuft, mit absteigender Wertigkeit.
Bemerkenswert dabei ist, dass das niedrigste EBM-Level „IV“, die Expertenmeinung
bzw. die (Experten-) Konsensus-Konferenz bisher in der Scientific community deutlich
höher, wenn nicht sogar am höchsten, bewertet wurde.
Evidenzlevel der EBM
Ia
Evidenz aufgrund von Metaanalysen randomisierter kontrollierter Studien
Ib
Evidenz aufgrund mindestens einer randomisierten kontrollierten Studie
IIa
Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten kontrollierten nicht
randomisierten Studie
IIb
Evidenz aufgrund mindestens einer gut angelegten, quasi-experimentellen Studie
III
Evidenz aufgrund gut angelegter, nicht experimenteller Studien (z.B.
Kohortenstudien, Fall-Kontroll Studien)
IV
Evidenz aufgrund von Expertenmeinungen oder Konsensuskonferenzen
Umfang von EBM und Einbettung in Public Health
Der weitere Inhalt des „Faches“ EBM und seine Instrumente, v.a. seine
epidemiologischen und statistischen Grundlagen, finden sich beispielhaft im „EBMCurriculum“ auf der Homepage des EBM-Netwerkes (s.u.).
Dabei stellt die Evidenzbasierte Medizin nur einen Teilaspekt eines größeren
Zusammenhangs dar, der neuerdings auch mit Evidence Based Health Care (EBHC)
oder gar, in noch größerem Rahmen, mit Evidence Based Public Health (EBPH)
umschrieben wird. Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Public Health benannte
11/2000 in einem Kurzmemorandum u.a. als „allgemeines Ziel“ von Public Health die
Erarbeitung evidenzbasierter Aussagen über den gesundheitlichen Zustand der
Bevölkerung und die Entwicklung des Gesundheitswesens, mit
– Entwicklung einer gemeindebezogenen Gesundheitsberichterstattung zur Erfassung
des Gesundheitszustandes der Bevölkerung einer Region und einzelner Subgruppen
sowie mit Analyse der den Gesundheitszustand beeinflussenden Bedingungen und
Faktoren
– Entwicklung und Institutionalisierung bedarfsgerechter und effizienter Systeme und
Verfahren zur Gesundheitsförderung, Prävention, Akutversorgung, Rehabilitation und
Pflege.
Ein übergreifendes „Organigramm“ solcher Strukturen bzw. ihrer spezifischen Aufgaben
steht noch aus. Schon jetzt ist aber abzusehen, dass das dargelegte Konzept der
„Evidenzbasierung“ im Bereich von Public Health einen festen Stellenwert erhalten
dürfte. Aber auch unterhalb dieses „Überbaus“ basiert EBM auf Charakteristika, die
heute allgemein unter Public Health subsummiert werden, wie z.B. die Epidemiologie
oder der Populationsbezug von Medizin.
Entwicklung in Deutschland
Die EBM in Deutschland hatte bislang den Charakter einer „grassroot revolution“. Erste
nennenswerte Anfänge auf breiterer Basis sind ab 1997/98 zu verzeichnen, mit der
Herausbildung einer zunächst informellen Arbeitsgruppe, die sich 2000 formal als
„Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V.“ konstituierte (das „norming“ nach
dem „storming“). Daneben gab es weitere lokale Arbeitsgruppen zum Thema. Auf der
Homepage des EBM-Netzwerks finden sich heute vor allem Termine zu EBMFortbildungen, Links zu anderen EBM-relevanten Seiten, Unterrichtsmaterialien u.v.m.
Erstaunlicherweise hielt EBM, trotz der zunächst bescheidenen Anfänge – so hat das
EBM-Netzwerk bislang nur um 200 Mitglieder – rasch Einzug in die offizielle
Gesundheitspolitik. Die Forderung nach „Evidenz“ findet sich inzwischen in mehreren
Gesetzestexten des SGB V, §§ 137 ff, dort mit Blick auf die Notwendigkeit
„evidenzbasierter“ Leitlinien, Disease Management-Programme oder Health Technology
Assessments, aber auch in Grundlagentexten zur Leitlinienerstellung z.B. bei der
DEGAM.
Auch in der weiteren medizinischen Fachöffentlichkeit ist eine inzwischen fast
inflationäre Verwendung des Begriffes „evidenzbasiert“ zu erkennen, wobei der Inhalt
dem o.g. stringenten Konzept von EBM nicht immer standhält.
Kritik an EBM
Mit zunehmender Befürwortung und Ausbreitung der EBM, von den gesetzlichen
Grundlagen bis hin zum Medizinalltag in Deutschland, sieht sich die EBM
notwendigerweise Kritik ausgesetzt. Ein ganz aktuelles Beispiel ist ein Artikel im Dt.
Ärzteblatt, in dem u.a. beklagt wird, dass das Meta-Analysieren von „unterschiedlichen
Populationen mit höchst differenten Umgebungsbedingungen“ zwar statistisch, nicht
zwangsläufig aber biologisch-medizinisch gerechtfertigt ist, ein sicherlich berechtigter
Kritikpunkt (von Wichert 2003). Andere werfen der EBM „Kochbuchmedizin“ vor, was
eine fehlende Berücksichtigung der individuellen Umstände und Bedürfnisse des
Patienten impliziert, u.v.m. Dabei darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass
die „Schulmedizin“ ihren bisherigen Vorherrschaftsanspruch bzw. den ihrer
Hauptprotagonisten genau auf dieser Auslegung von „signifikanten“ wissenschaftlichen
Studienergebnissen erhob und nun gewissermaßen mit ihren eigenen, besser
geschliffenen, Waffen geschlagen wird, wobei nicht die Aussage einer Studie in Frage
gestellt wird, sondern der Anspruch von bestimmten „Kapazitäten“ oder
„Expertengruppen“, die „wissenschaftliche Wahrheit“ nach ihrem Gusto auszulegen.
Aber abgesehen davon führt die EBM in ihrem Credo der EBM-Definition nicht umsonst
den Passus der Einbindung der persönlichen klinischen Erfahrung mit, die als integraler
Bestandteil des medizinischen Handelns verstanden wird (vgl. EBM-Definition).
Eine unter Ärzten vielgehörte Kritik ist auch, dass man mit EBM zum willigen
Vollstrecker von Krankenkassen würde, die EBM als Hebel zur Leistungsreduzierung
bei vermeintlich ineffektiven Verfahren nutzen könnten.
EBM muss sich die rechtzeitig mit solcher Kritik auseinandersetzen, um nicht allzu
schnell selbst zu dem Dogma zu werden, das sie selbst just zu stürzen im Begriff ist.
Auch muss EBM noch den Beweis antreten, dass sie gewissermaßen in der MetaEbene bei ihrer Anwendung tatsächlich über das theoretische Konzept hinaus zu
messbaren Verbesserungen bei der Gesundheitsversorgung führt.
Quellen
Deutsches EBM-Netzwerk
http://www.ebm-netzwerk.de/
Deutsches Cochrane-Zentrum
http://www.cochrane.de
Consort-Statement
http://www.consort-statement.org/
Leitlinien der AWMF
http://www.awmf-online.de/
Dr. Bornemann ist Internist am Städtischen Klinikum Bielefeld-Mitte und Dozent an der
Fakultät für Gesundheitswissenschaften. EBM ist eines seiner Schwerpunktthemen, das
er bislang in der Klinik, in den EBM-Kursen der Ärztekammer Westfalen-Lippe und an
der Fakultät für Gesundheitswissenschaften unterrichtete.
Priv.-Doz. Dr. med. Dr. Public Health Reinhard Bornemann
I. Med. Klinik, Städtische Kliniken Bielefeld
Fakultät für Gesundheitswissenschaften, Universität Bielefeld
[email protected]
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