Zahnärztlich-chirurgische Problemstel

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Zahn Krone 5/08
Serie Alterszahnheilkunde, Teil 3:
Zahnärztlich-chirurgische Problemstellungen in der Betreuung von Senioren
Dass die Mundhygiene bei Pflegebedürftigen ungenügend ausgeübt wird und wie dies zu verbessern
ist, wurde bereits ausführlich besprochen (ZAHN KRONE 3+4/2008). Ziel dieses Artikels ist die Erläuterung der häufig massiv erschwerten (Schmerz-)Diagnostik bei geriatrischen Patienten sowie die Darstellung von Risikofaktoren und deren Einbeziehung in die chirurgische Behandlungsplanung.
◗ Univ.-Ass. DDr. Christine Arnetzl, Gerwin V. Arnetzl, Univ.-Prof. Dr. Gerwin Arnetzl
ufgrund der Entwicklungen in der
Zahnmedizin und des steigenden
Bewusstseins für gesunde Zähne sind
ältere Patienten längst nicht mehr
zahnlos, sondern weisen immer häufiger Eigenbezahnung auf. Und das ist
auch gut so, denn immerhin bleiben
diesen Patienten die Kaufunktion und
Lebensqualität erhalten, ebenso haben
auch die Ästhetik und die damit verbundene Menschenwürde ihren berechtigten Stellenwert. Probleme treten erst
dann auf, wenn der Patient seine Probleme im Mundbereich nicht mehr kommunizieren kann und auf Pflege angewiesen ist.
A
Ziel in der Behandlung von Älteren sollte
immer sein:
• Linderung akuter Schmerzen
• Stabilisierung der Lebensumstände
• Menschlichkeit (Was will ich für mich
selbst?)
Man muss sich bewusst sein, dass Senioren zu einem hohen Prozentsatz multimorbid sind und eine verminderte Reservekapazität besitzen. Ferner sind Funktionseinschränkungen, Behinderungen sowie die körperliche und psychische Leistungsfähigkeit und das soziale Umfeld
in die Behandlungsplanung mit einzubeziehen.
Was bedeutet Multimorbidität?
Der geriatrische Patient leidet zu einem
sehr hohen Prozentsatz gleichzeitig an
Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebserkrankungen, orthopädischen Erkrankungen, Diabetes und Demenz, hinzu kommen noch geriatrische Leiden wie Inkontinenz, Schwindel, Stürze, Exsikkose und
Dekubitus. Zudem sind ältere Patienten
häufig malnutriert, was fatale Auswirkungen auf den Allgemeinzustand haben
kann. Auch muss man sich bewusst sein,
Tab. 1: Schmerzdiagnostik bei dementen Patienten
Demente Patienten sind nicht mehr in der Lage, ihre Schmerzen zu kommunizieren. Anzeichen für Schmerzen im Mundbereich sind:
• vermehrte Unruhe, vor allem nachts
• Wehklagen
• Ziehen am Gesicht, ständig Finger im Mund
• vermehrtes Sabbern
• bisher immer getragene Prothesen werden plötzlich nicht mehr akzeptiert
• Essenverweigerung
• aggressives Verhalten gegenüber sich selbst und Pflegepersonen
dass es beim geriatrischen Patienten
eher zu Wundheilungsstörungen kommen
kann als bei einem jungen Patienten.
Diagnostische Herausforderungen
Die Diagnostik bei einem alten Patienten
ist schwierig, da er meistens schlecht
hört und sieht und häufig auch in seinen
kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt ist.
Man sollte daher laut, deutlich und langsam mit dem Patienten reden. Die Fragen
sollten kurz gefasst und nicht zu kompliziert sein. Immer in Augenhöhe mit dem
Patienten sprechen, nie von oben herab.
Die Umgebung ist ruhig zu gestalten, da
zu viele Geräusche im Hintergrund das
Verständnis vermindern können. Die Gesundheitsfragebögen können meist nicht
vom Patienten alleine ausgefüllt werden
– man muss ihm daher, so keine Begleitperson anwesend ist, eine unterstützende Person, z.B. Assistentin, zur Seite
stellen.
Häufig muss bei diesen Patienten auf ein
Röntgen verzichtet werden. Man sollte
rasch zu einer Blickdiagnose kommen, da
in den meisten Fällen nicht mit der Compliance des Patienten zu rechnen ist:
• Wie sieht die Schleimhaut aus (bland,
gerötet, geschwollen)?
• Bestehen Druckstellen?
• Gibt es Beläge auf der Zunge?
• Sind Wurzelreste, wackelige oder stark
gefüllte Zähne vorhanden (Klopfschmerz)?
• Bestehen große restaurative Versorgungen (Klopfschmerz)?
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• Wie ist der Zustand der Gingiva und
des Parodonts (Gingivitis, entzündete
Taschen)?
• Ist die Muskulatur druckdolent?
• Knackt das Kiefergelenk beim Öffnen
und Schließen des Mundes?
Wichtig ist der Blickkontakt, da es bei
Berührung eines schmerzenden Punktes
zu Zuckungen an den Augen bzw. zu einem reflektorischen Verkrampfen des Patienten oder sogar zu Wehklagen und
Schreien kommen kann.
Strategien zur
Komplikationsvermeidung
Ist man zu einer Diagnose gekommen, so
kann sich ein einfacher chirurgischer Eingriff jedoch äußerst schwierig gestalten.
Um Komplikationen zu verringern oder
gar zu vermeiden, gilt es Folgendes zu
beachten:
Genaue Anamnese/Fremdanamnese: Seit
wann bestehen die Beschwerden, was
wurde bisher unternommen, um diese zu
lindern?
Die Polypharmazie beim alten Menschen sollte nicht
unterschätzt werden
Vergleich zu einem jungen Patienten völlig unterschiedlich (Tab. 2): Es kommt im
Alter zu einer Zunahme des Fettgewebes
(bei Männern von 18 auf 36%, bei Frauen
von 33 auf 45%) und zu einer Abnahme
des Wassergehalts (10–20% bis zum Alter
von 80 Jahren) im Körper. Entsprechend
kann sich das Verteilungsvolumen ändern, d.h. im Alter nimmt das Verteilungsvolumen für lipophile Medikamente
zu und für hydrophile ab.
Die Elimination bestimmter Medikamente
kann um 20–40% vermindert sein. Durch
die verminderte Enzymaktivität in der Le-
ber werden Medikamente, die hepatisch
abgebaut werden, langsamer eliminiert.
Eine zusätzliche Medikation nach einem
zahnärztlich-chirurgischen Eingriff muss
auf die Restmedikation abgestimmt werden. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen nehmen beim älteren Patienten erheblich zu. Gegenregulationsvorgänge im
Alter fallen schwächer aus und medikamentenbedingte Störungen können
schlechter kompensiert werden.
Auch die Dosierung von Medikamenten
muss bei alten Menschen angepasst werden. Die Grundregel in der Dosierung von
Medikamenten bei älteren Patienten lau-
Tab. 2: Pharmakokinetische Veränderungen im Alter
Allgemeinerkrankungen: Welche allgemeinen Erkrankungen bestehen (cave: Malignome, Osteoporose, Herzerkrankungen)? Wie ist der Ernährungszustand des
Patienten, wie ist seine allgemeine Prognose? Man sollte die Behandlung in Abwägung zum Allgemeinzustand planen –
palliative versus heilende Therapie.
Medikamente:
Welche
Medikamente
nimmt der Patient regelmäßig ein, welche wurden ihm aufgrund seiner Beschwerden vom Hausarzt verordnet, welche nimmt er zusätzlich ein? Es sind auch
Alternativpräparate zu beachten, wie z.B.
Knoblauchtabletten, da diese Blutungen
verstärken können.
Der alte Patient erhält meist eine Vielzahl
von Medikamenten. Altersabhängige
Veränderungen des Arzneimittelabbaus
unterliegen erheblichen individuellen
Schwankungen und können daher nicht
generell prognostiziert werden. Generell
sind die pharmakodynamischen Verhältnisse beim geriatrischen Patienten im
• Fettmasse h
• Muskelmasse x
• Wassergehalt x
• Blutvolumen x
• Plasmaproteingehalt, Rezeptoren, Enzymaktivität x
• Leberdurchblutung x
• Nierenfunktion x
• Glomeruläre Filtrationsrate x
Verändertes
Verteilungsvolumen!
Tab. 3: Wechselwirkungen von nicht-steroidalen Antirheumatika
Glukokortikoide
gastrointestinale Komplikationen
(Magenblutung, Ulzera) h
Diuretika
Diurese x
Orale Antidiabetika
blutzuckersenkende Wirkung h
Cumarinderivate
Gerinnungshemmung h
ACE-Hemmer
Blutdrucksenkung x
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tet: „Start low and go slow.“ Diese Patienten haben zu einem hohen Prozentsatz eine eingeschränkte Nierenfunktion.
Die glomeruläre Filtrationsrate und der
renale Blutfluss sowie das Gewicht der
Nieren sind reduziert.
Bei nicht-steroidalen Antirheumatika
(NSAR) sind die Wechselwirkungen zu bedenken und sie sind nur mit größter Vorsicht einzusetzen. NSAR können Magenblutungen, Ulzera sowie eine verstärkte
Blutungsneigung verursachen. Des Weiteren verstärken sie die blutzuckersenkende Wirkung von oralen Antidiabetika,
sie vermindern den diuretischen Effekt
von Diuretika und die blutdrucksenkende
Wirkung von ACE-Hemmern (Tab. 3).
Besondere Vorsicht im Rahmen eines
oral-chirurgischen Eingriffs ist auch geboten bei Bisphosphonaten, Cumarinderivaten und Thrombozytenaggregationshemmern.
Bisphosphonate: Bisphosphonate werden
schon seit Langem in der Osteoporosetherapie und in der Therapie von Knochenmetastasen eingesetzt. Neben bekannten Therapiefolgen wird seit 2003
die Knochennekrose des Kiefers als neue
Entität beschrieben. Bisher treten diese
Knochennekrosen nur im Kiefer auf. Der
Unterkiefer ist häufiger davon betroffen
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als der Oberkiefer. Risikopatienten durch
Bisphosphonate sind jene Patienten, die
diese parenteral erhalten oder oral über
einen längeren Zeitraum.
Es ist wichtig, vor Einleiten der Therapie
eine zahnärztliche Herdbefundung und
eine Sanierung durchzuführen. Unter
Bisphosphonattherapie sind regelmäßige
zahnärztliche Recalls unerlässlich, dienen diese doch der Früherkennung einer
Knochennekrose. Professionelle Zahnund Mundhygiene vermeidet orale Infektionen, außerdem ist die regelmäßige
Kontrolle des abnehmbaren Zahnersatzes
notwendig zur Vermeidung von Druckstellen. Konservative zahnmedizinische
Eingriffe sollten bei Risikopatienten unter Bisphosphonattherapie immer vorgezogen werden, chirurgische Maßnahmen
sollten nur im äußersten Notfall durchgeführt werden. Der chirurgische Eingriff
sollte atraumatisch erfolgen, unter periund postoperativer breitspektrumantibiotischer Abschirmung für 14 Tage und –
falls notwendig – auch länger.
Aufgrund der langen Verweildauer der
Bisphosphonate im Knochen (> 10 Jahre)
macht das Absetzen dieser Medikamente
vor einem zahnärztlich-chirurgischen
Eingriff keinen Sinn. Nach den neuesten
Erkenntnissen werden Knochennekrosen
nicht mehr, wie vor Kurzem noch üblich,
chirurgisch entfernt, da sie an einer an-
Abb. 1: Bisphosphonat-induzierte Knochennekrose im
Unterkiefer mit deutlicher bimssteinartiger Struktur
deren Stelle wieder auftreten können,
sondern konservativ mit antibakteriellen
Spülungen behandelt und regelmäßig
kontrolliert. Im Falle einer Entzündung
der Knochennekrose ist eine Langzeitantibiose notwendig.
Blutgerinnungshemmung: Man muss
sich bewusst sein, dass der antikoagulierte Patient ein höheres Blutungsrisiko aufweist. Das Absetzen der Antikoagulation kann jedoch fatale Nebenwirkungen für den Patienten haben
(Thrombosen, Embolien) und sollte vor
einem zahnärztlich-chirurgischen Eingriff nicht generell durchgeführt werden. Die Einteilung der operativen Eingriffe beim antikoagulierten Patienten
erfolgt in Gruppen nach Invasivität,
anatomischen Eigenschaften der zu
operierenden Region und Notwendig-
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Abb. 2: Typisches Bild der Xerostomie mit fehlendem
Glanz der Zunge und bereits entzündeten Mundwinkeln
Abb. 3: Auch rissige Lippen sind typisch für Mundtrokkenheit.
keit des operativen Eingriffs (Grazer
Gerinnungskonzept nach Acham & Jakse 2005; Tab. 4).
Xerostomie ist eine meist subjektiv empfundene Trockenheit des Mundes mit einer starken Reduktion des Ruhespeichelflusses. Die Multimedikation bei alten
Menschen ruft häufig eine Xerostomie
hervor. Ursache dafür sind neben dem
Sjögren-Syndrom sehr häufig Medikamente (Antiparkinson-Mittel, Antidepressiva, Antihypertonika, Antiepileptika,
Antihypertensiva, u.v.m.), aber auch Erkrankungen des Zentralnervensystems
und Störungen im Wasser- und Elektrolythaushalt. Bei alten Patienten sind die
Ursachen multifaktoriell. Die Xerostomie
äußert sich in Mundbrennen, schlechtem
Prothesensitz, offenen Stellen im Mund,
Foetor ex ore, erhöhte Kariesinzidenz
und Candidabesiedelung der Mundhöhle.
Die Therapie erfolgt rein symptomatisch,
da kein Medikament den Speichel gleichwertig ersetzen kann. Wichtig ist die Ernährungsberatung des betroffenen Patienten (Tab. 5) sowie die Kontrolle der
Medikamentenliste und eventuelle Umstellung derselben durch den behandelnden Arzt. Der Patient ist eindringlich darauf hinzuweisen, ausreichend zu trinken.
Alte Menschen haben ein gestörtes
Durstempfinden und vermeiden auch
Vor einem chirurgischen Eingriff muss ein
aktuelles Gerinnungslabor vorliegen, das
nicht älter als 24 Stunden ist, und der
Patient/die Pflegeperson muss über das
erhöhte peri- und postoperative Blutungsrisiko eingehend aufgeklärt werden. Postoperativ sind blutungshemmende Maßnahmen zu setzen (Aufbisstupfer,
Kryotherapie, Lagerung in aufrechter Position). Der Patient darf erst bei vollkommenem Stillstand der Blutung entlassen
werden. Sollte eine Stunde nach dem
Eingriff die Blutung noch immer anhalten, sind weitere hämostyptische Maßnahmen zu setzen (Naht, Tabotamp®,
Tranexamsäure).
NSAR, die das Blutungsrisiko steigern,
sollten nicht verschrieben werden. Als
Schmerzmittel eignen sich in diesem Fall
Paracetamol, Ibuprofen und Nimesulid.
Kontrollieren Sie jedoch die aktuelle Medikamentenliste des Patienten, ob überhaupt ein Analgetikum benötigt wird und
der Patient nicht sowieso ein Mittel gegen chronische Schmerzen einnimmt.
Tab. 5: Ernährungs- und Verhaltensberatung bei Xerostomie
• Auf ausreichende Flüssigkeitszufuhr ist zu achten – mind. 8 Gläser Wasser/Kräutertee
(ungezuckert) pro Tag!
• Vermeidung von zuckerhaltiger, klebriger und scharfer Nahrung
• Vermeidung von koffeinhaltigen Getränken aufgrund des diuretischen Effekts
• Lutschen von zuckerfreien Zuckerln zur Speichelstimulation
• Rohes Gemüse und Obst zur Speichelstimulation durch das Kauen sind zu bevorzugen
• Luftbefeuchter, langes Lüften des Schlafzimmers, evtl. Abstellen der Heizung im Winter
meistens am Nachmittag das Trinken, damit sie nachts – aufgrund der Sturzgefahr – nicht aufstehen müssen.
Speichelersatzmittel können empfohlen
werden. Dabei ist auf den pH-Wert zu
achten, da viele Speichelersatzmittel zu
sauer sind und es zu einer Demineralisierung der Zähne kommen kann. Wichtig
sind regelmäßige zahnärztliche Kontrollen, da durch den fehlenden Speichel
und die damit verminderte Pufferkapazität und Remineralisationsfähigkeit die
Kariesinzidenz wieder stark zunimmt. Die
medikamentöse Therapie mit Pilocarpin
ist bei alten Patienten aufgrund der vielen Nebenwirkungen nicht indiziert. Eine
gute Linderung des häufig quälenden
Mundbrennens bringt das mehrmalige
Spülen mit reinem Sonnenblumenöl.
In der Pflege ist ganz besonders auf die
Xerostomie zu achten, um die Patienten
vor einer Soorbesiedelung zu schützen.
Die Lippen sollten regelmäßig eingecremt werden, für eine regelmäßige Flüssigkeitszufuhr und Mundbefeuchtung ist
Sorge zu tragen.
Univ.-Ass. DDr. Christine
Arnetzl ist Mitarbeiterin
des Departments für Zahnärztliche Chirurgie und
Röntgenologie der Univ.Klinik für ZMK in Graz.
Gerwin V. Arnetzl steht in
Ausbildung zum Dr. med.
dent. an der Univ.-Klinik für
ZMK in Graz.
Univ.-Prof. Dr. Gerwin
Arnetzl ist Leiter der
Arbeitsgruppe Festsitzende
Prothetik, Restaurative
Zahnheilkunde und
Adhäsivprothetik an der
Abteilung für Zahnersatzkunde der Univ.-Klinik für
ZMK in Graz.
Kontakt: [email protected]
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