Risikofaktoren der diabetischen Retinopathie

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Diplomarbeit
Risikofaktoren der diabetischen Retinopathie
eingereicht von
Daniela Grassl
Geburtsdatum: 20.08.1988
zur Erlangung des akademischen Grades
Doktorin der gesamten Heilkunde
(Dr. med. univ.)
an der
Medizinischen Universität Graz
ausgeführt an der
Universitäts-Augenklinik Graz
unter der Anleitung von
Univ.-Prof. Mag. Dr. phil. Otto Schmut
und
Dr.med.univ. Dieter Rabensteiner
Graz, 24.5.2013
Unterschrift
Eidesstattliche Erklärung
Ich erkläre ehrenwörtlich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne
fremde Hilfe verfasst habe, andere als die angegebenen Quellen nicht verwendet
habe und die den benutzten Quellen wörtlich oder inhaltlich entnommenen Stellen
als solche kenntlich gemacht habe.
Graz, am ……………….
Unterschrift………………………………
II
Vorwort
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit werden in der vorliegenden Arbeit
weibliche Formen nicht explizit angeführt. An dieser Stelle wird jedoch
ausdrücklich
darauf
hingewiesen,
dass
sich
alle
personenbezogenen
Formulierungen grundsätzlich gleichermaßen auf Frauen und Männer beziehen.
III
Danksagungen
An dieser Stelle möchte ich all jenen Menschen danken, die mich bei der
Erstellung meiner Diplomarbeit unterstützt haben.
Danke zuerst einmal an meine Betreuer Univ.-Prof. Mag. Dr.phil. Otto Schmut
und Dr.med.univ. Dieter Rabensteiner, die mir mit Rat und Tat zur Seite standen,
mich nie unter Druck setzten und gleichzeitig stets motivierten weiterzuarbeiten.
Weiters möchte ich mich bei Herrn Bauer vom Fotolabor bedanken, der mir
freundlicherweise die Fundusfotographien dieser Arbeit zur Verfügung stellte.
Auch einen Dank an Priv. Doz. Dr. Gasser-Steiner, die ich einen Vormittag in der
Diabetesambulanz begleiten durfte, um die diabtische Retinopathie im klinischen
Alltag beobachten zu können.
Besonderen Dank bin ich meiner Familie verpflichtet. Meinen Eltern, denen ich
alles verdanke und die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Sie
ermöglichten mir dieses Studium und unterstützen mich bei allem was ich mir in
den Kopf setzte. Meinen Schwestern Martina und Anita, die mir immer meine
größten Vorbilder waren und mir oft zeigten, auf was es im Leben ankommt.
Außerdem
Danke
an
meinen
Freund
Christoph,
der
mir
viel
Geduld
entgegenbrachte und mir vor allem bei manchen technischen Problemchen, mit
denen ich bei der Erstellung dieser Diplomarbeit konfrontiert war, unter die Arme
griff.
Bedanken möchte ich mich auch bei meinen Freunden in Graz, Wien und Kärnten,
ohne die ich dieses Studium nicht so positiv in Erinnerung behalten würde und die
mir in manch schwierigen Zeiten eine große Stütze waren.
IV
Zusammenfassung
In den vergangenen 30 Jahren wurde viel zum Thema Diabetes mellitus und
seinen Auswirkungen geforscht und infolgedessen zum besseren Verständnis der
Ätiologie, Pathogenese und Therapie dieser Krankheit beigetragen. Trotzdem
bleibt dieses Thema noch immer aktuell. Denn die Prävalenz des Diabetes
mellitus steigt kontinuierlich an, insbesondere in aufstrebenden asiatischen
Ländern wie China oder Indien. 35% der Diabetiker leiden an einer Form der
diabetischen
Retinopathie.
Das
bedeutet,
schätzungsweise
93
Millionen
Menschen sind weltweit von der diabetischen Retinopathie betroffen, 28 Millionen
von der augenlichtbedrohenden Variante, der proliferativen Retinopathie. In den
Industriestaaten belegt diese Erkrankung den ersten Platz in der Liste für
Erblindungsursachen bei Menschen im arbeitsfähigen Alter.
Trotz intensiver Forschung liegt noch immer Vieles im Dunklen. Für Patienten,
Angehörige und Mediziner wäre es von enormer Wichtigkeit, vorhersagen zu
können, wann welche Spätkomplikationen des Diabetes mellitus, wie zum Beispiel
die diabetische Retinopathie, auftreten. Denn für die diabetische Retinopathie gibt
es zwar keine Heilung, aber die frühzeitige Identifikation von Risikopatienten und
eine rechtzeitig eingeleitete Therapie können die Progression verhindern. Die
visuelle Leistung kann somit länger und besser erhalten werden.
Zudem ist die Anwesenheit einer diabetischen Retinopathie mit der Entstehung
systemischer vaskulärer Erkrankungen vergesellschaftet, die potentiell tödlich
verlaufen können. Sogar die mildeste Form der diabetischen Retinopathie wurde
mit
einem
doppelten
bis
dreifachen
Risiko
für
Schlaganfall,
koronare
Herzerkrankung und Herzinsuffizienz in Zusammenhang gebracht. Und das
unabhängig von weiteren Risikofaktoren.
Doch welcher Patient erkrankt an einer diabetischen Retinopathie? Wie viel Zeit
bleibt dem Diabetes-Patienten noch bis zur Entstehung einer diabetischen
Retinopathie? Wie schnell schreitet sie voran?
In dieser Diplomarbeit sollen bisher bekannte und auch neu entdeckte
Risikofaktoren der diabetischen Retinopathie aufgezeigt und verglichen werden.
Ziel ist es, nicht nur einen Überblick über die Erkrankung zu verschaffen, sondern
V
auch klinisch relevante Faktoren zu ermitteln, die einer Überwachung bedürfen
oder therapeutisch beeinflusst werden können, um Prävalenz und Schweregrad
der diabetischen Retinopathie zu verringern. Dafür wurde eine intensive
Literaturrecherche durchgeführt, die sich auf Publikationen und wissenschaftlichen
Arbeiten der vergangenen 20 Jahre bis März 2013 stützt und mit Bildern der
Universitäts-Augenklinik Graz ergänzt wird.
VI
Abstract
Research in the field of diabetes mellitus and its effects has shown considerable
progress in the last 30 years, which resulted in a much-improved understanding of
its etiology, pathogenesis and therapy.
The topic remains nevertheless of vital importance. Prevalence of diabetes
mellitus is continuously increasing particularly in Asian countries such as China
and India. 35% of diabetics suffer from some kind of diabetic retinopathy. This
corresponds to around 93 million persons worldwide, 28 million of which suffer
from the blinding type, the proliferative retinopahty. The illness is the number one
cause for blindness of working-age individuals in industrial countries. Despite the
progress made in recent history, many aspects of the illness are still unknown.
The predictability of late diabetic syndroms such as diabetic retionpathy would
constitute an essential improvement for patients, relatives and doctors. Although
there is no cure for diabetic retinopathy at present time, timely identification of risk
patients and an early therapy can prevent the progression of the illness. This way
vision can be longer and better maintained.
The occurrence of diabetic retinopathy is often connected with the development of
potentially lethal systemic vascular diseases. Even the mildest form of diabetic
retinopathy – apart from other risk factors – is associated with a double or triple
risk for stroke, coronary heart disease or cardiac insufficiency.
The following questions remain: who is at risk to suffer from diabetic retinopathy?
How much time is left before a diabetic comes down with diabetic retinopathy?
How can the progress be slowed down?
The current thesis will identify and compare known with newly discovered risk
factors for diabetic retinopathy. The goal is to provide an overview of the illness
and to determine clinically relevant factors that require monitoring or that may
therapeutically be influenced in order to reduce the prevalence and degree of
diabetic retinopathy. An intensive literature research that concentrated on
publications and scientific work of the last twenty years up to March 2013 has
VII
been conducted. The research is supported by fugures from the Ophthalmology
Department of the Medical University of Graz.
VIII
Inhaltsverzeichnis
TABELLENVERZEICHNIS .................................................................................................. 1
ABBILDUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................. 2
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ............................................................................................ 3
DIABETES MELLITUS ....................................................................................................... 5
1.1
DEFINITION UND EPIDEMIOLOGIE .................................................................................... 5
1.2
KLASSIFIKATION ........................................................................................................... 6
1.2.1 Typ 1 Diabetes ..................................................................................................... 6
1.2.2 Typ 2 Diabetes ..................................................................................................... 7
1.2.3 Sonderformen ...................................................................................................... 8
1.2.4 Gestationsdiabetes .............................................................................................. 9
1.3
DIAGNOSTIK .............................................................................................................. 10
1.4
THERAPIE.................................................................................................................. 11
1.4.1 Therapie des Diabetes mellitus Typ 1 ................................................................ 12
1.4.2 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2 ................................................................ 18
1.5
AKUTKOMPLIKATIONEN ............................................................................................... 25
1.5.1 Coma diabeticum .............................................................................................. 25
1.5.2 Hypoglykämie .................................................................................................... 26
1.6
SPÄTKOMPLIKATIONEN ................................................................................................ 27
1.6.1 Diabetische Makroangiopathie ......................................................................... 27
1.6.2 Diabetische Mikroangiopathie .......................................................................... 27
1.6.3 Diabetische Neuropathie ................................................................................... 28
1.6.4 Diabetische Retinopathie .................................................................................. 28
2
DIABETISCHE RETINOPATHIE ................................................................................. 29
2.1
EPIDEMIOLOGIE ......................................................................................................... 29
2.2
ÄTIOLOGIE UND PATHOGENESE ..................................................................................... 30
2.3
KLASSIFIKATION ......................................................................................................... 34
IX
2.4
3
THERAPIE.................................................................................................................. 36
RISIKOFAKTOREN DER DIABETISCHEN RETINOPATHIE ........................................... 42
3.1
GLYKÄMISCHE KONTROLLE UND HBA1C ......................................................................... 42
3.2
DAUER DER DIABETESERKRANKUNG ............................................................................... 44
3.3
ALTER ...................................................................................................................... 46
3.4
GESCHLECHT ............................................................................................................. 48
3.5
HYPERTENSION .......................................................................................................... 50
3.6
DYSLIPIDÄMIE............................................................................................................ 52
3.7
ZIGARETTENKONSUM .................................................................................................. 57
3.8
NEPHROPATHIE.......................................................................................................... 59
3.9
GENETIK ................................................................................................................... 61
3.10 INSULINTHERAPIE ....................................................................................................... 66
3.11 DURCHMESSER RETINALER GEFÄßE ................................................................................ 67
3.12 SCHLÄNGELUNG RETINALER GEFÄßE ............................................................................... 69
3.13 ÜBERGEWICHT........................................................................................................... 71
3.14 SCHWANGERSCHAFT ................................................................................................... 74
3.15 ANÄMIE ................................................................................................................... 76
3.16 C-PEPTID.................................................................................................................. 78
4
SCHLUSSFOLGERUNG ............................................................................................ 81
5
LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................................ 85
X
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Diabetes-Einteilung nach Blutzuckerspiegel (modifiziert nach (3)) ......... 5
Tabelle 2: Gegenüberstellung Typ 1 und Typ 2 Diabetes (modifiziert nach (1,5))... 8
Tabelle 3: HbA1c Zielwerte bei Diabetes mellitus Typ 2 (modifiziert nach (10)).... 12
Tabelle 4: Auswahl an Insulinpräparaten (5,9) ..................................................... 14
Tabelle 5: Blutzuckerzielwerte bei Diabetes Typ 1 (9) .......................................... 16
Tabelle 6: Wirkmechanismus der aktuell verwendeten oralen Antidiabetika (1) ... 19
Tabelle 7: Klassifikation der diabetischen Retinopathie (modifiziert nach (38)) .... 35
1
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Phyisologischer Augenhintergrund (45) ........................................... 30
Abbildung 2: Diabetische Makulopathie und nichtproliferative Retinopathie (Archiv
der Universitäts-Augenklinik Graz) ................................................................ 31
Abbildung 3: NVDs (Archiv der Universitäts-Augenklinik Graz) ............................ 32
Abbildung 4: Neovaskularisationen und hyaline Membran (Archiv der UniversitätsAugenklinik Graz) .......................................................................................... 33
Abbildung 5: Lasertherapie eines diabetischen Makulaödems (Archiv der
Universitäts-Augenklinik Graz) ...................................................................... 38
Abbildung 6: Über dem oberen Gefäßbogen panretinale Laserkoagulate zur
Therapie
einer
proliferativen
diabetischen
Retinopathie
(Archiv
der
Universitäts-Augenklinik Graz) ...................................................................... 40
2
Abkürzungsverzeichnis
AGE
Advanced Glycation Endproduct
ALR
Aldosereduktase
ATP
Adenosintriphosphat
BMI
Body Mass Index
C-Peptid
Connecting-Peptide
CSII
Continuous Subcutaneous Insulin Infusion
CSME
Clinically Significant Macular Edema
DCCT
Diabetes Control and Complication Trial
DIRECT
Diabetes Research on Patient
Stratification
DM
Diabetes mellitus
DPP-4
Dipeptidylpeptidase 4
DR
Diabetische Retinopathie
EDTRS
Early Treatment Diabetic Retinopathy
Study
Engl.
Englisch
GDM
Gestationsdiabetes
GIP
Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid
GLP-1
Glucagon Like Peptide 1
GLUT 1
Glukosetransporter 1
GWAS
genomweite Assoziationsstudie
h
Stunde
Hb
Hämoglobin
HbA1c
Hämoglobin A1c
HMG-CoA-Reduktase
3-Hydroxy-3-Methylglutaryl-Coenzym-AReduktase
IE
internationale Einheit
IRMA
intraretinale mikrovaskuläre Anomalien
KE
Kohlenhydrateinheit
3
KHK
koronare Herzkrankheit
Min
Minute
NOS
Stickstoffmonoxid-Synthase
NPDR
nichtproliferative diabetische Retinopathie
NPH
neutrales Protamin Hagedorn
OAD
orales Antidiabetikum
OCT
optische Kohärenztomographie
oGTT
oraler Glukosetoleranztest
PAI-1
Plasminogenaktivatorinhibitor Typ 1
PDR
proliferative Diabetische Retinopathie
PPAR-γ
Peroxisome Proliferator-Activate Receptor
Gamma
RAGE
Receptor for Advanced Glycation
Endproducts
SN-DREAMS
Sankara Nethralaya Diabetic Retinopathy
Epidemiology and Molecular Genetics
Study
SNP
Single Nucleotide Polymorphism
VEGF
Vascular Endothelial Growth Factor
WESDR
Wisconsin Epidemiological Study of
Diabetic Retinopathy
4
Diabetes mellitus
1.1 Definition und Epidemiologie
Der Diabetes mellitus ist definiert als eine chronische Stoffwechselerkrankung, die
auf einem absoluten oder relativen Insulinmangel beruht. Folge davon ist eine
chronische Hyperglykämie, die nach längerer Krankheitsdauer zu Schäden an
Blutgefäßen und Nerven führen kann (1).
Die Prävalenz des Diabetes mellitus liegt in Österreich bei circa 6%, wobei es im
Westen etwas weniger Betroffene als im Osten gibt. In den vergangenen 25
Jahren stieg die Häufigkeit der Erkrankung um 2 – 3,5% an (2).
Tabelle 1 erläutert die Blutzuckergrenzwerte für eine Einteilung in normal bis
pathologisch.
Normal
Plasmaglucose
nüchtern
2 Stunden nach
75g Glucose oral
Gestörte
Glucosetoleranz
Diabetes mellitus
<110mg/dl
110-126mg/dl
>126mg/dl
<140mg/dl
140-200mg/dl
≥200mg/dl
Tabelle 1: Diabetes-Einteilung nach Blutzuckerspiegel (modifiziert nach (3))
Die
Zunahme
der
Plasmaglukosekonzentration
führt
zur
vermehrten
Ausscheidung von Glukose durch den Harn. Die Entdeckung dieser Tatsache war
die Grundlage für die Entstehung des Namens Diabetes mellitus (griechisch:
honigsüßer Durchfluss) (4).
5
1.2 Klassifikation
Insgesamt wird der Diabetes in vier verschiedene Gruppen unterteilt, die sich in
Ursache und Klinik unterscheiden:
1.2.1 Typ 1 Diabetes
Bei Typ 1 Diabetes werden durch immunologische Vorgänge im Körper des
Patienten, die für die Insulinproduktion verantwortlichen Beta-Zellen des Pankreas
zerstört. Dies führt konsekutiv zu einem absoluten Insulinmangel. Sobald die
Funktion von über 80% der Beta-Zellen aufgehoben ist, kommt es zu einem
Anstieg des Blutzuckers (1).
Bezüglich der Ätiologie gilt ein Zusammenhang mit genetischen Faktoren als
erwiesen.
Bei circa 20%
der Typ
1
Diabetiker besteht
eine
positive
Familienanamnese und >90% weisen bestimmte HLA-Antigene auf. Weiters wird
über eine Virusinfektion oder Rinderalbumin, welches in Kuhmilch enthalten ist, als
Ursache für einen Typ 1 Diabetes diskutiert (5).
Eine Sonderform stellt der so genannte LADA (latent autoimmune diabetes in
adults) dar, mit langsamerem Verlust der Inselzellen und relativ später
Manifestation im Erwachsenenalter (25. - 40. Lebensjahr). In Europa sehr selten
kommt der idiopathische Diabetes vor, bei dem keine immunologische Ursache
gefunden werden kann (1,4).
Klinisch manifestiert sich der Typ 1 Diabetes vor allem bei Jugendlichen und
jungen Erwachsenen. Typische Symptome, die auf die Diagnose hinweisen
können, sind Polydipsie, Polyurie, Muskel- und Leistungsschwäche und Abnahme
von Körpergewicht. Schlimmstenfalls kann es zur vital bedrohlichen Komplikation
der Ketoazidose kommen. Durch den Insulinmangel wird vermehrt Fett abgebaut
und in das Blut abgegeben, welches in der Leber zum Teil zu Säuren
umgewandelt wird. Der weitere Abbau zu Ketonkörpern führt dann zur
Ketoazidose und ohne Therapie in weiterer Folge zum Coma diabeticum. Azeton
wird
über
den
Harn
und
die
Lungen
ausgeschieden
und
führt
zur
charakteristischen Kussmaul’schen Atmung und Mundgeruch nach Aceton (4).
6
1.2.2 Typ 2 Diabetes
Ursächlich wirken zwei Störungen gemeinsam auf die Entstehung eines Diabetes
mellitus Typ 2 ein: eine gestörte Sekretion des Insulin aus den Beta-Zellen des
Pankreas
und
eine
herabgesetzte
Insulinwirkung
an
den
Zielgeweben
(Insulinresistenz). Welches davon der primäre und welcher der sekundäre Effekt
ist, scheint bis heute unklar (5).
Am häufigsten entsteht Diabetes Typ 2 bei älteren Patienten und auf Grundlage
eines metabolischen Syndroms. Viele der Patienten leiden an Adipositas, was
Folge einer genetischen Disposition, erhöhter Nahrungszufuhr oder mangelnder
Bewegung sein kann. Nicht selten eine Kombination aller drei Möglichkeiten.
Durch das
Missverhältnis an Substrataufnahme und
–abbau steigt
die
Konzentration der Fettsäuren im Blut an. Dadurch nimmt wiederum die
Glukoseverwertung in Muskel- und Fettgewebe ab. Die Konsequenz davon ist die
Reduktion der Empfindlichkeit der Zellen auf Insulin. Das zwingt den Körper dazu,
das Signal für gesteigerte Insulinproduktion zu geben. Die Hyperinsulinämie führt
zu verminderter Sensibilität und Dichte der Insulinrezeptoren (Down-Regulation)
und gesteigertem Hungergefühl, welches wiederum der Adipositas zuträglich ist.
So entsteht ein Circulus vitiosus (1,4).
Durch die Adipositas alleine kann die Entstehung eines Typ 2 Diabetes allerdings
nicht erklärt werden. Noch mehr als bei Diabetes mellitus Typ 1 scheinen
genetische Faktoren eine Rolle zu spielen, ohne dass bisher spezifische Marker
entdeckt wurden (5). Bekannt sind allerdings diverse Faktoren, die die Entstehung
eines
Diabetes
mellitus
Typ
2
beeinflussen
können.
Dazu
gehören:
Schwangerschaft, Erkrankungen der Leber, Endokrinopathien (Morbus Cushing,
Phäochromozytom und andere), Stress und Medikamente (3).
Klinisch imponieren Typ 2- anders als Typ 1 Diabetiker. Sie sind meist
übergewichtig und bereits fortgeschritteneren Lebensalters. Die Krankheit
manifestiert sich meist schleichend und Patienten bleiben lange symptomfrei. Nur
selten können charakteristische Krankheitszeichen wie Polydipsie, Polyurie oder
Gewichtsabnahme
beobachtet
werden.
Häufig
stellt
der
Hausarzt
bei
7
Routinekontrollen, Patienten die bisher von ihrer Krankheit nichts wussten, die
Diagnose. Akute Stoffwechselentgleisungen treten selten auf, dafür sehr wohl
Langzeitschäden, wie sie auch beim Typ 1 Diabetiker bekannt sind. Zusätzlich
steigt häufig das kardiovaskuläre Risiko, bedingt durch arteriellen Hypertonus und
Dyslipidämie (5,6).
Typ 1-Diabetes
Typ 2-Diabetes
Insulinmangel
Insulinresistenz
Beginn
Oft rasch
Meist schleichend
Manifestationsalter
12.–24. Lebensjahr
>40. Lebensjahr
Körperbau
Asthenisch
Pyknisch bis adipös
Häufig Polyurie, Polydipsie,
Häufig keine oder nur
Gewichtsverlust, Müdigkeit
geringe Symptome
Ketoseneigung
Stark
Gering
Stoffwechsellage
Labil
Stabil
Niedrig bis fehlend
Zu Beginn erhöht
Pathogenese
Symptome
Insulinsekretion /
C-Peptid
Autoantikörper (IAA,
In etwa 90–95% bei
GADA, IA-2A)
Manifestation
Ansprechen auf
Sulfonylharnstoffe
Insulintherapie
Fehlend
Unbedingt erforderlich
Fehlend
Gut
Nur bei Erschöpfung der
endogenen Sekretion
Tabelle 2: Gegenüberstellung Typ 1 und Typ 2 Diabetes (modifiziert nach (1,5))
1.2.3 Sonderformen
Ätiologisch betrachtet ist dies die heterogenste Gruppe der Diabetes Formen.
Folgende Ursachen werden hier zusammengefasst:
-
Erkrankungen des exokrinen Pankreas (z.B.: Pankreatitis, Traumen,
Tumore, Hämochromatose, zystische Fibrose)
8
-
Erkrankungen endokriner Organe (z.B.: Morbus Cushing, Akromegalie)
-
Medikamentös-chemische Ursachen (z.B.: Glucocorticoide, Neuroleptika,
Schilddrüsenhormone und andere)
-
Genetische Defekte der Insulinsekretion: In diese Gruppe fällt der so
genannte MODY Diabetes (Maturity-onset Diabetes of the Young), mit einer
gestörten Beta-Zellfunktion ohne Auto-Antikörper Nachweis und ohne
Übergewicht.
Er
manifestiert
sich
bei
Jugendlichen
und
jungen
Erwachsenen unter 25 Jahren. Bisher konnten sechs MODY-assoziierte
Gene lokalisiert werden, die zur Einteilung in sechs verschieden Typen
führten. Sie unterscheiden sich in Klinik und Therapie.
-
Genetische Defekte der Insulinwirkung (z.B.: Lipoatropher Diabetes)
-
Genetische Syndrome die mit Diabetes vergesellschaftet sein können (z.B.:
Down-, Klinefelter- und Turner-Syndrom)
-
Infektionen (z.B.: kongenitale Rötelninfektion, CMV-Infektion)
-
Seltene immunologisch bedingte Formen (z.B.: „Stiff-man“-Syndrom, AntiInsulin-Rezeptor-Antikörper) (1,3,7)
1.2.4 Gestationsdiabetes
Als Gestationsdiabetes wird jede Form der abnormalen Glukosetoleranz
bezeichnet, die während der Schwangerschaft zum ersten Mal diagnostiziert wird.
Sie tritt bei circa 2-5 % aller Schwangerschaften auf und ist, so wie bei bereits vor
der Schwangerschaft bekanntem Diabetes, mit einer erhöhten Morbidität für
Mutter und Kind assoziiert. Das bedeutet für die Mutter ein gesteigertes Risiko für
Sectio cesarea, Frühgeburtlichkeit, EPH-Gestose und Harnwegsinfekte. Beim Kind
werden gehäuft Hypoglykämie, Hyperbilirubinämie, Polyglobulie, Atemstörungen,
Makrosomie und Schulterdystokie beobachtet (5).
Bezüglich der Pathogenese ähnelt der GDM einem Diabetes mellitus Typ 2, mit
Insulinresistenz,
relativem
Insulinmangel
und
daraus
resultierender
Hyperinsulinämie. Doch bei etwa 10% der Fälle kommt es zur Entwicklung eines
Typ 1 Diabetes. Die Insulintherapie während und nach der Schwangerschaft ist
9
dann obligat. Zur Differenzierung der Diabetesarten empfiehlt es sich, die
Antikörper zu bestimmten (siehe unten) (5).
Obwohl sich bei den meisten Schwangeren der Kohlenhydratstoffwechsel nach
der Entbindung wieder normalisiert, bleibt ein Risiko für die Entwicklung eines
erneuten GDM bei späterer Schwangerschaft (50%) und einer permanenten
Manifestation (40% pro zehn Jahre) erhalten (1).
Ein Screening auf GDM sollte bei allen Schwangeren in der 24.-28.
Schwangerschaftswoche mittels oralem Glukosetoleranztest durchgeführt werden.
Sollten
das Risiko für die Entwicklung eines GDM
erhöht
sein oder
diabetesspezifische Symptome auftreten, wird empfohlen, schon im Verlauf des
ersten Trimenons bzw. sofort zu testen. Als positiv wird der Test gewertet, wenn
mindestens einer der folgenden Werte erhöht ist: Nüchternblutglukose ≥90 mg/dl,
nach einer Stunde ≥180 mg/dl und nach zwei Stunden ≥155 mg/dl. Sollte bereits
der Nüchternblutzucker ≥126 mg/dl oder der HbA1c-Wert >6,5% betragen, kann
auf die Durchführung eines oGTT verzichtet werden (8).
1.3 Diagnostik
In die Diagnosestellung eines Diabetes mellitus werden Anamnese (familiäre
Häufung, Komplikationen während der Schwangerschaft), charakteristische
klinische Befunde (siehe oben) und Labordiagnostik mit eingebunden. Es wird
empfohlen, auf eine genaue körperliche Untersuchung zu achten, um diabetogen
wirkende Erkrankungen und unter Umständen bereits entstandene Folgeschäden
erkennen zu können (3).
Da die Hyperglykämie ein Charakteristikum des Diabetes darstellt, bildet die
Blutzuckerkontrolle die Basis für die Diagnose. Es wird empfohlen, mindestens
zwei Bestimmungen durchzuführen, um die Diagnose wirklich zu sichern. Bei
widersprüchlichen Ergebnissen ist ein oGTT indiziert. Die Richtwerte zur
Feststellung eines Diabetes sind in Tabelle 1 dargestellt (7).
Glucose kann auch im Harn gemessen werden. Diese Bestimmung ist allerdings
nur als Screening-Test etabliert. Grund dafür ist, dass bei einer fehlenden
Glukosurie nicht unbedingt auf normalen Blutzuckerwert geschlossen werden
10
kann. Bei diabetischer Nephropathie oder bei älteren Patienten liegt die
Nierenschwelle für Glucose sehr viel höher als die üblichen 150-180 mg/dl. Auch
Ketonkörper können bei
ausgeprägter Hyperglykämie
und Verdacht
auf
Ketoazidose im Urin nachgewiesen werden (5).
Um die endogene Insulinproduktion bestimmen zu können, kann man sich der
Messung des C-Peptids bedienen. Es wird äquimolar mit Insulin aus den BetaZellen des Pankreas sezerniert (3).
Bei Verdacht auf Diabetes mellitus Typ 1 ist es möglich, durch Bestimmung
folgender Autoantikörper die Diagnose zu sichern:
-
zytoplasmatische Inselzellantikörper (ICA)
-
Antikörper gegen Glutamatdecarboxylase (GADA)
-
Insulinautoantikörper (IAA)
-
Antikörper gegen Tyrosinphosphatase 2 (Anti-IA-2-AK)
Am häufigsten werden GADA und Anti-IA-2-AK bestimmt, da sie größere
diagnostische Bedeutung haben und ihre Bestimmung weniger aufwendig ist.
Sollten bei einem gesunden Menschen beide Werte positiv sein, besteht für ihn
ein 20 prozentiges Risiko in den nächsten fünf Jahren an Typ 1 Diabetes zu
erkranken (1).
1.4 Therapie
Die Therapie aller Unterarten des Diabetes verfolgt drei gemeinsame Ziele: Die
Prävention schwerer Komplikationen wie diabetisches Koma oder Hypoglykämien,
die
Erhaltung
einer
hohen
Lebensqualität
und
die
Prävention
von
Spätkomplikationen (siehe Kapitel 1.6) durch eine möglichst normoglykämische
Stoffwechseleinstellung (5).
Beurteilt wird der Erfolg der Blutzuckerinterventionen mit Hilfe des HbA1c Wertes.
Dieser sollte seit 2010 nicht mehr in Prozent sondern in mmol/mol angegeben
werden. Die Umrechnungsformel lautet wie folgt: HbA1c (mmol/mol) = (%HbA1c –
2,15) / 0,0915 (7).
Für Typ 1 Diabetiker ist die Senkung des HbA1c in den Bereich der nichtdiabetischen Norm das Ziel (<6 % = 42mmol/mol) (9). Bei Typ 2 Diabetikern sollte
11
eine intensive glykämische Kontrolle der Diabetesdauer und Komorbiditäten
gegenübergestellt werden. Während für jüngere Patienten niedrigere HbA1c
Werte angestrebt werden, sollte bei älteren Patienten auch das Risiko einer
Hypoglykämie in Betracht gezogen werden. Bei ihnen kann das Ziel weniger
niedrig angesetzt werden (siehe Tabelle 3) (10).
Alter
Komplikationen oder
< 40
40-70
>70
-
+
-
+
-
+
HbA1c Zielwerte (% /
<6 /
<6,5
<6,5 /
6,5-7 /
<7 /
7-8 /
mmol/mol)
<42
/ <48
<48
48-53
53
53-64
Diabetesdauer
Tabelle 3: HbA1c Zielwerte bei Diabetes mellitus Typ 2 (modifiziert nach (10))
Die Art der Therapie variiert je nach Typ des Diabetes.
1.4.1 Therapie des Diabetes mellitus Typ 1
Die Therapie des Typ 1 Diabetes beinhaltet vier Komponenten: die Therapie mit
Insulin, Ernährung, Schulung des Patienten und psychosoziale Betreuung.
Grundlage ist jedoch das Insulin, das für Typ 1 Diabetiker lebenslang und
regelmäßig substituiert werden muss (11).
Wenn Insulin in den Kreislauf ausgeschüttet wird, fördert es die Zufuhr von
Glukose, Aminosäuren und Kalium in die Zellen, kurbelt den anabolen
Stoffwechsel an (Aufbau von Glykogen, Fett und Proteinen) und drosselt katabole
Vorgänge (Spaltung von Glykogen, Fett und Proteinen) (5).
Um diese Prozesse im Körper aufrecht zu erhalten, sollte die therapeutische
Insulinzufuhr der physiologischen Ausschüttung von Insulin so nahe als möglich
kommen. Dafür ist es wichtig, über ein paar wesentliche Vorgänge im Körper
eines gesunden Menschen Bescheid zu wissen:
-
Insulin wird von den Beta-Zellen des Pankreas kontinuierlich zur
Aufrechterhaltung des basalen Stoffwechsels produziert (Basalsekretion).
12
-
Zusätzlich erfolgt die prandiale Sekretion, die proportional der zugeführten
Kohlenhydratmenge pro Mahlzeit ist.
-
Der Tagesbedarf eines durchschnittlichen Menschen beläuft sich auf 40 IE
Insulin (adipöse mehr).
-
50% davon werden für die Aufrechterhaltung des basalen Stoffwechsels
benötigt, 50% entfallen auf die notwendige prandiale Dosis.
-
Weiters ist es essentiell zu wissen, dass 1 IE Insulin den Blutzucker um 3040 mg/dl senkt.
-
Um den prandialen Insulinbedarf leichter berechnen zu können, wurde der
Begriff Kohlenhydrateinheit (KE) eingeführt. Demnach entspricht 1 KE in
etwa 10g Kohlenhydraten, die den Blutzucker wiederum um 30-40 mg/dl
erhöhen.
-
Daher neutralisiert 1 IE Insulin im Mittel 1 KE (1,5).
In Österreich werden ausschließlich humanes Insulin und Insulinanaloga in einer
Konzentration von 100 IE pro ml für die Diabetestherapie verwendet. Im
alltäglichen Gebrauch wird das Insulin mittels einer Injektionsspritze, Pen oder
Insulinpumpe subkutan verabreicht. Nur in Akutfällen kann es notwendig sein,
einen intravenösen Zugang zu wählen (9). In den letzten Jahren wurde auch
intensiv an der Entwicklung eines Insulin-Inhalators gearbeitet. Er sollte vor allem
zur besseren Akzeptanz bei jenen Patienten führen, bei denen die tägliche
Darreichung per Injektion eine Belastung darstellt. Besonders die kurzwirksamen
Insulinanaloga sollten durch
Inhalation
zugeführt werden. Doch da die
Bioverfügbarkeit eine schlechtere im Vergleich zu subkutan appliziertem Insulin
ist, müssen höhere Dosen verabreicht werden, was sowohl kostenintensiv als
auch anfällig für Nebenwirkungen ist. So stieg zum Beispiel bei Insulininhalation
die Inzidenz für Lungenkrebs bei ehemaligen Rauchern deutlich an. Exubera, ein
inhalatives Insulinprodukt der Firma Pfizer, wurde wieder vom Markt genommen
(12).
Tabelle 3 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Insulinarten, die für die
klinische Anwendung zur Verfügung stehen. Dabei muss bemerkt werden, dass
Verzögerungsinsuline nicht intravenös verabreicht werden dürfen.
13
Name
Präparate
Wirkungsbeginn
Wirkdauer
Kurz wirksame Insuline
Normalinsulin
-
Insuman® Rapid
-
Actrapid®
30 min
2-8 h
Sofort
2-5 h
30-60 min
12-18 h
30-60 min
Bis 24 h
30 min
12-18 h
Sofort
Bis 15 h
®
-
Huminsulin
-
Lispro
(Humalog®)
Insulinanaloga
-
Aspart
(Novorapid®)
-
Glulisin (Apidra®)
-
Insuman® Basal
-
Huminsulin®
Verzögerungsinsuline
Intermediärinsulin (NPH)
Basal
-
Insulin
Protaphane®
Lang wirksame
Insulinanaloga
-
Glargin (Lantus®)
-
Detemir
(Levemir®)
Mischinsuline
Mischung aus Normal- und
NPH-Insulin
-
Actraphane® 30
-
Huminsulin® Profil
III
-
Insuman®
Comb25
Mischung aus kurzen
-
Humalog Mix® 25
Analoga und NPH-Insulin
-
NovoMix® 30
Tabelle 4: Auswahl an Insulinpräparaten (5,9)
Für Diabetiker stehen zwei mögliche Therapieschemata mit Insulin zur Auswahl:
14
Konventionelle Insulintherapie (CT)
Eine verbindliche Vorgabe sowohl der Insulindosis als auch Abfolge und Größe
der Mahlzeiten zeichnet die CT aus. Dabei wird einmal vor dem Frühstück (2/3)
und ein zweites Mal vor dem Abendessen (1/3) eine fixe Insulinmischung
verabreicht. Voraussetzung ist ein konstanter Tagesablauf und eine regelmäßige
auf sechs Mahlzeiten aufgeteilte Nahrungsaufnahme. Unter der Bedingung, dass
sich der Patient an die vorgegebenen Kostplan hält, kann eine relativ
kontinuierliche Senkung des Blutzuckers erreicht werden (11)RW.
Diese Art der Therapie sollte, wenn möglich, nur vorübergehend oder nur in
Ausnahmefällen - z.B. kognitiven Einschränkungen - verwendet werden. Das
Risiko für eine Hypoglykämie ist relativ hoch, und regelmäßige glykämische
Kontrollen sind verbindlich durchzuführen. Doch die einfache Handhabung kann
besonders für ältere Patienten häufig vorteilhaft sein (5).
Intensivierte konventionelle Insulintherapie (ICT)
Diese
Therapie
basiert
auf
dem
„Basis-Bolus“-Konzept,
bei
dem
die
tageszeitlichen und mahlzeitenabhängigen Schwankungen des Insulinwerts
nachgeahmt werden. Morgens und abends verabreicht sich der Patient selbst ein
Intermediärinsulin wie NPH, welches länger wirkt und den basalen Insulinbedarf
decken soll. Auch das langwirksame Analogon Detemir kann verabreicht werden,
welches zu weniger Gewichtszunahme führt und – so wie auch Glargin - bei
manchen Patienten nur einmal täglich gespritzt werden muss (13).
Zusätzlich
müssen
dreimal
täglich
vor
den
Mahlzeiten
Injektionen
des
kurzwirksamen, prandialen Bolusinsulins erfolgen (Normalinsulin). Die Höhe der
Insulindosen ist dabei von mehreren Faktoren abhängig: Größe der Mahlzeit
(gemessen in Kohlenhydrateinheiten), dem vor dem Essen gemessenen
Blutzuckerwert, der Tageszeit und der geplanten körperlichen Aktivität. Da die
Insulinempfindlichkeit
einer
zirkadianen
Schwankung
unterliegt,
müssen
Diabetiker mit folgenden Werten des Insulinbedarfs vertraut sein: morgens circa
2IE pro KE, mittags 1IE pro KE und abends 1,5IE pro KE. Des Weiteren sinkt der
Insulinbedarf bei Muskelarbeit, und die Dosis muss dementsprechend reduziert
werden (1).
15
Mehrmals tägliche Messungen des Blutzuckers sind für Diabetiker, die diese Art
der Therapie anwenden, Pflicht. Tabelle 4 gibt eine Übersicht über den geltenden
Rahmen der Blutglukosewerte wieder. Sollten die Zielwerte überschritten werden,
erfolgt die zusätzliche Gabe eines Korrekturinsulins gemäß der Faustregel, dass
1IE kurzwirksames Insulin die Blutglukose um 40 mg/dl senkt.
Bedingung
Blutzuckerzielwert
Vor dem Essen
80-110 mg/dl
2h nach dem Essen
<140 mg/dl
Vor dem Schlafengehen
110-130 mg/dl
Tabelle 5: Blutzuckerzielwerte bei Diabetes Typ 1 (9)
Seit einiger Zeit kann zur Blutzuckermessung auch ein „Continuous Glucose
Monitoring“ (CGM) angewendet werden. Dabei wird ein Sensor mit einer Spritze
ins Unterhautfettgewebe platziert, welcher kontinuierlich den Blutzucker in der
interstitiellen Flüssigkeit misst. So liefert das System 288 bis 1440 Messwerte pro
Tag, auch wenn der Patient schläft. Ein Alarm warnt, wenn eine Hyper- oder
Hypoglykämie bevor stehen sollte und gibt dem Patienten noch die Möglichkeit,
rechtzeitig zu handeln. Allerdings ist eine Vergleichbarkeit mit dem im Blut
gemessenen Glukosewert nur bedingt gegeben, da in unterschiedlichen
Kompartimenten gemessen wird. Deshalb sollte vor dem Einleiten einer Therapie
der Blutzuckerwert bestimmt werden, um den interstitiellen Wert zu bestätigen.
Besonders für folgende Indikationen hat sich die CGM als sinnvoll erwiesen: bei
nächtlichen
Blutzuckerentgleisungen,
Schwangerschaft,
geplanter
Schwangerschaft oder bei schwer einzustellendem HbA1c. Die CGM kann auch
bei Anwendung einer Insulinpumpe eingesetzt werden (14,15).
Insgesamt erfordert die ICT einiges an Eigenverantwortung, um korrekt ausgeführt
zu werden und ist deshalb nicht für alle Patienten geeignet. Kooperative und
motivierte Patienten können mit dieser Therapie allerdings individueller ihren
Tagesablauf und die Größe ihrer Mahlzeiten gestalten. Dies wird für viele
Patienten als Gewinn der Lebensqualität angesehen. Der HbA1c-Wert bei ICT
liegt laut Studien im Schnitt niedriger als bei der konventionellen Therapie, und
somit sinkt das Risiko für mikrovaskuläre Komplikationen. Nachteil dieser
16
Behandlung sind erhöhte Hypoglykämieraten und verstärkte Gewichtszunahme
(11).
Kontinuierliche subkutane Insulininfusion (CSII, „Insulinpumpe“)
Der Gebrauch von Insulinpumpen ist seit den späten 1970er Jahren in
kommerziellem Ausmaß möglich. Die Therapie beruht auf dem „Basis-Bolus“Prinzip mit zweimaliger basaler Injektion plus bedarfsangepasster Bolusgabe von
Insulin.
Die Pumpe besteht aus einer Steuereinheit, die über einen subkutan liegenden
Katheter mit dem Patienten verbunden ist. Die Basalrate wird individuell
einprogrammiert und kann so dem Patienten eigenständig zugeführt werden.
Zusätzlich bestimmt der Patient mit einem externen Blutzuckermessgerät die
aktuellen Glukosewerte, berechnet die benötigte Menge an Insulin und gibt die
erforderlichen Instruktionen in das Gerät ein. Es injiziert dann auch beliebige
Insulindosen je nach Bedarf (16).
CSII werden bei ausgeprägtem Dawn-Phänomen (Blutzuckeranstieg in den
Morgenstunden), stark schwankenden Bedarf an Insulin oder Schwangerschaft
verwendet. Die rasche Dosierbarkeit und unauffälligere Applikation bringen
Diabetes Patienten mehr Flexibilität und damit Lebensqualität.
Bei allen beschriebenen Therapiemöglichkeiten des Typ 1 Diabetes, können
Nebenwirkungen vorkommen. Am häufigsten treten Hypoglykämien auf, z.B. nach
einer zu hoch dosierten Menge an Insulin oder zu niedriger oder zu später
Nahrungszufuhr. Bei intensivierten Insulintherapie ist das Risiko für eine
Hypoglykämie dreimal höher als bei der konventionellen Therapie. Gute
Einschulung und ein möglichst physiologisches Regime können die Anzahl der
Hypoglykämien senken.
Weitere mögliche Nebenwirkungen sind Gewichtszunahme, Insulinallergien und
Antikörperbildung, Lipodystrophien und Insulinödeme. Letztere vier ereignen sich
eher selten (17).
17
1.4.2 Therapie des Diabetes mellitus Typ 2
Die Basis jeder Behandlung bildet die Ernährung, kombiniert mit ausreichender
Bewegung und Ausschaltung weiterer Risikofaktoren.
Es wird empfohlen die Nahrung wie folgt zusammenzusetzen:
-
Kohlenhydrate in etwa 50%
-
Proteine 20%
-
Fett 30% der Gesamtkalorien (3)
Die Normalisierung des Gewichts sollte oberste Priorität haben. Wenn möglich
darauf achten, dass der Energiebedarf (kcal) nicht überschritten wird, der sich mit
einer Formel berechnen lässt: Normalgewicht x 32 bei leichter körperlicher Arbeit.
Bei ausreichender Gewichtsabnahme kann unter Umständen eine medikamentöse
Diabetestherapie überflüssig werden (1,5).
Die primäre Richtgröße der Stoffwechselkontrolle stellt das HbA1c dar. Je
niedriger das HbA1c desto geringer das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und
Gesamtmortalität. Allerdings sollten die Zielwerte der individuellen Situation des
Patienten angepasst werden (siehe Tabelle 3) (18).
Wenn Diät und körperliche Aktivität den Blutzuckerspiegel nicht ausreichend
beeinflussen können, ist die Gabe von oralen Antidiabetika (OAD) indiziert. Sie
werden anhand ihres Wirkprinzips in zwei Gruppen eingeteilt: jene die direkt die
Beta-Zellen des Pankreas beeinflussen (insulinotrop oder betazytotrop) und jene
die an peripheren Geweben wirken (nicht-insulinotrop oder nicht betazytotrop).
Tabelle 6 stellt eine Übersicht der momentan am Markt befindlichen Antidiabetika
dar.
18
Insulinotrop
Nicht-insulinotrop
Sulfonylharnstoffe, Glinide, DPP-4-
Biguanide, Alpha-Glukosidase-
Inhibitoren, Inkretinmimetika
Hemmer, Glitazone
-
Wirkung an der Betazelle
-
Wirkung peripher
-
Therapie des Sekretionsdefizits
-
Therapie der Insulinresistenz
-
Wirkung auch in späten Stadien
-
Wirkung v.a. im frühen Stadium
-
Hypoglykämiegefahr
-
Keine Hypoglykämiegefahr
-
Potentielle Gewichtszunahme
-
Für adipöse Patienten geeignet
Tabelle 6: Wirkmechanismus der aktuell verwendeten oralen Antidiabetika (1)
Biguanide
Zum Hauptvertreter dieser Gruppe gehört das Metformin (Glucophage®). Es zählt
zu den am häufigsten verschriebenen antidiabetischen Medikamenten und senkt
nachweislich das Risiko für vaskuläre Komplikationen und Mortalität (19).
Die Wirkmechanismen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Erwiesenermaßen
senkt es die Glukoneogenese der Leber und erhöht die Aufnahme von Glukose in
Muskel- und Fettgewebe. Somit führt es nicht zu vermehrter Produktion von
Insulin sondern zu gesteigerter Insulinsensibilität. Dadurch kann es zu keiner
Hypoglykämie kommen. Weitere Vorteile sind eine Senkung der Triglyzeride und
Gewichtsreduktion (17).
Eine seltene aber ernsthafte Nebenwirkung ist das laktazidotische Koma, welches
aber nur bei Missachtung der Kontraindikationen auftritt. Zu den wichtigsten
zählen
Niereninsuffizienz,
dekompensierte
Herzinsuffizienz,
respiratorische
Insuffizienz und Schwangerschaft. Mindestens 72 Stunden vor einer Operation
oder Röntgen-Kontrastmittel-Applikation muss Metformin abgesetzt werden (5).
Weiters zeigen Studien, dass der Vitamin B12 Spiegel unter Metformintherapie
sinkt. Deshalb wird darüber nachgedacht parallel zu Metformin auch Vitamin B12Präperate zu verschreiben (19).
Zusammenfassend ist Metformin ein wertvolles Therapeutikum, vor allem bei Typ
2 Diabetiker mit Übergewicht. Problemlos kann es in Kombination mit Insulin und
anderen oralen Antidiabetika verschrieben werden (17).
19
Sulfonylharnstoffe
Zu den Wirkstoffen dieser Gruppe gehören Glimepirid (Amaryl®) und Glibenclamid
(z.B. Euglucon®). Sie bewirken eine erhöhte Sensibilität der Beta-Zellen auf einen
Glukosereiz und stimulieren so die Insulinsekretion (betazytotrop). Diese Art der
Therapie ist bei jenen Patienten indiziert, die noch ausreichend Eigenproduktion
von Insulin haben und mit Lifestylemodifikation nicht zur Zufriedenheit eingestellt
werden konnten. Basis der Therapie bleibt aber weiterhin Gewichtsnormalisierung
und Bewegung.
Da Sulfonylharnstoffe die Insulinsekretion steigern, erhöht sich auch das Risiko für
Hypoglykämien.
Ebenso
gehört
eine
Zunahme
unerwünschten Nebenwirkungen dieser
des
Medikamente.
Gewichts
Zudem
zu
den
zeigen sie
zahlreiche Wechselwirkungen mit anderen Stoffen. Das kann bei Verstärkung der
Wirkung
zu
Hypoglykämien
führen
oder
bei
Abschwächung
zu
Stoffwechselentgleisungen. Daher ist eine genauer Überprüfung der weiteren
Medikation und Aufklärung des Patienten (Alkohol!) Pflicht (1).
Nicht verschrieben werden dürfen Sulfonylharnstoffe unter anderem bei Typ 1
Diabetes,
Stoffwechselentgleisungen,
Schwangerschaft,
Nieren-
oder
Leberinsuffizienz.
Sollte mit einer Monotherapie keine befriedigende Einstellung des Diabetes
möglich sein, können Sulfonylharnstoffe auch mit alpha-Glukosidase-Hemmstoffen
oder mit einem Glitazon (siehe unten) kombiniert werden. Wegen der oben
genannten
Nebenwirkungen,
sollte
jedoch
Metformin
–
wenn
keine
Kontraindikation besteht - als erste Therapieoption gewählt werden (5).
Glinide (Sulfonylharnstoffanaloga)
Zu den Vertretern dieser Gruppe gehören Repaglinide (NovoNorm ®) und
Nateglinide (Starlix®). Sie fungieren als postprandiale Glukoseregulatoren und
üben daher kaum Wirkung auf den Nüchternblutzucker aus. Abhängig von
zugeführter Glukose blockieren sie ATP-sensitive Kaliumkanäle und führen so zu
einer kurzfristigen Ausschüttung von Insulin aus den Beta-Zellen. Sie wirken
schnell, halten kurz an und simulieren die physiologische Ausschüttung von Insulin
in der postabsortiven Phase (1,17).
20
Das Nebenwirkungsprofil entspricht dem der Sulfonylharnstoffe: Hypoglykämien,
Gewichtszunahme und gastrointestinale Beschwerden. Ebenso gelten dieselben
Kontraindikationen (5).
Unter der Bedingung einer noch ausreichend vorhandenen Beta-Zellfunktion, kann
Repaglinide zur Monotherapie des Typ 2 Diabetes angewandt werden. Auch eine
Kombination mit Metformin ist möglich. Es wurde gezeigt, dass die Effektivität bei
gemeinsamer Anwendung ansteigt. Nateglinide ist bislang nur gemeinsam mit
Metformin zur Behandlung zugelassen (17).
Alpha-Glukosidase-Hemmer
Die Wirkstoffe Acarbose (Glucobay®) und Miglitol (Diastabol®) hemmen im Darm
die Spaltung von Kohlenhydraten und verhindern so deren Aufnahme in den
Körper. Die unverdauten Stoffe regen im unteren Dünndarm die Bildung des
Hormons GLP-1 (Glucagon Like Peptide) an, welches als Stimulationsfaktor wirkt
und die Bildung von Insulin in den Beta-Zellen anregt (1).
Einschleichende
Dosierung
und
individuelle
Anpassung
wirken
allfälligen
Nebenwirkungen wie Flatulenz oder Bauchschmerzen entgegen (20).
Alpha-Glukosidase-Hemmer werden vor allem zur Therapie von postprandialer
Hyperglykämie angewandt und können mit anderen OADs kombiniert werden.
Obwohl ihre Potenz das HbA1c zu senken den Sulfonylharnstoffe unterlegen ist,
spricht das verminderte Auftreten von Hyperglykämien und Gewichtszunahme für
alpha-Glukosidasehemmer (17).
Glitazone (Thiazolidindione, Insulinsensitizer)
Dieser Substanzklasse gehören Rosiglitazon (Avandia®) und Pioglitazone (Actos®)
an. Ihr Ansatzpunkt ist der PPAR-γ-Rezeptor im Zellkern. Durch die Regulation
der
Expression
verschiedener
Gene,
die
für
die
Insulinempfindlichkeit
verantwortlich sind, verbessert sich die Reaktion peripherer Zellen auf Insulinreiz.
Es wird wieder vermehrt Glukose in die Leber, Skelettmuskel und Fettgewebe
aufgenommen (20).
Bei Unverträglichkeit auf Metformin und unzureichenden Lebensstilveränderungen
kommen diese Insulinsensitizer zum Einsatz. Allerdings muss mit einigen
Nebenwirkungen gerechnet werden, wie z.B. Gewichtszunahme, Ödembildung
21
durch Flüssigkeitsretention und erhöhtes Risiko für Frakturen bei Frauen. Wegen
möglicher kardialer Risiken wurde Rosiglitazon im Herbst 2010 vom Markt
genommen. Pioglitazone gilt zwar als eines der wenigen OAD mit positiven
kardiovaskulären Endpunkten, es wird jedoch mit dem vermehrten Auftreten von
Blasenkarzinomen in Verbindung gebracht. Deshalb sollten potentielle Anwender
von Pioglitazone angemessen selektiert und exkludiert werden und nur bei
entsprechendem Nutzen-Risiko-Verhältnis therapiert werden (5,21).
Zu den Kontraindikationen zählen Typ 1 Diabetes, Gravidität, Herzinsuffizienz und
jegliche Hinweise auf erhöhtes Risiko für ein Blasenkarzinom (Makrohämaturie,
Status post Blasenkarzinom u.a.) (21).
DPP-4-Inhibitoren (Gliptine)
Die Wirkung dieser Substanzgruppe beruht auf dem Enzym GLP-1. Gemeinsam
mit GIP (Glukoseabhängiges insulinotropes Peptid) gehört es zur Klasse der
Inkretine. Das sind Hormone, die Minuten nach der Nahrungsaufnahme aus LZellen des Darms freigesetzte werden, direkt auf die Beta-Zellen des Pankreas
wirken und dort die Insulinsekretion anregen. Bei Patienten mit Typ 2 Diabetes ist
dieser Inkretineffekt verringert, und es kommt folglich zu einer geringeren Antwort
auf orale Glukosezufuhr (22).
Physiologischerweise werden wenige Minuten nach der Freisetzung der Inkretine,
die selbigen von DPP-4 (Dipeptidyl-Peptidase 4) gespalten und damit inaktiviert.
Deshalb
wurde
nach
einer
Möglichkeit
gesucht,
die
Spaltung
dieser
Insulinstimulatoren zu verhindern. DPP-4-Inhibitoren wie Sitagliptin (Januvia®),
Vildagliptin (Galvus®) und Saxagliptin (Onglyza®) schützen GLP-1 vor der
Inaktivierung und erhöhen somit glukoseabhängig den Insulinspiegel (1).
Vorteil dieser gut wirkenden Substanzen ist ein relativ geringes Risiko für
Hypoglykämien
und
Gewichtszunahme,
kaum
Interaktionen
mit
anderen
Medikamenten und eine zuätzliche Hemmung der Glukagonsekretion. Allerdings
fehlen noch Langzeiterfahrungen und Endpunktstudien, die die Unbedenklichkeit
und Wirksamkeit auf lange Sicht bestätigen (5).
22
Inkretinmimetika (GLP-1-Agonisten)
Um die Wirkung der Inkretine aufrecht zu erhalten, gibt es nicht nur die
Möglichkeit, ihren Abbau zu inhibieren.
Ein GLP-1-Analogon welches von
vorneherein vor Abbau geschützt ist und an Beta-Zellen dieselbe insulinotrope
Wirkung hervorruft, wäre ebenso wirksam. Seit einigen Jahren erfüllen
Inkretinmimetika diese Anforderungen (22).
Exenatide (Byetta®) und Liraglutid (Vicotza®) sind momentan am Markt befindliche
Vertreter dieser Substanzklasse. Neben ihrer Wirkung auf das Pankreas
verzögern sie beide die Magenentleerung und verstärken das subjektive
Sättigungsgefühl. So können sie auch eine Gewichtsabnahme unterstützen (23).
Zusätzlich senken sie kardiovaskuläre Risikofaktoren wie Blutdruck und
Lipidkonzentration (24).
Exenatide steht seit 2007 als erstes Inkretinmimetikum zu Verfügung. Es muss
zweimal täglich subkutan injiziert werden. Seit kurzer Zeit ist jedoch eine Variante
des Exenatide erhältlich, das durch veränderte Galenik nur noch einmal
wöchentlich verabreicht werden muss (Bydureon®).
Eine Abwandlung des Exenatide ist das Liraglutid, welches eine Halbwertszeit von
etwa 12 Stunden besitzt und nach einer einzigen subkutan Verabreichung auch
nach 24 Stunden erhöhte Plasmaspiegel aufweist. Auch den HbA1c-Wert vermag
Liraglutid potenter als Exenatide zu senken (22,25).
Das Nebenwirkungsprofil dieser Medikamente ist – ebenso wie das der DPP-4Inhibitoren – äußerst günstig. Nausea, Emesis, Nasopharyngitis und milde
Hypoglykämien zählen zu den unerwünschten Nebenwirkungen. Weiters wurde
eine geringe Anzahl an chronischen und akuten Pankreatiden mit der Behandlung
von GLP-1-Analoga und DPP-4-Inhibitoren in Zusammenhang gebracht. Klinische
und experimentelle Daten die die Kausalität bestätigen, sind jedoch noch
ausständig (24,26).
SGLT-2-Inhibitoren (Gliflozine)
SGLT-2 (Natrium-Glukose-Transporter 2, engl.: Sodium-Glucose Cotransporter 2)
gehört zur Gruppe der Glukosetransporter und ist für über 90% der renalen
Rückresorption von Glukose in den proximalen Tubuli der Niere verantwortlich.
Die Hemmung dieser Transporter führt zu einer insulinunabhängigen Reduktion
23
der Hyperglykämie und einer negativen Energiebilanz. Substanzen dieser Klasse
sind hochselektive Inhibitoren von SGLT-2, die zwar im Moment noch nicht
verwendet werden, aber deren Wirkung und möglicher Einsatz zur Therapie des
Diabetes mellitus Typ 2 seit einiger Zeit in Studien untersucht werden (27). Unter
anderem sind Dapagliflozin, Canagliflozin, Empagliflozin und Ramogliflozin
Wirkstoffe, die sich in klinischer Entwicklung befinden und bislang gute
Verträglichkeit und Kombinierbarkeit mit anderen Antidiabetika gezeigt haben.
Unter der Therapie mit Dapagliflozin konnten die Blutglukosewerte, der HbA1cWert, das Gewicht und der Blutdruck gesenkt werden (6,28,29).
Bezüglich der Nebenwirkungen scheinen Gliflozine generell gut toleriert zu
werden. Es wurde von vermehrten Infektionen des Urogenitaltrakts berichtet,
obwohl der direkte Zusammenhang mit einer Glukosurie noch nicht vollständig
geklärt ist. Ein Abfall des Blutdrucks auf Grund vermehrter osmotischer Diurese
kann sogar meist als Vorteil angesehen werden. Der mit der gesteigerten
Ausscheidung durch die Nieren verbundene Anstieg von Serumkreatinin und
Harnstoff war nur vorübergehend zu beobachten (29,30).
Andere Therapeutika in Entwicklung
In laufender Entwicklung befinden sich Glukokinaseaktivatoren. Das Enzym
Glukokinase hat im Körper zwei Hauptaufgaben: an den Betazellen des Pankreas
wirkt es als „Glukosesensor“ und fördert die Ausschüttung von Insulin und in der
Leber bewirkt es die Umwandlung von Glukose zu Glykogen. Beides führt zu einer
Senkung der Hyperglykämie und ist damit von Interesse für Diabetiker.
Glukokinaseaktivatoren würden diese Prozesse fördern. Derzeitiges Problem sind
Hypoglykämien, Fettleber, Hyperlipidämie und Gewichtszunahme. Dennoch wird
weiter in diesem Bereich geforscht (31,32).
Glukagon-Rezeptor-Antagonisten könnten die Wirkung des Glukagons hemmen.
Dieses in den Alpha-Zellen des Pankreas produzierte Hormon ist für die
postprandiale Glukoseproduktion verantwortlich. Eine Antagonisierung oder
Immunoneutralisation würde diesen Blutglukoseanstieg verhindern (22).
Sirtuine sind weitere Stoffe die zurzeit von starkem Interesse bezüglich
Diabetestherapie sind. Sie führen zu einer Verbesserung der Glukoseverwertung
und der Insulinsensitivität und scheinen eine ähnliche Wirkung auf den Körper zu
24
haben, wie diätische Maßnahmen. Resveratrol ist eine in Wein und Trauben
natürlich
vorkommende
Substanz,
die
Sirtuine
aktiviert
und
momentan
Gegenstand der Forschung ist (22).
Im längeren Krankheitsverlauf werden die Beta-Zellen des Pankreas immer
insuffizienter und das relative endogene Insulindefizit nimmt zu. Dann sind die
meisten oralen Antidiabetika nicht mehr genug wirksam und es kann notwendig
werden, auch bei Typ 2 Diabetikern, mit exogenem Insulin zu therapieren. Eine
Kombination beider Varianten ist ebenso möglich. Es wird sogar empfohlen, früher
als bisher üblich, die orale antidiabetische Therapie mit Insulin zu ergänzen. So
soll die Beta-Zellfunktion länger erhalten werden. Meist wird eine intensivierte
konventionelle Insulintherapie angewandt. Allerdings gehören Hypoglykämie und
Gewichtszunahme zu den altbekannten Nebenwirkungen der Insulintherapie.
Zusätzlich wird schon seit längerer Zeit über ein erhöhtes Risiko für
Tumorerkrankungen in Zusammenhang mit Insulin diskutiert (5,33).
1.5 Akutkomplikationen
1.5.1 Coma diabeticum
Das Coma diabeticum stellt eine schwerwiegende Stoffwechselentgleisung dar,
bedingt durch absoluten oder relativen Insulinmangel. Meist wird es von
erheblichen Wahrnehmungsstörungen begleitet und kann unbehandelt zum Tod
führen (1).
Man unterscheidet das für Typ 1 Diabetiker typische ketoazidotische Koma vom
hyperosmolaren Koma, welches charakteristisch für Typ 2 Diabetiker ist.
Beim ketoazidotischen Koma führt eine zu lange anhaltende Hyperglykämie zur
osmotischen Diurese mit konsekutiver Dehydration und Elektrolytentgleisung. Die
Hypovolämie
birgt
die
Gefahr
eines
Nierenversagens
und
eines
Volumenmangelschocks. Außerdem führt die durch den Insulinmangel bedingte
Lipolyse zur Bildung von Ketonkörpern, die für die Azidose verantwortlich sind
(siehe auch Kapitel 1.2.1). Das hyperosmolare Koma des Typ 2 Diabetikers zeigt
25
eine ähnliche Pathogenese, jedoch verhindern geringe Mengen an Insulin die
Lipolyse und damit eine Ketose (5).
Klinisch imponieren bei beiden Komaarten Polydipsie, Brechreiz und Exsikkose
(klinisch erkennbar durch weiche Augenbulbi), bevor es letztendlich zur
Bewusstlosigkeit kommt. Pankreasschmerz (Pseudoperitonitis diabetica) und
Kussmaul’sche Atmung mit Azetonmundgeruch sind hingegen nur typisch beim
ketoazidotischen Koma (1,34).
Ursächliche Faktoren können fehlende oder ungenügende exogene Zufuhr von
Insulin oder ein erhöhter Bedarf von Insulin sein. Zu letzterem kommt es
beispielsweise
bei
einer
Infektion,
Diätfehlern,
Operation,
Unfällen,
Schwangerschaft oder endokrinologischen Erkrankungen (z.B. Hyperthyreose). In
25% der Fälle handelt es sich um ein Manifestationskoma. Das bedeutet, der
Diabetes wird erst im Zuge des Komas diagnostiziert (1).
Von entscheidender Wichtigkeit sind eine schnelle Diagnosestellung und das
Einleiten einer adäquaten Therapie. Diese beinhaltet neben intensivmedizinischen
Allgemeinmaßnahmen
Elektrolythaushalt,
(Kontrolle
Blasenkatheter,
von
u.a.),
Atmung,
Kreislauf,
Wasser
und
den intravenösen Ausgleich der
Dehydratation und Hyperosmolarität, die Insulingabe (Normalinsulin i.v., initialer
Bolus 10IE, danach ca. 5IE/h über Pumpe), die Azidosekorrektur bei einem pHAbfall <7,1 mit Bikarbonat und bei Bedarf der Ausgleich von Elektrolyten (Natrium,
Kalium, Phosphat) (1).
1.5.2 Hypoglykämie
Typisch für die Hypoglykämie ist die sogenannte Whipple-Trias: Blutzucker <45
mg/dl, hypoglykämische Symptome und Verschwinden der Symptome unter der
Zufuhr von Glukose (5).
Die Ursache kann in einer Überdosierung von antidiabetischen Medikamenten,
einer
ausgelassenen
Mahlzeit,
körperlicher
Aktivität
oder
dem
Genuss
alkoholischer Getränke liegen.
Blässe, Schwitzen, Unruhe und Tachykardien sind typische Symptome einer
Hypoglykämie. Da das Gehirn von der exogenen Glukosezufuhr abhängig ist,
26
können bei zu geringem Blutzucker auch neuronale Dysfunktionen auftreten. Im
fortgeschrittenen Stadium kann es zu Krampfanfällen und Somnolenz bis hin zum
Koma kommen (5,35).
Therapeutisch wird bei noch erhaltenem Bewusstsein Glukose per os zugeführt
(z.B.
zuckerhaltige
Getränke).
Bewusstlosen
Patienten
kann
Glukagon
intramuskulär oder subkutan verabreicht werden. Bei unzureichender Wirkung
innerhalb von zehn Minuten muss Glukose 10-50% intravenös zugeführt werden
(17).
1.6 Spätkomplikationen
1.6.1 Diabetische Makroangiopathie
Patienten die an Diabetes mellitus erkranken, zeigen eine vorzeitige und
schnellere Atherosklerosebildung der großen und mittleren Gefäße. Dies führt
dazu, dass kardiovaskuläre Komplikationen häufiger bei diesen Patienten
auftreten, als in der Normalbevölkerung. Wichtig ist deshalb ein gut eingestellter
Blutzucker, der diese Entwicklung verhindern kann, und rechtzeitiges Erkennen
und Therapieren der atherosklerotisch veränderten Blutgefäße (36).
1.6.2 Diabetische Mikroangiopathie
Durch die andauernde Hyperglykämie bei Diabetikern kommt es auch zur
Schädigung kleiner Gefäße. Besonders Anfällig für diese Veränderungen sind die
Kapillaren des Auges und der Niere.
In der Niere kann histopathologisch eine Expansion der Mesangiumzellen, eine
Verdickung der Basalmembran und eine Glomerulosklerose beobachtet werden.
Folge ist eine zunehmende Proteinurie und im Laufe vieler Jahre eine Abnahme
der glomerulären Filtrationsrate. Eine Hypertonie ist meist Begleiter der
nephrologischen
Veränderungen.
Das
Terminalstadium
bildet
die
Niereninsuffizienz (5,37).
27
1.6.3 Diabetische Neuropathie
Durch komplexe pathophysiologische Mechanismen kann es im Zuge der
Hyperglykämie bei Diabetikern zur Schädigung der Nerven kommen. Am
häufigsten
manifestiert
sich
diese
durch
Schmerzen,
Parästhesien
und
Taubheitsgefühl in den Extremitäten, die sich strumpf- bzw. handschuhförmig
ausbreiten und in der Nacht an Intensität zunehmen. Auch verschiedene innere
Organe können von der Nervenschädigung betroffen sein und zu diversen
Symptomen führen wie z.B. Gastroparesen, Ruhetachykardien oder erektile
Dysfunktion (38).
Besonderes Augenmerk sollte im Zuge der Neuropathie auf regelmäßige Kontrolle
der Füße gelegt werden. In Kombination mit einer Makroangiopathie kann es zur
Bildung eines sogenannten diabetischen Fußsyndroms kommen. Dies beinhaltet
Veränderungen am Fußskelett, Ulcera, Gangrän und im schlimmsten Fall
Amputation der betroffenen Extremität (5).
1.6.4 Diabetische Retinopathie
Eine Folge der Mikroangiopathie ist die diabetische Retinopathie, die im Zuge der
vaskulären Veränderung bei Diabetikern vorkommen kann. Diese Erkrankung soll
im nun folgenden Kapitel ausführlicher diskutiert werden (siehe Kapitel 2) (39).
28
2 Diabetische Retinopathie
2.1 Epidemiologie
In den Industriestaaten gehört die diabetische Retinopathie (DR) zu den
häufigsten Ursachen einer Erblindung zwischen dem 25. und 60. Lebensjahr.
Durch steigenden Lebensstandard und zunehmendes Lebensalter erhöht sich
auch stetig die Zahl der Diabetiker. Entwicklungsländer holen durch Adaptation
des westlichen Lebensstils bei der Inzidenz des Diabetes mellitus rasch auf (40).
Typ 1 Diabetiker erkranken häufiger an diabetischer Retinopathie als Patienten die
an Typ 2 Diabetes leiden. Frühestens nach drei bis fünf Jahren ab
Diagnosezeitpunkt treten erste Zeichen der Erkrankung auf. Für Patienten die an
Typ 2 Diabetes leiden, werden ähnliche Werte vermutet, jedoch ist der Zeitpunkt
des Krankheitsausbruchs meist nicht sicher feststellbar. Oft leiden Typ 2
Diabetiker schon Jahre an dieser Erkrankung und wissen gar nicht davon. Zum
Zeitpunkt der Diagnose kann bei etwa 10-15% bereits der Befund einer
diabetischen Retinopathie erhoben werden (41). Trotz gehäufter Prävalenz der
diabetischen Retinopathie bei Patienten mit Diabetes mellitus Typ 1, überwiegt der
Anteil der Typ 2 Diabetiker. Auf sie entfallen über 90% der diagnostizierten
Diabetes Fälle (42).
Wann die diabetische Retinopathie auftritt, lässt sich schwer vorhersagen. Der
Zeitpunkt ist von vielen Faktoren abhängig. Von zentraler Bedeutung ist neben der
Erkrankungsdauer auch die Qualität der Blutzuckerwerte. Da diese Erkrankung
schleichend voranschreitet und Patienten unter Umständen lange beschwerdefrei
bleiben, ist es wichtig, regelmäßig ophthalmologische Kontrollen bei Diabetikern
durchzuführen.
So
können
eventuelle
Schäden
frühzeitig
erkannt
und
stadiengerecht therapiert werden. In solchen Fällen ist es möglich, die
Wahrscheinlichkeit für die Entstehung eines schweren Sehverlusts unter 5% zu
halten (39,40).
29
2.2 Ätiologie und Pathogenese
Seit mittlerweile 120 Jahren ist der schädliche Effekt des Diabetes mellitus auf die
retinale Blutversorgung bekannt. 1889 brachte Minkowski erstmals Glukosurie mit
dem Verlust von Inselzellen des Pankreas in Verbindung. Als 1923 Insulin
entdeckt
wurde,
erhöhte
die
Möglichkeit,
Insulin
zu
verabreichen,
die
Überlebensrate für insulinabhängige Diabetiker enorm. Gleichzeitig stieg auch die
Anzahl der Patienten mit diabetischer Retinopathie, da die Netzhaut nun häufiger
und länger mit schwankenden Blutzuckerwerten konfrontiert wurde (43).
Heute sind noch immer nicht alle Pathomechanismen der Entstehung einer
diabetischen Retinopathie bekannt. Jedoch ist erwiesen, dass maßgeblich
folgende Prozesse daran beteiligt sind:

Bildung von Mikroaneurysmen in retinalen Kapillaren

Gesteigerte Permeabilität retinaler Blutgefäße

Verschluss von Gefäßen

Ausbildung neuer Blutgefäße in der Retina und Entstehung von fibrösen
Membranen

Kontraktion dieser fibrösen Membranen (44)
Abbildung 1: Phyisologischer Augenhintergrund (45)
30
Abbildung 2: Diabetische Makulopathie und nichtproliferative Retinopathie (Archiv der
Universitäts-Augenklinik Graz)
Eine Schlüsselrolle bei diesen Veränderungen nehmen die Perizyten und ihr
selektiver Untergang im Verlauf der diabetischen Retinopathie ein. Perizyten
ummanteln Kapillaren, stützen sie und regulieren den Tonus der Gefäße (46). In
Tierexperimenten wurde nachgewiesen, dass deren Verlust bereits vor der
Bildung von Mikroaneurysmen beginnt. Die Kapillaren des optischen Nervs und
des zerebralen Cortex, die denen der retinalen Gefäßen sehr ähnlich sind, bleiben
von diesem Perizytenuntergang jedoch verschont. Dies legt den Verdacht nahe,
dass die Perizyten eher auf lokale Vorgänge in der Retina reagieren und sich nicht
auf Grund systemischer Veränderungen wie der Hyperglykämie verändern (47).
Nach dem Untergang der Perizyten bleiben so genannte „pericyte ghosts“ zurück,
die nur mehr die Hülle der ehemaligen Perizyten darstellen. In Folge des
fehlenden Tonus bilden sich nun Mikroaneurysmen aus. Sie sind häufig das erste
sichtbare Zeichen einer beginnenden diabetischen Retinopathie (46).
Weitere pathologische Vorgänge sind die Verdickung der Basalmembran und der
Verlust des Gefäßendothels. Dies führt zu einer Störung in der Blut-RetinaSchranke, die der Blut-Hirn-Schranke ähnlich ist. Folge davon sind eine
31
gesteigerte Gefäßpermeabilität, mit Austritt von Plasma, Blut und Lipoproteinen
und Bildung eines Makulaödems. Weiters kommt es durch die Veränderungen in
den Kapillaren zum Versagen der Autoregulation des Durchmessers und damit
zum teilweisen Verschluss der Kapillaren (40,43).
Durch die andauernde Hypoxie werden in der Retina angiogene Faktoren gebildet,
wie zum Beispiel vascular endothelial growth factor (VEGF) und Insulin-like growth
factor 1 (ILGF-1). Diese induzieren eine Neovaskularisation und führen so zur
weiteren Progression der diabetischen Retinopathie (41).
Man unterscheidet die Entwicklung neuer Gefäße in der Region des Sehnervs
(new vessel on optic disc = NVD) vom Rest der Retina (new vessel elsewhere =
NVE). NVDs kommen besonders häufig vor und sind mit einem größeren Risiko
für einen Sehverlust verbunden. Wie und wann neue Gefäße einwachsen, lässt
sich allerdings schwer vorhersagen. Sie folgen einem bestimmten Zyklus von Aufund Abbau. In späteren Stadien sind sie meist von fibrösem Gewebe umgeben,
welches auch dem Glaskörper anhaftet (44).
Abbildung 3: NVDs (Archiv der Universitäts-Augenklinik Graz)
32
Gelegentlich können Wachstumsfaktoren auch im vorderen Augenabschnitt zu
vermehrter Neubildung von Gefäßen führen. Man spricht dann von einer Rubeosis
iridis. Unter Umständen kann diese Neovaskularisation bei fortgeschrittener
diabetischen Retinopathie auch zu einem Glaukom führen (48).
Die Schrumpfung des hinteren Bereichs des Glaskörpers gehört zu den normalen
Degenerationsprozessen des Alters. Doch die bei der diabetischen Retinopathie
ausgebildeten fibrösen Membranen führen zu einem Zug an der Retina, die im
schlimmsten Fall in einer Ablation gipfeln kann. Diese Traktion wirkt auch auf die
neu ausgebildeten Gefäße. Folge kann eine Glaskörpereinblutung sein, die sich in
leichten Symptomen wie herumwandernden Flecken bis hin zu massivem
Visusverlust äußern kann (44).
Abbildung 4: Neovaskularisationen und hyaline Membran (Archiv der UniversitätsAugenklinik Graz)
33
2.3 Klassifikation
Die diabetische Retinopathie wird in verschiedene Stadien eingeteilt. Die
Klassifikation ist wichtig, da von ihr Prognose und Therapie entscheidend
abhängen. Die Stereofundusfotographie genau festgelegter Netzhautareale ist
Basisuntersuchung für die Einteilung. Die erhaltenen Aufnahmen der retinalen
Veränderungen werden mit Hilfe von Referenzbildern standardisiert ausgewertet
(49).
Im klinischen Alltag wird zwischen proliferativer und nichtproliferativer diabetischer
Retinopathie unterschieden.
Für Studien wird meist die detailreiche Einteilung
nach den Standardfotos der Early Treatment Diabetic Retinopathy Study
Research Group (ETDRS) verwendet. Anhand von ihnen werden Parameter wie
schwere Hämorrhagien, intraretinale mikrovaskuläre Anomalien (IRMA) und
Schwankungen im Durchmesser venöser Gefäße mit Patientenbildern in
Zusammenhang gebracht und analysiert (siehe Tabelle 7). Während in frühen
Stadien die diabetische Retinopathie noch symptomlos verläuft, kommt es in
Spätstadien zu Einschränkungen der Sehkraft (41).
Stadium
Befund
Kontrollintervall
Therapie
Keine
Retinopathie
Keine sichtbaren
Veränderungen
12 Monate
Diabeteseinstellung
optimieren
Mikroaneurysmen
12 Monate
s.o.
6 Monate
s.o.
Milde
nichtproliferative
Retinopathie
Mikroaneurysmen,
Mäßige
nichtproliferative
Retinopathie
Blutungen, leichte
IRMA, venöse
Veränderungen aber
weniger als bei
schwerer NPDRP
34
Schwere
>20 Blutungen, oder
Perlschnurvenen,
nichtproliferative
oder
Retinopathie
3 Monate
s.o. plus optional:
Laserkoagulation
ausgeprägte IRMA
Panretinale
Laserkoagulation,
Proliferative
Retinopathie
Vitrektomie bei
Gefäßproliferationen
3 Monate
Glaskörperblutung,
Traktionsablatio
und massiver
Proliferation
Tabelle 7: Klassifikation der diabetischen Retinopathie (modifiziert nach (39))
Nichtproliferative Retinopathie:
Dieses Stadium zeichnet sich dadurch aus, dass noch keine Neovaskularisationen
erkennbar sind. In der ophthalmoskopischen Untersuchung der Netzhaut kann
man Mikroaneurysmen, Punkt- und Fleckblutungen und als „harte Exsudate“
bezeichnete Lipidablagerungen erkennen. Bei schweren Verläufen sind weiters
„cotton wool“-Flecken (ischämischer Axoplasmastau), Verdickung, Segmentierung
und Schleifenbildung von Venen und Zonen ohne kapilläre Versorgung
zu
erkennen (siehe Abbildung 2). In circa 50% der Fälle entwickelt sich aus einer
nichtproliferativen innerhalb eines Jahres eine proliferative Form der diabetischen
Retinopathie (40). Tabelle 7 gibt Auskunft über die weitere Einteilung in eine
milde, mäßige und schwere Form der nichtproliferativen Retinopathie.
Proliferative Retinopathie
Charakteristisch für dieses Stadium ist die Bildung neuer Blutgefäße in der
Netzhaut,
induziert
durch
anhaltende
insuffiziente
Sauerstoffversorgung.
Gefäßneubildungen am Nervus opticus sprießen bevorzugt aus Gefäßen des
Nervenfaserkopfs aus und wachsen zwischen der inneren Grenzmembran der
Retina und dem Glasköper ein. NVEs entwickeln sich aus angrenzenden
Kapillaren, die der normalen Blutversorgung noch zugänglich und nicht
perfundierten Arealen nahe sind. Fächerförmig dringen sie in die Netzhaut oder
35
den Glaskörper ein. Da ihre Wände instabiler aufgebaut sind als die
ursprünglichen Gefäße, kommt es leichter zu Beschädigungen und konsekutiven
Blutungen.
Hormonelle Umstellungen wie sie etwa während einer Schwangerschaft
vorkommen, wirken beschleunigend auf die Entwicklung einer proliferativen
Retinopathie ein (40,50).
Extra erwähnt werden sollte die diabetische Makulopathie. Eine Schädigung der
Makula stellt für den Patienten den Verlust der zentralen Sehschärfe dar und ist
daher von entscheidender Bedeutung für die Lebensqualität.
Die EDTRS definierte das klinisch signifikante Makulaödem anhand folgender
Charakteristika: Verdickung der Netzhaut und harte Exsudate, beides im Umkreis
von 500 µm zum Zentrum der Fovea und Makulaödem größer als ein
Papillendurchmesser und weniger als ein Papillendurchmesser von der Makula
entfernt (50).
Die Makulopathie ist hauptverantwortlich für eine gravierende Verschlechterung
des Sehvermögens bei der nichtproliferativen diabetischen Retinopathie. Typisch
und daher für die Diagnosestellung wichtig sind so genannte „Circinata Atolle“.
Rund um pathologische Gefäße und Mikroaneurysmen finden sich fokale
konzentrische
Lipidexsudate.
Koheränztomographie
(OCT)
Weiters
oder
der
können
mit
der
Fluoreszenzangiographie
optischen
zystische
Spalträume im Zentrum der Retina nachgewiesen werden (40).
2.4 Therapie
Basis einer erfolgreichen Therapie ist eine gut funktionierende Kontrolle des
Blutzuckers und ein optimal eingestellter Hypertonus. Studien belegen, dass sich
der Ausbruch der diabetischen Retinopathie verzögern lässt, wenn eine
konsequente Einstellung der Blutzuckerwerte erfolgt (siehe Kapitel 3.1).
Ebenso wichtig sind regelmäßige Kontrollen beim Facharzt. Da Therapien der
diabetischen Retinopathie häufig nur das Fortschreiten des Visusverlustes
36
verhindern können, nicht aber zu einer Visusverbesserung oder gar Heilung
führen, sind ophthalmologische Untersuchungen essentiell (39).
Typ 1 Diabetiker sollten ab dem fünften Jahr nach Diagnosestellung jährlich von
einem Augenarzt untersucht werden. Circa zehn Jahre nach Diabetesbeginn und
in Phasen der hormonellen Umstellung (Pubertät, Schwangerschaft) sollte sich die
Frequenz der augenärztlichen Kontrollen auf vier Mal pro Jahr erhöhen. Für Typ 2
Diabetiker werden ebenfalls jährliche Kontrollen empfohlen, wenn noch keine
sichtbaren Zeichen einer diabetischen Retinopathie erkennbar sind. Bei
ausgeprägter
nichtproliferativer
Retinopathie
sollten
jedoch
¼
jährlich
ophthalmologische Untersuchungen der Retina durchgeführt werden, um eine
rechtzeitige Behandlung zu ermöglichen (40).
Die Therapie richtet sich nach dem Stadium, in welchem sich der Patient befindet
(siehe Tabelle 1). Patienten im Stadium einer nichtproliferativen Retinopathie
bedürfen keiner akuten Therapie. Bei Ihnen empfiehlt es sich, jährliche
augenärztliche Kontrollen durchzuführen, auf eine optimale Einstellung des
Blutzuckers und Blutdrucks zu achten und eventuell assoziierte Erkrankungen wie
Anämie oder Nierenversagen zu behandeln (48).
Bei klinisch signifikantem Makulaödem ist die Lasertherapie Goldstandard und
wird unabhängig von der Sehschärfe des Patienten durchgeführt. Diese Therapie
kann das Risiko für einen Sehverlust um 50 % senken. Vor der Behandlung sollten
die Bereiche der Netzhautverdickung genau identifiziert und nach Möglichkeit eine
Fluoreszenzangiographie durchgeführt werden, um den Zustand der retinalen
Kapillaren und die Lage möglicher Leckstellen zu überprüfen. Sollte die
Gefäßversorgung der Fovea unterbrochen sein (ischämische Makulopathie), stellt
dies eine Kontraindikation für eine Lasertherapie dar (41,48).
37
Abbildung 5: Lasertherapie eines diabetischen Makulaödems (Archiv der UniversitätsAugenklinik Graz)
Für die Therapie des diabetischen Makulaödems stehen zwei Varianten der
Lasertherapie
zu
Auswahl:
zum
einen
die
fokale
Therapie,
bei
der
Mikroaneurysmen, die 500 – 3000 µm vom Zentrum der Fovea entfernt sind, direkt
mit dem Laser beschossen werden. Zum anderen die Gitter-Therapie, die bei
zentral gelegenen Veränderungen verwendet wird und bei der gitterförmig das
gesamte Ödemareal mit niedriger Energie bedeckt wird. Hierbei muss besonders
auf die Fovea geachtet werden, da eine unabsichtliche Verletzung zu einem
Zentralskotom führen würde (39,48).
Obwohl die Lasertherapie sehr effektiv gegen die Weiterentwicklung des
Makulaödems wirkt, ist sie dennoch mit einigen Nebenwirkungen behaftet. Durch
die zerstörende Wirkung des Lasers können die Sehschärfe, die Dunkeladaptation
und die Farbwahrnehmung abnehmen und das Gesichtsfeld eingeschränkt
werden. Deshalb wird schon seit längerer Zeit nach einer medikamentösen
Alternative geforscht (51). Vorangegangene Studien zeigen, dass sich zum
Beispiel die intravitreale Applikation des Cortisons Triamcinolon positiv auf die
Dicke des Makulaödems auswirkt. Doch hält der Effekt meist nur kurz an und das
38
Risiko für eine Erhöhung des intraokulären Drucks und die Bildung einer Katarakt
nimmt deutlich zu (52). Deshalb wird aktuell an der Entwicklung eines
Steroidimplantats geforscht, welches über längere Zeit kleinere Dosen an Cortison
abgeben soll. Campochiaro et al. (2011) (53) beschreiben in einer Studie die
Anwendung von Implantaten die mit Fluocinolon angereichert sind und mit einer
Nadel in den Glaskörper eingebracht werden. Pharmakokinetische Studien
belegen die kontinuierliche Abgabe von Fluocinolon für mindestens ein Jahr und
eine Reduktion des Makulaödems.
Außerdem hat sich die intravitreale Anwendung von Bevacizumab (Avastin®)
bewährt, einem monoklonalen Anti-VEGF-Antikörper, der in Österreich bereits offlabel angewandt wird. Er verringert nachweislich die Dicke des Makulaödems.
Ebenso effektiv wirkt Ranibizumab (Lucentis®), am besten in Kombination mit der
bewährten Lasertherapie. Allerdings fehlen noch Langzeitstudien, und so wird zum
Teil befürchtet, es könnten bisher noch unbekannte systemische Effekte oder
Nebenwirkungen auftreten (54,55).
Unter Umständen kann bei der diabetischen Makulopathie auch eine Pars-planaVitrektomie
indiziert
sein.
Wenn
eine
verdickte
und
straffe
hintere
Glaskörpergrenzmembran tangential am Makulaödem ziehen sollte, bleibt eine
Operation als letzte mögliche Lösung. In der Fluoreszenzangiographie sieht man
charakteristisch eine ungeordnete Leckage und ein zystisches Makulaödem. Mit
der Optischen Kohärenztomographie wird entschieden, für welche Patienten diese
Operation von Nutzen ist (48).
Auch für die Therapie der proliferativen diabetischen Retinopathie ist die
Laserbehandlung Mittel der Wahl. Dabei wird in mehreren Sitzungen eine so
genannte panretinale Laserkoagulation durchgeführt. Unter Aussparung der
großen Gefäßbögen, erfolgt die Laserbestrahlung von 1000-2000 Herden. Die
Nebenwirkungen sind dieselben wie bei der fokalen oder Gitterlasertherapie des
Makulaödems. Zusätzlich können sich Membranen auf der Makula ausbilden
(epiretinale Gliose) (40).
39
Abbildung 6: Über dem oberen Gefäßbogen panretinale Laserkoagulate zur Therapie einer
proliferativen diabetischen Retinopathie (Archiv der Universitäts-Augenklinik Graz)
Ein weiterer Therapieansatz zielt auf eine Inhibition der Proteinkinase C (PKC) ab.
Sie ist auch ein Faktor, der sich auf die Entstehung der diabetischen Retinopathie
auswirkt.
Durch
andauernde
Hyperglykämie
erhöht
sich
im
Blut
der
Diacylglycerolspiegel (DAG). Dieses ist wiederum für die Aktivierung der PKC
verantwortlich.
Einmal
aktiviert
kann
die
PKC
zu
diversen
vaskulären
Dysfunktionen führen und das Fortschreiten der diabetischen Retinopathie
induzieren. Ruboxistaurin, ein PKC-Inhibitor, zeigte bereits in einer Studie seine
Fähigkeit, die retinale Gefäßpermeabilität zu senken und Neovaskularisation zu
vermindern. So soll oral verabreichtes Ruboxistaurin sich auf lange Sicht positiv
auf die Sehschärfe bei diabetischer Retinopathie auswirken (41,56).
Nach möglichen Alternativen wird weiterhin intensiv geforscht und eine eventuell
in Zukunft verwendbare Therapiemöglichkeit stellen vom Hämangiom abgeleitete
Stammzellen dar. Sie sollen sich im Auge zu Perizyten differenzieren und den
Gefäßzellen ihre Stabilität wiedergeben. Allerdings sind klinische Studien noch
ausständig (55).
Obwohl in Tiermodellen gezeigt werden konnte, dass das Antioxidans Alpha
Lipoinsäure wirksam mikrovaskuläre Komplikationen des Diabetes verhindern
40
kann, konnte dieser Effekt in einer Phase III Studie nicht nachgewiesen werden
(57).
Langdiskutierte Aldoseredukatse-Inhibitoren zeigen leider auch keine signifikante
Besserung der Komplikationen bei Langzeitdiabetikern. Nur bei kurzfristiger
Hyperglykämie sind sie in der Lage, die Hyperpermeabilität der retinalen Gefäße
zu verringern (58).
Bei Traktionsamotio oder schweren Glaskörperblutungen ist eine Vitrektomie
indiziert. Dabei werden der Glaskörper mitsamt dem Blut entfernt und die
Membranen von der Retina abgeschält. Um weitere Proliferationen und Blutungen
zu vermeiden, sollte noch während der Operation eine Endolaserkoagulation
durchgeführt werden (40).
41
3 Risikofaktoren der diabetischen Retinopathie
3.1 Glykämische Kontrolle und HbA1c
Der Zusammenhang der diabetischen Retinopathie mit Hyperglykämie ist nahe
liegend und gilt als schon lange etabliert (59). Für Typ 1 Diabetiker liegt nach 25
Jahren Erkrankung das Risiko für die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie
bei insgesamt 97%, und der stärkste und beständigste Risikofaktor ist die
Hyperglykämie (60).
Deshalb ist es für die Prävention wichtig, den Level der Blutglukose auf einem
möglichst physiologischen Niveau zu halten. Studien konnten zeigen, dass eine
intensive antiglykämische Therapie die Entstehung und Progression von
mikrovaskulären Komplikationen signifikant verhindern (61,62) und den Bedarf an
Photokoagulationen senken kann (63).
Die langfristige Qualität der glykämischen Einstellung lässt sich mit dem HbA1cWert kontrollieren. Dieser Wert ist im Gegensatz zur Nüchternblutglukose weniger
von kurzzeitigen Veränderungen des Lebensstils und den Nahrungsgewohnheiten
abhängig. Er repräsentiert die langfristige Güte der therapeutischen Einstellung
eines Patienten (64).
Sowohl der Baseline HbA1c-Wert als auch der HbA1c im Verlauf beeinflussen
stark die Inzidenz und Progression der diabetischen Retinopathie und eine
intensive Therapie der selbigen verbessert nachweislich die Outcomes (63).
Eine untere Grenze für den HbA1c-Wert wird mit 5,5% angegeben. Wird dieser
Wert überschritten, steigt die Prävalenz der diabetischen Retinopathie merklich an
(64). Eine weitere Studie legte 5,7% als optimalen cut-off Wert fest (65) und in drei
anderen Publikationen werden wiederum Werte um 7,8% (Pima Indian Study),
7,5% (Egyptian Study) und 7,4% (NHANES III) empfohlen (66). Eine Abnahme
des HbA1c-Wertes um 1% reduziert das Risiko für die Entstehung einer
diabetischen Retinopathie bereits um 40% (67).
Die Größe des HbA1c-Wertes in der Baseline war in der Wisconsin Epidemiologic
Study ein starker Einflusswert auf die Progression einer bereits bestandenen
42
Retinopathie und auf die Entstehung eines Makulaödems. Diese Ereignisse
konnten um 25% reduziert werden, wenn die Höhe des HbA1c um 1% gesenkt
wurde (68).
Dabei ist es jedoch wichtig, eine gute Einstellung des Diabetes so früh wie möglich
anzustreben. Der Benefit ist größer, wenn bereits vor dem Auftreten erster
Anzeichen der diabetischen Retinopathie mit einer intensiven Insulintherapie
begonnen wird. Nichtsdestotrotz sollte auch bei schon etablierter Retinopathie und
unabhängig von der Dauer des Diabetes, eine intensive glykämische Kontrolle
angestrebt werden, da so eine Verbesserung und Verzögerung der Progression
des Prozesses erreicht werden kann (68).
Zudem wird geschildert, dass eine stufenweise Veränderung der Therapie, also
zuerst diätische Maßnahmen und Sport, danach Sulfonylharnstoff und eventuell
erst im Anschluss
eine Insulintherapie das Risiko für mikrovaskuläre
Spätkomplikationen erhöht. Auch aus diesem Grund wird ein frühzeitigeres
Einsetzen von Insulinpräparaten als bisher üblich, empfohlen (69).
Allerdings wurde auch von einer Verschlechterung des Zustandes nach schneller
Anpassung an den gewünschten HbA1c-Level berichtet (70). Vor allem bei
Patienten, die von oralen Antidiabetika auf Insulin umgestellt wurden, konnte ein
gesteigertes Risiko für die Progression der diabetischen Retinopathie beobachtet
werden. Allerdings kann dieser Umstand auch darauf zurückzuführen sein, dass
retinale Veränderungen bereits vor der Insulintherapie, in einem Zustand der
schlechten glykämischen Kontrolle, ihren Anfang genommen haben (71). Eine
andere Erklärung könnte sein, dass unter Insulintherapie das Auftreten von
Hypoglykämien häufiger ist und diese einen schlechten Einfluss auf die ohnedies
geschädigten Gefäße ausüben (70). Unabhängig von der Ursache dieses Effektes
sollte beim Beginn einer intensiven Insulintherapie der reverse Effekt auf die
Mikrovaskulatur im Gedächtnis behalten werden und auf eine sorgfältige
ophthalmologische Begleitung nicht vergessen werden. Bei jenen Patienten, die
bereits vor dem Einleiten einer Insulintherapie eine schwere NPDR oder eine frühe
PDR aufweisen, sollte eventuell vor dem therapeutischen Wechsel eine
Photokoagulation erwogen werden (72).
In den vergangenen Jahren konnte gezeigt werden, dass jährlich weniger
Patienten von einer Progression in eine proliferative diabetischen Retinopathie
43
oder einem Makulaödem betroffen sind. Ursache dieses Ergebnisses könnte
eventuell in einer Selektion durch Todesfälle und Überleben der Gesundesten
liegen.
Aber
auch
die
bessere
glykämische
Einstellung
während
des
Studienverlaufs könnte an dieser Regression beteiligt sein (68).
3.2 Dauer der Diabeteserkrankung
Zahlreiche Studien haben den Zusammenhang der diabetischen Retinopathie mit
der Dauer der Diabeteserkrankung als starker und unabhängiger Risikofaktor
gesichert
(59,73-77).
Sie
spiegelt
die
lange
Exposition
gegenüber
der
Hyperglykämie und anderen Risikofaktoren, die an der Entstehung und
Progression der Retinopathie beteiligt sind, wieder. Dabei besteht allerdings keine
linearere Assoziation mit diversen Risikofaktoren. Alle einwirkenden Risikofaktoren
kumulieren und nach einer gewissen Zeit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für
die Entwicklung einer Augenschädigung eklatant (78).
Laut Sasongko et al. (2012) trägt die Dauer des Diabetes mit 51% am meisten zur
Entstehung einer DR bei (79).
Über die Anzahl der Jahre, die ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung vergangen
sind und der Prävalenz einer diabetischen Retinopathie, gibt es verschiedene
Zahlen. Pang et al. (2012) ermittelten ein 1,24-fach erhöhtes Risiko, wenn sich die
Krankheitsdauer um fünf Jahre verlängert (80).
Bei Dowse et al. (1998) ergab ein Vergleich zwischen neudiagnostizierten
Diabetikern und Patienten, die schon zehn Jahre mit der Erkrankung leben, ein 9mal höheres Risiko für die Entwicklung einer DR (81).
In einer Studie von Abu El-Asrar et al. (1999) wurden 502 Diabetiker (Typ 1 und 2)
klinisch untersucht und auf ihre Risikofaktoren analysiert. Während die Inzidenz
der Retinopathie für Typ 1 Diabetiker bei einer Dauer von ≤5 Jahren noch bei nur
ca. 6% lag, stieg sie nach 10 jähriger Dauer auf über 60% an. Für Patienten mit
Typ 2 Diabetes galten in denselben Zeitspannen Werte von 10% beziehungsweise
50% (75).
Die Entstehung einer milden NPDR dauerte in einer Studie von Vitale et al. (1997)
zwischen 0-18 Jahre – im Schnitt 7 Jahre. Die ersten Neovaskularisationen traten
44
nach einer Erkrankungsdauer von 10–21 Jahren auf. In Prozenten ausgedrückt:
10 Jahre nach dem Beginn einer milden NPDR, traten bei 20% der untersuchen
Patienten Anzeichen von Gefäßneubildungen auf. Allerdings bedeutete frühere
Entwicklung einer NPDR nicht automatisch, dass auch weniger Zeit zwischen
NDPR und Neovaskularisationen verging und vice versa. Die Intervalle stehen in
keinem Zusammenhang zueinander (82).
Auch Varma et al. (2007) untersuchten die Progression einer NPDR in eine PDR.
Sie fanden eine beinahe lineare Zunahme an PDR im Laufe von 20 Jahren
Diabetesdauer (78).
Ebenso konnte in der Wisconsin Epidemiology Study gezeigt werden, dass in
einem
milden,
frühen
Stadium
der
Retinopathie,
eventuell
vorhandene
Risikofaktoren die Progression vorantreiben. Aber nach 10 – 15 Jahren
Diabetesdauer nimmt diese Einflussnahme ab, und die Progression stagniert. Die
Augen der Patienten, die bis dahin keine PDR entwickelt haben, beginnen sich
dann zu verbessern. Der Grund dafür ist unbekannt (68). Auch eine andere Studie
beobachtete dieses Phänomen (59).
Die Entstehung einer schweren Retinopathie nach kurzer Krankheitsdauer ist
selten und kommt bei Typ 1 Diabetikern so gut wie gar nicht vor (≤5 Jahren 0%).
Dennoch ist auch kurz nach Diagnosestellung eines Diabetes mellitus eine
ophthalmologische Untersuchung von Wichtigkeit, vor allem vor dem Hintergrund,
dass häufig die Erkrankung schon seit Jahren unbemerkter Begleiter ist (75).
Zusammengefasst kann gesagt werden: Je länger die Dauer des Diabetes mellitus
desto höher das Risiko für eine diabetische Retinopathie. Zwar ist dieser Faktor
für Patient und Arzt nicht beeinflussbar, doch das Wissen um diesen
Zusammenhang unterstreicht noch einmal die Wichtigkeit regelmäßiger Kontrollen
beim Facharzt. Ophthalmologen sollten ihre Patienten über den gravierenden
Zusammenhang
zwischen
Dauer
Untersuchungen
forcieren.
Aber
und
auch
DR
aufklären
Internisten,
und
praktische
regelmäßige
Ärzte
und
Endokrinologen sollten über diese Assoziation Bescheid wissen und vor allem
Diabetiker mit langer Krankheitsdauer dementsprechend auf diese Thematik
sensibilisieren (83).
45
3.3 Alter
Wenn man den Effekt des Alters der Patienten auf die diabetische Retinopathie
untersuchen möchte, sollte man zwischen den zwei Typen des Diabetes mellitus
unterscheiden. So differenzierten auch die Autoren des Thailand Diabetes
Registry Projects und publizierten zwei Arbeiten. Bei Typ 2 Diabetikern stieg die
Prävalenz der DR zwischen dem Alter von 30-69 Jahren an, erreichte einen Peak
bei 60-69 Jahren (36,8%), um danach wieder abzusinken. Das Risiko für
Patienten über 70 Jahren an einer DR zu erkranken, lag demnach nur noch bei
23,9% (84). Bei Typ 1 Diabetikern verschiebt sich dieser Zusammenhang nach
vorne. Da die Patienten meist im jüngeren Alter bereits an Diabetes erkranken,
steigt das Risiko für die Entwicklung einer DR im Alter von 10-39 Jahren, fällt
allerdings ab 40 Jahren ebenfalls ab. Ein Peak in diesem Patientenkollektiv konnte
in einem Alter von 30-39 Jahren festgestellt werden (30,7%). Patienten die jünger
als 10 Jahre waren, waren in dieser Studie risikofrei, eine DR zu entwickeln (85).
Auch bei Raman et al. (2009) gab es einen ähnlichen Zusammenhang zwischen
dem Alter und der Prävalenz der DR. Während es einen relativ linearen Anstieg
bis zur 6. Dekade gab, wurde diese Assoziation ab der 7. Dekade abgeschwächt
und fiel dann schließlich ab. Ursache hinter diesem Phänomen könnte die
Schwere und Häufigkeit von Komplikationen bei Diabetes im hohen Alter sein, was
wiederum dazu führen könnte, dass viele Patienten gar nicht älter als 70 werden
(77).
Ähnliches berichteten Giuffré et al. (2004) in der Casteldaccia Eye Study. Auch in
dieser Studie nahm die Häufigkeit für die Entwicklung einer DR nach der 6.
Dekade ab. Neben besagter Theorie der gehäuften Sterblichkeit im höheren Alter
vermuten die Autoren auch, dass late-onset Diabetesformen weniger schwer
verlaufen und seltener mit einer DR assoziiert sind (86).
Ebenso zeigten Cahill et al. (1997) einen Zusammenhang zwischen Alter und DR.
Jüngere Patienten hatten ein höheres Risiko für die Entwicklung einer
diabetischen Retinopathie, während ab dem 70. Lebensjahr die Prävalenz wieder
sank (76).
Fujisawa et al. (1999) bringen eine neue mögliche Ursache für diesen Effekt in die
Diskussion ein. Denn in dieser Studie hatten jüngere Patienten, im Vergleich zu
46
ihrem älteren Gegenpart, auch ein erhöhtes Risiko eine PDR zu entwickeln.
Neben dem bereits bekannten „Survivor-Effekt“, vermuten sie, dass ältere
Patienten eine erhöhte Resistenz gegenüber der Wirkung von retinalen
Proliferationsstimuli wie VEGF aufweisen könnten (87).
Auch bei Dowse et al. (1998) spielt das Lebensalter eine Rolle, denn in ihrer
Studie war das aktuelle Alter bei Diagnosestellung ein wichtiger Risikofaktor für
die diabetische Retinopathie. Ihrer Meinung nach verhält sich das Alter bei neu
diagnostizierten Diabetikern als Ersatzmarker für die Dauer. Bei bereits bekannten
Diabetikern war das Alter der Patienten invers mit der DR assoziiert. Das bedeutet
wiederum: je älter der Diabetiker desto geringer das Risiko an einer DR zu
erkranken (81).
Auch bei Davis et al. (1998) scheint sich das Alter eher protektiv auf die
Entwicklung einer DR auszuwirken. Geringeres Alter und Typ 1 Diabetes waren in
ihrer Studie ein Risikofaktor für die Progression einer DR in eine high-risk PDR
(72).
Eine Assoziation zwischen jüngerem Alter und der diabetischen Retinopathie
fanden auch Wong et al in ihrer Singapore Malay Eye Study (88).
Eine gute Zusammenfassung der bisher recherchierten Ergebnisse liefern Leske
et al. (2005). Das frühe Erstauftreten eines Diabetes mellitus scheint einen
negativen Effekt auf die Entwicklung einer diabetischen Retinopathie auszuüben.
In der multivariaten Analyse fanden die Autoren, dass Patienten, bei denen erst im
höheren Alter Diabetes mellitus diagnostiziert wurde, ein reduziertes Risiko für die
DR-Entwicklung aufwiesen. Sie vermuten eine 30%ige Risikoreduktion für eine DR
pro 10 Jahre späteren Ausbruchs des Diabetes mellitus (89).
Doch nicht alle Publikationen kommen zu demselben Schluss.
Bei Chatziralli et al. (2010) wird von einer Assoziation des Alters mit dem
Schweregrad der DR berichtet, die allerdings in der multivariaten Analyse an
Bedeutung verliert. Die Autoren vermuten, dass durch den engen Zusammenhang
zwischen Alter und Dauer des Diabetes mellitus ein falscher Schluss gezogen
wird. Für sie ist das Alter des Patienten kein unabhängiger Risikofaktor für den
Schweregrad der DR (59).
47
Stratton et al. (2001) fanden einen höheren Anteil an älteren Patienten, mit
fortgeschrittener DR. Somit hatte das Alter in ihrer Studie zwar keinen
Zusammenhang mit der Inzidenz der DR, sehr wohl aber mit der Progression (63).
Bei Pradeepa et al. (2008) gab es keinerlei Assoziation zwischen dem Alter der
Patienten und ihrem Risiko an einer DR zu erkranken (74).
Andere Studien hingegen kommen zu dem Schluss, dass ein erhöhtes Alter auch
mit einem erhöhten Risiko, für die Entwicklung einer DR einhergeht (75,90,91).
Laut Tan et al. (2010) könnten diese teilweise unterschiedlichen Ergebnisse
bezüglich des Einflusses des Alters auf die diabetische Retinopathie auf andere
Störfaktoren wie z.B. Genetik, Umweltfaktoren oder Lebensstil zurückzuführen
sein. Sie empfehlen die Durchführung weiterer Studien, um eine definitive
Aussage in Bezug auf Alter als Risikofaktor für die DR treffen zu können. Zwar ist
dieser Faktor nicht modifizierbar, aber so wäre es möglich Patienten mit erhöhtem
Risiko zu identifizieren und frühzeitig und richtig zu therapieren (92).
3.4 Geschlecht
In vielen Studien wurde ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Geschlecht
und der diabetischen Retinopathie als Parameter untersucht. Doch auch dieser
Faktor kann keinem eindeutigen Studienergebnis zugeordnet werden, denn man
findet in diversen wissenschaftlichen Publikationen unterschiedliche Resultate.
Die relativ große UKPDS-Studie von Stratton et al. (2001) fand keine relevanten
Geschlechtsunterschiede bei der Inzidenz der DR. Für die Progression der
Retinopathie zeigte sich allerdings ein geringeres relatives Risiko für Frauen im
Vergleich zu Männern (63).
Auch in der WESDR-Studie fand man Diskrepanzen zwischen den Geschlechtern
und der Progression der diabetischen Retinopathie (60). Männer hatten ein 35%
erhöhtes Risiko für ein Voranschreiten der Erkrankung und eine um 45%
erniedrigte Chance auf eine Regression. Diese Zahlen decken sich mit schon
früher publizierten Ergebnissen, in denen von einer erhöhten Prävalenz für
schwerere Formen der DR und für ernsthaften Sehverlust berichtet wurde. Die
Autoren dieser Studie vermuten hormonelle Veränderungen als Ursache für diese
48
Unterschiede
zwischen
Männern
und
Frauen.
Sie
bestimmten
in
zwei
verschiedenen Gruppen die Serumwerte von Sexualhormon-bindendem Globulin.
Jene Gruppe, die nach 6 Jahren wenig oder keine Progression zeigte, hatte
höhere Werte dieses Globulins als jene Teilnehmer der Vergleichsgruppe, welche
durch ein starkes Voranschreiten der Erkrankung definiert war. Aber auch andere,
nicht-gemessene
Faktoren
könnten
für
den
Geschlechterunterschied
verantwortlich sein.
Ähnliche Ergebnisse publizierten Chatziralli et al. (2010) Männliches Geschlecht
wurde als Risikofaktor für die Entwicklung einer fortgeschrittenen DR ermittelt (59).
Varma et al. (2007) fanden ein um 50% erhöhtes Risiko für Männer, an jeder Art
der diabetischen Retinopathie zu erkranken. Für die Entwicklung einer PDR gab
es allerdings keinen messbaren Zusammenhang mit dem Geschlecht. Mögliche
Ursachen für dieses Ergebnis konnten die Autoren nicht nennen (78).
Bei Rani et al. (2009) gab es zwar eine Assoziation zwischen männlichem
Geschlecht und dem Vorhandensein jeglicher Art von diabetischer Retinopathie,
allerdings nicht mit dem Schweregrad (93).
Auch bei Pradeepa et al. (2008), Dowse et al. (1998) und Hosseini et al. (2009)
fand man, dass Männer häufiger von einer diabetischen Retinopathie betroffen
waren (74,81,90).
Doch gibt es durchaus Publikationen, in denen ein anderer Zusammenhang
gefunden wurde. So zum Beispiel in der ETDR-Studie, die ein - auch für die
Autoren - unerwartetes und unerklärliches Ergebnis präsentierte. In dieser Studie
waren es die Frauen, die ein erhöhtes Risiko für eine fortgeschrittene DR und
schwerwiegenden Sehverlust hatten (72).
Ebenso waren bei Wong et al. (2008) häufiger Frauen von einer schweren DR
betroffen. In dieser Studie konnten die untersuchten Frauen diese Prädisposition
allerdings durch die gewissenhafte Vermeidung weiterer Risikofaktoren reduzieren
(88).
Doch insgesamt scheint es doch eher eine Affinität der diabetischen Retinopathie
für das männliche Geschlecht zu geben. Die genauen Ursachen sollten noch
weiter erforscht werden, auch wenn dieser Risikofaktor nicht modifizierbar ist.
Männer sollten über dieses erhöhte Risiko, an der diabetischen Retinopathie zu
49
erkranken, Bescheid wissen und umso mehr motiviert werden, veränderbare
Faktoren auszuschalten um ihre Sehkraft möglichst lange zu erhalten.
3.5 Hypertension
Über den Zusammenhang zwischen der diabetischen Retinopathie und einem
erhöhten Blutdruck wird schon lange diskutiert und geforscht. Doch in den
vergangenen Jahren verdichtete sich die Evidenz, dass die Hypertension
tatsächlich zur Entstehung und Progression beiträgt (75,87,94-97).
Die Pathogenese, die hinter der destruktiven Wirkung des Bluthochdrucks steht,
ist noch nicht ganz geklärt. Die gängigste Hypothese sieht folgende Vorgänge als
Ursache für die schädlichen Veränderungen in der Retina an: Bei länger
andauernder Hyperglykämie wird die Autoregulation der retinalen Kapillaren
gestört. Physiologischerweise können sich die kleinen Gefäße dank dieser
Funktion den jeweiligen Druckverhältnissen anpassen, um so den Blutfluss
konstant aufrecht zu erhalten. Ein Ausfallen dieser Funktion macht die Gefäße
gegenüber erhöhtem Blutdruck anfällig. Denn durch die Hypertension, wirkt ein
erhöhter Perfusionsdruck auf die kleinen Gefäße, der durch Scherkräfte das
Endothel schädigt. Das begünstigt die Entstehung von Okklusionen und
Mikroaneurysmen, wie sie für die diabetische Retinopathie typisch sind. Bestätigt
wird die ungünstige Wirkung der Hyperperfusion durch die Beobachtung des
protektiven Einflusses eines erhöhten intraokulären Drucks oder einer milden
Carotisstenose. Beide Zustände reduzieren den Blutfluss und schützen so die
retinalen Kapillaren vor Verletzungen durch Hypertension (78).
Weiters erhöht der Blutdruck unabhängig vom Blutglukoselevel die Expression von
VEGF in den retinalen Gefäßen. So kommt es zur verstärkten Ausbildung von
verletzlichen Kapillaren, die charakteristisch für die proliferative DR sind (98).
Die Diagnose Bluthochdruck (definiert als >140/80 mmHg (99)) wird bei
Diabetikern häufig gestellt. Die Prävalenz ist im Vergleich zur Normalbevölkerung
in etwa dreimal so hoch. In Zahlen ausgedrückt: 30% der Patienten mit Typ 1
Diabetes und 60% jener mit Typ 2, weisen eine Hypertonie als Komorbidität auf
(98,100).
50
Leider wird der Blutdruck bei Diabetikern häufig nur insuffizient überprüft. In einer
Studie von Sivaprasad et al. (2007) ließen sich nur ca. 40% der Studienteilnehmer
innerhalb eines halben Jahres von einem Arzt kontrollieren. Wichtig wäre es, die
Patienten vermehrt über die Diagnose erhöhter Blutdruck aufzuklären und sie für
die Selbstmessung und Führung eines Logbuches zu motivieren (96).
In einer Publikation aus dem Jahre 2001 postulierten Stratton et al. (2001), dass
Hypertonie mit der Entstehung der diabetischen Retinopathie in Zusammenhang
gebracht werden kann. Jene Patienten mit einem systolischen Wert von >140
mmHg zeigten ein signifikant höheres Risiko an einer DR zu erkranken. Aber auch
ein Blutdruck von 125-139 mmHg steigerte die Inzidenz im Vergleich zu Werten
<125 mmHg. Daher scheint der im Moment von der American Diabetic Association
empfohlene Wert von <130/80 zu hoch angesetzt zu sein, um die Entstehung
einer DR verhindern zu können (63,98).
Wie bedeutend die richtige Einstellung des Bluthochdrucks bei Diabetikern ist,
zeigte auch die UK Prospektive Study Group. Mit dem strikten Therapieziel von
<150/85 mmHg konnte eine Risikoreduktion von 34% in der Progression der DR
erreicht werden. Auch die Entstehung einer Makulopathie konnte verhindert
werden. Da diese stark zum Verlust der Sehkraft beiträgt und dabei aber schlecht
auf Photokoagulation anspricht, wäre die optimale Therapie des Hypertonus ein
wichtiger Beitrag zur Vermeidung von Blindheit. Zusätzlich senkte sich auch das
Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse wie Schlaganfall und Herzinfarkt um 24%
(94).
Diastolischer Blutdruck und Hypertension sind auch in der WESDR Prädiktoren für
die Progression der Retinopathie. Eine Erhöhung des diastolischen Wertes um
10% führte nach 14 Jahren zu einer Risikoerhöhung von 35% in Bezug auf die
Progression. Die Inzidenz wiederum scheint vom systolischen Blutdruckwert
abhängig zu sein. Beide Ergebnisse legen eine möglichst physiologische
Einstellung des Blutdrucks nahe, um sowohl Inzidenz als auch Progression der
diabetischen Retinopathie zu verhindern (68).
In der Barbados Eye Study wurde eine mögliche Assoziation von Blutdruck mit der
Inzidenz der diabetischen Retinopathie über neun Jahre beobachtet. Höherer
systolischer und diastolischer Blutdruck waren eindeutig mit der Entwicklung einer
51
DR assoziiert. Weiters konnte das Risiko, an einer diabetischen Retinopathie zu
erkranken, durch eine antihypertensive Therapie halbiert werden (89).
Der Zeitpunkt für die Entstehung einer proliferativen DR kann durch Hypertension
beeinflusst werden. Ein höherer Blutdruck war bei Vitale et al. (1997) signifikant
mit einem höheren Risiko für die Entwicklung von Neovaskularisationen assoziiert
(82).
Der Bluthochdruck ist bei Diabetikern allerdings schwer einzustellen. Mehr als
60% der Patienten benötigen mindestens zwei Antihypertensiva, um das Ziel von
<130/85 zu erreichen, 30% sogar mehr als drei (94,96). Trotzdem sollte sich der
therapierende Arzt bemühen, eine gute Einstellung des Blutdrucks zu erreichen.
Vor allem bei jungen Diabetikern genügt schon ein leicht erhöhter Blutdruck, um
das Risiko für die Progression einer DR zu steigern. Dabei ist noch nicht gesichert,
welches Therapeutikum den optimalen Nutzen erzielt (101). In einer Studie
wurden der ACE-Hemmer Captopril und der Beta-Blocker Atenolol untereinander
verglichen. Beide Medikamente zeigten eine äquivalente Fähigkeit, den Blutdruck
zu senken (98). Die Anwendung des Angiotensin-II-Blockers Candesartan zeigte
in der DIRECT Studie eine ausgesprochen positive Wirkung auf die diabetische
Retinopathie. Es konnte nachweislich eine Verbesserung oder sogar Regression
beobachtet werden (102). Auch die fixe Kombination des ACE-Hemmers
Perindopril und des Diuretikums Indapamid konnte klar zur Reduktion der Inzidenz
und Progression der DR beitragen (103).
Die Wirksamkeit der Blutdrucksenkung scheint gesichert zu sein, trotzdem werden
weitere
Studien
notwendig
sein,
um
das
optimale
Medikament
zur
Blutdrucksenkung bei Diabetikern zu finden und einen möglichen Grenzwert zu
identifizieren.
3.6 Dyslipidämie
Die Dyslipidämie gilt als gesicherter Risikofaktor für renale Komplikationen des
Diabetes mellitus. Für die diabetische Retinopathie ist die Studienlage noch nicht
klar und oft widersprüchlich. Es häufen sich jedoch Evidenzen, dass erhöhte
52
Blutfettwerte mit Morbidität und Schweregrad der DR und des Makulaödems in
Zusammenhang stehen könnten (104), wobei es zum diabetischen Makulaödem
eine stärkere Verknüpfung als zur DR zu geben scheint (105). Da 20-30% der
Diabetiker an einer Dyslipidämie leiden, wäre eine mögliche Assoziation mit der
diabetischen Retinopathie von großem Interesse und ist daher noch immer im
Fokus der Wissenschaft (106).
Die Mechanismen, die hinter einer schädigenden Wirkung erhöhter Lipide stehen,
sind noch nicht ganz geklärt. Ein möglicher Zusammenhang wird in einer
Zunahme der Blutviskosität und Veränderungen des fibrinolytischen Systems
vermutet. Beides kann zur Bildung von harten Exsudaten führen. Darunter
versteht man die Ablagerung von Lipiden und Proteinen in der Retina, die bei
einer ophthalmologischen Untersuchung als spritzerförmige, weiße Punkte zu
erkennen sind (107,108).
Eine weitere Theorie sieht eine endotheliale Funktionsstörung durch lokale
Entzündungsreaktionen hinter der schädigenden Wirkung erhöhter Lipidwerte. In
Tiermodellen resultierte diese Dysfunktion des Endothels schließlich in einer
Störung der Blut-Retina-Schranke (109). Die Folge kann die Bildung eines
Makulaödems sein, welches häufig zum Verlust der Sehkraft bei Diabetikern
beiträgt (110).
Vor allem Lipoprotein(a) [Lp(a)] wird seit einiger Zeit als potentieller Kandidat für
die Schädigung der retinalen Gefäße in Betracht gezogen. Es besteht aus einem
Komplex aus Apolipoprotein(a) [apo(a)] und apoB-100 und ähnelt in seiner
Struktur dem Plasminogen, welches eine wichtige Rolle in der Fibrinolyse spielt.
Durch
diese
Ähnlichkeit
konkurriert
es
um
die
Bindungsstellen
des
Plasminogenaktivators. So wird Lipoprotein(a) eine antifibrinolytische Wirkung
nachgesagt, welches das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse erhöht. Ob diese
Wirkung auch für die Entwicklung eine diabetischen Retinopathie eine Rolle spielt,
wird bislang noch widersprüchlich diskutiert. Während zum Beispiel in einer Studie
von Larsson et al. (1999) ein Zusammenhang zwischen Lp(a) und dem
Schweregrad der DR gefunden wurde (111), war bei einer Studie von Ergün et al.
(2004) keine Assoziation zwischen Lp(a) und DR nachweisbar (112). Eventuell
könnten diese unterschiedlichen Ergebnisse auf die verschiedenen Diabetestypen,
Ethnien oder Untersuchungsmethoden der Studien zurückzuführen sein.
53
Es folgt nun eine Metaanalyse diverser Studien, deren Ergebnisse hier
zusammengefasst werden. Die Resultate der Autoren unterscheiden sich dabei
teilweise beträchtlich. Bei Tapp et al. (2003) zum Beispiel gab es gar keine
Relation zwischen Höhe der Serumlipidkonzentration und der Retinopathie (73).
Klein et al. (1998) kamen in einer Studie zu dem Ergebnis, dass die Höhe des
Cholesterinspiegels zwar mit dem Vorhandensein harter Exsudate korrelierte,
jedoch kein signifikanter Zusammenhang zwischen Lipiden und einer diabetischen
Retinopathie bestand. Zwar gab es zuerst Hinweise auf eine Assoziation, diese
relativierten sich jedoch nach dem Einbeziehen anderer Covarianten (68). Doch
das Ausmaß der Exsudate sollte nicht unterschätzt werden, hängen diese doch
stark mit dem Risiko eines Sehverlusts zusammen. Deshalb könnte eine Senkung
des Cholesterins trotzdem von Interesse sein. Zusätzlich kann es bei Ausbildung
von massiven harten Exsudaten zur Entwicklung einer subretinalen Fibrose
kommen, die im schlimmsten Fall zu permanentem Sehverlust führen kann (104).
Es existieren auch zahlreiche Studien, in denen der Zusammenhang zwischen
Dyslipidämie und DR oder einem Makulaödem klar gezeigt werden konnte.
Eine dieser Studien ist die Early Treatment Diabetic Retinopathy Study (EDTRS).
Dabei wurden 3711 Patienten mit NPDR oder früher PDR registriert und für 3 bis 9
Jahre begleitet. Die Höhe der Serumlipide in der Baseline erwiesen sich als
Risikofaktoren für Präsenz und Progression harter Exsudate, die wiederum mit
einer Abnahme der Sehkraft assoziiert waren. Außerdem waren speziell
Triglyceride mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer schweren PDR
verbunden (72).
Zu einem etwas anderen Ergebnis kam die Umeå-Study. Triglyceride korrelierten
zwar signifikant mit der Stärke der diabetischen Retinopathie, in der multivariaten
Analyse konnte allerdings keine Evidenz für diesen Zusammenhang gefunden
werden. Doch vor allem war Cholesterin ein starker Faktor, der mit dem
Schweregrad der DR korrelierte (111).
Eine weitere Studie ist jene von Miljanovic et al. (2004), die den Zusammenhang
zwischen Lipiden und dem Risiko eines Makulaödems untersuchten. Dieser wäre
biologisch plausibel, da die Theorie des Zusammenbruchs der Blut-RetinaSchranke eng mit Lipiden verknüpft ist. Während diverse Lipidparameter
(Cholesterin, LDL, HDL/Cholesterin Ratio, Triglyceride) keine Assoziation mit
54
Progression einer DR oder PDR zeigten, waren sie starke Risikofaktoren für die
Entwicklung von harten Exsudaten und eines klinisch signifikanten Makulaödems
(110).
Auch bei Raman et al. (2010) stand das CSME in Zentrum des Interesses. Der
Cholesterinwert wurde als Risikofaktor für die Entwicklung eines CSME identifiziert
(113).
Ebenso fand man bei Benarous et al. (2011) kein erhöhtes Risiko für die
Entwicklung einer DR und erhöhten Serumlipiden, dafür aber eine unabhängige
Assoziation mit CSME. Der Grund für diesen differenzierten Zusammenhang wird
in folgendem Mechanismus vermutet: Serumlipide scheinen nur Einfluss auf
schwere Formen der diabetischen mikrovaskulären Folgeschäden zu haben. Ihre
schädliche Wirkung beruht nur auf Exsudation aus bereits geschädigten Gefäßen
in späten Stadien. Unterstützt wird diese Theorie durch die Beobachtung, dass
erhöhte Blutfette bei Nicht-Diabetikern keinen okulären Schaden verursachen
(105).
Inzidenz des Makulaödems und Blutcholesterinwerte standen auch bei El-Asrar et
al. (1999) in engem Zusammenhang. Es fand sich auch, dass bei Patienten mit
diabetischer Retinopathie ein erhöhter Level an Serumcholesterin messbar war
(75).
Die Studie von Rema et al. (2006) machte auch einen Zusammenhang zwischen
Lipiden und Makulaödem deutlich. Nur war es in dieser Analyse das LDL, welches
für die erhöhte Inzidenz der DME verantwortlich gemacht wurde (109).
Insgesamt kann jedoch kein einzelner Lipidparamter für einen Zusammenhang mit
der diabetischen Retinopathie verantwortlich gemacht werden. Sasongko et al.
(2011) empfehlen daher in ihrer Studie, die Apolipoproteine in die Diagnostik mit
einzubeziehen. Während sie traditionelle Lipidparameter nicht mit DR in
Verbindung bringen konnten, waren niedrigere apoA1-Level und höhere apoBLevel und eine höhere apoB/apoA1-Ratio mit einem gesteigerten Risiko für DR
assoziiert. Diese Ergebnisse scheinen mit dem Wissen, dass apoA1 das
Hauptstrukturprotein des HDLs und apoB jenes des LDLs, IDLs und VLDLs sind,
sehr plausibel zu sein. Die Messung der Apolipoproteine hat zwei Vorteile: sie sind
gegenüber
den
bisher
üblichen
Lipidparametern
vom
prandialen
Status
unabhängig, und sie kommen in mehreren Lipoproteinen vor. Werden z.B. nur
55
HDL und LDL gemessen, wird der Beitrag der anderen Lipoproteinen zur DR
vollkommen ausgeblendet (114).
Zusammenfassend gesagt, ist die Beziehung zwischen erhöhten Blutfettwerten
und
der
Entwicklung
einer
diabetischen
Retinopathie
bis
heute
nicht
zufriedenstellend geklärt. Es häuft sich jedoch die Evidenz, dass es zumindest
eine Relation zwischen diversen Lipidparametern und der Entstehung von harten
Exsudaten, beziehungsweise in weiterer Folge von Makulaödemen geben könnte.
Weitere Forschungsarbeit wird von Nöten sein, um diesbezüglich eine eindeutige
Antwort geben zu können.
Bleibt die Frage offen, ob es, vom heutigen Standpunkt aus betrachtet, sinnvoll ist,
bei Diabetikern mit einer Dyslipidämie als Komorbidität, eine lipidsenkende
Therapie einzuleiten. Es existieren bislang einige Publikationen die auf diese
Thematik Bezug nehmen. Cusick et al. (2003) zum Beispiel veröffentlichten
Falldokumentationen, in denen zwei Diabetiker mit erhöhten Blutfettwerten
Simvastatin (ein HMG-CoA-Redukatsehemmer) als lipidsenkende Medikation
erhielten. Nach Reduktion der Serumlipide und Photokoagulation kam es bei
beiden Patienten zur drastischen Regression der davor beobachteten harten
Exsudate (108).
Sen et al. (2002) versuchten auch durch die Anwendung von Simvastatin die
retinalen Outcomes von Diabetikern zu verbessern. Dies konnte tatsächlich
gezeigt werden. Von 50 Studienteilnehmern erhielt eine Hälfte Simvastatin, die
andere Hälfte Placebo. Nach 6 Monaten wurden die Resultate verglichen.
Während sich die Sehkraft in der Simvastatin-Gruppe verbesserte, verschlechterte
sich die DR bei 7 Patienten, die ein Placebo erhalten hatten und 1/3 entwickelte
eine CSME. Dadurch bestätigte sich der Verdacht, das Lipidprofil könnte zur
Verschlechterung
der
DR
beitragen
und
Patienten
könnten
von
einer
lipidsenkenden Therapie profitieren (106).
Gupta et al. (2004) untersuchten die Wirkung von Atorvastatin auf retinale
Komplikationen des Diabetes mellitus. An dieser Studie nahmen 30 Patienten mit
Typ 2 Diabetes teil, bei denen bereits ein Makulaödem diagnostiziert wurde. Diese
wurden in zwei randomisierte Gruppen eingeteilt. Nur Gruppe A erhielt einmal am
Tag oral Atorvastatin, bis das Cholesterinziel von <150mg/dl erreicht wurde. Nach
56
18 Wochen konnte, durch die Reduktion der Blutfettwerte in Gruppe A, eine
deutliche Verbesserung des Ausmaßes an harten Exsudaten erhoben werden.
Zusätzlich reduzierte Atorvastatin das Risiko einer subretinalen Fibrose (115).
Diese Ergebnisse machen deutlich, dass eine lipidsenkende Therapie zwar die
Progression verlangsamen, die Entwicklung einer DR allerdings nicht verhindern
kann (105). Klein et al. (1999) kommen auch zu dem Fazit, dass eine
medikamentöse Beeinflussung der Lipidlevel nicht zur Behandlung der Inzidenz
oder des Schweregrades der DR angezeigt ist (116). Trotzdem wird bei
Diabetikern mit Fettstoffwechselstörungen eine lipidsenkende Therapie eingeleitet,
da der kardiovaskuläre Benefit als unumstritten gilt. Doch mit dem Wissen, dass
Lipide die Entwicklung von harten Exsudaten beeinflussen können, sollte eine
regelmäßige Kontrolle der Blutfette nicht vergessen werden (117). Weitere Studien
werden notwendig sein, um eine definitive Aussage in Bezug auf die Wirksamkeit
der Lipidsenkung auf die diabetische Retinopathie treffen zu können.
3.7 Zigarettenkonsum
Es wird geschätzt, dass in etwa 25% der Diabetiker in den USA und Westeuropa
regelmäßig Zigaretten konsumieren, was sich negativ auf die metabolische
Einstellung auswirkt. Um möglichst normoglykämische Blutzuckerverhältnisse zu
schaffen, werden wesentlich größere Insulindosen benötigt. Außerdem erhöht sich
das Risiko für makro- und mikrovaskuläre Komplikationen (118).
Während auch die Assoziation mit Komplikationen wie der Nephropathie oder
Neuropathie als gesichert gilt, ist die Studienlage in Bezug auf die Retinopathie
nicht eindeutig (119).
Krishnaiah et al. (2007) fanden in ihrer Studie Hinweise auf einen Zusammenhang
zwischen Rauchen und der diabetischen Retinopathie. Sie beschreiben den
Konsum von Zigaretten oder Zigarren als möglichen, modifizierbaren Risikofaktor
für die Entwicklung einer DR (97).
Ebenso postulierten Chaturvedi et al. (1996) ein erhöhtes Risiko für eine
Retinopathie bei rauchenden Diabetikern im Vergleich zu jenen, die niemals
geraucht hatten. In ihrer Studie kamen sie außerdem zu dem Ergebnis, dass sich
57
durch das Beenden des regelmäßigen Zigarettenkonsums, die Prävalenz der
diabetischen Komplikationen wieder jener der Nichtraucher angleicht (120).
Klein et al. (1998) fanden in ihrer Wisconsin Epidemiology Study weder einen
Zusammenhang
zwischen
Inzidenz
noch
Progredienz
der
diabetischer
Retinopathie und Rauchen. Ein schwach protektiver Effekt des Rauchens auf die
DR, verschwand in der multivariaten Analyse (68).
Bei Stratton et al. (2001) jedoch wirkte sich Rauchen tatsächlich positiv auf die
Entwicklung neuer Läsionen und der Progression einer bestehenden DR aus.
Gegenwärtig rauchende Teilnehmer der Studie hatten nur ein relatives Risiko von
0,63 an einer DR zu erkranken. Dieser schützende Effekt des Zigarettenkonsums
könnte auf die blutdrucksenkende Wirkung des Rauchens oder pharmakologische
Auswirkungen des Nikotins sowie anderer Inhaltsstoffe zurückzuführen sein.
Gründe, warum andere Studien diesen Zusammenhang nicht finden konnten,
sehen
Stratton
et
al.
(2001)
eventuell
in
der
vergleichsweise
kleinen
Teilnehmerzahl anderer Studien. Auch ein Publikationsbias wird als Ursache für
die unterschiedlichen Studienergebnisse in Betracht gezogen. Ärzten könnte es
widerstreben, ähnliche Ergebnisse zu publizieren (63).
Die Unterschiede zwischen rauchenden und nichtrauchenden Diabetikern standen
im Interesse einer Studie von Solberg et al. (2004). Sie stellten fest, dass
Diabetiker die rauchten, sich weniger gesund fühlten, häufiger depressiv waren
und sich weniger oft Kontrollen, HbA1c-Tests und Augenuntersuchungen
unterzogen (121). Außerdem sind sie weniger aktiv und bekommen geringere
Unterstützung von ihren Familien. Insgesamt waren rauchende Studienteilnehmer
weniger adhärent beim Management des Diabetes mellitus und Prävention von
Spätkomplikationen. Dies könnte ein Grund für das teilweise schlechtere Outcome
von Rauchern in Bezug auf die Retinopathie sein. Inwiefern sich Rauchen direkt
auf die DR auswirkt, sollte noch weiter untersucht werden, um mehr Evidenzen zu
erlangen und konkreter Aussagen treffen zu können. Es scheinen genetische als
auch nichtgenetische Variablen an dem Effekt des Rauchens auf die Retinopathie
beteiligt zu sein (122).
Trotz der nicht schlüssigen Ergebnisse bisheriger Studien bleibt das Risiko für
makrovaskuläre Ereignisse und Lungenerkrankungen bestehen. Daher sollte jeder
58
Raucher motiviert werden, sich von seinem Laster zu befreien, um so
kardiovaskuläre und pulmonale Morbidität und Mortalität möglichst zu verhindern
oder zumindest so gering wie möglich zu halten (117).
3.8 Nephropathie
Unter physiologischen Bedingungen produziert die Niere des Menschen ein
Ultrafiltrat des Blutes, aus dem im proximalen Tubulus vor dem Ausscheiden
wieder 90% der Proteine rückresorbiert werden. In der Frühphase der
diabetischen Nephropathie findet man aber häufig geringe Spuren von Eiweiß im
Urin, dies wird als Mikroalbuminurie bezeichnet (30-300 mg/24h oder 20-200
mg/l). Diese stellt häufig das erste klinische Zeichen einer renalen Schädigung im
Zuge des Diabetes mellitus dar (1).
Das Auftreten einer Mikroalbuminurie stand in einer Studie von Manaviat et al.
(2004), neben anderen bereites bekannten Faktoren, wie der Höhe des HbA1c
und der Dauer des Diabetes mellitus, in direktem Zusammenhang mit dem
Schweregrad
der
diabetischen
Retinopathie.
Doch
wieso
könnte
die
Mikroalbuminurie, als Ausdruck einer Nierenschädigung, ein Risikofaktor für das
Voranschreiten einer DR sein? Die Autoren vermuten, dass durch den erhöhten
Blutdruck der im Zuge einer Nephropathie entsteht, die Gefäße der Retina
zusätzlich geschädigt werden. Auch erhöhte Werte an Fibrinogen oder
Lipoproteinen im Serum bei Nierenschädigung könnten an der Progression
beteiligt sein (123).
Savage et al. (1996) führten eine große Populationsstudie mit 950 Typ 2
Diabetikern durch, in der eine erhöhte Albuminexkretion nicht nur mit einer
erhöhten Prävalenz einer DR, sondern auch mit dem gesteigerten Vorkommen
einer Neuropathie und kardiovaskulären Erkrankung, einherging. Daher vermuten
die Autoren, dass eine Albuminausscheidung über den Harn nicht nur den
Indikator für eine Nierenerkrankung darstellt, sondern auch eine generalisierte
Schädigung von Gefäßen im gesamten Körper reflektiert (124).
Auch bei Aiello et al. (2001) wird in einer Publikation über einen Zusammenhang
zwischen DR und Nephropathie nachgedacht. Klar scheint, dass es eine
59
Verbindung zwischen renaler und retinaler Angiopathie zu geben scheint, auch
wenn das häufige gemeinsame Auftreten auf gemeinsame prädisponierende
Faktoren wie Hyperglykämie und Bluthochdruck zurückgeführt wird. Die
Nephropathie wird hier nicht explizit als Risikofaktor für die DR angeführt (117).
Klein et al. (1998) tun dies hingegen schon. Eine Proteinurie in der Baseline war
mit einem 96%igem Anstieg des Risikos für die Progression in eine PDR und mit
einem 95%igem Anstieg für die Inzidenz eines Makulaödems verbunden. Auch
wenn in der multivariaten Analyse nur mehr ein erhöhtes Risiko für ein
Makulaödem blieb.
Die Ursache für diesen Zusammenhang ist unklar.
Veränderungen im Renin-Angiotensin-System, erhöhtes Fibrinogen oder bislang
ungemessene metabolische oder rheologische Schwankungen könnten mit einer
verstärkten retinalen Ischämie vergesellschaftet sein und so zur Progression
beitragen. Auch in einer anderen Studie konnte eine ähnliche Assoziation
nachgewiesen und durch Dialyse teilweise eine Verbesserung erzielt werden (68).
Weitere Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen Nephropathie und
DR und fanden, dass eine erhöhte Ausscheidung von Albumin mit dem Harn
entweder ein Risikofaktor für die Entwicklung einer DR war (80,81,84) oder aber
für die Prävalenz einer PDR oder Progression einer bereits bestehenden DR in
eine PDR (83,87,125).
In Summe vermuten die meisten Autoren allerdings, welche Pathogenese hinter
diesen
Zusammenhängen
stehen
könnte.
Immer
wieder
wird
auf
eine
generalisierte Gefäßschädigung, die im Laufe des Diabetes mellitus entsteht, für
die Assoziation verantwortlich gemacht. Aber auch andere Faktoren, die bislang
noch im Dunkeln liegen, könnten eine Rolle spielen (74).
Auf alle Fälle könnte die Albuminurie als Marker für die Höhe des Risikos, eine DR
oder PDR zu entwickeln, herangezogen werden. Auch im Serum gemessene
Kreatinin- oder Harnstoff-Werte wären mögliche Parameter, die für eine
Nierenschädigung typisch sind und die die Aufmerksamkeit auf die Augen des
Diabetikers lenken könnten. Bei Nguyen et al. (1996) war die HarnstoffKonzentration zum Zeitpunkt der Präsentation bei Typ 2 Diabetikern der
drittstärkste Risikofaktor für die Prävalenz einer DR (91).
60
Mit diesem Zusammenhang vor Augen scheint es klar zu sein, dass Patienten mit
Anzeichen einer Nephropathie auch engmaschig ophthalmologisch kontrolliert
werden sollten, um rechtzeitig eine Schädigung der retinalen Gefäße erkennen zu
können. Ob allerdings eine Verminderung der Albuminexkretion sich auch positiv
auf die Mikrovaskulatur der Netzhaut auswirkt, ist bislang noch fraglich (123).
Weitere Studien in diese Richtung könnten eventuell einen therapeutischen
Nutzen für die diabetische Retinopathie mit sich bringen.
3.9 Genetik
Die Prävalenz der diabetischen Retinopathie unterscheidet sich in verschiedenen
Ethnien teilweise so stark, dass seit Längerem über eine genetische Komponente,
die an der Entstehung der Erkrankung beteiligt sein könnte, nachgedacht wird.
Auch das erhöhte Risiko unter Familienmitgliedern deutet auf eine genetische
Einflussnahme in der Pathogenese hin. So haben Geschwister von erkrankten
Personen ein etwa dreifach erhöhtes Risiko, an einer diabetischen Retinopathie zu
erkranken, als Individuen ohne familiären Hintergrund (126). Gestärkt wird diese
These auch durch die große Variabilität in der Erkrankungsfrequenz, die nicht
alleine biologisch, biochemisch oder umweltbedingt erklärbar ist. So wurde die
Bedeutsamkeit
einer
guten
Blutzuckereinstellung
bereits
in
Kapitel
4.1.
ausgearbeitet, dennoch präsentieren sich im klinischen Alltag immer wieder
Patienten, die trotz schlechter HbA1c- oder Blutdruckwerte keine DR entwickeln,
während im umgekehrten Fall andere Patienten mit einer guten Kontrolle der
Risikofaktoren bereits nach kurzer Zeit an einer DR erkranken (127). Die
vielgestaltigen Schwankungen des Genaufbaus jedes Individuums, können die
Genexpression und –antwort auf Umweltfaktoren entscheidend beeinflussen. Dies
könnte möglicherweise die große Streubreite unter verschiedenen ethnischen
Gruppen, die Häufung innerhalb von Familien und die Wechselhaftigkeit der
Entstehung einer DR erklären (128).
Studien verwenden
zwei verschiedene Vorgehensweisen, um genetische
Komponenten in der Entstehung von komplexen Erkrankungen ausfindig zu
machen. In Linkage-Studien wird davon ausgegangen, dass in Familien deren
61
Mitglieder überzufällig häufig die gleichen Allele aufweisen und an DR erkrankt
sind, genetische Prädispositions-Loci zu finden sind. Andere Studien versuchen so
genannte Kandidatengene zu identifizieren, indem zwei Gruppen untersucht
werden (eine Gruppe mit erkrankten, die andere mit gesunden Teilnehmern) und
die unterschiedliche Häufung genetischer Varianten unter den zwei Gruppen
verglichen werden. In den letzten Jahren konnten durch neuere Technologien und
durch Kostenreduktion in der Durchführung die genomweiten Assoziationstudien
(GWAS) häufiger durchgeführt werden. Ziel hierbei ist es, eine Erkrankung mit
einer genetischen Variation in Verbindung zu bringen, wobei meist SNPs
untersucht werden und eine große Teilnehmeranzahl notwendig ist. Dabei können
aber schnell mehrere tausend SNPs ausgewertet und durch Algorithmen mit
klinischen Erkrankungen in Verbindung gebracht werden. Mit dieser Methode
konnte man kürzlich Gen-Loci für komplexe Erkrankungen wie KHK und DM I und
II bestimmen (127).
Aldosereduktase:
Einer
der
möglichen
genetischen
Kandidaten
für
die
Beeinflussung der Retinopathie ist das Aldosereduktase-Gen. Das Enzym
Aldosereduktase (ALR) ist für Umwandlung von Glukose zu Sorbit verantwortlich,
welches bei einem Überangebot von Glukose intrazellulär kumuliert und dort zu
osmotischen Stress führt. In Tiermodellen hat dieser Vorgang zur Ausbildung von
Mikroaneurysmen, Basalmembranverdickung und Perizytenverlust geführt. Alle
drei Prozesse zählen zu den Hauptmerkmalen einer diabetischen Retinopathie
(129).
Wang et al. (2003) untersuchten in ihrer Studie bei 738 Patienten chinesischer
Abstammung den Zusammenhang zwischen zwei Polymorphismen des ALR-Gens
und der Entstehung einer DR und diabetischen Nephropathie. Personen mit dem
z-2 tragenden Genotyp hatten ein signifikant höheres Risiko, an beiden Leiden zu
erkranken. Somit stand für die Autoren eine Assoziation des ALR-Polymorphismus
mit mikrovaskulären Komplikationen fest (130).
In einer brasilianischen Studie von Richeti et al. (2007) wurden ähnliche
Zusammenhänge beobachtet. Patienten mit einem ALR-Polymorphismus hatten
verglichen mit den Individuen ohne diese Genvariante ein dreifach erhöhtes
Risiko, eine PDR zu entwickeln (131).
62
Zu dem gleichen Ergebnis kam eine japanische Studie, in der die Länge der
Dinukleotid-Wiederholungen des ALR-Gens mit einer Disposition für die
Ausbildung der DR in Verbindung stand (132).
Demgegenüber stehen allerdings auch einige Publikationen, in denen der
Versuch, eine Assoziation zwischen ALR-Polymorphismen und DR nachzuweisen,
fehlschlug. Eine brasilianische Studie z.B. konnte diesen Zusammenhang nicht
beweisen (133). Ebenso scheiterte eine Studie mit 127 koreanischen Patienten
daran, die Hypothese zu bestätigen (134).
Zusammenfassend überwiegen Studien mit einem positiven Ergebnis betreffend
den
ALR-Polymorphismus.
Diese
Evidenzen
können
allerdings
mit
der
Beobachtung ausgeglichen werden, dass in klinischen Studien bisher die
Progression der DR durch Aldosereduktase-Inhibitoren nicht verhindert werden
konnte (127). Daher kann bis zum heutigen Tag keine gesicherte Aussage über
das erhöhte Risiko für die Entwicklung einer DR und den ALR-Genvarianten
getroffen werden.
VEGF: Ein weiterer Anwärter, der für eine mögliche genetische Anfälligkeit der DR
verantwortlich gemacht werden könnte, ist das VEGF-Gen und seine SNPs. Das
multifunktionale Zytokin VEGF ist für mehrere pathologische Prozesse im Auge
verantwortlich: es erhöht die Permeabilität der Gefäße, führt konsekutiv zu einem
Zusammenbruch der Blut-Retina-Schranke und induziert Neovaskularisationen in
der
PDR.
Die
Durchlässigkeit
und
Fragilität
der
neuen
Gefäße
kann
Netzhautödeme und intravitreale Blutungen mit sich bringen, die zu einer
ernsthaften Bedrohung der Sehleistung beitragen können. Die Expression des
VEGF-Proteins wird stark durch genetische Variabilitäten des VEGF-Gens
beeinflusst, wodurch es seit längerer Zeit Gegenstand der Forschung ist (135).
Al-Kateb et al. (2007) fanden in einer Studie mit 1369 Teilnehmern kaukasischer
Abstammung mehrere Varianten des VEGF-Gens, die mit der Entwicklung einer
schweren DR assoziiert sind (136). Zu dem gleichen Ergebnis kamen Churchill et
al. (2008), die in einer kleineren Fall-Kontroll-Studie VEGF-SNPs mit der
Entwicklung einer DR in Zusammenhang bringen konnten (137).
Speziell die Promoter-Regionen des VEGF-Gens scheinen mit einem erhöhten
Risiko einer DR bei Diabetikern einher zu gehen. Drei SNPs dieser Region waren
63
Gegenstand der Forschung in einer chinesischen Studie, die alle drei zu einer
Prädisposition für die Erkrankung einer DR führten (138).
Auch Abhary et al. (2009) und Suganthalakshmi et al. (2006) konnten eine
Assoziation von mehreren SNPs des VEGF-Gens mit einem erhöhten Risiko der
Ausbildung einer DR, sowohl in Typ 1 als auch Typ 2 Diabetikern und das
unabhängig von Dauer und Qualität der Blutzuckereinstellung (139,140).
Dennoch fand man bei einer Metaanalyse aus dem Jahr 2009, in die sechs
Polymorphismen einbezogen wurden, keine statistisch signifikante Assoziation zur
Entwicklung einer DR (135).
Zusammenfassend konnten in der Mehrzahl der zu diesem Thema durchgeführten
Studien ein Zusammenhang der VEGF-Polymorphismen und der DR hergestellt
werden. Dieses Ergebnis unterstützen die im Moment durchgeführten klinischen
Studien zur Effizienz der Anti-VEGF-Therapeutika, die bereits am Markt sind und
am Patienten angewandt werden (127).
AGE: Advanced Glycation End Products entstehen aus Proteinen und Lipiden, die
für längere Zeit hyperglykämischen Bedingungen ausgesetzt sind, wie es bei
Diabetikern häufig der Fall ist. Kumulieren diese glykierten Makromoleküle im
Körper, tragen sie zum Fortschreiten der DR bei, indem sie Gewebe direkt
schädigen und spezielle Rezeptoren für AGEs aktivieren. Durch Bindung dieses
spezifischen Liganden an den Receptors for Advanced Glycation Endproducts
(RAGE) werden Zytokine ausgeschüttet, die zur gesteigerten vaskulären
Permeabilität beitragen und so die Progression der DR beschleunigen (127).
In einigen Studien wurden SNPs des RAGE-Gens und deren Zusammenhang mit
der DR untersucht. Einer der Polymorphismen ist Gly82Ser im Exon 3 des
Chromosoms 6p21.3, das in einer indischen Studie mit einem erhöhten Risiko für
die Entwicklung einer DR verbunden war (141). Yuan et al. (2012) untersuchten in
ihrer Metaanalyse drei RAGE-Polymorphismen, in der Gly82Ser vor allem in der
asiatischen Population als Risikofaktor hervorging (142). Diese Beobachtungen
konnten allerdings eine Metaanalyse von Kang et al. (2012) und die Studie von
Uthra et al. (2010) nicht bestätigen (143,144).
Ein weiterer Polymorphismus, der sich momentan im Fokus der Forschung
befindet, ist -374 T/A. Eine große schwedische Studie mit 3539 Teilnehmern und
eine weitere südindische Studie, konnten beide eine Assoziation zu diabetischen
64
Spätkomplikationen feststellen (145,146). Im Gegensatz dazu kamen Yuan et al.
(2012) in ihrer Metaanalyse zu dem Ergebnis, dass der RAGE-374 T/A
Polymorphismus sich als protektiver Faktor in Bezug auf die Entwicklung einer DR
darstellte (142).
Der -429 T/C Polymorphismus im RAGE-Gen wurde bereits 2001 von Hudson et
al. (2001) als Risikofaktor für die DR beschrieben (147), konnte in den
Metaanalysen von Yuan et al. (2012) und Kang et al. (2012) allerdings nicht
bestehen (142,143). Bestätigt werden diese Ergebnisse von einer malaiischen
Studie, die weder den Polymorphismus -429 noch -374 in der RAGEPromoterregion mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko für die DR in Verbindung
bringen konnte (148).
NOS:
Die
endotheliale
NO-Synthase
trägt
durch
die
Produktion
von
Stickstoffmonoxid - dessen intravitreale Level bekanntermaßen bei Patienten mit
PDR erhöht sind - zur endogenen Vasodilatation bei. Dieses Faktum macht das
NO-Synthase-Gen zu einer biologisch plausiblen Variablen, die zur Entwicklung
und Progression einer DR beitragen könnte. Drei untersuchte SNPs zeigten in
einer Metaanalyse von 2009 allerdings keinen signifikanten Zusammenhang (135).
Zum gleichen Ergebnis kommt die Studie von Warpeha et al. (2003), sie sehen
aber in diesem genetischen Teilbereich ein Potential für zukünftige Forschungen
(128).
Es existieren Studien, die noch andere in den Entwicklungsprozess der DR
mitspielende genetische Varianten untersucht haben, die aber entweder kaum
reproduzierbar sind oder keine Signifikanz zeigten. Dazu gehören GLUT1 (149),
PAI-1 und MTHFR (133). Eine aktuelle Metaanalyse des PAI-1-Polymorphismus
zeigte allerdings erst kürzlich, dass es einen Zusammenhang mit einem erhöhten
DR-Risiko
geben
könnte,
speziell
für
kaukasische
Patienten
mit
einer
Diabetesdauer über 10 Jahren (150).
Zusammenfassend gesagt konnte bislang noch keine genetische Komponente
ausfindig gemacht werden, die einen gesicherten Beitrag als Risikofaktor für die
DR darstellt. Ein Grund dafür könnte die große Komplexität der Pathogenese sein,
die stark von multifaktoriellen, polygenetischen und umweltbedingten Faktoren
beeinflusst wird. Aber auch die uneinheitlichen Beurteilungskriterien und die
65
uneinheitliche Dokumentation in den verschiedenen Studien könnten für die
unterschiedlichen Ergebnisse der Studien verantwortlich sein. Weiters wurde in
großen bevölkerungsbezogenen Studien gezeigt, dass etwa 5-15% der älteren
Studienteilnehmer eine Retinopathie entwickelten, obwohl sie nicht an Diabetes
mellitus erkrankt waren. Diese nichtdiabetischen Läsionen, deren Entstehung
bislang unklar sind, bildeten sich aber über fünf Jahre zu 72% zurück (151). Durch
die Ähnlichkeit der nichtdiabetischen retinalen Veränderungen mit Frühstadien der
DR könnten einige Resultate genetischer Studien verfälscht worden sein (127).
3.10 Insulintherapie
In den verschiedenen Studien werden häufig Patienten miteinander verglichen, die
zur Behandlung ihrer Grunderkrankung Diabetes mellitus keine einheitliche
Therapie erhalten. Im Kapitel 1.4 wird auf die diversen Möglichkeiten
eingegangen. Nun stellt sich die Frage, ob die Therapiewahl auf das Auftreten
oder die Progression der DR Einfluss nehmen könnte.
Cahill
et al. (1997) verglichen in ihrer Studie Patienten unter oraler
antidiabetischer Therapie und Patienten unter Insulintherapie miteinander und
konnten ein 3,5-fach erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Retinopathie in der
zweiten Gruppe feststellen. In einer Gegenüberstellung mit Patienten die nur
diätisch behandelt wurden, fand man sogar eine 5-fach höhere Prävalenz. Die
Autoren räumen allerdings in einer kritischen Betrachtung Ihrer Arbeit ein, dass
dieses
Ergebnis auch von
einer
schlechteren Blutzuckereinstellung von
vorneherein begründet ist, welches den Einsatz von Insulin überhaupt erst
notwendig gemacht hat (76).
Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Pradeepa et al. (2008), die in ihrer Studie bei
Patienten, die mit Insulin therapiert wurden, ein 2,3-fach höheres Risiko an vor
allem einer schweren DR zu erkranken, ermittelten. Aber auch in dieser Arbeit
bezweifeln die Autoren einen Zusammenhang mit Insulin per se. Die Schwere des
Diabetes mellitus ist für sie entscheidend für die Entstehung einer DR und
bestimmt gleichzeitig den Einsatz einer Insulintherapie. Eine andere mögliche
66
Erklärung wäre die bevorzugte Insulintherapie bei diabetischen Patienten, die
bereits Komplikationen aufweisen (74).
Die Entwicklung einer DR stand auch in der Studie von Boelter et al. (2006) in
Zusammenhang mit der Anwendung von Insulin. Sie sind gleichermaßen der
Meinung, dass die schlechten Blutzuckerwerte vor dem Beginn der Therapie für
diese Assoziation verantwortlich sind (125) und gehen damit konform mit
mehreren anderen Autoren, die Studien über die Risikofaktoren der DR
veröffentlicht haben (62,77,78,86,152).
Eine japanische Studie, die das risikosenkende Potential einer intensiven
Insulintherapie (schnellwirksames Insulin zu jeder Mahlzeit und Intermediärinsulin
abends) mit einer konventionellen Insulintherapie (ein bis zwei Injektionen eines
Intermediärinsulins pro Tag) verglich, konnte ein um 69% niedrigeres Risiko für
eine schwere Retinopathie in der ersten Gruppe beobachten. Selbiges gilt auch für
die Entwicklung einer Nephropathie. Dieses Ergebnis wird von den Autoren auf die
verbesserte Blutzuckereinstellung
zurückgeführt
und
deckt
sich
mit
den
Ergebnissen des Kapitels 3.1 (153).
Eine an den Tagesrhythmus des Patienten angepasste Insulintherapie kann sich
also präventiv auf die Entwicklung einer DR auswirken, doch wurde in Kapitel 3.1
auch auf eine mögliche Verschlechterung nach einer erheblichen Senkung des
Blutzuckerwertes hingewiesen. Eine Studie, die Veränderungen nach dem
Therapiewechsel von OAD auf Insulintherapie beobachtete, zeigte, dass Patienten
mit der größten HbA1c-Reduktion am stärksten von einer DR-Progression
betroffen waren (71,154).
Insgesamt konnte aber in keiner Studie die von anderen Faktoren unabhängige
Einflussnahme der Insulintherapie auf eine Entstehung oder Progression der DR
bewiesen werden.
3.11 Durchmesser retinaler Gefäße
In der jüngeren Vergangenheit machten Fortschritte in der Fundusfotographie und
präzisere Messungen von vaskulären Veränderungen eine genauere Beobachtung
67
und Aufzeichnung
von retinalen
Entwicklungen
möglich.
Vor
allem
die
Bestimmung der arteriellen und venösen Gefäßdurchmesser und der mögliche
Zusammenhang mit Erkrankungen anderer Organsysteme, fand in den letzten
Jahren Beachtung (155). Könnte dies auch für die diabetische Retinopathie
gelten? Dann wäre es möglich, durch eine nicht-invasive und einfach
durchführbare Untersuchung wie der Augenspiegelung, Patienten mit erhöhtem
Risiko für diabetische Komplikationen eventuell bereits vor dem Auftreten klinisch
signifikanter Symptome zu identifizieren. In weiterer Folge könnte die DR in einem
präklinischen Stadium frühzeitig und gezielt therapiert werden. Kann also die
Messung der vaskulären Durchmesser in der Retina tatsächlich als Risikofaktor für
Entstehung oder Progression der Retinopathie herangezogen werden?
Klein et al. (2004) haben im Rahmen ihrer Wisconsin Epidemiological Study of
Diabetic Retinopathy (WESDR) mehrere Publikationen über diese Fragestellung
veröffentlicht. In einer dieser Studien fand man eine Assoziation zwischen dem
größeren Durchmesser der Venolen und Arteriolen der Netzhaut und einer
Progression der DR in Patienten mit Typ 1 Diabetes mellitus (156).
In mehreren anderen Studien, in denen die Inzidenz einer DR bei Typ 1 Patienten
untersucht wurde, war der erhöhte Durchmesser der Arteriolen ein Marker für ein
gesteigertes Erkrankungsrisiko (157-159).
Eine mögliche Erklärung hierfür könnte der erhöhte kapilläre Druck sein, den die
erweiterten Arteriolen verursachen, wodurch es in nachfolgenden Kapillaren zu
Wandschädigungen, zu Ödementwicklung und zu Gefäßrupturen kommen kann
(158).
Für die oben genannten Ergebnisse wurden Patienten mit Typ 1 Diabetes mellitus
untersucht, doch gelten diese auch für Typ 2 Diabetiker?
Rogers et al. (2008) konnten weder den Durchmesser der Arteriolen noch der
Venolen mit der Inzidenz einer Retinopathie bei Studienteilnehmern mit DM 2 in
Verbindung bringen (158).
Zwei Unterarbeiten der WESDR zeigten, dass bei Typ 2 Diabetikern der
vergrößerte venöse Diameter mit der Schwere der DR (155) und der Inzidenz
einer Nephropathie in Zusammenhang stand (160).
68
In einer kleineren britischen Studie mit 30 Teilnehmern waren wiederum sowohl
erhöhte arterielle als auch venöse Diameter ein Risikofaktor für die Progression
der DR (161).
Bei Kifley et al. (2007) konnten viel häufiger vergrößerte Venolen bei Patienten mit
schwerer DR beobachtet werden, als bei Studienteilnehmer ohne Diabetes
mellitus oder keiner DR (162). Selbige Assoziation wurde auch in einer
australischen (163) und asiatischen Studie (164) erfasst.
Zusammengefasst könnte dieses Forschungsfeld in Zukunft gute Einblicke in die
Entstehung und Progression der DR liefern, zum jetzigen Zeitpunkt kann aber
bezüglich der Verlässlichkeit des Durchmessers der retinalen Gefäße als
Risikofaktor noch keine eindeutige Aussage getroffen werden. Auch kann die
Messung der vaskulären Durchmesser noch nicht in der Praxis umgesetzt werden,
da die Softwareprogramme noch recht kompliziert zu bedienen und für die
praktische Anwendung noch nicht geeignet sind. Zudem müssten Studien zuerst
noch unter Beweis stellen, dass die Assoziationen zu einer neuen Risikoeinteilung
der Patienten mit konsekutiven Änderungen der Therapie und der Outcomes
führen kann. Auch die Kosteneffizienz müsste zuerst abgeklärt werden (165).
Insgesamt werden also noch weitere Studien notwendig sein, um die Variationen
der retinalen Gefäßstruktur als möglichen Risikofaktor zu bestätigen und eine
breite Erfassung möglich zu machen.
3.12 Schlängelung retinaler Gefäße
Nicht nur der Durchmesser der retinalen Arteriolen und Venolen kann durch die
Funduskopie beurteilt werden, auch die Bewertung der Schlängelung (engl:
Tortuosity) ist durch diese nicht-invasive und direkte Untersuchung möglich.
In den vergangen zwei Jahren veröffentlichten Sasongko et al. (2011,2012)
mehrere Studien, in denen die verstärkte Schlängelung der Netzhautarteriolen von
Diabetikern als möglicher Risikofaktor für das Auftreten einer DR zur Debatte
stand (79,166,167).
69
In einer klinischen Studie wurden 224 Diabetiker auf das Vorkommen einer
Retinopathie untersucht und dementsprechend in zwei Gruppen (DR vorhanden
oder fehlend) eingeteilt. Unter den Studienteilnehmern fanden sich 85 Patienten
mit Typ 1 und 139 mit Typ 2 Diabetes mellitus. Es zeigte sich, dass mit der
Zunahme der Gewundenheit retinaler Arteriolen die Wahrscheinlichkeit für die
Existenz einer DR anstieg. Folglich könnte die Schlängelung möglicherweise ein
neuer unabhängiger Risikomarker für die DR sein (79).
In einer weiteren klinischen Studie von Sasongko et al. (2011) stellten die Autoren
224 Diabetiker 103 Nicht-Diabetikern gegenüber. Der Augenfundus der Patienten
wurde untersucht und dabei eine eventuell vorhandene DR in mild, moderat und
augenlichtbedrohend eingeteilt. Im direkten Vergleich der beiden Hauptgruppen
(Diabetiker
versus
Nicht-Diabetiker)
fanden
sich
gesteigerte
Werte
der
Gefäßschlängelung bei Patienten mit einem diagnostizierten Diabetes mellitus.
Unter diesen Patienten waren jene mit verstärkter Gewundenheit der Arteriolen
häufiger von einer DR betroffen. Vor allem für die milde und moderate Variante
der DR konnte dieser Zusammenhang beobachtet werden (166).
Eine große Studie mit 1159 Teilnehmern stellte die Assoziation zwischen der
retinalen Gefäßschlängelung und einer DR oder Nephropathie bei jungen
Patienten mit Typ 1 Diabetes mellitus in den Fokus der Wissenschaft. Je stärker
die Arteriolen geschlängelt waren, desto eher wurde eine Retinopathie oder
Nephropathie diagnostiziert und das unabhängig von anderen Risikofaktoren wie
Diabetesdauer oder Blutdruck (167).
In einem Tierexperiment wurden ähnliche Zusammenhänge beobachtet. Ratten,
die mit Galaktose gefüttert und so künstlich in einen Diabetes-ähnlichen Zustand
überführt wurden, zeigten erheblich stärker gewundene und erweiterte Gefäße
und gleichzeitig ein erhöhtes Risiko für eine retinale Mikroangiopathie (168).
Über die Mechanismen, die hinter diesem Phänomen stehen, wird noch diskutiert.
Eine potentielle Erklärung könnte in der fehlerhaften Autoregulation der Gefäße
liegen (siehe Kapitel 2.2). Denn dadurch kommt es zu einer erhöhten Anfälligkeit
für
longitudinale
Wahrscheinlichkeit
Zugkräfte
für
und
intravaskulären
aneurysmatische
Druck,
Ausweitungen
wodurch
und
die
verstärkte
Gefäßschlängelung steigt (167). Aber auch die VEGF-Produktion könnte an der
Entstehung gewundener Gefäße beteiligt sein. Durch die Einwirkung dieses
70
Faktors wird möglicherweise eine morphologische Veränderung der Arteriolen und
Venolen bewirkt, wobei die genauen Mechanismen noch klärungsbedürftig sind.
Gewundene Gefäße lassen auch auf eine schlechte Stützfunktion der Wandzellen
schließen, was wiederum zu verstärkter Fragilität und Verwundbarkeit der
betroffenen Gefäße führen mag (166).
Die bisherigen Studienergebnisse zeichnen ein vielversprechendes Bild dieses
neuen Zweiges der Retinopathieforschung. Doch durch das Querschnittsdesign
kann kein eindeutig kausaler Rückschluss gezogen werden, weshalb eine
Längsschnittstudie zur Bestätigung der Beobachtungen in Zukunft notwendig sein
wird. Sollte sich der ursächliche Zusammenhang bestätigen, könnten sich stärker
geschlängelte Gefäße in der Netzhaut als frühe Indikatoren für die DR und
möglicherweise auch für andere diabetesbedingte Komplikationen eignen. Durch
die leichte und nichtinvasive Beurteilung wäre dieser Risikofaktor besonders
reizvoll, auch wenn die dafür benötigte Technik noch nicht in jedem Klinikum zur
Verfügung steht.
3.13 Übergewicht
Die Anzahl übergewichtiger Personen ist in der westlichen Welt kontinuierlich im
Steigen begriffen, mit vielfältigen medizinischen Auswirkungen, wie etwa ein
erhöhtes Risiko für die Entstehung einer KHK, Herzinfarkt, Diabetes mellitus Typ
2, Hypertonie oder Gicht. Doch ob Übergewicht (BMI zwischen 25 und 30 kg/m2)
oder Adipositas (ab BMI von 30kg/m2) auch zu schädlichen Veränderungen im
Auge führen, ist noch nicht klar definiert (169). Könnte auch die DR von dem
erhöhten Körpergewicht des Patienten beeinflusst werden?
Mehrere Studien haben versucht, auf diese Frage eine Antwort zu finden, wie
etwa Zhang et al. (2001), die Daten aus dem Diabetes Control and Complications
Trial wiederaufnahmen, um nach potentiellen prognostischen Faktoren zu suchen,
die bei Typ 1 Diabetikern mit extremer (guter oder schlechter) metabolischer
Kontrolle die Entwicklung einer DR beeinflussen. Neben dem HbA1c-Wert,
gemessen am Anfang der Studie, war der BMI der größte Risikofaktor für die
71
Entwicklung einer DR. Anders gesagt: höhere Werte stellten sich als schädlich,
niedrigere als vorbeugend heraus (170).
In einer Studie von De Block et al. (2005) versuchten die Autoren ebenfalls der
Frage auf den Grund zu gehen, wie Übergewicht die Entstehung mikrovaskulärer
Komplikationen bei Typ 1 Diabetes mellitus beeinflussen kann. Sowohl Inzidenz
als auch Schweregrad der DR korrelierten mit einem BMI > 25 kg/m2 (171).
Auch bei Patienten mit Typ 2 Diabetes mellitus wurde der Zusammenhang
zwischen BMI und DR untersucht. Bei Dirani et al. (2011) waren der BMI und der
Nackenumfang mit Gegenwart und Schweregrad einer DR assoziiert. Adipositas
war
mit
einem 3-fach höherem Risiko für die Entwicklung
einer DR
vergesellschaftetet (172).
Die bevölkerungsbezogene Hoorn-Study von van Leiden et al. (2002) untersuchte
die Prävalenz einer DR bei 626 kaukasischen Teilnehmern, die in vier
verschiedenen Gruppen eingeteilt wurden: normaler Glukosemetabolismus,
beeinträchtigter Glukosemetabolismus, neu-diagnostizierter DM und bekannter
DM. Neben anderen Faktoren fand man in dieser Querschnittstudie ein erhöhtes
Risiko für eine Retinopathie bei Patienten mit erhöhtem BMI in allen vier Gruppen
(173).
Diesen Zusammenhang konnten auch Nguyen et al. (1996), Dorchy et al. (2002)
und Katusic et al. (2005) bestätigen. Der Anstieg des BMI ging Hand in Hand mit
dem erhöhten Risiko einer PDR bzw. DR (91,174,175).
In einer weiteren Publikation im Zuge der Hoorn-study, wurde die Inzidenz der DR
bei 233 Teilnehmern nach durchschnittlich 9,4 Jahren untersucht. Diesmal war
nicht der BMI der entscheidende Faktor, sondern das Taille-zu-Hüfte Verhältnis
(engl.: Waist-to-hip ratio, WHR). Dieser Wert spiegelt eher den zentralen Fettanteil
wieder und scheint sich hier als Risikofaktor für die DR abzuzeichnen (176).
Ebenso war es bei Chaturvedi et al. (2001) der WHR, der sich auf die DR
auswirkte. 764 Personen mit Typ 1 Diabetes zwischen 15 und 60 Jahren, ohne DR
in der baseline, wurden nach durchschnittlich 7,3 Jahren reevaluiert. Die WHR
zeigte sowohl bei Männern als auch bei Frauen eine starke Assoziation mit der
Inzidenz einer DR (177).
Doch nicht alle Studien kommen zu demselben Ergebnis, dass sich Adipositas
bzw. der BMI auf das Auge auswirken. Interessanterweise fanden Dowse et al.
72
(1998) in ihrer multiethnischen Studie mit über 6500 Teilnehmern einen inversen
Zusammenhang zwischen BMI und der DR. Sie vermuten, dass Magerkeit die
Schwere der Diabeteserkrankung widerspiegelt und so das Risiko für eine DR
erhöhte (81).
Collins et al. (1995) vertreten die gleiche Theorie, da auch in ihrer Studie
Adipositas und erhöhter BMI mit der Erkrankung einer DR invers assoziiert war.
Ihre Hypothese: Je niedriger der BMI desto weiter ist die Erkrankung Diabetes
mellitus fortgeschritten und desto häufiger treten Komplikationen auf (178).
Dieser
überraschende
Zusammenhang
wurde
auch
in
anderen
Studien
beobachtet (88,93,179).
Im SN-DREAMS Bericht Nummer 8 wurde bei Männern und Frauen sogar ein
protektiver Effekt eines BMI > 23 und Adipositas gefunden (77).
In anderen Studien hatte die Fettleibigkeit oder Übergewicht wiederum gar keinen
Zusammenhang mit der DR (63,125,180).
Die pathophysiologischen Mechanismen die hinter diesen Ergebnissen stehen,
wurden noch nicht vollständig erforscht. Da Übergewicht mit einem erhöhten
Risiko für Hypertonie und Hyperlipidämie vergesellschaftet ist, könnten diese
Parameter auch in die Entwicklung der DR eingreifen. Denn sowohl Bluthochdruck
als auch erhöhte Blutfettwerte werden als Risikofaktoren für die DR diskutiert
(siehe Kapitel 3.5 und 3.6). Aber auch ein direkter Einfluss der Adipositas auf die
Aldose-Reduktase-Aktivität,
den
VEGF,
den
oxidativen
Stress,
die
Thrombozytenfunktion und die Blutviskosität könnten in der Entwicklung einer DR
eine Rolle spielen (181).
Die Prävalenz des Übergewichts nimmt zwar stetig zu, sie könnte aber durch
Änderung des Lebensstils beeinflusst werden. Daher wäre es wichtig, den
erhöhten BMI als potentiell modifizierbaren Risikofaktor festlegen zu können. Die
aktuelle Datenlage zum Thema Übergewicht und Zusammenhang mit der DR lässt
bisher allerdings keinen eindeutigen Schluss zu. Nichtsdestotrotz sollten
übergewichtige Patienten von einer Reduktion ihres Gewichts überzeugt werden,
da der Einfluss auf eventuell lebensbedrohliche Erkrankungen wie KHK,
Herzinfarkt oder Schlaganfall unumstritten sind.
73
3.14 Schwangerschaft
Während einer Schwangerschaft kommt es im Körper der Frau zu einer Vielzahl
von Veränderungen. Dieser Wandel betrifft das hämatologische, kardiovaskuläre,
metabolische, hormonelle und immunologische System und kann mit all diesen
Faktoren die Entstehung und die Entwicklung einer DR beeinflussen (182). Daher
wurde Frauen mit Diabetes mellitus und mikrovaskulären Komplikationen früher
empfohlen, eine Schwangerschaft zu vermeiden oder abzubrechen. Heutzutage
weiß man, dass mit der richtigen Planung und einer guten Blutzuckereinstellung
eine sichere Schwangerschaft und Geburt möglich ist (117). Doch worauf gilt es
zu achten? Wann sind schwangere Frauen besonders gefährdet? Wie stark
beeinflusst die Schwangerschaft eine Retinopathie?
Im Zuge des DCCT wurden 180 Schwangere 500 nicht-schwangeren Frauen
während eines follow-up von durchschnittlich 6,5 Jahren gegenübergestellt.
Schwangere Diabetikerinnen mit einer konventionellen Therapie hatten ein 2,5fach höheres Risiko einer Progression der DR als ihre nicht-schwangeren
Gegenparts mit einem Risikogipfel im zweiten Trimester. Dieses gesteigerte Risiko
blieb bis ins erste Jahr nach der Geburt bestehen. Daher empfehlen die Autoren,
eine intensive augenärztliche Betreuung bis ein Jahr postpartal beizubehalten.
Die Verschlechterung der DR während und ein Jahr nach einer Schwangerschaft
hielt interessanterweise in dieser Studie nicht dauerhaft an und schwächte sich ab
einem Jahr postpartal immer mehr ab. Am Ende der Studie hatten schwangere
Diabetikerinnern keine schwerere Retinopathie als nicht-schwangere. Die
Verschlechterung der DR während der Schwangerschaft hatte keinerlei dauerhafte
Konsequenzen.
Unter den schwangeren Diabetikerinnen waren jene häufiger von einer
Progression betroffen, die konventionell therapiert wurden, weshalb die Autoren
vermuten, dass sich der negative Effekt einer schlechten Blutzuckereinstellung mit
jenem einer Schwangerschaft addiert. Umso wichtiger ist es, bereits vor der
Konzeption und während der Schwangerschaft auf eine intensive Therapie mit
guter Einstellung zu achten (183).
Zu demselben Ergebnis kommen Chew et al. (1995) in ihrer prospektiven
Diabetes in Early Pregnancy Study mit 140 Patientinnen. Bei Frauen mit
74
schlechter metabolischer Kontrolle zum Zeitpunkt der Konzeption war eine
Verschlechterung der Retinopathie am wahrscheinlichsten. Auch die Schwere der
DR am Beginn der Schwangerschaft war mit dem Risiko einer Progression
assoziiert.
Daraus
kann
geschlossen
werden,
dass
eine
exakte
Blutzuckereinstellung, vor allem bei jenen Patientinnen mit bekannter DR, den
Ausgang der Schwangerschaft entscheidend beeinflussen kann. Denn abgesehen
von den Auswirkungen auf das Auge, kann sich der Blutzucker während der
Konzeption und der Organogenese auf die Wahrscheinlichkeit eines spontanen
Aborts und Malformationen auswirken (184).
Bei Rahman et al. (2007) waren neben der schlechten Blutzuckereinstellung auch
ein erhöhter Blutdruck und eine längere Dauer der Diabeteserkrankung
Risikofaktoren für eine Progression der DR während einer Schwangerschaft. Sie
empfehlen daher Diabetikerinnen mit Kinderwunsch eine Schwangerschaft so früh
wie möglich anzustreben. Zudem zeigte sich ein positiver Effekt bei jenen PDRPatientinnen, die bereits vor der Schwangerschaft mit Photokoagulation therapiert
wurden. Bei ihnen blieb die Retinopathie während der Schwangerschaft stabil
(185).
Die Anwendung einer Lasertherapie empfehlen auch Chan et al. (2004) vor allem
bei jenen Patientinnen die während der Schwangerschaft in ein schweres,
nichtproliferatives Stadium der DR kommen. Eine weitere Verschlechterung sollte
nicht mehr abgewartet werden (186).
Auch Vestgaard et al. (2010) fanden ein erhöhtes Risiko für eine Verschlechterung
des Augenbefundes für Diabetikerinnen während der Schwangerschaft. 6% der
Studienteilnehmerinnen entwickelten eine augenlichtbedrohende Progression der
DR und/oder mussten sich einer Lasertherapie unterziehen. Während ein erhöhter
Blutdruck
mit
dieser
Entwicklung
assoziiert
wurde,
fand
man
keinen
Zusammenhang mit Parametern der Blutzuckereinstellung. Sie empfehlen daher
eine konsequente Therapie des Hypertonus bei Diabetikerinnen, die eine
Schwangerschaft planen (187).
Doch nicht alle Studien können den Zusammenhang einer Schwangerschaft mit
der Progression einer DR bestätigen. Lövestam-Adrian et al. (1997) verglichen
retrospektiv 65 schwangere Diabetikerinnen mit 56 nicht-schwangeren, die
entsprechend dem Alter und der Dauer des Diabetes angepasst wurden. In der
75
Gegenüberstellung der beiden Gruppen fanden sie keine Unterschiede der
Wahrscheinlichkeit für eine DR-Verschlechterung. Jene Schwangeren, bei denen
die Erkrankung allerdings voranschritt, hatten höhere Hb1c-Werte vor der
Empfängnis und eine zu schnelle Senkung während der Schwangerschaft. Auch
Präeklampsie hatte vermutlich durch den fluktuierenden Blutdruck einen negativen
Einfluss auf die DR (188).
Auch Hemachandra et al. (1995) fanden in ihrer Studie kein erhöhtes Risiko für
Spätkomplikationen
bei
schwangeren
Typ
1
Diabetikerinnen.
Eine
Schwangerschaft beeinflusst also laut den Autoren weder Retinopathie, noch
Nephropathie oder Neuropathie (189).
Zusammengefasst kann man aus der aktuellen Studienlage schließen, dass eine
Schwangerschaft für Frauen mit Diabetes mellitus zwar einen möglichen
Risikofaktor für die Verschlechterung einer Retinopathie darstellen kann, diese
aber anscheinend nicht von Dauer ist. Die Wahrscheinlichkeit für eine Progression
kann durch die Qualität der Blutzuckereinstellung, die Dauer der Vorerkrankung
und den Blutdruck beeinflusst werden. Daher wird den behandelnden Ärzten
empfohlen, die Einstellung des Blutzuckers und des Blutdrucks vor und während
der Schwangerschaft zu optimieren und eine Schwangerschaft eventuell früher zu
empfehlen. Außerdem sollte die ophthalmologische Betreuung bis ein Jahr nach
der Geburt fortgesetzt werden.
3.15 Anämie
Unter einer Anämie versteht man die Reduktion der Hämoglobinkonzentration
unter 13,0 g/dl beim Mann bzw. unter 12,0 g/dl bei der Frau oder eine
Verminderung des Hämatokrits unter 42% bzw. 38% (1). Beide Werte
repräsentieren die Möglichkeit des Blutes, Sauerstoff zu seinem Bestimmungsort
zu transportieren. In Anbetracht der pathophysiologischen Vorgänge, die hinter
der diabetischen Retinopathie stehen, wie Verschluss von Kapillaren und Hypoxie,
erscheint es plausibel, dass eine Anämie zusätzlich zur Verschlechterung des
76
Zustandes beitragen kann. Einige Studien haben sich mit diesem möglichen
Zusammenhang beschäftigt.
In der Early Treatment of Diabetic Retinopathy Study bestätigen die Autoren eine
Assoziation dieses bisher wenig beachteten Risikofaktors mit der DR. Parallel mit
dem Abfall des Hämatokrits stieg das Risiko für die Entwicklung einer schweren
PDR an (72).
Eine weitere Studie die den Zusammenhang bekräftigt, ist jene von Qiao et al.
(1997). Diese unterteilten die 1691 Studienteilnehmer in zwei Gruppen (Hb < 12
g/dl und Hb ≥12 g/dl) und verglichen sie untereinander. Jene Patienten mit einer
Anämie hatten ein zwei Mal höheres Risiko an einer DR zu erkranken,
insbesondere an einer schweren Form. Unter jenen Patienten die bereits an einer
DR litten, konnte sogar ein fünffach höheres Risiko für die Entwicklung einer
schweren Retinopathie beobachtet werden und das unabhängig von anderen
Risikofaktoren (190).
Eine chinesische Studie bestätigt diese Beobachtung ebenfalls und vermutet
auch, dass die retinale Hypoxie ursächlich hinter diesem Zusammenhang steht.
Patienten mit Anämie hatten wie bei Qiao et al. ein etwa 2-fach erhöhtes Risiko,
eine DR zu entwickeln als Diabetiker ohne Anämie (191).
Weitere Studien bekräftigen diese Assoziation (192,193).
So scheint die Diagnose und Behandlung einer Anämie bei Diabetikern in Hinblick
auf die Entstehung und Progression einer DR von Wichtigkeit zu sein. In einer
Studie von Rani et al. (2010) schätzten die Autoren die Prävalenz der Anämie
unter Typ 2 Diabetikern auf immerhin 12,3% ein (193). Beim Versuch, das Risiko
für mikrovaskuläre Komplikationen des Diabetes mellitus möglichst gering zu
halten, sollte auf Evaluierung einer möglichen Anämie also nicht verzichtet
werden.
Einen
Erythropoietin
möglichen
protektiven
beschrieben
Friedman
Effekt
et
einer
al.
Anämietherapie
(1996)
anhand
mit
fünf
Falldokumentationen. Alle fünf Patienten tolerierten die Gabe sehr gut und
konnten
nach
einem
Jahr
entweder
eine
signifikante
Besserung
oder
Stabilisierung ihrer visuellen Leistung verzeichnen. Natürlich räumen die Autoren
ein, dass durch die kleine Patientenzahl keine generalisierte Aussage getroffen
werden kann (194).
77
Doch werden in Bezug auf die Anämietherapie zur Steigerung des Hämatokrits
auch Bedenken geäußert. So könnte die gesteigerte Hämoglobinkonzentration zu
Thrombosen, Hypertension und kardialen Ereignissen führen. Bezüglich der
Thrombosen
gab
es
in
der
Vergangenheit
nur
kleine
Studien
mit
widersprüchlichen Resultaten. Aber in Anbetracht des möglichen Risikofaktors der
Hypertension
sollte
ein
eventuell
auftretender
Bluthochdruck
konsequent
therapiert werden (195).
Insgesamt könnte es tatsächlich einen Zusammenhang mit dem Vorkommen und
der Therapie einer Blutarmut und der DR geben, der für behandelnde Ärzte nicht
unwichtig erscheint, da es an ihnen liegt, ein entsprechendes Management
einzuleiten. Jedoch werden weitere Studien mit einer größeren Anzahl an
Teilnehmern notwendig sein, um eine gesicherte Aussage bezüglich den Benefits
einer Anämietherapie treffen zu können.
3.16 C-Peptid
Das C-Peptid oder connecting-peptide ist für die Verbindung der A- und B-Ketten
des Prosinsulins zuständig und nimmt damit einen wichtigen Platz in der
Insulinbiosynthese ein. Da es in äquimolaren Mengen mit Insulin ausgeschüttet
wird, repräsentiert es die endogene Insulinsekretion (196). Während es früher nur
als Nebenprodukt der Insulinbiosynthese angesehen wurde, häufen sich in den
letzten Jahren Evidenzen, das C-Peptid selbst könnte ein hormonell aktives Peptid
sein (197). Wäre auch eine Beteiligung dieses Moleküls an der Entwicklung der
diabetischen Retinopathie möglich?
Steffes et al. (2003) benutzten die Daten des DCCT um einen möglichen
Zusammenhang zwischen stimulierten C-Peptid-Werten (90 Minuten postprandial)
am Anfang der Studie und dem Auftreten einer Retinopathie oder Nephropathie
am Ende aufzudecken. Ihr Ergebnis: Höhere Werte des C-Peptids konnten die
Inzidenz von mikrovaskulären Komplikationen wie DR bei Typ 1 Diabetikern
senken. Diese Werte stehen für eine noch vorhandene Funktion der Beta-Zellen
des Pankreas, wodurch das Ziel einer normoglykämischen Einstellung leichter zu
78
erreichen ist. Eine andere mögliche Erklärung könnte in einer direkten Wirkung
des
C-Peptids
auf
die
Entwicklung
oder
Progression
mikrovaskulärer
Komplikationen liegen (198).
2113 Patienten mit Typ 2 Diabetes wurden in einer weiteren retrospektiven Studie
untersucht. Nach 14 Jahren follow-up hatten Studienteilnehmer mit höheren CPeptid-Werten in der baseline, die sich am Beginn komplikationsfrei präsentierten,
ein signifikant niedrigeres Risiko an einer Retinopathie zu erkranken. Die
Gesamtmortalität konnte durch die erhöhten Werte allerdings nicht beeinflusst
werden (199).
Weitere Studien zeigten eine negative Korrelation zwischen C-Peptid und DR, die
auf einen möglichen protektiven Effekt des Moleküls hinweisen könnten
(91,191,200).
Der Großteil der Studien bestätigt zwar diese Assoziation, aber nicht alle kommen
zu dem gleichen Ergebnis. So finden manche gar keinen Zusammenhang der DR
mit dem C-Peptid (73) oder meinen, erhöhte C-Peptid-Werte könnten mit
atherosklerotischen Veränderungen bei Typ 2 Diabetikern in Verbindung stehen
(197).
Doch welcher Schluss kann aus den Ergebnissen der Studien gezogen werden?
Wird dem C-Peptid an sich eine schützende Wirkung auf die Entwicklung einer DR
zugesprochen, könnte durch die Gabe des Moleküls diese diabetische
Komplikation aufgehalten werden.
In Studien konnte eine Verbesserung der Nieren- und Nervenfehlfunktionen
festgestellt werden, nachdem bei Typ 1 Diabetikern C-Peptid verabreicht wurde.
Daher wurde Diabetes mellitus Typ 1 erst kürzlich als Erkrankung mit doppeltem
Hormonmangel bezeichnet (197,199). Wie sich eine C-Peptid-Gabe bei Typ 1
Diabetikern, auf die Entwicklung der DR auswirkt, wurde bislang noch nicht
beschrieben. Zukünftige Studien könnten diesbezüglich noch Klarheit schaffen.
Aus den Ergebnissen der beschriebenen Publikationen lässt sich zum einen
schließen, dass die Erhaltung sogar einer nur kleinen Menge an residualer BetaZell-Funktion erstrebenswert ist. Die verbleibende Sekretion, messbar durch die
zirkulierenden C-Peptid-Moleküle, scheint den natürlichen Verlauf des Diabetes
beeinflussen zu können (200). Zum anderen könnte durch weitere Forschung auf
79
dem Gebiet des C-Peptids eine eventuell eigenständige Wirkung auf den
Glukosestoffwechsel und damit auf die Entwicklung von diabetesbedingten
Spätkomplikationen aufgedeckt werden. Sollte dem so sein, wäre eine
Verabreichung des Moleküls eine mögliche Prävention für retinale, neurale oder
renale Schädigungen.
Patienten mit niedrigeren C-Peptid-Werten zeigten in den gegenübergestellten
Studien zum Großteil ein höheres Risiko für die Entwicklung einer DR. Allerdings
hat die Messung dieser Werte zur Risikoevaluation bis heute noch nicht Einzug in
den klinischen Alltag gefunden, könnte in Zukunft aber an Bedeutung gewinnen
und einen weiteren Beitrag zum besseren Verständnis der RetinopathieEntstehung leisten.
80
4 Schlussfolgerung
Die diabetische Retinopathie ist schon heute die häufigste Ursache für Erblindung
im arbeitsfähigen Alter in den Industriestaaten. In Anbetracht der Tatsache, dass
die Inzidenz des Diabetes mellitus kontinuierlich mit der Adaptation des westlichen
Lebensstils in anderen Ländern ansteigt, könnte die diabetische Retinopathie bald
weltweit
die Nummer
eins
der
Ursachen für Erblindung
oder visuelle
Beeinträchtigung sein (201). Diese Prognose impliziert eine massive Belastung für
das
Gesundheitswesen
und
macht
es
notwendig,
effektive
Strategien
auszuarbeiten um die Prävention, frühe Detektion und rechtzeitige Therapie dieser
Erkrankung zu ermöglichen. Ein entscheidender Punkt in diesen Planungen ist es,
die Risikofaktoren für die diabetische Retinopathie zu erforschen und bekannt zu
machen, um den behandelnden Ärzten eine Prognose zu ermöglichen, welcher
Patient wann erkranken wird. Vor allem klinisch einfach anwendbare und
idealerweise modifizierbare Prädiktoren für das Retinopathie-Risiko sind von
Wichtigkeit. Denn die Identifikation von Hochrisiko-Patienten ist der Schüssel zum
rechtzeitigen Einsetzten einer effektiven Therapie und damit zur Bewahrung des
Sehvermögens der Patienten.
In dieser Diplomarbeit wurden die aktuell erforschten Risikofaktoren für die
diabetische Retinopathie ausgearbeitet und gegenübergestellt. Drei Faktoren
können laut heutigen Wissensstand als gesicherte Indikatoren für ein erhöhtes
Risiko angesehen werden: die Dauer der Diabeteserkrankung, die Qualität der
Blutzuckereinstellung und ein erhöhter Blutdruck. Die letzteren zwei können
potentiell modifiziert werden und so die Entstehung und Entwicklung einer DR
entscheidend beeinflussen. In Bezug auf die glykämische Einstellung ist der
HbA1c-Wert Kontrollparameter der Wahl und sollte medikamentös mindestens auf
einen Wert unter 6,5% gehalten werden – aber hier herrscht Uneinigkeit welcher
cut-off Wert festgelegt werden sollte. Welches Medikament und welcher
Grenzwert bezüglich der Blutdruckeinstellung empfohlen werden kann, ist derzeit
noch Gegenstand der Forschung. Das Wissen um die Auswirkung der Diabetes-
81
Dauer unterstreicht die Wichtigkeit regelmäßiger Kontrollen bei bekannten
Langzeit-Diabetikern, die von den behandelnden Ärzten forciert werden sollten.
In Zusammenschau der Studienergebnisse bezüglich des Geschlechts scheint es
für Männer eine gewisse Affinität der Erkrankung zu geben. Trotz der
Unmöglichkeit einer Modifizierung dieses Risikofaktors sollten Kliniker über dieses
erhöhte Risiko für diese Patientengruppe Bescheid wissen und durch gezielte
Motivation eine Ausschaltung anderer Faktoren besonders zu fördern.
Sehr unterschiedliche Ergebnisse ergab auch die Recherche zum Alter als
Risikofaktor - ebenso unveränderbar wie das Geschlecht. Viele Studien
beschreiben einen anfänglichen Anstieg, der nach einem Peak wieder zu fallen
beginnt. Für Patienten mit Diabetes Typ 1 wurde dieser Peak im Alter von 30 – 39
Jahren angegeben, bei Typ 2 Diabetes um das 70. Lebensjahr. Für viele Autoren
repräsentiert das Alter aber häufig nur die Dauer der Diabeteserkrankung und wird
von ihnen nicht als unabhängiger Risikofaktor angesehen. Insgesamt präsentiert
sich das Alter als Risikofaktor mit widersprüchlicher Relevanz. Eine regelmäßige
Kontrolle bei älteren Patienten kann aber aus heutiger Sicht empfohlen werden.
Bezüglich der Blutfettwerte konnte aus den Ergebnissen der Studien keine
eindeutige Aussage getroffen werden. Ein Zusammenhang erscheint zwar
naheliegend und die Therapie mit Statinen konnte teilweise Erfolge erzielen,
trotzdem herrscht keine Einigkeit über die Bedeutung der verschiedenen
Lipidparameter (Cholesterin, Triglyceride, Apolipoproteine, HDL-Cholesterin, LDLCholesterin) und einer Auswirkung ihrer medikamentösen Beeinflussung. In
Anbetracht der schädigenden Wirkung einer Dyslipidämie auf den systemischen
Kreislauf, sollte eine lipidsenkende Therapie aber auf alle Fälle eingeleitet werden
und die Entwicklung der Werte im Auge behalten werden.
Selbiges gilt für den Konsum von Zigaretten. Trotz der Uneinigkeit in den
Studienergebnissen sollte durch die ohnedies bewiesene Beeinflussung der
kardiovaskulären und pulmonalen Integrität eine Raucherentwöhnung lanciert
werden.
Patienten mit einer Nephropathie erkranken häufiger an einer Retinopathie als
nierengesunde Diabetiker. Ein Beweis der positiven Wirkung einer Verminderung
der Albuminexkretion ist aber bislang noch ausständig. Dennoch sollte beim
82
Auftreten renaler Komplikationen gleichzeitig eine augenärztliche Kontrolle
veranlasst werden.
Obwohl eine genetische Komponente in der Entwicklung der diabetischen
Retinopathie vermutet wird, kann laut aktuellem Stand der Wissenschaft kein Gen
eindeutig für diese Erkrankung verantwortlich gemacht werden. Derzeit wird
intensive Forschung auf diesem Gebiet betrieben und einige in dieser Arbeit
vorgestellte Kandidaten könnten sich als beeinflussende Faktoren bestätigen.
Derzeit ist die Datenlage aber noch umstritten und erlaubt nicht, eine eindeutige
Aussage zu treffen.
Während sich die Art der Diabetestherapie nicht als Risikofaktor bestätigen
konnte, könnte die Beurteilung der retinalen Gefäße in Zukunft an Bedeutung
gewinnen. Sowohl die Durchmesser als auch die Grade der Schlängelung der
Netzhautgefäße können laut einigen aktuellen Studien als Prädiktoren für eine
Retinopathie-Entstehung herangezogen werden. Sollten sich dies Beobachtungen
in Zukunft bestätigen, wäre es möglich durch die nichtinvasive und klinisch
unkompliziert durchführbare Ophthalmoskopie, eine Aussage über das individuelle
Retinopathierisiko zu treffen.
Viele Autoren konnten in ihren Studien Adipositas als Risikofaktor für die DR
bestätigen und empfehlen eine Gewichtsreduktion, um die Wahrscheinlichkeit für
eine Erkrankung zu senken. Diese Meinung wird aber nicht in allen Publikationen
geteilt und zum Teil wird sogar ein inverser Zusammenhang zwischen DR und
Adipositas diskutiert. In Zusammenschau der Ergebnisse kann trotzdem eine
Empfehlung zur Gewichtsabnahme ausgesprochen werden, da Adipositas zur
Entstehung einer Hypertonie und Dyslipidämie beiträgt und dadurch nicht nur
potentiell zu retinalen sondern auch systemischen Schäden führen kann.
Eine Schwangerschaft kann für Frauen mit Diabetes mellitus als Risikofaktor
angesehen werden, der aber durch die richtige Planung gering gehalten werden
kann. Vor allem Qualität der Blutzuckereinstellung und Blutdruck können die
Progression der DR beeinflussen und sollten daher bereits vor der Konzeption
optimal eingestellt werden. Zudem scheint sich der negative Effekt zwar bis ein
Jahr nach der Geburt zu verlängern, dafür aber nicht dauerhaft anzuhalten.
Durch eine mögliche Beeinflussung der DR durch eine Anämie, sollte den
behandelnden Ärzten unbedingt eine angepasste Therapie selbiger empfohlen
83
werden. Zwar stehen größerer Studien zur Bestätigung des Effektes noch aus,
eine kleinere Fallstudie konnte die positive Wirkung einer Erythropoietingabe auf
das Auge bereits bestätigen.
Die Messung des C-Peptids könnte sich in Zukunft als vielversprechende
Untersuchung zur Risikoevaluation herausstellen. Je niedriger der Wert dieses
Moleküls, desto höher das Risiko einer DR, so das Ergebnis bisheriger Studien.
Doch nicht alle Studien schließen sich dieser Meinung an und so konnte sich
dieser Parameter noch nicht im klinischen Alltag etablieren.
Insgesamt konnten in dieser Diplomarbeit zwar viele mögliche Risikofaktoren
durch die intensive Literaturrecherche aufgedeckt und verglichen werden, doch
wurden in einem Großteil der Studien sehr unterschiedliche Ergebnisse diskutiert.
Wie kommt es zu dieser großen Bandbreite an Resultaten? Zum einen wurden in
vielen Publikationen die Einteilung der Schweregrade, die Fotodokumentation
oder die Untersuchungstechniken nicht klar definiert, wodurch ein direkter
Vergleich oft kaum möglich ist. Zudem ist es nicht immer korrekt, Typ 1 und 2
Diabetiker gegenüberzustellen, da die Ursache der Erkrankung eine andere ist
und die Ergebnisse der Studien dadurch verändert werden können. Auch die die
Anzahl der Studienteilnehmer variierte stark, wodurch die Interpretation der
Resultate verfälscht werden kann (202).
Zusammenfassend wurde in dieser Arbeit die Bedeutung des Diabetes mellitus
und seiner Folgeerkrankung, der diabetischen Retinopathie, deutlich gemacht. Die
Prävention dieser Erkrankung gewinnt zunehmend an Wichtigkeit und das Wissen
um die Risikofaktoren ist ein wesentlicher Teil davon. Obwohl manche Faktoren
wie
Erkrankungsdauer,
glykämische
Einstellung
und
Hypertonie
als
beeinflussende Aspekte bestätigt wurden, gibt es in vielen anderen Bereichen
noch Forschungsbedarf.
84
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