Entwicklungsszenarien in der Behindertenhilfe 2020 Eine qualitative Expertenbefragung Jana Kohlmetz Jochen Rosenkötter April 2013 f o r um f bs 1 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Übereinstimmend prognostiziert die Mehrzahl der Befragten vier Szenarien, die die Entwicklung in der Behindertenhilfe in den nächsten Jahren prägen werden: 1. Die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen muss sich noch weiter in Richtung Paradigmenwechsel – also Inklusion und gleichberechtigten Teilhabe an allen Prozessen, entwickeln. 2. Gleichzeitig sehen sie eine Dezentralisierung der Angebote vorher, also ein deutlicher Ausbau der ambulanten Angebote und eine Abnahme der stationären Versorgung. 3. Ebenfalls in Zukunft zu erwarten ist eine noch stärkere Diversifikation sowohl der Angebote als auch der Kundenkreise. 4. All diese Aufgaben sind nicht mehr isoliert von einzelnen zu bewältigen, sondern erfordern zunehmende Vernetzung und Kooperation mit anderen. Diese, von uns Megatrends genannten Entwicklungen haben, wenn sie dann so eintreffen, erhebliche Auswirkungen auf die Personal- und Organisationsentwicklung, da die Anforderungen an die Flexibilität und die Multiprofessionalität des Personals ständig steigen werden. Ausreichend qualifiziertes und engagiertes Personal zu finden und zu halten ist angesichts der demographischen Entwicklung eine weitere Herausforderung der nahen Zukunft. Die dafür notwendigen Investitionen und deren Finanzierung werden angesichts knapper öffentlicher Kassen weiterhin ein großes Problem bleiben. Im zweiten Teil der Befragung ging es schwerpunktmäßig um das Anforderungsprofil an Führungskräfte und deren Qualifizierung, Rekrutierung und Bindung. Ganz wichtig im Kanon der Kompetenzen waren Softskills und hier besonders die innere und äußere Flexibilität. Qualifiziert werden sollten die Führungskräfte – laut Aussage der Experten - am besten im Unternehmen selbst mit maßgeschneiderten Aufgaben und Trainingseinheiten. Die Fragen der Rekrutierung und Bindung werfen im Moment noch wenig Probleme auf, könnten aber in der Zukunft zu einer echten Herausforderung werden. 2 Inhaltsverzeichnis Stichprobe und Methoden I. Veränderung und Entwicklung in der Behindertenhilfe Seite 5 Megatrends Personal und Organisationsentwicklung Investition und Finanzierung Seite 5 Seite 9 Seite 11 Kompetenzen von Führungskräften in der Behindertenhilfe und deren Erwerb Seite 13 III. Qualifizierung, Identifikation und Rekrutierung von Führungskräften Seite 15 IV. Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an das sozialwirtschaftliche Unternehmen Seite 16 II. Anhang: Fragestellungen Seite 17 Stichprobe und Methode In einem Zeitraum von 6 Monaten wurden in 2012/2013 15 Expertinnen und Experten zu möglichen Entwicklungsszenarien in der Behindertenhilfe bis 2020 befragt. Die Befragung erfolgte schriftlich anhand eines vorgegebenen Fragebogens. Ziel der Befragung war es, Trends zu ermitteln, aus denen anstehende zentrale Aufgabenstellungen der Organisations- und Personalentwicklung von Einrichtungen und Diensten ableitet werden können. Als Erhebungsform wurde eine „Delphi-Befragung“ angewendet. Die befragten Experten sind in der Regel Mitglieder der Geschäftsführung oder des Vorstandes bzw. Aufsichtsrats von Einrichtungen der Behindertenhilfe. Die durch die Experten vertretenden Organisationen beschäftigen minimal ca. 250 bis mehr als 2000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, wobei der überwiegende Teil der Befragten in sozialwirtschaftlichen Unternehmen mit mehr als 1000 Beschäftigten tätig ist. Um ein möglichst breites Spektrum zu erfassen, wurden Trägereinrichtungen der Diakonie, der Parität und der Caritas aus den Bundesländern: Berlin, Thüringen, Hessen, Bayern, Baden Württemberg, Rheinland-Pfalz, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein befragt. Der Fragebogen gliederte sich in die Teile Entwicklungsszenarien, Soll- und IstZustände der Personal- und Organisationsentwicklung, Soll- und Ist- Zustände der investiven Aktivitäten, Kompetenzen von Führungskräften und Mitarbeiterbindung. 3 Die Auswertung der Ergebnisse erfolgte in drei Schritten: 1. Vergleich und Kategorisierung der Antworten, 2. Verdichtung in Mehrfachnennungen und Abweichungen (Einzelnennungen), 3. Bei Abweichungen erfolgte eine erneute Befragung der betreffenden Experten mit dem Ziel: Revision oder Akzentuierung. Bei der Darstellung der folgenden Ergebnisse haben wir zur besseren Lesbarkeit die männliche Schreibweise angewendet, schließen dabei aber die Expertinnen und Mitarbeiterinnen ausdrücklich mit ein. 4 I Zukünftige Veränderungen und Entwicklungen in der Behindertenhilfe Der erste Teil der Befragung hatte zum Ziel, Zukunftstrends in der Entwicklung der Behindertenhilfe zu sammeln und zu verdichten. In der Zusammenschau konnten vier „Megatrends“ ermittelt werden. Grafik 1 Darüber hinaus konnten noch speziell zu den Bereichen: Personal und Organisationsentwicklung, Investition und Finanzierung weiterführende Aussagen verdichtet werden. Die vier Megatrends Im folgenden werden die vier Megatrends jeweils benannt und durch die Aussagen der Experten definiert sowie interpretiert. Abschließend erfolgt eine Ableitung von möglichen Herausforderungen für die Führung von sozialwirtschaftlichen Unternehmen in der Behindertenhilfe, die natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Haltung Beschreibt eine bestimmte Sichtweise auf als auch ein entsprechendes Verhalten gegenüber Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen. Die Haltung ist maßgeblich geprägt durch den Paradigmenwechsel und beschrieben in der UNBehindertenrechtskonvention (Empowerment, Ansprüche auf Selbstbestimmung, Diskriminierungsfreiheit und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe – Inklusion etc. von Menschen mit Behinderung). 5 Alle Experten sind sich in dem Punkt einig: sie gehen davon aus, dass die Personenzentrierung in der Behindertenhilfe weiter zunehmen wird und soziale Arbeit heute und in Zukunft auf Augenhöhe mit dem Kunden erfolgen muss, was eine Beteiligung an Managementprozessen von Menschen mit Behinderung voraussetzt. Letztendlich wird die Stärkung der Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung als schlichte Notwendigkeit bezeichnet, um auch in Zukunft die Quantität als auch die Qualität der Dienstleistungen für Menschen mit Behinderung anbieten zu können. Die Steuerung der Kostenträger wird heute und vor allem perspektivisch über die Bedarfe von Menschen mit Behinderung erfolgen - ohne Einbeziehung der Anbieter. Chancen sehen die Experten bei diesem Megatrend in der Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft, mehr Wettbewerbschancen für jene Anbieter, die kurzfristig auf eine veränderte Nachfrage reagieren können. Komplexeinrichtungen werden dagegen der Vergangenheit angehören. Grundsätzlich stehen die Experten diesem Trend sehr positiv gegenüber. Herausforderung für Führung: - Weiterentwicklung der gelebten Unternehmenswerte und der Unternehmenskultur und deren Ausrichtung auf die UNBehindertenrechtskonvention (Prägung der Haltung der Mitarbeiter gegenüber Menschen mit Behinderung), - Sicherstellung der Umsetzung UN-Behindertenrechtskonvention in allen Prozessen der Dienstleistungserbringung, angefangen bei der Angebotsentwicklung über die Angebotsumsetzung bis hin zum Controlling, - Unterstützung von Strukturen zur Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung und deren Beteiligung bei Entscheidungsprozessen im Unternehmen. Dezentralisierung Zunahme der ambulanten Dienstleistungsbereiche bei gleichzeitigem Schrumpfen der stationären Angebote, mit der Konsequenz, dass viele kleine Operationseinheiten entstehen, die weitestgehend selbständig agieren und handeln müssen. Die Experten gehen davon aus, dass sich die Zugangswege zu den Angeboten der Behindertenhilfe deutlich verändern bzw. individualisieren werden. Damit geht ein notwendiger Ausbau der ambulanten Angebote einher. Menschen mit Behinderung werden stärker selbst bestimmen, welche Dienstleistungen sie bei welchem Anbieter in Anspruch nehmen. Einige Experten gehen davon aus, dass so vor allem leistungsstarke Nutzer die Angebote der Einrichtungen bzw. der Komplexangebote nicht oder weitaus weniger stark abrufen werden. Gleichzeitig könnte sich so aus Sicht einiger Befragten die Lebensperspektiven von Menschen mit hohem Hilfebedarf verschlechtern. Insbesondere für jenen Personenkreis sehen sie Umsetzungshürden des Inklusionsgedanken, da gemeindenahe Angebote hier an ihre Grenzen stoßen werden. Sie befürchten ebenso eine zunehmende „Unterbringung“ von Menschen mit hohem Pflegebedarf in Pflegeeinrichtungen, wobei von einer qualitativ schlechteren Dienstleistungserbringung ausgegangen wird. Ein Drittel der Befragten vertritt die Position, dass sich der bestehende Anbietermarkt weiter verändern wird. Sie gehen von einer Zunahme der „Billiganbieter“ aus, die den Markt mit prägen werden. 6 Herausforderung für Führung: - Managen von vielen kleinen Operationseinheiten, - Sicherung von Kommunikation, Wissenstransfer, Transparenz und Qualität der Leistungserbringung innerhalb der gesamten Organisation, - Weiterer Ausbau von IT-Strukturen (mobile Kommunikationsmöglichkeiten, Datenerfassung, Sozialinformatik) gemäß - dezentralen Organisationseinheiten, Operative Selbständigkeit und Entwicklungsmöglichkeiten der einzelnen Organisationseinheiten sicherstellen, um Individualität und Gemeinwesenarbeit abbilden zu können, Entwicklung bzw. Beibehaltung einer Corporate Identity (Unternehmenspersönlichkeit, Unternehmenskultur u. Unternehmensphilosophie), Weiterentwicklung des Führungsverständnis: Leitbildfunktion, Coach, Multiplikator und Leitungskraft. Diversifikation Vervielfachung der Dienstleistungen und eine Ausweitung der Kundenkreise bzw. Personengruppen, mit besonderen Auswirkungen auf die Bereiche Produkt- und Dienstleistungen und Personal bzw. Team. Nach Ansicht der befragten Experten werden zunehmend individuelle Lösungswege bzw. Dienstleistungen abgerufen, die eine inhaltliche Veränderung sowie eine Zunahme der Komplexität der Leistungserbringung zur Folge haben werden. So erwarten über die Hälfe der Befragten eine stärkere Inanspruchnahme des persönlichen Budgets. Gleichzeitig geben Experten an, dass ihre Einrichtungen Angebote für „neue Personenkreise“ (Langzeitarbeitslose, Unfallgeschädigte, berufliche Rehabilitation) entwickeln oder verstärkt umsetzen werden. Ebenso erwarten sie steigende Fallzahlen bei den psychischen Erkrankungen und eine Zunahme der pflegerischen Bedarfe. Unternehmensstrategien, die die befragten Organisationen verfolgen, um den Trend der Diversifikation abzubilden, sind sehr unterschiedlich. So sehen einige Einrichtungen Vorteile darin, ein möglichst großes Portfolio anzubieten („Generalunternehmer“), andere dagegen setzen eher auf passgenaue und ausgewählte regionale Dienstleistungen. Einig sind sich die Experten wieder bei den Marktauswirkungen, die sie beschreiben mit mehr Wettbewerb unter den Anbietern, der die Unternehmensentwicklung befördern wird, aber eben auch mehr unternehmerisches Risiko mit sich bringt. Herausforderung für Führung: - Fachliches Grundverständnis über die diversen komplexen Angebotsformen und –strukturen des Unternehmens, - Zunahme der Bedeutung und aktiven Förderung von Teamentwicklung durch die Zunahme von multiprofessionellen Teams, - Weiterentwicklung der Unternehmenskultur und des Leistungsangebots, - stetige Weiterentwicklung, Auswahl und Bestimmung des Angebotsprofils, - Risikomanagement als ein fester Bestandteil der Führungskompetenz. 7 Vernetzung und Kooperation Vernetzung unterschiedlicher Organisationen und in unterschiedlicher Intensität (Kooperation, Unternehmensverbund, Fusion…) mit dem Ziel: gemeinsam Dienstleistungen zu entwickeln, am Markt zu platzieren und/oder zu erbringen. Die Experten geben an, dass in Folge der Ressourcenverknappung der öffentlichen Hand, dem gleichzeitigen steigendem Professionalisierungsdruck der Dienstleistungserbringung und den Veränderungen am Arbeitsmarkt (demografischer Wandel), übergreifende Managementaufgaben und Unterstützungsprozesse (Unternehmensmarke, Produktmarken, Arbeitgebermarke, strategische Managementaufgaben, Entwicklung, Marketing, Verwaltung etc.) zusammengefasst und verdichtet werden müssen, um die dafür erforderlichen Mehrausgaben aufbringen zu können. Es entstehen Netzwerke oder Unternehmensverbünde mit einer Vielzahl von unterschiedlichen operativen Diensten, die nach außen wie nach innen je nach Bedarf gemeinsam auftreten und agieren. Gleichzeitig erzwingt die Umsetzung der UNBehindertenrechtskonvention eine Vernetzung mit bestehenden Organisationen im sozialen Raum (Gemeinde) und der Menschen mit Behinderung. Herausforderung für Führung: - Aufbau von Kooperationen und Unternehmensverbünden, - Entwicklung einer gemeinsamen Corporate Identity, um die Außen- und Innerwahrnehmung zu prägen, - Entwicklung und Etablierung der Dienstleistungsangebote im sozialen Raum (Sozialraumorientierung), Vernetzung und Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Organisationen, - Beteiligung und Aufklärung der Nutzer über die sozialpolitischen Vorgaben und die Auswirkungen auf ihr Leben, - Führungskräfte werden Netzwerkmanager. 8 Personal- und Organisationsentwicklung Grafik 2 Bei den Ist-Zuständen im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung sind für alle befragten Einrichtungen Umstrukturierungen kennzeichnend. „Umbaumaßnahmen“ berühren alle Bereiche der Organisation, wobei Akzente, Schwerpunkte und Entwicklungsgeschwindigkeit unterschiedlich gesetzt werden. Tradierte Vorstellungen von ambulant kontra stationär werden angesichts aktueller Paradigmen aufgegeben und die Notwendigkeit übergreifender Konzepte betont. Die Experten berichten über einen zunehmenden Konkurrenzdruck, der einhergeht mit zunehmenden Unsicherheiten im Bereich der Finanzierung der Hilfesysteme/Leistungen. Dezentralisierung und Ambulantisierung sind unter der Prämisse „Sozialraumorientierung“ eingeleitet worden. Die Bedeutung der Wertebasis einer Organisation wie Haltung, Paradigmen und Ethik wird besonders betont und gepflegt. Im Bereich der Unternehmensführung erhalten Persönlichkeiten den Vorzug vor Technokraten. Die Notwendigkeit einer systematischen Personalentwicklung wird ebenso 9 übereinstimmend betont, die Entwicklungen in den befragten Einrichtungen zeigen jedoch eine große Bandbreite von: wird aktuell nicht verfolgt aufgrund anderer Prioritäten bis zur Gründung einer eigenen Akademie zur Qualifizierung von Personal und Nachwuchsführungskräften. Als Gegenwartsthemen der Personalentwicklung werden folgende Bereiche benannt. - Aufstockung des pflegerischen Personals und entsprechende Nachqualifizierung, - Absicherung der Fachquoten bei gleichzeitiger Zunahme unerfahrener bzw. nicht grundständig qualifizierter Mitarbeiter, - zunehmende Multiprofessionalität, - steigende Anforderungen an Flexibilität und Veränderungs-/Innovationsbereitschaft. Ein Hauptschwerpunkt der Befragung war darüber hinaus Auseinandersetzungen mit der zukünftigen Personalstruktur, den Anforderungen an das Personal und den Auswirkungen des demografischen Wandels. Die Experten gehen von deutlichen Veränderungen der Personalstruktur aus. Ein Schwerpunkt liegt hier auf der Zunahme multiprofessioneller Teams, die sich unter anderem auf Grund der notwendigen Diversifizierung der Angebote und der Verschlechterung der Finanzierungsstruktur ergeben. So geht die Mehrheit der Experten davon aus, dass Assistenzleistungen mit entsprechend geringerer Vergütung zunehmen werden, was gleichzeitig häufig einher gehen wird mit der Einstellung von eher unzureichend qualifiziertem Personal. Dadurch erhoffen sich einige Experten auch eine Refinanzierung der Fachkräfte. Insgesamt schätzen die Experten, die sich dazu explizit geäußert haben, ihre Chancen als Arbeitgeber auf dem zukünftigen Arbeitsmarkt, bedingt auch durch den demografischen Wandel, vergleichsweise schlechter ein. Sie gehen davon aus, dass vor allem die Rekrutierung von Fach- und Führungskräften erschwert wird, da die Gehälter im sozialen Bereich weniger stark steigen als in anderen Branchen. Es droht quasi analog zur „Pflege“ eine nachhaltige Verschlechterung des Branchenimages, so dass sich bereits bei der Berufswahl trotz persönlicher Eignung und Affinität gegen eine Tätigkeit in der Branche entschieden wird. Einige Experten bemerken hierbei, dass aus ihrer Sicht die sozialen Unternehmen auf den zu erwartenden Fach- und Führungskräftemangel von unzureichend bis hin zu überhaupt nicht vorbereitet sind. Sie sehen sich mit dem Dilemma konfrontiert, auf einem schrumpfenden Arbeitsmarkt Fach- und Führungskräfte zu gewinnen, die bereit sind „mehr Leistung für weniger Geld“ zu erbringen. Darüber hinaus stellen sie in vielen Einrichtungen eine Überalterung der Belegschaft fest, wobei die zeitlichen Auswirkungen teilweise unterschiedlich definiert werden, je nachdem welche Altersstruktur bereits jetzt im Unternehmen besteht. Darüber hinaus berichten die meisten Experten von einer eher „unterdurchschnittlichen“ Fluktuation der Beschäftigten, so dass eine Veränderung der Altersstruktur des Personals nur über einen längeren Zeitraum möglich ist. Einige Experten beklagen hier fehlende Gestaltungsmöglichkeiten. Bezüglich der Anforderungen ans Personal berichten einige Experten von einer Zunahme der Belastungen am Arbeitsplatz innerhalb ihrer Organisation, so dass ein höherer Krankenstand festzustellen ist. Allgemein wird von den Experten die Veränderung der Altersstruktur in einer Organisation als Herausforderung für Personalentwicklung gesehen. Der Qualität „Flexibilität“ wird allgemein ein großer Wert beigemessen. 10 Herausforderung für Führung: - Flexibilität stärken und Reaktionszeiten der Organisation verkürzen, - Aufbau regionaler Netzwerke, Vernetzung mit anderen Dienstleistern und/oder Spezialisten, ausgedehntere Kooperationen (mit Wohnungsbaugesellschaften, Pflegediensten...), - Bedeutungsgewinn des Personalmanagements für die Organisation (Bereitstellung von Ressourcen), - Ausbau der Arbeitgeberattraktivität nach innen und außen, - strategische Personalentwicklung, - Ausbau des Personalcontrolling auch auf die Bereiche Personalentwicklung und deren Maßnahmen, - Umsetzung und Organisation der Arbeitsteilung der Dienstleistungserbringung, - Weiterbildungsqualifizierungen der Mitarbeiter in den Bereichen Case Management, Hilfeplanung und Gesprächsführung, - erhöhter interner Fortbildungsbedarf auf Grund der Zunahme von gering qualifizierten Personals und Personal mit Vermittlungshemmnissen (Menschen mit Migrationshintergrund), - Sicherung der Nachhaltigkeit des Personalbestands durch Ausbildung, - Diversity Management/Interkulturelle Kompetenz, Vielfalt im Unternehmen ermöglichen, befördern, gestalten und davon letztendlich profitieren. Investitionen und Finanzierungen Die befragten Experten ziehen häufig im Zusammenhang mit dem Trend „Haltung“ die Schlussfolgerung, dass die Kosten der Behindertenhilfe weiter steigen, da die Menschen mit Behinderung höhere Erwartungen an die Dienstleistungen stellen werden. Mit der Inklusion, so die Mehrheit der Experten, verbindet sich aber auch der Wunsch nach Einsparung, wobei verkannt wird, dass für die Schaffung der Voraussetzung von Inklusion erhebliche finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden bzw. Systeme in der Behindertenhilfe sich verändern müssen, ohne dass eine entsprechende Förderung. Einige Experten gehen davon aus, dass sich auf Grund der Verknappung der Mittel der öffentlichen Hand die gesellschaftlichen Diskussionen weiter zuspitzen werden. Sie gehen mitunter von einer abnehmenden Bereitschaft innerhalb der Gesellschaft aus, die benötigten Mittel für Menschen mit Behinderung zur Verfügung zu stellen. Eine Folge davon wäre - weg von der Bedarfsorientierung hin zum Regelbedarf. Darüber hinaus nehmen Sie durch die Einführung von Pflegegesetzen eine schleichende Auflösung der Eingliederungshilfe wahr. Als vorrangige Investitionsbereiche im Bereich Wohnen wurden genannt: - Wohnraumbeschaffung als zentrales Thema unter Berücksichtigung der Vorgabe „Sozialraumorientierung“, - bauliche Maßnahmen im vorhandenen Wohnungsbestand mit dem Ziel der Anpassungen an Vorgaben des Wohn- und Teilhabegesetz, - Aufbau regionaler Zentren/Netzwerke mit Komm-und-Geh-Struktur, - Aufstockung der Pflege/Hilfsmittel bei stationärer/teilstationärer Unterbringung, - allgemein: Qualitätsverbesserungen für NutzerInnen, - Investitionen in Mobilität des Personals bei Vermehrung ambulanter Angebote, - Aufbau dezentraler Verwaltungseinheiten, - Intensivierung der Beratung von Angehörigen 11 Einrichtungsvertreter von Werkstätten für behinderte Menschen verweisen darüber hinaus auf steigende Anforderungen, die auf sie als Zulieferer der Wirtschaft zu kommen. Sie gehen von steigenden Investitionen für die Produktion aus, wobei die Risiken der Refinanzierung ebenso steigen werden. Als Beispiele wurden genannt: Auftragsfertigung (div. Sonderanfertigungen/ Maschinen) und der Ausbau Lagerkapazitäten, die bei Bedarf auch anders genutzt werden können. Herausforderung Führung: - Spagat zwischen refinanzierten Leistungen und qualitativ erforderlichen Leistungen (z. B. individualisierte Hilfe), - Risikomanagement und zunehmende auf Unsicherheit basierende Investitionsplanungen, - Lobbyarbeit mit und für Menschen mit Behinderung, - Investitionen in Personalentwicklung (Qualifizierung der Führungskräfte und der Belegschaft) in Anbetracht der veränderten Paradigmen. 12 II Kompetenzen von Führungskräften in der Behindertenhilfe und deren Erwerb Die befragten Experten stellen hier zunächst Softskills in den Mittelpunkt, die sie auch häufig als Kernkompetenzen von Führungskräften bezeichnen. - Flexibilität (räumlich wie inhaltlich) Empathie und Wertschätzung (Haltung) Selbstwertgefühl Persönliches Engagement Kreativität Multifunktional einsetzbar Spitzenreiter bei den fachlichen Kompetenzen sind vor allem branchenbezogene Herausforderungen, wie der professionelle Umgang mit Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen, die Umsetzung der UN-Konvention aber auch das Wissen um und die Auseinandersetzungen mit angrenzenden sozialpolitischen sowie rechtlichen Prozessen bzw. Veränderungen. Große Bedeutung misst man auch der Netzwerkkompetenz von Führungskräften, dem betriebswirtschaftlichen Denken und Handeln sowie den klassischen Führungskompetenzen wie Teamentwicklung und Motivation der Mitarbeiter bei. Bei den befragten Experten standen dagegen die Aspekte Selbstsorge und Kommunikation seltener im Fokus. Kompetenzen von Führungskräften Paradigmenwechsel Haltung Sozialraumorientierung Professioneller Umgang mit Menschen mit Behinderung Netzwerkarbeit Kooperation Kundenmanagement Beschwerdenmanagement Führung Teamentwicklung Motivation der Mitarbeiter Führen mit Persönlichkeit Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln "Klassiker" Zeitmanagement Präsentation Delegation Projektmanagement Kommunikation Selbstsorge Grafik 3 13 Bei dem Erwerb der Kompetenzen setzen die befragten Unternehmen insbesondere auf Training on the job, Qualifizierungs- und Coachingprozesse, den Erfahrungsaustausch mit anderen Führungskräften in- und außerhalb des Unternehmens, Lernen durch Vorbilder und die konsequente Reflexion von Erwartungen in Form von Mitarbeitergesprächen. Fazit: Im Unterschied zu den bisherigen Verfahren des Erwerbs von Führungsqualifikationen in der Behindertenhilfe, welche geprägt waren von einem sukzessiven Hineinwachsen in die Aufgaben bzw. von einem „gemeinsam Groß werden“ mit der Organisation, sehen heute die Befragten vor allem die Ressource „Zeit“ wesentlich knapper bemessen. Die Managementprozesse in sozialwirtschaftlichen Unternehmen in der Behindertenhilfe sind von einer deutlichen Zunahme an Komplexität geprägt, so dass die benötigten Kompetenzen der Führungskräfte direkter bzw. wesentlich kurzfristiger abrufbar sein müssen. Die Schwierigkeit der Organisationen besteht darin, zentrale Sozialisationsprozesse von angehenden Führungskräften in einem oder mehreren Handlungsfeldern schon im Vorfeld sicherzustellen um sie zu befähigen, komplexe Zusammenhänge schnell zu erfassen und vor allem gestalten zu können. Demzufolge wird eine Kombination von Traningsprogrammen am Arbeitsplatz und ein darauf ausgerichteter passgenauer Wissens- und Kompetenzerwerb als notwendig erachtet. Der Erwerb der schon genannten „Kernkompetenzen“ wie zum Beispiel Flexibilität, Empathie oder die breite Einsetzbarkeit ist dabei - laut Aussage der Experten am ehesten durch betriebliche Sozialisationsprozesse der betreffenden Mitarbeiter im eigenen Unternehmen sicher zu stellen. 14 III Qualifizierung, Identifikation und Rekrutierung von Führungskräften Bei den befragten Unternehmen konnte nur eine Organisation ermittelt werden, bei der ein Talentmanagementsystem (Potenzialträgerprogramme), d.h. die systematische Identifikation und Qualifizierung von Nachwuchsführungskräften bereits entwickelt und umgesetzt wird. Mehr als ein Drittel der befragten Organisationen verfügen über mehr oder weniger umfangreiche Instrumente bzw. Maßnahmen zur Identifikation von Nachwuchsführungskräften bzw. Talenten. Am häufigsten genannt wurden hier Maßnahmen wie: Potenzialanalysen und Assessments, Ermittlung im Leitungsteam, Empfehlungsprinzip, Ermittlung im Rahmen von Zielvereinbarungsgesprächen (Erreichung von überdurchschnittlichen Leistungen) Job rotation In der Regel werden diese Auswahlsysteme eingesetzt, um auf einen Pool von Mitarbeitern zurückgreifen zu können, die sich für die Übernahme von Führungstätigkeiten eignen bzw. bei denen eine Qualifizierung zur Führungskraft angezeigt ist. Eine systematische Qualifizierung bzw. weitere grundständige Bearbeitung solch eines Nachwuchsführungskräftepools wird in der Regel noch nicht umgesetzt, befindet sich aber häufig in der Planung bzw. Zielsetzung. Mehr als die Hälfte der befragten Experten sieht die Notwendigkeit der Identifikation und systematischen Qualifizierung von Nachwuchsführungskräften. Es werden eine Reihe von Maßnahmen beschrieben, die sich mit den oben genannten decken, welche perspektivisch zum Einsatz kommen sollen, um den zukünftigen Bedarf an Führungskräften decken zu können. Nur ein Unternehmen sieht derzeit keinen Bedarf für die Qualifizierung von Nachwuchsführungskräften. Die Mehrheit der befragten Experten räumt dem Thema „externe Rekrutierung“ von Führungskräften bei weiten nicht den Stellenwert ein wie der „internen Rekrutierung“. Es wird hier vereinzelt auf die Zusammenarbeit mit Hochschulen verwiesen oder auf die Abwerbung von Führungskräften aus anderen Unternehmen eingegangen. Fazit: Die Experten messen der systematischen Qualifizierung und Identifikation von Führungskräften bzw. Nachwuchsführungskräften zunehmende Bedeutung bei. Die konkrete Umsetzung im Unternehmen bleibt jedoch häufig hinter den avisierten Zielen bzw. Forderungen der Experten zurück. Auf Grund der Rückmeldungen kann davon ausgegangen werden, dass die Experten eine interne Rekrutierung vorziehen. Dies ist deckungsgleich mit der hohen Ausprägung des Aspektes „Haltung“ gegenüber Menschen mit Behinderung (vgl. I) und der häufig gewünschten Vorerfahrung von Nachwuchsführungskräften in einem oder besser mehreren Handlungsfeldern der Behindertenhilfe. 15 IV Bindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an das sozialwirtschaftliche Unternehmen Abschließend wurden die Experten befragt, welche Maßnahmen ihre Unternehmen derzeit ergreifen, um Mitarbeiter an das Unternehmen zu binden. Einige Experten betonten bei der Fragestellung zunächst, dass es aktuell kaum Fluktuation innerhalb der Mitarbeiterschaft gibt, so dass sich das Problem als auch die Handlungsnotwendigkeit häufig noch nicht stellt. Eine Erklärung für die überschaubare Anzahl der genannten Maßnahmen, die aus der folgenden Grafik zu entnehmen sind. Grafik 4 Fazit: Diese Problematik bzw. Herausforderung stellt sich aus Sicht der Experten aktuell nicht in dem Maße, wie vergleichsweise die Qualifizierung von Führungskräften, wobei sie offen lassen, in wie weit es perspektivisch an Bedeutung gewinnen kann. Abhängigkeiten stellen Experten her zur Entwicklung des Lohnniveaus und der grundsätzlichen Entwicklung des Gesundheits- und Sozialbereichs in Deutschland. 16 Anhang Fragebogen 1.) Welche Veränderungen/Entwicklungen in der Behindertenhilfe erwarten Sie in den kommenden Jahren bis 2020? Beschreiben Sie bitte ihr Szenario. 2.) Welche Chancen einerseits und Risiken andererseits sehen Sie in den beschrieben Entwicklungen? 3.) Was tun Sie gegenwärtig, um sich auf diese Entwicklungen einzustellen? 4.) Wie werden sich die von Ihnen für möglich gehaltenen Trends auf die Organisationsentwicklung insgesamt auswirken? 5.) Welche Konsequenzen würde sich daraus für Personalentwicklung und -zusammensetzung ergeben? 6.) Welche Investitionsschwerpunkte sehen Sie in welchen Sektoren? 7.) Welche neuen, ggf. zusätzlichen oder anderen Kompetenzen benötigen Führungskräfte (Management), um diese Anforderungen/Aufgaben zu bewältigen? 8.) Wie stellen Sie sich vor, dass diese Kompetenzen/Qualifikationen erworben werden können? 9.) Was kann/wird ihr Unternehmen tun in den Bereichen a) Qualifizierung b) Identifikation von Kompetenzen c) Rekrutierung von Führungskräften 10.) Welche Aktivitäten/Programme/Strategien entwickeln Sie, um talentierte Mitarbeiter(innen) an das Unternehmen zu binden, bzw. welche wollen Sie ggf. noch entwickeln? 17