Dr. Franz Stark Journalist, Autor, Dozent im Gespräch mit Dr

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Sendung vom 6.5.2011, 20.15 Uhr
Dr. Franz Stark
Journalist, Autor, Dozent
im Gespräch mit Dr. Hilde Stadler
Stadler:
Hallo und herzlich willkommen zu alpha-Forum. Unser Gast ist heute Franz
Stark, Buchautor, Schriftsteller, Journalist und Dozent. Schön, dass Sie bei
uns sind, Herr Stark.
Stark:
Freut mich auch.
Stadler:
Sie sind auch ein Kämpfer für die deutsche Sprache. Das klingt für viele
nach Deutschtümelei, nach einem pensionierten Studienrat, der mit spitzer
Feder vor dem Fernseher sitzt oder vor der Zeitung und Anglizismen sucht,
die er dann geißelt, weil sie verwendet werden. Sehen Sie sich damit
getroffen?
Stark:
Eigentlich nicht. Pensioniert? Ja. Studienrat? Nein. Das Problem ist doch ein
bisschen vielschichtiger, als beide extreme Seiten glauben, als also sowohl
diejenigen glauben, die die Fremdwörter bzw. die Anglizismen jagen, wie
auch die, die sich darüber lustig machen. Es hat einfach eine sehr starke
Auswirkung auf die eigene Sprache, wie präsent eine andere Sprache ist.
Stadler:
Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel "Wie viel Englisch verkraftet
die deutsche Sprache?". Es ärgern sich ja eine ganze Menge Leute bei
diesem Thema. Es gibt diejenigen, die es uncool finden, wenn man die
Verwendung von Anglizismen anprangert. Aber es ärgern sich auf der
gegenteiligen Seite auch eine ganze Menge Menschen: Im ganz normalen
Alltag, sei es am Bahnhof oder beim Umgang mit Medien, werden in der
deutschen Sprache jede Menge Anglizismen verwendet. Man sieht, man
hört und man liest diese Anglizismen überall. Manchmal denkt man sich,
dass es da doch auch ein deutsches Wort gibt, das auch nicht uncool
klingen würde.
Stark:
Dass man Anglizismen verwendet, ist völlig normal, genauso normal wie die
Verwendung von französischen oder lateinischen Wörtern. Man muss hier
wohl drei verschiedene Gruppen unterscheiden. Es gibt Anglizismen, die
einfach notwendig sind; es gibt welche, die sind überflüssig und es gibt
welche, die ärgerlich sind, weil sie passende deutsche Wörter unnötig
verdrängen. Es gibt also erstens jede Menge Anglizismen, die schlicht
notwendig sind. Wir müssen uns ja nur einmal in unserem eigenen Beruf
umsehen: Für den Anglizismus "Interview" gibt es kein gutes deutsches
Wort. Klar, dieses Wort ist bereits vor über 100 Jahren übernommen
worden und deswegen ist man an dieses Wort im Deutschen absolut
gewöhnt. Oder denken Sie an das Feature: Für diese besondere Art der
Aufbereitung eines Berichts gibt es ebenfalls kein deutsches Wort. Es wäre
also unsinnig zu sagen, diese Wörter müssten verschwinden. Es gibt noch
viel, viel mehr von diesen Anglizismen, die wir brauchen. Dann gibt es
Anglizismen, die parallel mit deutschen Begriffen existieren und keinen
zusätzlichen Wert haben. Derjenige, der sie benützt, benützt sie deswegen,
weil er sich modern geben möchte, weil er glaubt, Englisch sei besser. Und
dann gibt es noch diese dritte Gruppe. Das sind die Anglizismen, die
ärgerlich und unsinnig sind und möglicherweise sogar ausdrucksschwächer
als das deutsche Pendant. Auf diesem Gebiet muss man also
differenzieren. Die Frage ist nur, wie viele sind es und in welchen Bereichen.
Stadler:
Man hat den Eindruck, dass die Deutschen heute ganz besondere
Probleme mit der eigenen Sprache haben, dass man bei uns heute eher
zum Englischen neigt, wenn man sich modern und lässig fühlt, während das
im Ausland ganz anders ist. Stimmt das?
Stark:
Ich glaube schon, wie ich aufgrund meiner beruflichen Tätigkeit als
Journalist für den Bayerischen Rundfunk sagen kann.
Stadler:
Zu Ihrer beruflichen Tätigkeit kommen wir selbstverständlich noch.
Stark:
Als Journalist war ich jahrzehntelang immer wieder in vielen Ländern der
Erde. Aus bestimmten Gründen habe ich dabei immer besonders darauf
geachtet, wie sich andere Völker sprachlich verhalten. Da fiel mir auf, dass
wir uns diesbezüglich in der Tat von vergleichbar großen Völkern
unterscheiden; denn wir können uns ja nicht mit einem Einmillionenvolk und
dessen Sprache vergleichen, weil diese Menschen natürlich nie die Chance
haben, dass ihre Sprache für andere eine Fremdsprache wird, d. h. sie
müssen sich im internationalen Austausch von Haus aus einer anderen
Sprache bedienen. Die Deutschen haben, wie ich festgestellt habe, ein
gering ausgeprägtes Sprachbewusstsein, vielleicht auch Kulturbewusstsein.
Das ist historisch begründet, aber das können wir jetzt natürlich nicht in aller
Breite ausführen. Begonnen hat das alles nämlich bereits im Dreißigjährigen
Krieg. Es gab in Deutschland nur eine Phase, in der dieses Bewusstsein
wiederum sogar übersteigert war: Das war in der wilhelminischen Zeit, also
in der Kaiserzeit bis hin zu den Nazis. Danach dann ging es total nach unten
…
Stadler:
Aber aus dieser Zeit kommt das natürlich, was die Jugend bzw. die nicht
mehr ganz so Jungen, also die 68er, kritisieren: dass das alles zu starr, zu
wilhelminisch, zu tümelnd sei und dass eine Sprache ja immer auch etwas
Lebendiges sei. Dieses Argument mit der Lebendigkeit bringen allerdings
nicht nur Laien an, sondern erstaunlicherweise auch Linguisten.
Stark:
Zu "tümelnd" muss ich sagen, dass kein Mensch den Engländern vorhalten
würde, dass sie englischtümelnd sind, oder den Spaniern vorhalten, dass
sie spanischtümelnd sind. Von den Franzosen gar nicht zu reden, die
sowieso französischtümelnd sind. Ich weiß nicht, warum die Deutschen da
so eine Mutlosigkeit haben. Ein berühmter Linguist, Professor Jürgen
Trabant, hat das, was die Deutschen heute sprachlich abliefern, mal als
"kulturelle Mutlosigkeit" bezeichnet. Vielleicht kann ich Ihnen ja ein paar
Beispiele erzählen, anhand derer ich das belegen kann.
Stadler:
Als Bundespräsident Wulff gewählt worden war, stattete er dem
Europaparlament einen Besuch ab. Die Zeitungen schrieben anschließend
darüber, er habe sich dort auf Englisch ins Goldene Buch eingetragen.
Stark:
Eben, das ist unverständlich. Ich würde meinen, dass sich hier sogar
staatliche Vertreter kleinerer Staaten wie Lettland, Litauen, Finnland in ihrer
eigenen Sprache eintragen, die eben nun einmal zu all den Sprachen
dieses Europaparlaments gehört. Also, das ist schon merkwürdig, aber das
ist auch kein Einzelfall. Das kann man bei uns bei vielen Politikern, vor allem
bei Diplomaten, immer wieder beobachten. Vielleicht erzähle ich Ihnen mal,
warum ich mich bereits seit ungefähr 30 Jahren mit diesem Thema
beschäftige. 1983 habe ich einen Bericht über Tansania gemacht. Dabei
war ich auch beim deutschen Botschafter eingeladen, der mich dann
abends zu einem Gartenfest mit deutschen Entwicklungshelfern, ungefähr
30 Leuten, mitgenommen hat. Es war sehr schön dort. Zu später Stunde
stieß noch ein Finne zu dieser Runde, der sofort alle auf Deutsch begrüßt
hat. Der Botschafter klopfte dann an sein Glas und meinte: "Meine Damen
und Herren, wir sind jetzt eine internationale Runde. Ich bitte Sie, ab jetzt
nur noch Englisch zu sprechen." Daraufhin haben sich alle nur noch auf
Englisch unterhalten. Der Finne selbst hat sogar noch protestiert und
gesagt: "Ich kann doch Deutsch und ich kenne auch alle Leute hier!" Aber
der Botschafter bestand darauf: "Das ist so und wir machen das jetzt so!"
Da habe ich mich gefragt: Was ist denn da los? Aber ich dachte mir nichts
weiter dabei. Im selben Jahr war ich auf einer internationalen Konferenz
einer großen deutschen Stiftung. Dort ging es um den "Free Flow of
Information", d. h. bereits der Titel war auf Englisch formuliert. Es waren
dorthin vor allem Osteuropäer, aber auch Deutsche und Österreicher
eingeladen. Die Osteuropäer beteiligten sich nicht an den Diskussionen,
weil von dieser deutschen Stiftung nur Englisch und Französisch als
Konferenzsprache zugelassen waren. Schließlich meldete sich ein Russe
und sagte in gutem Deutsch: "Ich weiß nicht, warum dürfen wir hier nicht
Deutsch sprechen? Wir sprechen alle gut Deutsch. Wir können aber nicht
so gut Englisch und Französisch." Man unterbrach also die Sitzung und
suchte nach einer Simultandolmetscherin für Deutsch-Englisch. Und dann,
das war der eigentliche Witz, sprachen alle Osteuropäer lebhaft auf
Deutsch, nur die deutschen Teilnehmer sprachen weiterhin auf Englisch. Da
habe ich mir gesagt: "Hier stimmt doch etwas nicht im Sprachbewusstsein,
im Kulturbewusstsein!" Und seitdem habe ich auf vielen Reisen immer
wieder darauf geachtet, wie andere Völker das machen. Bis heute, bis zu
dem erwähnten Beispiel mit dem Bundespräsidenten, habe ich festgestellt:
Die Deutschen genieren sich, ihre eigene Sprache zu gebrauchen in
Situationen, in denen dies angebracht wäre – denn das muss man ja
selbstverständlich nicht immer und in jeder Situation machen.
Stadler:
Sie haben es bereits erwähnt, Sie waren als Journalist in der ganzen Welt
unterwegs. Wenn man sich Ihre Studienfächer anschaut, dann sah das
eigentlich gar nicht so aus, als würde das eines Tages zum Journalismus
führen. Das sah vielmehr nach Linguist aus. Und in diesem Metier sind Sie
ja auch tätig heute. Wie kamen Sie denn zum Journalismus? Studiert haben
Sie nämlich Philosophie, Germanistik und Zeitungswissenschaft.
Stark:
Genau, denn die Kommunikationswissenschaft hieß damals noch
Zeitungswissenschaft. Zum Journalismus bin ich eigentlich durch den Tod
eines Professors gekommen.
Stadler:
Das heißt, Sie wollten eigentlich an der Uni bleiben.
Stark:
Ja, ich wollte eigentlich an der Uni bleiben, allerdings nicht in München,
sondern an der Uni in Erlangen-Nürnberg. Im Kultusministerium lag bereits
mein Arbeitsvertrag bei ihm, aber dieser Professor ist ganz plötzlich in der
Nacht einem Herzinfarkt erlegen. Ich hatte aber in den Ferien schon immer
als Reporter gearbeitet, als freier Mitarbeiter. Und so habe ich mich dann
eben für den Journalismus entschieden. Ich muss im Rückblick sagen, dass
ich mich Gott sei Dank dafür entschieden habe, denn das ist natürlich das
ungleich interessantere Feld.
Stadler:
Sie sind aber dann nicht bei einer großen Zeitung gelandet, um dort
Feuilletons zu schreiben, weil Sie ja von der wissenschaftlichen Seite
gekommen sind. Stattdessen sind Sie zum Fernsehen gegangen: Das war
damals ja ein sehr junges Medium und der Bayerische Rundfunk hatte
gerade ein Studienprogramm gestartet. Dort, in diesem Bildungsfernsehen,
haben Sie angefangen.
Stark:
Ich war ein Jahr lang im Studienprogramm tätig, aber danach dann immer
politischer Redakteur. Ich wollte auch gar nicht nur auf der
Wissenschaftsseite tätig sein, ich wollte einfach nur ganz normaler
Journalist sein.
Stadler:
Die Wissenschaft hat Sie aber dann doch nicht losgelassen, auch die
Philosophie nicht. Denn wenn man im Archiv des Bayerischen Rundfunks
Ihren Namen eingibt, dann kommen selbstverständlich sehr viele Filme und
Features von Ihnen, aber dann entdeckt man eben auch anderes. 1969
haben Sie mit zwei Philosophen ein Feature gemacht: mit Karl Popper und
mit Herbert Marcuse. In diesem Zusammenhang habe ich sogar ein Buch
entdeckt mit dem Titel "Revolution oder Reform?".
Stark:
Dieses Buch gibt es allerdings schon seit 40 Jahren nicht mehr.
Stadler:
Dieses Feature ist in der ARD gesendet worden, aber ich glaube, so würde
man das heute gar nicht mehr machen können. Sehe ich das richtig?
Stark:
Das weiß ich nicht, das hängt natürlich von der Programmplanung ab.
Wahrscheinlich würde man das heute nicht mehr machen können, weil
damals dieses Thema natürlich sehr viel interessanter war, als es das heute
ist. Dieses Feature hieß ja "Revolution oder Reform?" Herbert Marcuse
stand für die Revolution, Karl Popper für die Reform. Ich habe die beiden,
weil sie nicht zusammen auftreten wollten, kontrastiv zueinander
geschnitten und beide sehr ausführlich an ihren Wohnorten gefilmt und zu
Wort kommen lassen: Popper wohnte in England, Marcuse in San Diego in
Kalifornien. Ich habe mich mit beiden auch so ein bisschen angefreundet
und wir blieben auch danach noch ein wenig in Kontakt. Vor allem mit
Marcuse bin ich in Kontakt geblieben, obwohl ich persönlich inhaltlich mehr
auf der Popper-Seite gestanden bin. Aber Marcuse war irgendwie
extrovertierter, lockerer, mit dem konnte ich einfach besser. Ich habe ihn
auch danach noch ein paar Mal besucht in Kalifornien.
Stadler:
Heute würde man sofort nach der Quote fragen, würde fragen, wie
realistisch es ist, dass die Zuschauer so eine Sendung anschauen. Gab es
damals einfach noch eine andere Resonanz auf solche Themen? War das
Bildungsbewusstsein der Zuschauer noch größer? Oder spielte das
deswegen überhaupt keine Rolle, weil es gar keine Quotenmessung
gegeben hat?
Stark:
Nun gut, es gab schon eine Messung und ich weiß auch noch, dass diese
Sendung in der ARD drei Prozent Zuschauerbeteiligung hatte – was aber
für so ein Thema gar nicht schlecht war, denn diese Sendung lief ja auch
erst spät nachts von 23.00 bis 24.00 Uhr. Das heißt, das lief auch damals
schon nicht im Hauptprogramm.
Stadler:
Aber kam da nicht bei nur drei Prozent irgendein Vorgesetzter, ein
Chefredakteur und hat gesagt: "Herr Stark, was haben Sie denn da
gemacht?"
Stark:
Nein, das war nicht so. Ich habe das Gefühl, dass heute das
Bildungsbewusstsein gesunken ist, aber es ist natürlich klar, dass da jetzt
sofort irgendein Soziologieprofessor kommen und sagen kann: "Haben Sie
dafür empirische Daten? Wo sind die Beweise für diese Aussage von
Ihnen?" Wie gesagt, ich habe das Gefühl, dass bei uns in Deutschland das
Bildungsbewusstsein gesunken ist, aber empirisch beweisen kann ich das
nicht. Damals konnte man solche Dinge jedenfalls leichter machen als
heute. Man konnte damals als Journalist überhaupt leichter in der ganzen
Breite der Themen tätig sein als heute. Heute ist man doch eher einem
bestimmten Kästchen zugeordnet, in dem man dann auch bleiben muss.
Ich war damals ja noch Innenpolitikredakteur und habe trotzdem pausenlos
Auslandsreportagen gemacht.
Stadler:
Meinen Sie wie etliche andere auch, dass die 70er Jahre und die erste
Hälfte der 80er Jahre die goldene Zeit des Fernsehens gewesen sind?
Stark:
Ja, das würde ich auch sagen: Da war Journalist beim Fernsehen der beste
Beruf der Welt. Heute ist das immer noch ein sehr schöner Beruf, aber
damals war das wirklich der beste Beruf, den man sich vorstellen kann.
Stadler:
Sie waren also in der Innenpolitik Redakteur und konnten dennoch sagen,
dass Sie jetzt mal z. B. nach Angola fahren wollen. Bekamen Sie dafür
tatsächlich einfach so eine Genehmigung?
Stark:
Das lag am jeweiligen Vorgesetzten: Wenn der das mitgetragen hat, dann
ging das. Damals in den 70er und auch noch in den beginnenden 80er
Jahren war man diesbezüglich noch recht flexibel, d. h. meine Vorgesetzten
haben das immer mitgetragen. Ich habe das freilich immer auch aus einem
bestimmten Anlass heraus gemacht. Ich war z. B. im Jom-Kippur-Krieg auf
ägyptischer Seite als Journalist unterwegs: Ich war mit der ägyptischen
Armee an den Suezkanal …
Stadler:
Heute nennt man das "embedded journalist".
Stark:
Damals hieß das noch nicht so, aber man war in der Tat "embedded". Ein
paar Jahre später war ich im Ogadenkrieg und habe dort von somalischer
Seite aus berichtet. Später war ich im Bürgerkrieg in Angola. Das war alles
möglich damals. Als ich in Angola war, war ich allerdings schon für die
Auslandsredaktion tätig.
Stadler:
Sie haben in Afrika ja auch als Trainer für junge afrikanische Journalisten
gearbeitet. Was haben Sie da genau gemacht?
Stark:
Damals wurde gerade die Afrovision – und später auch die Asiavision – als
Pendant zur Eurovision eingeführt. Es ging also um Nachrichtenaustausch.
Genau das waren diese jungen Kollegen aber nicht gewöhnt, vor allem in
Asien waren sie das nicht gewöhnt. Ich war dabei auch in China: Dort war
man das überhaupt nicht gewöhnt. Dort arbeitete man immer noch mit sehr,
sehr langen Aufsagern, mit sehr langen Fragestellungen, mit sehr
langatmigen Interviews. Wir haben ihnen gesagt: "Leute, so könnt ihr nie im
Nachrichtenaustausch tätig sein. Ihr müsst kurz und knackig und gezielt
fragen!" Eigentlich war das also ein Training für kurze Nachrichtenfilme und
für kurze Interviews und kurze Statements.
Stadler:
Spielte da die Sprache auch schon eine Rolle?
Stark:
Diese Kurse haben wir teilweise in Englisch gehalten. In China ging das
auch auf Deutsch, weil die Chinesen ja auch kein Englisch beherrscht
hätten und man sowieso dolmetschen musste. Es gab sehr gute
Dolmetscher, weil damals viele Chinesen in der DDR sehr gut Deutsch
gelernt hatten. Gute Dolmetscher für Deutsch-Chinesisch zu finden, war
also kein Problem.
Stadler:
Es gibt da ja insgesamt das Phänomen, das Sie ebenfalls in Ihren Büchern
angesprochen haben: Viele Menschen im Ausland haben Deutsch gelernt,
sei es dort an der Schule oder hier bei uns. Wenn Sie dann die Gelegenheit
haben, endlich mal mit Deutschen zu sprechen, sind sie oft frustriert, weil sie
dazu gar nicht kommen, weil ihre deutschen Gesprächspartner von sich aus
aufs Englische ausweichen. Diese Menschen sagen dann natürlich mit
Recht: "Jetzt haben wir mit viel Mühe Deutsch gelernt und jetzt können wir
das nicht anwenden."
Stark:
Besonders in Russland ist das der Fall. Dort war bis in die beginnenden
90er Jahre hinein die Zahl der deutsch Sprechenden größer als die Zahl der
englisch Sprechenden. Inzwischen hat sich das allerdings auch dort
gedreht. Diese Menschen waren natürlich besonders frustriert, wenn sie ihr
Deutsch selbst in einer deutschen Firma nicht anwenden konnten. Ich habe
das mal bei der Deutschen Bank in Moskau so erlebt: Die Angestellten dort
konnten alle nur Englisch. Das ging rauf bis zum obersten Chef: Der war
Deutscher und hat mit mir Deutsch gesprochen. Aber alle anderen konnten
wirklich nur Englisch. Er bestätigte mir auch: "Wir stellen nur Leute ein, die
Englisch sprechen! Deutsch brauchen wir nicht!" Das Finanzwesen ist
natürlich neben dem Computerwesen schon so ein Bereich, in dem das
Englische sehr verbreitet ist. In der Wissenschaft ist das ebenso der Fall, vor
allem in den Naturwissenschaften.
Stadler:
Es gab im Januar 2011 in der Politischen Akademie in Tutzing eine Tagung
mit Fachleuten unter dem Titel "Deutsch als Wissenschaftssprache". Sie
waren dort auch mit dabei: Haben Sie den Eindruck, dass man durch
solche Tagungen ein stärkeres Bewusstsein für diese Problematik schaffen
kann, dass man das im Idealfall auch ein bisschen ändern kann, dass also
Deutsch wieder ein stärkeres Gewicht bekommt als
Wissenschaftssprache?
Stark:
Das war sicherlich die Intention der Veranstalter, aber es waren nur genau
drei Journalisten da. Einer davon war ich. Aus dem Grund ist die
Außenwirkung so einer Tagung natürlich nur gering. Aber das war eine
hochinteressante Tagung, zu der ich auch gerne ein paar Sätze sage. Es ist
ein riesengroßes Problem, was sich diesbezüglich in den Wissenschaften
abspielt. Man muss bei der Wissenschaftssprache unterscheiden zwischen
der des internationalen wissenschaftlichen Austauschs und der Vermittlung
von Wissen: Das ist Englisch. Seit zehn, 20 Jahren ist das Englisch: Das ist
so, daran kann auch nichts geändert werden.
Stadler:
Hat das etwas mit der Globalisierung zu tun?
Stark:
Ja, ganz klar durch die Globalisierung. Und in den Naturwissenschaften ist
bereits seit den 80er Jahren Englisch auf dem Vormarsch gewesen. Aber
das bedeutet nicht, dass man bei uns im Land selbst Englisch miteinander
sprechen müsste, wenn sich zwei deutsche Wissenschaftler unterhalten.
Genau dies geschieht aber häufig: Wenn sich heute irgendwo in
Deutschland auf einer Konferenz deutsche Zellbiologen oder auch ganz
allgemein deutsche Naturwissenschaftler treffen, dann sprechen sie häufig
Englisch miteinander. Und dies aus einem ganz schlichten Grund: weil es
die entsprechenden deutschen Begriffe nicht gibt, weil sie nicht gebildet
werden. Das Problem liegt also darin, dass diese notwendigen Begriffe
schon gar nicht mehr gebildet werden auf Deutsch. Wenn man sich mit
einem neuen Phänomen beschäftigt und sich keine Gedanken darüber
macht, wie man das auf Deutsch benennen kann, sondern einfach nur den
englischen Terminus übernimmt, dann entsteht halt dafür kein deutscher
Begriff mehr. Wenn das erst einmal ein paar Jahre lang geschieht, dann
kann man ganz allgemein die Phänomene, mit denen man sich heute
beschäftigt, überhaupt nicht mehr auf Deutsch beschreiben. Das ist aber
eine riesengroße Gefahr für unsere Wissenschaft, für die Stellung der
Wissenschaft, denn …
Stadler:
Das heißt, es müsste jede Disziplin für sich diese deutschen Begriffe
prägen, denn das können ja nicht die Linguisten für alle anderen machen. In
der Wissenschaft, in den Medien, in der Kunst usw. müssten also wieder
diese entsprechenden deutschen Begriffe geprägt werden. Denn wenn es
da z. B. mal einen deutschen Begriff gibt, dann wird der auch durchaus
aufgenommen. Es gibt da z. B. die Einrichtung "Wort des Jahres": Da sind
ja durchaus auch Wörter dabei, die es vor zehn, 20 Jahren noch gar nicht
gegeben hat.
Stark:
Ja, das stimmt. Aber was wäre jetzt Ihre Frage?
Stadler:
Warum schaffen das die einzelnen Wissenschaftsdisziplinen nicht? Gibt es
dafür kein Bewusstsein?
Stark:
Auf der Tutzinger Tagung, an der 60 Leute teilgenommen haben, war
dieses Bewusstsein da. Aber es gibt natürlich Hunderte anderer, bei denen
dieses Bewusstsein nicht da ist. Ich kann das schwer beurteilen und das ist
eigentlich schon fast eine Frage an den Psychologen. Aber hier spielt eben
auch so ein bisschen die Überschätzung des Englischen eine Rolle, der
Ausdrucksmöglichkeiten des Englischen. Das ist wirklich schwer zu
erklären. Aber ich kann nur noch einmal sagen: Das ist wichtig für den
Forschungsprozess – nicht für die Übermittlung des Wissens, denn das
kann man auf Englisch machen, Artikel kann man auf Englisch schreiben,
telefonieren mit dem Kollegen meinetwegen in Prag kann man ebenfalls auf
Englisch. Aber beim Forschen selbst ist das wichtig, denn da geht es ja
darum, dass man sich überlegt: "Was könnte die Ursache für dieses
Phänomen sein? Ich mache jetzt verschiedene Versuche, wie stelle ich das
an, was habe ich da für Ideen, für Gedankenblitze?" Hier ist die
Muttersprache wichtig. Wenn wir unsere Muttersprache hier nicht nutzen,
wird unsere Forschung absinken. Und genau das macht sie heute schon.
Sie wird auf diese Weise nur mehr ein Anhängsel der amerikanischen
Forschung sein. Es wird auch gar nicht mehr wahrgenommen, dass die
Forschung in einem anderen Land stattgefunden hat, wenn sie sich auch im
eigenen Land nur noch Englisch präsentiert.
Stadler:
Sprache wird dann sozusagen zu einer Kreativitätsbarriere.
Stark:
Ja, im Grunde genommen schon. Ich kann Ihnen ein Beispiel erzählen, um
hier auch die symbolische Wirkung von all dem zu demonstrieren. Ein
Bekannter von mir ist Menno Aden: Er ist in Essen Professor für
Wirtschaftsrecht und hatte einmal eine Gastprofessur in Indien. Indien ist
doch das Land, aus dem wir so viele Menschen holen wollten, damit sie
unsere Informationstechnologie aufwerten usw. Diese Inder sind damals ja
alle nicht gekommen, weil sie dort nämlich von Deutschland nicht sehr viel
halten. Warum halten sie nicht viel von Deutschland? Mein Bekannter hat in
seiner Zeit in Indien mit seinen Studenten einen Versuch gemacht, um das
herauszubekommen. Er hat sich aus dem Lexikon 30 deutsche
Welterfindungen zusammengesucht hat: angefangen mit der Erfindung des
Buchdrucks bis hin zur MP3-Tonkomprimierung, die ja vor einigen Jahren
bei uns in Deutschland im Fraunhofer-Institut erfunden worden ist. Er hat
sich also wirklich bedeutende Erfindungen ausgesucht und diese dann
untereinander auf ein Blatt geschrieben. Daneben hat er in fünf Spalten fünf
verschiedene Länder angeboten: USA, England, Frankreich, Deutschland,
Japan. Dieses Blatt gab er seinen Studenten und sie sollten ankreuzen, in
welchem Land ihrer Meinung nach welche Erfindung gemacht worden ist.
Von diesen 30 deutschen Erfindungen wurde keine einzige Deutschland
zugeordnet! Er fragte daraufhin die Studenten: "Das gibt es doch nicht!
Wisst ihr das wirklich nicht?" "Nein, wieso, in unseren Büchern steht das
nicht. Unsere Lehrbücher kommen aus England. Da steht manchmal dabei,
dass etwas in England erfunden wurde. Manchmal steht aber nichts dabei.
Und weil eben alles mit englischen Begriffen bezeichnet wird, gehen wir
davon aus, dass das auch dort erfunden wurde." Da sieht man sehr gut die
symbolische Wirkung von Sprache. Der Stellenwert von Deutschland ist ja
nun kein militärischer mehr – und das soll er auch nicht mehr sein –,
sondern er ist ein wissenschaftlicher und ein technischer. Aber hier geben
wir wirklich etwas preis.
Stadler:
Sie bringen in Ihrem Buch auch das Gegenargument von manchen, die
sagen: "Na ja, da müssen wir drüberstehen, das sehen wir ganz locker." Sie
jedoch weisen nach, dass das auch ganz handfeste wirtschaftliche
Nachteile bringt.
Stark:
Sicher, das ist so. Das war jetzt gerade ein Beispiel dafür. Wenn man ein
Land nicht mehr als Wissenschaftsnation und als große Techniker- und
Erfindernation kennt, was Deutschland ja zweifellos ist bzw. war, dann wird
man mit diesem Land auch weniger Wirtschaftsaustausch treiben. Man
geht dann auch nicht mehr in dieses Land zum Studieren. Und man
bevorzugt dann auch nicht mehr deutsche Ingenieure vor anderen. Ja, das
hat enorme wirtschaftliche Folgen, wobei aber auch das wiederum im Detail
nur schwer beweisbar ist. Aber es ist doch einfach naheliegend.
Stadler:
Wie sieht das denn in den großen Organisationen aus wie in der
Europäischen Union, in der UNO? Dort ist doch das Deutsche z. T.
Arbeitssprache, in der UNO ist Deutsch allerdings nicht Amtssprache. Bringt
das Nachteile?
Stark:
Sicher. Es bringt vor allem natürlich symbolische Nachteile. In der EU bringt
das auch praktische Nachteile. Auch hier muss ich kurz ausholen. In der EU
war es so, dass bis 1973 Französisch und Deutsch die beiden
Arbeitssprachen waren. Dann traten Großbritannien und Irland bei und es
kam selbstverständlich Englisch hinzu. Das ist völlig normal und auch
damals schon war Englisch die Weltsprache. Man hätte also Englisch
einfach als dritte Sprache hinzunehmen können. Aber die Deutschen haben
von sich aus verzichtet und gesagt: "Wir brauchen keine drei
Arbeitssprachen. Dann sprechen wir Deutschen halt auch Englisch oder
Französisch und Deutsch lassen wir weg." Nach ein paar Jahren hat man
dann aber doch gemerkt, dass …
Stadler:
Gab es da keine Proteste?
Stark:
Nein, gar nicht. Aber das haben die Leute auch gar nicht so gemerkt, denn
das ist einfach so geschehen.
Stadler:
War das ein Beschluss der damaligen Bundesregierung?
Stark:
Das war ein Beschluss der deutschen Beamten dort, der aber vom
Auswärtigen Amt mitgetragen und gutgeheißen worden ist. Aber nach ein
paar Jahren merkte man doch die Nachteile: Selbst kleine und kleinste
mittelständische Betriebe – und die deutschen Betriebe haben nun einmal
den größten Anteil am Wirtschaftsvolumen innerhalb der EU – mussten bei
jedem Antrag an die EU einen Fachdolmetscher beschäftigen, der ihnen
das alles erst einmal richtig übersetzt hat in technisches Englisch oder
Französisch. Sie kamen auf diese Weise immer zu spät und wurden also
benachteiligt. Das ist im Grunde genommen so geblieben bis heute, denn
das zu ändern, ist nie mehr geschafft worden. Das änderte sich auch 1990
nicht, als sich Osteuropa öffnete und man wusste, dass von daher bald
neue Länder in die EU kommen werden, in denen Deutsch die Lingua
franca war zu der Zeit, also die Fremdsprache schlechthin. Dennoch hat
sich niemand dafür stark gemacht, Deutsch wieder zur Arbeitssprache zu
machen. Das Ergebnis ist heute, dass auch diese Nationen heute alle
Englisch verwenden im internationalen Verkehr. Ja, das hat echte
praktische Nachteile. Und dann gibt es eben noch die symbolischen
Nachteile. Ein Land, dessen Sprache verwendet wird, erscheint vielleicht
wichtiger als es ist. Großbritannien ist nicht so wichtig, aber Englisch ist
wichtig und dadurch ist auch Großbritannien wichtig.
Stadler:
Frankreich ist zwar nicht so groß wie Deutschland, aber doch von der
Bedeutung her und auch von der Sprachbedeutung her vergleichbar mit
Deutschland. Die Franzosen haben ja bereits seit vielen Jahren eine ganz
dezidierte Sprachpolitik, die von außen, also auch von uns manchmal
belächelt wird. Da fällt schnell das Wort von der "Sprachpolizei" und es
heißt, dass die Franzosen das alles übertreiben. Sehen Sie das auch so?
Stark:
Ich würde auch sagen, dass die Franzosen das übertreiben. So möchte ich
es für Deutschland nicht haben. Aber ein bisschen was können wir schon
von ihnen lernen. Sie haben z. B. eine Terminologiekommission: Wenn
neue, möglicherweise gar nicht so sinnvolle englische Wörter
aufgekommen und in den Alltagsgebrauch eindringen, dann setzen sich in
dieser Kommission irgendwelche Experten zusammen und machen einen
Vorschlag, wie man das auf Französisch sagen könnte. Das würde ich mir
bei uns auch wünschen. Was ich mir nicht wünschen würde, ist, dass das
dann von Amts wegen richtiggehend verordnet wird, wie das ja in
Frankreich der Fall ist. Für staatliche Stellen, für offizielle Stellen, die
Staatsgelder bekommen, ist es dann Vorschrift, diesen Ausdruck zu
gebrauchen.
Stadler:
Aber vielleicht geht das gar nicht ohne Druck? Wenn Sie das mit der
Kommission so beschreiben und das gerne ohne Verordnung haben
möchten, dann ginge das ja nur, wenn diese Kommission genug
Öffentlichkeitswirksamkeit besitzt, d. h. es müsste dafür in der Bevölkerung
ein entsprechendes Bewusstsein herrschen. Meiner Meinung nach gibt es
aber dieses Bewusstsein nur sehr eingeschränkt. Bei der deutschen
Ausscheidung zum Schlager-Grand-Prix kann man sich bei uns seit einigen
Jahren als Teilnehmer die Sprache aussuchen. Der Effekt ist, dass dann
überwiegend Englisch gesungen wird. Und das, obwohl es doch seit der
Fußballweltmeisterschaft 2006 einen absoluten Wandel gegeben hat, wie
nationale Symbole – z. B. eben auch die deutsche Sprache – bewertet
werden. Diese WM hat ja für Deutschland im Ausland einen enormen
Imagegewinn gebracht und auch der Umgang mit den nationalen Symbolen
bei uns wurde als frisch, als jung und nicht als aggressiv bewertet.
Stark:
Wenn Sie von den nationalen Symbolen sprechen, dann würde ich gerne
noch auf einen Punkt kommen, den wir vielleicht auch ansprechen sollten.
Letztes Jahr gab es eine Umfrage, die sogenannte "Hohenheim-Studie", die
von der Universität Hohenheim durchgeführt worden ist, über das
Nationalbewusstsein oder auch Identitätsgefühl der Deutschen. Zu meiner
Überraschung und zur Überraschung vieler ist dabei herausgekommen,
dass das bei uns in Deutschland kein bisschen geringer ist als das der
Engländer, der Franzosen, der Spanier usw. empfindet, obwohl man das so
eigentlich gar nicht so beobachten kann bei uns im Land. 70 bis 80 Prozent
der Befragten sagten also, sie seien gerne Deutsche und seien auch stolz
darauf, Deutsche zu sein und sie würden auch gerne wieder Deutsche
werden wollen, wenn sie noch einmal auf die Welt kämen usw. Aber in
einem Punkt unterscheiden sich die Deutschen doch stark von den anderen
Völkern: Das ist ein völlig unhistorisches Identitätsgefühl! Die anderen, vor
allem die Engländer, fühlen sich natürlich vor allem wegen des früheren
britischen Weltreichs als Engländer, wegen ihrer Wirtschafts- und
Industriegeschichte usw. Auch die Parlamentsgeschichte, die Geschichte
der Menschenrechte usw. spielen da im Bewusstsein der Menschen mehr
oder weniger stark eine Rolle. Demgegenüber wurde bei uns als Grund
genannt, warum man gerne Deutscher ist: Pünktlichkeit, handwerkliches
Geschick usw. Der "Spiegel" hat damals über diesen Artikel so ungefähr die
Überschrift "Nationalgefühl des Heimwerkers" gesetzt. Man sieht also: Bei
uns spielen diesbezüglich weder Goethe noch Bismarck eine Rolle, auch
kein Minnesang. Nichts, was in der Vergangenheit irgendwie bedeutend
war in Deutschland, an Deutschland spielt im Bewusstsein der Menschen
eine Rolle, wenn sie sagen, dass sie gerne Deutsche sind. Das
unterscheidet uns ganz klar von anderen Völkern. Mit Jürgen Trabant kann
man auch das als "kulturelle Mutlosigkeit" bezeichnen.
Stadler:
Es ist also nicht mehr so sehr das Bewusstsein vorhanden, dass wir auch
das Volk der Dichter und Denker sind und diesbezüglich eine große
Tradition haben. Das alles spielt wohl keine Rolle mehr.
Stark:
Ja, das spielt keine Rolle mehr. Ich muss aber sagen, dass das halt auch
nur so ein Spruch ist, denn wir sind nun einmal nicht alle Dichter und
Denker. Und auch die Engländer und die Franzosen glauben nicht von sich,
dass sie das seien. Aber wir Deutsche sind eben gar nicht mehr historisch
orientiert. Das merkt man ja auch an den Schulen: Wenn man sich die
Abituraufgaben oder überhaupt die Aufgaben an den Oberstufen der
Gymnasien ansieht, dann stellt man fest, dass da fast nur noch Weimarer
Republik und Drittes Reich behandelt wird. Davor gab es offenbar kein
Deutschland. Die großen Leistungen der Deutschen waren aber leider fast
alle vorher und gerade nicht in dieser Zeit.
Stadler:
Wenn Sie sagen, dass der Niedergang der Sprache Deutsch als
Wissenschaftssprache unserem Land keine Vorteile, sondern Nachteile
bringt, dann stellt sich doch die Frage, was da der einzelne Wissenschaftler
machen kann. Er muss, um anerkannt zu werden, ständig publizieren, und
zwar in internationalen Zeitschriften, in denen es nur eine Sprache gibt,
nämlich Englisch. Soll man das dann auf Deutsch und Englisch machen?
Wäre das eine Möglichkeit?
Stark:
Ich könnte mir vorstellen, dass man zunächst einmal beginnt, die eigene
Arbeit auf Deutsch schriftlich zu fixieren, um eben auch Begriffe auf Deutsch
zu prägen. Anschließend übergibt man das dann einem Fachdolmetscher,
damit er das ordentlich übersetzt. Denn die Artikel taugen ja auch nichts, die
die meisten deutschen Wissenschaftler auf Englisch schreiben. Das ist
eben nur so dieses Schulenglisch, fast schon ein Baby-Englisch.
Stadler:
Ist das dann so wie Denglisch?
Stark:
Nein, wie Denglisch vielleicht nicht, aber das ist halt kein elegantes Englisch,
kein Kultursprachenenglisch, sondern ein Gebrauchsenglisch für den Alltag.
Darüber lächeln die Angelsachsen natürlich, d. h. so ein Artikel leidet dann
bereits unter seiner mangelnden sprachlichen Qualität. Wenn schon, dann
müssen da Fachdolmetscher her und das könnte man natürlich auch z. B.
vom Wissenschaftsministerium aus finanzieren.
Stadler:
Nun gibt es ja auch Negativpreise, Negativauszeichnung wie z. B. den
"Sprachpantscher" oder den "Sprachhunzer". Das "Unwort des Jahres"
bekommt recht breite Aufmerksamkeit, aber ein solches Maß an
Aufmerksamkeit ist diesen Negativpreisen nicht beschieden. Wäre es nicht
eine Möglichkeit, das noch mehr zu forcieren, um das Problem "Denglisch"
ins Bewusstsein der Menschen zu bekommen?
Stark:
Ich glaube, dass sehr viele Menschen in der normalen Bevölkerung gegen
dieses Denglisch sind. Das zeigen ja auch die Umfragen: 70, 80 Prozent
der Leute mögen das nicht. Aber die sitzen ja nicht an den Schalthebeln. An
den Schalthebeln sitzen jedoch auch wir Journalisten, aber es machen
einfach zu wenige Journalisten etwas dafür, dass sich das ändert. Jeder
Journalist sollte sich selbst auf diesem Gebiet ein wenig bemühen. Wenn
da ein neues Wort aufkommt, dann sollte er sich überlegen, wie das
eigentlich auf Deutsch heißt. Die "Bild", die viel gescholtene "Bild"-Zeitung
macht das: Sie ist gut verständlich, sie bemüht sich auch Begriffe, zu
erläutern oder sogar einen deutschen Begriff zu prägen. Manchmal setzt
sich dieser Begriff dann sogar durch. Aber in der Regel gilt es halt als chic,
so einen Begriff auf Denglisch einfach zu übernehmen. Nehmen Sie als
Beispiel den Begriff Stalking. Das Phänomen "Stalking" hat es auch schon
gegeben, bevor dieses Wort "Stalking" in Deutschland aufgekommen ist. Es
gab die "Nachstellung", wenn man jemandem permanent nachstellte.
Wieso muss man das "Stalking" nennen? Nur deswegen, weil die
Amerikaner das "Stalking" nennen?
Stadler:
Auf der Tagung, von der wir vorhin gesprochen haben, war ja auch die
Frage Thema, ob es sinnvoll sein kann, die Verwendung von "Deutsch" im
Grundgesetz als Staatsziel zu verankern. Wäre das ein richtiges Signal?
Stark:
Ich war ursprünglich dagegen, weil ich mir gesagt habe: "Das haben wir
doch nicht nötig. Denn es ist doch bekannt, dass Deutsch die Geschäftsund Amtssprache in Deutschland ist." Aber die Reaktion, die darauf erfolgte,
dass nämlich alle aufgeschrien haben, das sei furchtbarer Nationalismus,
das sei Deutschtümelei usw., hat mich dazu gebracht zu überlegen, ob man
das nicht doch machen sollte, auch und gerade deshalb, um zu zeigen,
dass das in der Tat eine symbolische Wirkung hat. Es kommt ja nicht von
ungefähr, dass von den 27 EU-Staaten 18 in ihrer Verfassung stehen
haben, was die Amtssprache ist. Das ist übrigens in allen
deutschsprachigen Staaten so, außer in Deutschland: In Österreich, in
Liechtenstein, in der Schweiz, in Luxemburg ist das so. Luxemburg ist
dreisprachig, hat aber auch Deutsch als Amtssprache. Auch Südtirol hat
einen gesicherten Sprachstatus. Es ist also nicht einzusehen, warum wir
das nicht auch machen sollten. Das hätte so eine gewisse symbolische
Wirkung: zumindest für die Ämter und für die Behörden, denn auch sie
ergehen sich oft in diesen teilweise irrwitzigen Anglizismen.
Stadler:
Aber aktuell sieht es nicht danach aus, im Gegenteil, die Justiz hat ja sogar
Versuche unternommen, dass nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch
als Gerichtssprache verwendet wird. In Nordrhein-Westfalen hat man das
so versucht …
Stark:
… auch in Schleswig-Holstein.
Stadler:
Es ist jetzt sogar ein entsprechendes Gesetz eingereicht worden, das in den
Bundestag gehen soll. Als Begründung wird gesagt, dass es ein Nachteil
wäre für den Rechtsstandort Deutschland, wenn bestimmte
Wirtschaftsprozesse nicht in Deutschland stattfinden, wenn von vornherein
der Gerichtsstand Großbritannien ist, weil es internationale Firmen eben
scheuen, wenn sie in Deutschland vor Gericht verhandeln müssen, weil sie
die Gerichtssprache "Deutsch" nicht so gut beherrschen.
Stark:
Ich würde sagen, dass an diesem Argument in der Tat etwas dran ist. Es ist
aber auch am Gegenargument etwas dran, dass nämlich die Idee dazu
vornehmlich von amerikanischen Großkanzleien aufgekommen ist, die
Filialen in Deutschland unterhalten und die es einfach praktischer haben
möchten. Sie sagen nämlich: "Wieso sollen unsere Leute da auf Deutsch
verhandeln, wenn wir das auch auf Englisch machen könnten?" Hier muss
man also abwägen. Ich könnte mir schon vorstellen, dass man das in ganz
speziellen Ausnahmefällen mal machen kann. Aber man darf nicht davon
ausgehen, dass die Richter bei uns so gut Englisch können, dass sie einen
Prozess auch auf Englisch führen könnten.
Stadler:
Davon ist man aber anscheinend ausgegangen, denn man sagte, die
Richter würden sowieso alle gut Englisch sprechen.
Stark:
Gut, Englisch kann jeder ein bisschen, aber es steht zu bezweifeln, dass
jeder Richter so gut Englisch kann, dass er auch einen diffizilen Prozess auf
Englisch führen kann, bei dem es auf die Begriffe ganz genau ankommt und
bei dem auch Stimmungen eine Rolle spielen usw.
Stadler:
Gibt es denn ein Land, das neben der eigenen Sprache auch noch Englisch
als Gerichtssprache hat?
Stark:
Das weiß ich nicht, aber ich glaube es fast nicht. Es sei denn, man bezieht
diese Frage auch auf ganz kleine Länder, deren Sprache eben international
nicht verwendbar ist.
Stadler:
Die Kulturhoheit liegt in Deutschland ja bei den Ländern. Glauben Sie, dass
es auch deswegen schwierig ist, hier eine einheitliche Sprachpolitik, eine
einheitliche Linie hinzubekommen, wie das z. B. in Frankreich möglich ist?
Stark:
Das ist ganz sicher einer der Gründe. Der Föderalismus bremst hier ganz
sicher. Für Deutsch ist ja eigentlich niemand wirklich zuständig. Ist dafür der
Freistaat Bayern zuständig oder Nordrhein-Westfalen oder BadenWürttemberg? Wenn, dann werden vom Freistaat der bayerische Dialekt
und bestimmte kulturelle Inhalte gefördert, aber für das Verkehrs-Deutsch,
also für das offizielle "Deutsch", ist eigentlich niemand zuständig. Ein
bisschen zuständig fühlt sich das Auswärtige Amt, sofern es um Deutsch im
Ausland geht, also um deutsche Schulen, um das Goethe-Institut usw. Aber
das hauptsächliche Problem ist schon, dass wir eigentlich niemanden
haben, der für Deutsch zuständig ist. Eigentlich gehört diese Frage ins
Kanzleramt: Das ist eine zentrale Aufgabe, die vom Kanzleramt aus
gesteuert werden müsste.
Stadler:
Sie selbst haben jedoch mal festgestellt, dass sich in der deutschen Politik,
also bei den Kanzlern, bei den Regierungen, auf diesem Gebiet sehr wohl
schon ein Bewusstseinswandel vollzogen hat. Man hat dort anscheinend
verstanden, dass Sprache wichtig ist.
Stark:
Ja, das stimmt. Bundestagspräsident Norbert Lammert ist so jemand: Der
macht das sehr gut. Sein Stellvertreter Thierse ebenfalls, obwohl diese Idee
innerhalb der SPD wieder weniger Anklang findet.
Stadler:
Man kann sich noch gut daran erinnern, dass der damals neu im Amt
befindliche Außenminister Westerwelle auf einer Pressekonferenz von
einem britischen Journalisten gebeten wurde, er möge doch auf Englisch
antworten, und er dieser Bitte nicht nachgekommen ist. Da gab es dann
gleich einen Aufschrei auch in der deutschen Presse: "Unser Außenminister
kann anscheinend kein Englisch!"
Stark:
Ja, das ist eben typisch: So würde kein anderes Land reagieren. Jedes
andere Land würde sagen: "Das ist eine Frechheit, was sich der britische
Journalist erlaubt hat!" Stellen Sie sich vor, ein Franzose bittet in London auf
einer Regierungspressekonferenz einen Minister, er solle doch bitte auf
Französisch antworten. Was glauben Sie, was Ihnen der britische Minister
antworten würde? Oder gehen Sie als Spanier nach Frankreich und bitten
dort einen Regierungsvertreter, er solle doch bitte auf Spanisch antworten.
Da würde doch jeder sagen: "Jetzt geht's aber los! Wo sind wir denn hier!"
Ich bin kein großer Fan von Westerwelle, aber hier hat Westerwelle meiner
Meinung nach sehr mutig und richtig gehandelt. Die Journalisten, die sich
über ihn lustig gemacht haben, gehören zu denjenigen Journalisten, über
die ich mich vorhin beklagt habe: Das sind die, die dieses
Sprachbewusstsein nicht haben. Aber das hat sich dann in der Tat bald
geändert. Erstens hat man gesehen, dass Westerwelle selbstverständlich
Englisch kann, weil man ja bei irgendwelchen Tagungen oder Konferenzen
in der Berichterstattung manchmal noch den O-Ton hört. Und zweitens ist
das natürlich kein Argument: Selbst wenn er es nicht könnte, wäre das kein
Beinbruch. Viele englische Minister können z. B. nur Englisch und keine
Fremdsprache.
Stadler:
Nun gut, für die besteht natürlich immer weniger die Notwendigkeit, eine
Fremdsprache beherrschen zu müssen.
Stark:
Tja, sie sprechen halt die Weltsprache.
Stadler:
Die Angelsachsen, also in dem Fall die Briten und die Amerikaner, sagen ja
auch immer wieder: "Warum sollen wir denn Fremdsprachen lernen? Das
ist intellektuell sicherlich eine Bereicherung, aber wir brauchen das einfach
nicht."
Stark:
Das ist übrigens ein weiteres Problem, denn es geht mir hier ja nicht nur
ums Deutsche, sondern überhaupt um die Mehrsprachigkeit. Diese
wahnsinnige Dominanz des Englischen, die es heute in allen möglichen
Bereichen gibt, führt dazu, dass kein Mensch mehr eine andere
Fremdsprache lernt. Weil man mit Englisch eben überall durchkommt. Und
es ist schade, dass man deswegen nicht mehr Französisch oder Italienisch
oder Spanisch usw. lernt.
Stadler:
Der deutsche EU-Kommissar Oettinger hat ja auch gesagt, dass man in
Zukunft Deutsch quasi nur noch im privaten Raum verwenden wird. Er
drückte das allerdings in einem Englisch aus, das ihn wiederum zu einer
Berühmtheit auf YouTube werden ließ.
Stark:
Das macht die ganze Sache dann wirklich lächerlich: wenn man so
argumentiert und selbst diese Fremdsprache kaum beherrscht. Ich habe
mir das auch angesehen: Sein Englisch ist furchtbar, das war wirklich nur
noch peinlich. Aber er hat das nicht in diesem berühmten YouTube-Vortrag
gesagt, sondern das, was Sie meinen, hat er schon vorher gesagt.
Stadler:
Gut, man müsste in diesem Fall Herrn Oettinger selbst fragen. Aber warum
macht denn jemand so etwas? Das ist doch ein intelligenter, gebildeter
Mensch. Man weiß doch eigentlich, wie gut man eine Fremdsprache
beherrscht – im Hinblick auf die Aussprache, auf das Vokabular. Wenn man
sich in einer Fremdsprache äußert und dabei auch noch sagt, dass diese
Sprache im Gegensatz zur eigenen Muttersprache künftig Lingua franca
sein soll, dann muss man sich doch überlegen, wie es ankommt, wenn man
diese Fremdsprache selbst nur auf diese lächerliche Art und Weise
rüberbringt.
Stark:
Nun, es gibt halt Menschen mit viel Selbstkritik, mit einem minderen Maß an
Selbstkritik und mit wenig Selbstkritik. Er selbst hat es wahrscheinlich so
nicht gesehen, dass er so eine schlechte englische Aussprache hat und z.
T. auch die falschen Wörter wählt. Aber die Äußerung, die Sie meinen, hat
er bereits vorher getan, als er noch Ministerpräsident in Baden-Württemberg
gewesen ist. Damals hat er gesagt: "Wir müssen in den großen Firmen
mehr auf Englisch umstellen, denn Deutsch verschwindet dort sowieso
allmählich. Deutsch wird nie ganz verschwinden, denn es wird immer die
Sprache der Familie, der Freunde sein, wird die Sprache abends beim Wein
oder beim Bier sein." Das genau ist aber die große Gefahr. Gut, diese Angst
ist jetzt übertrieben, aber das könnte in 50 Jahren wirklich der Fall sein,
wenn wir immer mehr Fach- und Sachbereiche an das Englische abtreten.
Hier geht es gar nicht so sehr um die Anglizismen, denn die stellen gar nicht
das eigentliche große Problem dar. Das viel größere Problem ist das
Verschwinden der eigenen Sprache aus bestimmten Fachbereichen. Wenn
man z. B. überall die Gerichtssprache Englisch einführen würde, dann
würde Deutsch als Gerichtssprache komplett verschwinden. In der Biologie
ist Deutsch eh schon verschwunden, in der Medizin befindet es sich
ebenfalls stark auf dem Rückzug. Das Problem ist, dass Deutsch dann
eines Tages keine Kultursprache mehr ist, sondern wirklich nur noch eine
Feierabendsprache.
Stadler:
Es gibt darüber hinaus auch noch das Problem, dass wir hier in
Deutschland englische Begriffe kreieren, die weder in England noch in den
USA verwendet werden. Ganz bekannt wurde in diesem Zusammenhang
ja im Jahr 2006 bei der Fußball-WM der Begriff "Public Viewing", was
aufseiten der amerikanischen und englischen WM-Besucher in Deutschland
zu argem Gelächter führte. Denn in den USA wird mit diesem Begriff ganz
eindeutig die öffentliche Aufbahrung einer Leiche verbunden, während
dieser Begriff für die Engländer eher "Tag der offenen Tür" bedeutet – in
beiden Ländern bedeutet "Public Viewing" jedenfalls nicht das, was wir
damit ausdrücken wollen. Warum konnte man denn keinen deutschen
Begriff dafür finden?
Stark:
Ich muss sagen, dass ich diese "selbstgeprägten" Ausdrücke – das
klassische Beispiel dafür ist ja das Wort "Handy" – gar nicht so schlimm
finde: Das ist manchmal ganz originell und sprachschöpferisch. Das trifft
nicht auf alle diese Wörter zu, aber bei manchen ist das einfach so. Denken
Sie nur einmal an das Wort "Dressman": Auch das ist ja eine deutsche
Wortschöpfung. Auch der "Smoking" wird nur in Deutschland verwendet,
denn im Englischen ist er so nicht wirklich gebräuchlich.
Stadler:
Im Englischen wiederum gilt der Dressman eher als Transvestit und
keinesfalls als das, was wir darunter verstehen.
Stark:
Ja, das sind einfach andere Bedeutungen. Aber das wäre kein großes
Problem, wenn jeder weiß, was damit gemeint ist und es so gebraucht.
Warum also nicht? Ich möchte noch einmal auf die Anglizismen zu
sprechen kommen, weil wir ja auch mit ihnen angefangen haben. Ich hatte
ja bereits gesagt, dass ich sie nicht als das Kernproblem betrachte. Aber ein
Argument ist trotzdem absurd, das auch von Linguisten immer wieder
gebracht wird, wenn gesagt wird: "Was wollt ihr denn? Das macht doch
höchstens ein Prozent des Wortschatzes aus!" Aber das stimmt nicht.
Erstens weiß man schon mal gar nicht, wie groß der Wortschatz überhaupt
ist, weil man nicht genau sagen kann, was dabei mitgezählt werden soll.
Zählt man Komposita, also Zusammenfügung als eigene Wörter mit? Zählt
man Ableitungen mit Vor- und Nachsilben mit, weil sie als eigene Wörter
gelten? Man geht da immer vom großen Grimmschen Wörterbuch aus: Es
hat 33 Bände und 500000 Wörter. Wenn man dann bei uns 5000
Anglizismen in Gebrauch findet, dann sagt man, dass sie ja nur ein Prozent
des gesamten Wortschatzes ausmachen. Aber das ist natürlich Unsinn, weil
kein Mensch 500000 Wörter beherrscht und gebraucht. Man weiß auch gar
nicht, wie viele Wörter durchschnittlich von uns gebraucht werden: 30000?
10000? 50000? Das weiß man nicht. Und das Ganze hängt auch sehr, sehr
stark vom jeweiligen Fachgebiet ab. In der Mode, im Freizeitsport, in
manchen Privatradiomoderationen haben die Anglizismen oft einen Anteil
von 30 Prozent, während sie in anderen Bereichen bei 0 Prozent Anteil
liegen. Diese Zahl von nur einem Prozent sagt also gar nichts. Es ist
unseriös, wenn z. T. sogar bedeutende Linguisten mit diesem Argument pro
Anglizismen sprechen. Aber wie gesagt, nicht die Anglizismen sind das
Hauptproblem, sondern sie sind eigentlich mehr der Katalysator und das
Symptom dafür, dass man in allen Bereichen das Englische so wahnsinnig
hoch einschätzt.
Stadler:
Aber vielleicht ist das auch eine Chance, weil es sicherlich etliche Menschen
gibt, die dann, wenn sie darauf hingewiesen werden, darüber nachdenken
und recht schnell einsehen, dass das mit dem Gebrauch von Anglizismen
doch meistens ein rechter Unsinn ist. Und viele der Aussagen, die in diesem
Denglisch geäußert werden, bestehen eigentlich nur aus Worthülsen, hinter
denen keine wirkliche Aussage steht. Wenn man solche Aussagen mal
etwas genauer abklopft, dann stellt man fest: Ja, das klingt beim ersten
Hören eigentlich ganz lässig, ganz cool, aber wenn man genauer hinhört,
merkt man, dass da entweder gar nichts dahinter ist oder nur eine ganz,
ganz simple Aussage.
Stark:
Es gibt da diesen berühmten Spruch, den man immer wieder von
Wissenschaftlern hören kann: "Ich habe nicht so recht gewusst, was ich
sagen sollte, dann habe ich es halt auf Englisch gesagt." Das ist zwar nur
scherzhaft gemeint, aber da ist schon was Wahres dran. Noch eine letzte
Aussage zu den Anglizismen und zum Englisch in manchen Bereichen: In
der Computersprache ist das Englisch wirklich sehr stark verbreitet. Ich
hatte ja ganz am Anfang von den drei zu unterscheidenden Kategorien
gesprochen. Die dritte Kategorie sind die ärgerlichen, die unnötigen
Anglizismen. Was mich ärgert, sind diese Internetadressen, wenn sie
ausgesprochen werden. Da heißt es z. B.: www.xyz.de/soundso. Wobei der
Schrägstrich eben nicht als "Schrägstrich" ausgesprochen wird, sondern als
"Slash". Ich habe mal im Oxford Dictionary nachgelesen, was "slash"
eigentlich heißt. Eigentlich ist das gemäß Lexikon ein Schnitt, eine klaffende
Wunde, die durch einen weit ausholenden Schlag verursacht worden ist.
Der "slash" ist aber auch der Schlitz in einem Kleid, der Holzschlag im Wald,
eine drastische Kürzung, der Preisnachlass, eine heftige Kritik an
jemandem, der Peitschenknall, der Farbstreifen auf einer Folie usw. Im
Militärjargon heißt das über die Bedeutung "Strahl" sogar "urinieren".
Stadler:
Aber all diese Bilder haben wir nicht im Kopf, wenn wir "slash" sagen.
Stark:
Genau, jetzt kommt der Punkt: Wenn ein Engländer "slash" sagt, dann
verbindet er mehr oder weniger diese Assoziationen damit, d. h. er hat ein
semantisches Netz, in das dieses Wort eingewoben ist. In diesem
semantischen Netz ist dieses Wort mit vielen unterschiedlichen
Vorstellungen verbunden und hat dort auch seinen Sinn. Im Deutschen
jedoch hat das Wort "Schrägstrich" einen viel größeren Sinn, weil man
sofort versteht, was gemeint ist. Bei "slash" hingegen muss man das zuerst
einmal lernen, muss man zuerst einmal wissen, was der "slash" eigentlich
ist. Aber bei "Schrägstrich" weiß man das sofort: Man weiß, was "schräg"
heißt und man weiß, was ein Strich ist. Im Bewusstsein der
Englischsprecher spielt dieses Bild des Strichs, des Strahls ja auch mit.
Insofern hat die deutsche Entsprechung absolut ihre Berechtigung. Das
aber wird von den Leuten, die so gerne Anglizismen gebrauchen, immer
unterschätzt. Es wird unterschätzt, dass wir die Anglizismen immer erst
lernen müssen, während ein deutsches Wort – sofern vorhanden – sofort
für jedermann verständlich wäre.
Stadler:
Das ist jetzt der Schlusssatz gewesen, der Gedankenstrich, der uns noch
zum Nachdenken anregen soll. Vielen Dank für diese Einblicke und diese
Zusammenhänge. Schön, dass Sie bei uns waren, Herr Stark.
Stark:
Ich bedanke mich für das Interesse.
Stadler:
Liebe Zuschauer, vielen Dank auch für Ihr Interesse und fürs Zuschauen.
Bis zum nächsten Mal, auf Wiedersehen.
© Bayerischer Rundfunk
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