Praktiken statt Praxis, Wissensverwendung statt

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Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper Nr. 2
Praktiken statt Praxis,
Wissensverwendung
statt
Dilemmabearbeitung?
Über die Möglichkeiten der
Hochschuldidaktik zur
Relationierung von
Wissensformen über
soziale Praktiken
Christoph Bulmahn
September 2008
Didaktik der Sozialwissenschaften – Working Papers
Herausgegeben von Reinhold Hedtke und Birgit Weber
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Christoph Bulmahn
Praktiken statt Praxis, Wissensverwendung statt
Dilemmabearbeitung?
Über die Möglichkeiten der Hochschuldidaktik zur
Relationierung von Wissensformen über soziale Praktiken
Inhalt
1. Einleitung
2. Das Theorie-Praxis-Verhältnis der Lehrerbildung: Unschärfen und Probleme
3. Wissensverwendung statt Dilemmabearbeitung: Der sozialwissenschaftliche
Blick auf ein pädagogisches Grundproblem
4. Soziale Praktiken und Lehrerbildung: Gemeinsamkeiten in Schule und
Hochschule und Konsequenzen für die Lehrerbildung
5. Relationierung durch Hochschuldidaktik: Änderung der sozialen Praktiken in
der Universität zur Verknüpfung von Handlungs- und Wissenschaftswissen
6. Ausblick: Praktiken statt Praxis? Die Rolle der Hochschuldidaktik in der universitären Lehrerausbildung zum Wandel sozialer Praktiken
1. Einleitung
Wenn eine Expertenkommission Empfehlungen zur Reform der Lehrerausbildung1 vorlegt, so hat das nichts Verwunderliches oder Irritierendes, wird doch
die Lehrerausbildung seit Ende des 19. Jahrhunderts als fortwährendes und
aktuelles Reformprojekt angesehen. OELKERS bemerkt dazu so zugespitzt wie
auch treffend: „Lehrerbildung ist eine periodische Krisenerscheinung, die Kontinuität verrät, als Krise, wie als Erscheinung.“2 Dabei werden neben inhaltlichcurricularen Gründen, wie z.B. der starken Rolle der Fachwissenschaften, der
tendenziell geringen Bedeutung erziehungswissenschaftlicher Inhalte und der
fehlenden Vorbereitung auf die Lösung von Lern- und Verhaltensproblemen, vor
allem auch organisationell-strukturelle Gründe als Probleme angeführt. Insbe1
2
Der einfacheren Lesbarkeit halber, wird in dieser Arbeit ausschließlich die männliche
Form verwendet. Die weibliche Form ist immer, selbstverständlich und ausdrücklich eingeschlossen.
Oelkers, Jürgen (1999): Studium als Praktikum? Illusionen und Aussichten der Lehrerbildung. In: Radtke, Frank-Olaf (Hrsg.): Lehrerbildung an der Universität. Zur Wissensbasis
pädagogischer Professionalität ; Dokumentation des Tages der Lehrerbildung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main, 16. Juni 1999. Frankfurt am Main:
Fachbereich Erziehungswiss. der Johann-Wolfgang-Goethe-Univ. (Frankfurter Beiträge
zur Erziehungswissenschaft: Reihe Kolloquien), S. 66-81, hier: S. 66.
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sondere der „fehlende Praxisbezug“ wird hier von Studenten, Referendaren,
Politikern und anderen Akteuren als Hauptproblem angeführt.3
Umso irritierender erscheint in diesem Kontext die Tatsache, dass o.g. Expertenkommission in ihrem Bericht feststellt, dass sich „jede[r] weitere Ausweitung
von praktischen Studienanteilen [verbiete].“4 Darüber hinaus erteilt die Kommission dem Wunsch nach praktischen Handlungsanleitungen eine klare Absage
und widerspricht so offenkundig den Wünschen (fast) aller Beteiligten. Irritierend erscheint diese Empfehlung v.a. vor dem Hintergrund eines Praxisbezugs,
der immer als defizitär und unausreichend empfunden wird.5 „Praxisbezug“, so
HEDTKE, „scheint ein universell knappes Gut zu sein, weil das Bedürfnis danach
als unbegrenzt empfunden wird.“6 Dieses gefühlte Defizit und – in gewisser
Weise dazu komplementär – die gefühlte „Überlast“7 der (fachwissenschaftlichen) Theorie in der Lehrerausbildung verweisen in ihrer Symptomatik auf die
Grundfrage der Anwendbarkeit wissenschaftlichen Wissens in pädagogischen
Handlungssituationen. Im wissenschaftlichen wie alltagssprachlichen Diskurs
wird dieses Problem auf die Formel des Theorie-Praxis-Bezugs, Theorie-PraxisVerhältnisses, des Theorie-Praxis-Problems oder sogar des Theorie-PraxisDilemmas gebracht. Während die ersteren Konstruktionen noch normativ unaufgeladen erscheinen, verweist die Terminologie des Problems oder gar des
Dilemmas auf die offensichtliche Tragweite oder den Grad der Bedeutung dieses vornehmlich pädagogisch-praktischen Diskurses. Die vermeintlich wertfreiere Dichotomie von „Theorie und Praxis“ verweist sowohl auf deren Differenz als
auch deren Einheit. Insbesondere in der Erziehungswissenschaft8 gerät die
Einheit des Begriffspaares in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Diskurses
und die adäquate Beschreibung des damit assoziierten Problems samt seiner
versuchten Vermittlung erlangt den Status eines „Grundproblems“.9 Die Notwendigkeit der Bearbeitung dieses Grundproblems liegt so offensichtlich nicht
3
4
5
6
7
8
9
vgl. ausführlich dazu Bohnsack, Fritz (2000): Probleme und Kritik der universitären Lehrerausbildung. In: Bayer, Manfred (Hrsg.): Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz?
Professionalisierung durch eine andere Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt ,
S. 52-123.
Ministerium für Innovation, Wissenschaft, Forschung und Technologie des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern in NordrheinWestfalen. Empfehlungen der Expertenkommission zur Ersten Phase. Online verfügbar
unter
https://www.innovation.nrw.de/Service/broschueren/BroschuerenDownload/Broschuere.p
df, zuletzt geprüft am 10.06.2008, S. 8.
vgl. Hedtke, Reinhold (2007): Das Studium als vorübergehende Unterbrechung der
Schulpraxis. Anmerkung zur geschlossenen Welt der Lehrerausbildung. In: Kostrzewa,
Frank (Hrsg.): Lehrerbildung im Diskurs. Berlin: LIT (Lehrerbildung im Diskurs), S. 25-89,
hier: S. 25.
Hedtke, Reinhold (2000): Das unstillbare Verlangen nach Praxisbezug. Zum TheoriePraxis-Problem der Lehrerbildung am Exempel Schulpraktischer Studien. In: Schlösser,
Hans Jürgen; Ashauer, Günter; Friedrich, Horst (Hrsg.): Berufsorientierung und Arbeitsmarkt. Bergisch-Gladbach: Hobein (Wirtschafts- und berufspädagogische Schriften), S.
67-91, hier: S. 73.
Hedtke 2007: 50.
Die z.T. bewusst gewählte und ideologisch determinierte Selbstbeschreibung der wissenschaftlichen Disziplin als Erziehungswissenschaft oder Pädagogik sei an dieser Stelle
vernachlässigt, wohlweislich um die Konfliktlinien, die ihn ausmachen, und des Diskurses, der regelmäßig an Konjunktur gewinnt.
vgl. Böhm, Winfried (1995): Theorie und Praxis. Eine Einführung in das pädagogische
Grundproblem. 2., erw. Aufl. Würzburg: Königshausen & Neumann.
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nur im Begriffspaar selbst und den sozialen Konstruktionen, die es begleiten,
als vielmehr im Selbstverständnis der Disziplin, die dieses Problem genuin bearbeitet. Wenn sich die pädagogische Disziplin im Selbstverständnis als auf
Praxis ausgerichtete Wissenschaft auffasst und neben einem Erkenntnis- auch
ein Handlungsinteresse für sich reklamiert,10 muss die Vermittlung zwischen
beidem zwangsläufig mit bearbeitet werden. Dieser pädagogische Gedanke der
Ganzheitlichkeit und Einheit von Theorie und Praxis dominiert den Diskurs der
geisteswissenschaftlich geprägten Pädagogik gegenüber der sozialwissenschaftlichen Annahme der Differenz,11 der Ausgangspunkt dieser Arbeit sein
soll. Denn der pädagogische Versuch der Vermittlung zwischen Theorie und
Praxis, hier meist verstanden als der Versuch der Vermittlung zwischen Wissenschaft und Berufspraxis oder Unterrichtshandeln, erlangt so häufig den Status des „Kernproblem[s] der Lehrerausbildung“.12 Die Vermittlung von Theorie
und Praxis wird hier als besonders notwendig erachtet. HEDTKE entdeckt hier
sogar eine „besondere Dringlichkeit etwa im Unterschied zur hochschulischen
Ausbildung von Betriebswirten, Volkswirten oder Chemikern.“13
Angesichts des schon lange bearbeiteten Problems ist, so die erste These dieser Arbeit, eine sozialwissenschaftliche Neuinterpretation des Verhältnisses auf
Basis der neueren Wissensverwendungsforschung notwendig. Auf Basis der
Ergebnisse dieses sozialwissenschaftlichen Zugangs soll sich den Möglichkeiten der Relationierung im Sinne des In-Beziehung-Setzens der unterschiedlichen Wissensbestände genähert werden. Hierzu wird auf Basis der Theorie der
Strukturierung von GIDDENS nach der Bedeutung der Hochschuldidaktik für die
wissenschaftliche Lehrerbildung gefragt. Die zweite These dieser Arbeit ist,
dass über die dominanten sozialen Praktiken in Wissenschaft und Beruf, des
Lehrens/Unterrichtens nämlich, eine Relationierung der Wissensbestände bereits in der Lehrerausbildung an der Hochschule begonnen werden und so bereits durch die Hochschule ein Beitrag zur Professionalisierung der Lehramtsstudierenden geleistet werden kann.
Dieser Ansatz soll zunächst in einer kritischen Reflexion des Konzeptes der
„Theorie-Praxis-Vermittlung“ entwickelt werden (Kap. 2). Dazu wird das Verhältnis unklarer Zuschreibungen und Konstruktionen dieses Grundproblems der
Erziehungswissenschaft hinterfragt und seine Unschärfen verdeutlicht. Ausgehend von dieser kritischen Auseinandersetzung wird dann (Kap. 3) als Alternative die Vorstellung von strukturellen, nicht vermittelbaren Unterschieden zwischen Wissenschaftswissen (Theorie) und Handlungswissen (Praxis) näher
beleuchtet und konkretisiert , v.a. auch im Hinblick auf das Verhältnis der beiden Wissensformen und die Bedeutung ihrer Relationierung für den Professionalisierungsprozess. Im nächsten Schritt (Kap. 4) werden dann die dem Begriffspaar zugeschriebenen Organisationen Hochschule (Theorie) und Schule
(Praxis) auf ihre Gemeinsamkeiten in Form gemeinsamer sozialer Praktiken
10
11
12
13
vgl. Hilber, Walter (1978): Die Verbindung von Theorie und Praxis in der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrer bedeutet Berufsorientierung. In: Wasem, Erich (Hrsg.): Von
der Theorie zum Schulalltag. Freiburg i. Br.: Herder (Herderbücherei Pädagogik), S. 4452, hier: S. 44.
vgl. Hedtke 2000: 70.
Hedtke 2007: 25.
Hedtke 2000: 76.
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untersucht. Anschließend (Kap. 5) sollen die Ergebnisse bezüglich sozialer
Praktiken im Hinblick auf ihre Bedeutung für Relationierung und Hochschuldidaktik interpretiert werden. Abschließend (Kap. 6) werden die Ergebnisse der
Arbeit zusammengefasst und ein Ausblick bezüglich der Idee der Relationierung gewagt.
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2. Das Theorie-Praxis-Verhältnis der Lehrerbildung:
Unschärfen und Probleme
Die Bearbeitung des Theorie-Praxis-Verhältnisses14 als pädagogisches Grundproblem und damit auch als Problem der Lehrerausbildung, welche insbesondere durch die geisteswissenschaftliche Pädagogik fortwährend erfolgt, unterliegt,
v.a. aus der Sicht und auf Grundlage von Erkenntnissen der neueren Wissensverwendungsforschung, einer fragwürdigen Interpretation dieses Verhältnisses
als Vermittlungsproblem. Für die Lehrerausbildung steht hier die Bestimmung
dieser Beziehung im Fokus der Diskussion. Dabei unterliegt diese Zuspitzung,
wie W ILDT feststellt, einer „anscheinend naturwüchsige[n] Folgerichtigkeit“.15
Der Diskurs ist dabei gekennzeichnet von einer bemerkenswerten, deja-vuartigen Wiederkehr der Argumente.16 So wird immer wieder die Realitätsferne
der wissenschaftlichen Theorie gegenüber der Konkretheit des schulischen Alltags beklagt sowie die damit verbundene Untauglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis als Anleitung zum pädagogischen Handeln. Dabei wird auch moniert,
dass die fachliche Ausdifferenzierung der Wissenschaft an Schule und Unterricht vorbeiführt. Wissenschaftliches Wissen wird dabei in erster Linie zur Legitimation von Alltagsroutinen verwendet, wobei die Probleme der pädagogischen
Praxis nur marginal von der Wissenschaft wahrgenommen werden.17 Der Lehrerbildung wird dabei eine Schlüsselrolle in der Vermittlung von Theorie und
Praxis zugeschrieben.
Warum aber die Interpretation als Vermittlungsproblem aus sozialwissenschaftlicher Sicht problematisch ist, soll im folgenden Kapitel aufgezeigt werden. Dabei wird die Terminologie des Diskurses insofern übernommen, als Theorie mit
Wissenschaft und Universität und Praxis mit Unterrichtspraxis und Schule
gleichgesetzt werden.18
Dazu sollen zunächst (Kap. 2.1) einige der insgesamt eher wenigen empirischen Befunde zur Qualität der Lehrerausbildung im Hinblick auf das Verhältnis
von Theorie und Praxis vorgestellt werden, um anschließend (Kap. 2.2) das
Konzept des Theorie-Praxis-Verhältnisses als Vermittlungsaufgabe in mehreren
Dimensionen kritisch zu beleuchten. Abschließend (Kap. 2.3) soll auf Basis dieser Erkenntnisse eine Entwicklungsaufgabe skizziert werden.
14
15
16
17
18
vgl. hierzu als neuere Publikationen Hoffmann, Nicole; Kalter, Birgit (Hrsg.) (2003): Brückenschläge. Das Verhältnis von Theorie und Praxis in pädagogischen Studiengängen.
Münster, Westf.: LIT-Verl. (Erziehungswissenschaft, 54); Schulz, Dieter (Hrsg.) (1999):
Lehrerbildung in der öffentlichen Diskussion. Neuzeitliche Gestaltungsformen in Theorie
und Praxis. Neuwied: Luchterhand (Praxishilfen Schule: Pädagogik).
Wildt, Johannes (1996): Reflexive Lernprozesse. In: Hänsel, Dagmar; Huber, Ludwig
(Hrsg.): Lehrerbildung neu denken und gestalten. Weinheim: Beltz (Beltz grüne Reihe),
S. 91-107, hier: S. 91.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. ebd.: a.a.O.
Diese Verkürzung wird dann in den Abschnitten 2.2 und 2.3 aufgegriffen und kritisiert.
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2.1 Empirische Befunde
Obwohl sich das Theorie-Praxis-Verhältnis als Kernproblem darstellt, sind die
empirischen Befunde eher überschaubar,19 geben aber Aufschluss über die
Genese des empfundenen Vermittlungsproblems und die Konjunktur dieses
Themas in der Lehrerausbildung.
Studierende empfinden den Praxisbezug als entscheidendes Element des Theorie-Praxis-Verhältnisses grundsätzlich als defizitär.20 Sie fühlen sich schlecht
vorbereitet auf den Umgang mit Lern- und Verhaltensproblemen und interkulturell heterogenen Klassen und den Möglichkeiten der Disziplinierung; Befunde,
die sie im Bereich ihres Fachwissens, im Sinne fachwissenschaftlicher Anteile
im Studium, nicht erheben.21 Dies zeigt, dass Lehramtsstudierende von ihrem
Studium in besonders hohem Maße eine Ausstattung mit sicherem Handlungswissen erwarten, wohingegen aber die theoretische Ausbildung an der Universität gleichzeitig als „Schikane“22 empfunden wird. Der Bedarf nach handlungspraktischem Wissen folgt dabei der Studienmotivation vieler Lehramtsstudierender: Aus ihrem Selbstverständnis als gute Lehrer entsteht ein besonderes
Bedürfnis danach zu erfahren, welche didaktischen und methodischen Arrangements in der Schule funktionieren.23 Damit erlangt die Frage danach, what
works (OELKERS) eine zentrale Bedeutung für die Bewertung des Studiums
durch die Studierenden.
Die vorhandenen Praxisanteile des Studiums, i.d.R. in Form von klassischen
Praktika oder Schulpraktischen Studien, werden häufig als Fremdkörper empfunden, v.a. wegen ihres fehlenden Anschlusses an die theoretischen Studieninhalte.24 Diese Kritik an der Anschlussfähigkeit wissenschaftlich-theoretischen
Wissens sollte sich aber nicht so sehr als „Wissenschaftsfeindlichkeit“ verstehen lassen,25 sondern vielmehr als grundlegende Skepsis von Schul-Praktikern
und Studierenden.26 Für NAKAMURA ET AL. ist diese Skepsis auch ein Grund dafür, dass sich die Hochschulen unter dem Druck ihrer Lehramtsstudierenden
verstärkt der Vermittlung pädagogischen Wissens, i.S. von Handlungswissen,
annähern.27
Ungeachtet der Einstellung gegenüber wissenschaftlichem Wissen scheint es
dennoch so, dass die Praxis kaum Verwendungsnutzen für wissenschaftliche
Literatur erkennt und kaum Zugänge zu Forschung zu beobachten sind.28 Diese
Beobachtung schließt jedoch nicht aus, dass wissenschaftliches Wissen einen
Zugang zur Praxis hat, jedoch eher in Form strategischer Adaption zur Legiti19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
vgl. Hedtke 2007: 25.
vgl. Bohnsack 2000: 56.
vgl. Bohnsack 2000: 56, für bereits berufstätige Lehrer S. 60.
vgl. Radtke, Frank-Olaf (2006): Die Theorie kommt nach dem Fall. In: Nakamura, Yuka
(Hrsg.): Theorie versus Praxis? Perspektiven auf ein Missverständnis. 1. Aufl. Zürich:
Verl. Pestalozzianum, S. 73-88, hier: S. 74.
vgl. Oelkers 1999: 67.
vgl. Bohnsack 2000: 57.
vgl. ebd.: 61.
vgl. Nakamura, Yuka; Tröhler, Daniel; Böckelmann, Christine (2006): Pädagogische
Hochschulen zwischen Theorie und Praxis? In: Nakamura, Yuka (Hrsg.): Theorie versus
Praxis? Perspektiven auf ein Missverständnis. 1. Aufl. Zürich: Verl. Pestalozzianum , S.
7-18, hier: S. 15.
vgl. Nakamura 2006: a.a.O.
vgl. Oelkers 1999: 74.
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mation der eigenen Praxis. Sozial- und erziehungswissenschaftliche Wissensangebote werden so nur eher selektiv angeeignet und lediglich partikular in der
Praxis umgesetzt.29
Welchen Problemen diese Entwicklungen unterliegen und welche konzeptionellen Schwierigkeiten darauf beruhen, soll nun im Folgenden erläutert werden.
2.2 Das Theorie-Praxis-Verhältnis in kritischer Perspektive
Die o.g. empirischen Befunde in der Lehrerbildung geben in ihrer Struktur bereits erste Anzeichen für die Probleme, die sich aus der Konzeption des Theorie-Praxis-Problems als Vermittlungsaufgabe der Lehrerausbildung ergeben.
Offenkundig scheint die Vermittlung zwischen Inhalten des wissenschaftlichen
Studiums und der Tätigkeit in der Schule nur mäßig zu gelingen, was für ein
Verknüpfungsproblem spricht. Für die Hochschulen ergeben sich aus der Kritik
der Studierenden dilemmaartige Ansprüche, die in den bestehenden Strukturen
zu bearbeiten sind.30 So gibt OELKERS zu bedenken, dass der Wunsch nach
Inhalten wissenschaftlicher Lehrerausbildung auf Basis der Maxime what works
eben kein wissenschaftliches Hochschulstudium rechtfertigt, sondern vielmehr
auf eine Berufsausbildung abzielt. Hierbei wird unterschlagen, dass wohl jede
denkbare Form der Lehrerausbildung (z.B. seminaristische Berufsausbildung,
Ausbildung an Fachhochschulen und eben auch die an der Universität) ihre
„Transferlücken“ hat, übrigens ohne eine andere Zielerwartung, nämlich die des
„berufsfähigen Lehrers“ zu haben.31 Weiter wird unter anderem vernachlässigt,
dass Berufsausbildung immer eine überindividuell konzipierte, objektive Vorbereitung darstellt, während die Berufsfähigkeit eine individuelle Verknüpfung von
Wissensbeständen und Kompetenzen darstellt.32
Diese scheinbar dilemmaartigen Probleme rekurrieren ihrerseits auf zahlreiche
Unschärfen und Probleme auf unterschiedlichen Ebenen, die der Entwurf des
Theorie-Praxis-Verhältnisses mit sich bringt.
2.2.1 Makrostrukturelle Konzeption
Grundlegend gilt zu berücksichtigen, dass die Unterscheidung in Theorie und
Praxis eine theoretische Unterscheidung ist, mit der sich der Alltag von Seiten
der Wissenschaft konfrontiert sieht.33 Allein die, wenn auch wissenschaftlich
konstruierte, Unterscheidung der beiden Begriffe zeigt, dass beide unterschiedlich und voneinander getrennt sind.34 Hierbei ist zu berücksichtigen, dass im
Diskurs beiden Teilen des Wortpaares auch unterschiedliche Orte zugeschrieben werden: die Theorie wird organisatorisch der Hochschule als Teil des Wissenschaftssystems, die Praxis dagegen der Schule als Teil des Erziehungssystems zugerechnet.35 Aus dieser Verortung in der Gesellschaft ergeben sich
Konsequenzen für die Vermittlung. Theorie und Praxis sind damit Folge der ge-
29
30
31
32
33
34
35
vgl. Radtke 2006: 76f.
vgl. Oelkers 1999: 67.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Kurtz, Thomas (1997): Professionalisierung im Kontext sozialer Systeme. Der Beruf
des deutschen Gewerbelehrers. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 166.
vgl. Hedtke 2000: 69.
vgl. ebd.: a.a.O.
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sellschaftlichen Differenzierung36 und finden ihren Ausdruck in der Selbstreferentialität und operativen Geschlossenheit als gesellschaftliche Funktionssysteme.37 Daraus ergibt sich, dass Didaktiken und Unterrichtstechnologien, welche im Wissenschaftssystem verarbeitet werden, nur im Unterricht des Erziehungssystems Platz finden, wenn sie in den „Selbststeuerungsapparat des Interaktionssystems inkorporiert werden.“38 Im Interaktionssystem Schulunterricht
folgen diese dann aber nicht mehr wissenschaftlicher, sondern pädagogischer
Handlungslogik.39 Die systemlogischen Grenzen erfordern also zwangsläufig
Transformationsprozesse seitens des Professionellen.40 Die Eigenlogik der
Teilsysteme und die damit erforderlich werdenden Übersetzungsleistungen des
Professionellen sind es also auch, die auf individueller Ebene eine innere Beziehungs- und Bezugslosigkeit des Universitätsstudiums erzeugen.41 Angesichts der Systemgrenzen und der Eigenlogiken erweist sich die Diskussion des
Theorie-Praxis-Verhältnisses als problematisch, wie KURTZ feststellt:
„Demnach beruht die Diskussion des Verhältnisses von Sozialwissenschaft und Lehrerhandeln als einer besonderen Ausformung des
Theorie-Praxis-Problems auf der in system-theoretischer Perspektive
falschen Annahme, eine funktional bestimmbare Relation zweier
Systeme herstellen zu können, was daran scheitern muss, dass diese als selbstbezügliche Systeme sich wechselseitig nur nach der Logik ihrer je eigenen internen Unterscheidungen, Realitätsauffassungen und dem differenten Prozessieren von systemspezifischer Rati42
onalität aufeinander beziehen können.“
Insofern scheint es auch wenig entscheidend, ob wissenschaftlicher Sinn in der
Praxis fortgeschrieben wird, sondern vielmehr, ob seine Leistung für die Praxis
erkennbar ist.43 Schließlich kann systemfremdes Wissen nicht identisch in anderen Funktionssystemen reproduziert werden, so dass es, um Relevanz zu
entfalten, immer systemspezifisch umkontextualisiert, also an die „fremde“ Systemlogik und Sinnstruktur angepasst werden muss.44 Diese Übersetzungsleistung übersteigt die Vorstellung der einfachen Vermittlung erheblich: Es geht hier
nicht um eine Angleichung auf einer mittleren Ebene, wie der Begriff „Vermittlung“ suggeriert, sondern um die Übersetzung von Programmen in der Logik
eines Funktionssystems in die Logik eines anderen. Für den organisationellen
Kontext von Schule und Wissenschaft bedeutet dies, dass universitäres Wissens seitens der organisierten Erziehung in der Schule begrenzt und strukturell
angepasst wird.45
Hiermit lässt sich ein erstes Problem in der Bearbeitung des Theorie-PraxisVerhältnisses als Vermittlungsproblem festhalten: Theorie und Praxis, konnotiert mit Hochschule und Schule und damit Wissenschafts- und Erziehungssys36
37
38
39
40
41
42
43
44
45
Neben diesem systemtheoretischen Ansatz, der für eine strukturelle Differenz von Theorie und Praxis plädiert, existieren weitere Vorstellungen, die jeweils andere Verhältnisse
von Theorie und Praxis konstruieren. Vgl. hierzu: Hedtke 2007: 32f.
vgl. ebd.: a.a.O.
Kurtz 1997: 167.
vgl. Kurtz 1997: 167.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Bohnsack 2000: 65.
Kurtz 1997: 169.
vgl. ebd.: 170.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Hedtke 2000: 69.
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tem, unterscheiden sich grundsätzlich in Form unterschiedlicher Systemlogiken
und Programme. Beide sind dabei selbstreferentiell und autopoietisch. Die daraus resultierenden Unterschiede schließen aber nicht aus, dass spezifische
Beobachterverhältnisse des einen Funktionssystems auf das andere bestehen.46 Für das Theorie-Praxis-Verhältnis bedeutet dies aber schließlich, dass
sich die Programme nicht einfach vermitteln oder übertragen lassen, sondern
eine Übersetzung in die Logik des anderen Funktionssystems notwendig wird.
Die Schwierigkeiten, die aus dieser Notwendigkeit erwachsen, formulieren NAKAMURA ET AL. wie folgt:
„Praktiker klagen, die Theoretiker hätten keine adäquate Vorstellung
von Praxis, und Theoretiker bemängeln, die Praktiker nähmen keinen Anteil am wissenschaftlichen Fortschritt und entwickelten des47
halb ihre Praxis nicht weiter.“
2.2.2 Begriffliche Konzeption
Ein weiteres Problemfeld in der Konzeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses
liegt in der unscharfen Begriffsverwendung. HEDTKE fasst dieses Problem pointiert zusammen:
„Theorie und Praxis kann man nur dann vermitteln, wenn man einigermaßen genau weiß, was man vermitteln will, ob sich das im Prinzip vermitteln lässt, was man erreichen will, indem man es vermittelt,
48
und ob man es unter konkreten Bedingungen vermitteln kann.“
Dabei widerspricht schon allein der Terminus vom Theorie-Praxis-Verhältnis im
Singular der Realität, weil es eben viele Theorien und viele Praxen gibt.49 So
existiert faktisch kein „objektiver Ort“ für die Theorie oder die Praxis, da jeder
Ort sowohl Platz des einen und des anderen ist.50 Dabei gilt es aus soziologischer Sicht zu berücksichtigen, dass es sich bei dieser Konzeption um ein soziales Konstrukt handelt, welches der Legitimation von Innovationen oder der
Konservierung von Strukturen dient.51 Dabei ist es laut HEDTKE auffällig, dass
sich der Lehrerausbildungsdiskurs an der Praxis orientiert, so dass „Legitimationsdruck und Begründungszwang“52 auf der Seite der Theorie lägen. Diese
Konstruktion gründet auf einer für den deutschen Lehrerausbildungsdiskurs typischen defizitären Betrachtung, in der Wissenschaftsbezug vorherrscht und
Praxis- und Anwendungsbezug vernachlässigt werden. Aus dieser Konstruktion
erwächst schließlich die prominente Forderung, eine frühe Praxis zu etablieren,
um die „Praxisferne der Theorie“ zu überwinden.53 Dabei fällt die Argumentation
in diese Richtung eher einfach, da „,Praxisbezug’ als Erwartung (…) eine riskante Größe [ist], die leicht behauptet, aber nur schwer unter Beweis gestellt
werden kann.“54 Der Praxisbezug kann sogar normativ kommuniziert werden
und ist als solcher unstrittig.55 Der normative Anspruch des Praxisbezugs verschleiert jedoch, dass die Theorie-Praxis-Unterscheidung ebenso unscharf wie
46
47
48
49
50
51
52
53
54
55
vgl. Hedtke 2000: 70.
Nakamura et al. 2000: 7.
Hedtke 2007: 35.
vgl. Hedtke 2007: 29.
Nakamura et al. 2006: 12.
vgl. ebd.: a.a.O.
Hedtke 2007: 70.
vgl. Hedtke 2007: 28.
Oelkers 1999: 69 (Hervorhebungen im Original).
vgl. ebd.: a.a.O.
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beobachterabhängig ist: „,Theorie’ existiert auch auf der Praxisseite der Unterscheidung, ,Praxis’ prägt auch die Theorieseite der Unterscheidung.“56 Dabei
fällt insbesondere auf, dass je nach Zuschreibung des „Theoriegrades“57 von
sehr theoretisch bis sehr praktisch, der Grad an Praxisferne zunimmt und dies
jeweils die eine Ebene von der nächsten behauptet. So unterstellen jeweils das
Studienseminar der Hochschule, die Schule dem Studienseminar und die Umwelt des Erziehungssystems wiederum der Schule Praxisferne, wobei dies nicht
nur die nächst höhere, sondern alle darüber liegenden Ebenen in zunehmendem Maße betrifft. Diese Zuschreibungen der Theorienähe bei gleichzeitiger
Praxisferne werden durch eine ebenfalls beobachtbare Verengung des Praxisbegriffs zusätzlich verstärkt. Praxis bedeutet im Lehrerausbildungsdiskurs nämlich Berufspraxis, welche auf Schulpraxis als Unterrichtspraxis verkürzt wird
(vgl. Abb. 1). Die Bedeutung der
Berufstätigkeit selbst für die Ausbildung58 wird hierbei ebenso unterschlagen wie der Umstand, dass
sich Praktikumspraxis von Schulpraxis und auch Berufspraxis unterscheidet.59 Die Integration von
nichtschulischer Praxis wird damit
von vorne herein eher unwahrscheinlich, weil sich das Erziehungsproblem allein für die eigene
Praxis interessiert und auf die
Praktiken anderer Teilsysteme keinen direkten Zugang hat.60 Damit
erweist sich die Schulperspektive
in diesem Diskurs als entscheidender Bezugspunkt, indem sie die
Definitionshoheit über das Verständnis von Praxisbezug zu besitzen und zu pflegen scheint: „Wer
Praxisbezug sagt, meint meist
Schulpraxis und nicht Hochschul- Abbildung 1: Verengung des Praxisbezugs in der
praxis oder außerschulische Bil- Lehrerausbildung (Aus: Hedtke 2007: 62)
dungspraxis – schon der exkludierende Sammelbegriff ,außerschulisch’ zeigt die Dominanz der Schulperspektive.“61
Dabei bedingt die institutionelle Einbettung der Lehrerausbildung und das besondere Verhältnis zum Staat die Sonderrolle des Praxisbezugs in der Lehrerausbildung in mehreren Dimensionen.62 Historisch gesehen fordert die ursprünglich eher wissenschaftsferne Ausbildung der Volksschullehrer, welche
56
57
58
59
60
61
62
Hedtke 2007: 53.
Mit „Theoriegrad“ ist die Menge und Qualität an theoretischem Wissen gemeint, die die
Umwelt der entsprechende Ebene unterstellt.
vgl. Oelkers 1999: 70.
vgl. Hedtke 2007: 76.
vgl. ebd.: 78.
Hedtke 2007: 64; dazu auch in gleicher Weise Oelkers 1999: 70.
vgl. Hedtke 2007: 25, 68ff.
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nun an der Universität stattfindet, stärkeren Praxisbezug, um der Entwicklung
der Verwissenschaftlichung dieses Ausbildungsgangs entgegen zu wirken.63
Machtpolitisch gesehen, verfügt der Staat im Bereich der Lehrerausbildung im
doppelten Sinne über ein Monopol. Als (fast) exklusiv abnehmender Akteur auf
der Nachfrageseite, aber auch durch die staatlich organisierte Ausbildung auf
der Angebotsseite besitzt er die zentrale Deutungsmacht in diesem Sektor:
„Die institutionalisierte Mischung aus fehlendem Wettbewerb und
Marktmacht, politischer Macht sowie Beamtenstatus nutzen die
staatlichen Instanzen – d.h. aber nicht: die Schulen selbst – dafür, ihre spezifischen Vorstellungen von Schulpraxisbezug politisch und
64
administrativ durchzusetzen.“
Eine weitere Dimension der besonderen institutionellen Einbettung der Lehrerausbildung liefert die ökonomische Perspektive. Organisationen versuchen,
durch Homogenisierung Komplexität zu reduzieren und damit ihre Arbeit durch
Routinen zu vereinfachen. Die Etablierung anderer Praxisbezüge widerspricht
diesem organisationellen Grundbedürfnis. Das Ausbildungsziel „Berufsfähigkeit
als Lehrkraft“ erweitert zusätzlich diese Dimension. Möglichst früh „fertige“ im
Sinne von unterrichtenden Lehrern zu erhalten, verlangt die Ausweitung von
Praxisanteilen im Studium, um die Tätigkeit im bedarfsdeckenden Unterricht
schon im Referendariat früh zu ermöglichen.65
Angesichts der vielfältigen Ansprüche, mit denen sich die Bildungsadministration im Bereich der Lehrerbildung konfrontiert sieht, die aber nicht erfüllt werden
können, lassen sich an dieser Stelle organisationelle Heuchelei und symbolisches Handeln ausmachen.66 Die Bildungsadministration versucht mit diesen
Handlungen die divergenten Ansprüche innerhalb der Organisation aufzulösen.
Praktika dienen damit allein zur Sicherung der Legitimation, da die Organisation
selbst nicht an den Ergebnissen interessiert ist, was sich u.a. darin zeigt, dass
sie den Praxisbezug extern, d.h. als Aufgabe der Lehramtsstudierenden kanalisiert und eine Verzahnung mit der universitären Ausbildung nicht erfolgen
muss, was HEDTKE im Anschluss an BRUNSSON zugespitzt so formuliert:
„Sie [die Bildungsadministration, C.B.] handelt intern (action), d.h. in
der Produktion eindeutig ohne erfahrungsbasierten außer- schulischen Praxisbezug und präsentiert in der Kommunikation nach außen (talk) praxisorientierte Programmatiken und sym- bolische Praxisbezugpolitiken, die mit dem Handeln im Kern der Organisation in67
konsistent sind, kurz: sie institutionalisiert Scheinheiligkeit.“
Dadurch, dass die Bildungsadministration diesen Praxisbezug organisiert, wird
er zeitgleich auf Basis historischer, machtpolitischer und homogenisierender
Dimensionen entsprechend verengt. Als Teil symbolischen Handelns genügt es
der Bildungsadministration, wenn sie Praxisbezug über entsprechend verpflichtende Schulpraktika, also in Form von Unterrichtspraxis, herstellt. Die Verarbeitung der dabei gewonnenen Praxiserfahrungen obliegt dabei dem Individuum,
woraus eine relative Folgenlosigkeit für Lehrerausbildung, Lehrerarbeit und
Forschung entsteht, weil die Erfahrungen allein schulsystemintern gemacht und
63
64
65
66
67
vgl. Hedtke 2007: 68.
Hedtke 2007: 68.
vgl. Hedtke 2007: 68, 77.
basierend auf Brunsson, Nils (1994): The organization of hypocrisy. Talk, decisions and
actions in organizations. Reprinted. Chichester: Wiley, vgl. Hedtke 2007: 71.
Hedtke 2007: 75.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
11
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
individuell verarbeitet werden.68 Die Praktika bleiben so häufig in der Ausbildung isoliert, die Verbindung erfolgt allein durch die handelnden Personen.69
Dabei fällt gleichsam auf, dass auch die Berufseignung an sich auf Seiten des
Individuums festgestellt wird und bei der Beseitigung von Defiziten auf spätere
Ausbildungsabschnitte verwiesen wird.70 Die hohe Selbstkontrolle der Praxis
durch die Praxis korreliert dabei mit einem geringeren Ausmaß an fachlicher
und pädagogischer Begleitung seitens der Schule selbst.71
Als interessant erweist sich dabei auch die Betrachtung des Begriffs des Praxisbezugs an sich, gegenüber dem einfachen Begriff „Praxis“ wie OELKERS feststellt: „,Praxisbezug’ ist die Behauptung von Anschlussfähigkeit, aber wenn das
ein ernstes Kriterium sein soll, dann sind vermutlich nennenswerte Teile des
Ausbildungswissens folgenlos.“72
2.2.3 Theoriekonzeption
Eine weitere Unschärfe in der Konzeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses
liegt in einer naiven Auslegung des Theoriebegriffs. Theorie muss nicht notwendig praxisfern sein, auch wenn sich theoretisches Wissen nicht, wie oben
gezeigt, in klare Handlungsanweisungen umformulieren lässt. Theoretisches
Wissen wurzelt immer auch im praktischen Tun und bezieht sich darauf.73 Die
systemlogische Verarbeitung im Wissenschaftssystem widerspricht dem nicht.
Dabei gilt auch zu berücksichtigen, dass Handlungen (nicht nur) affektiv geschehen, sondern auf implizitem, nur bedingt explizierbarem Wissen beruhen.
Trotz der Tatsache, dass sich dieses implizite Wissen nur bedingt und nicht
immer auf Theorien oder Modelle stützt, kann es als intelligent bezeichnet werden.74 Das Verhältnis von Theorie und Handeln ist reziprok: Handeln bildet die
Grundlage für theoretische Konstrukte, seien es wissenschaftliche oder alltagstheoretische, und diese Konstrukte beeinflussen und informieren wiederum das
Handeln. Damit wird auch aus dieser Perspektive deutlich, dass eine Aufspaltung in Theorie und Praxis nicht haltbar erscheint.75
2.3 Zusammenfassung: Die Folgen der Unschärfe
Es erscheint also problematisch, von einer einfachen Übertragbarkeit und direkten Übersetzbarkeit von wissenschaftlichem Wissen in die Praxis auszugehen,
es erweist sich sogar als kontraproduktiv, weil die Schwierigkeiten die Auseinandersetzung mit diesem Problem behindern und somit die Etablierung „trägen Wissens“, also Wissens zum Bestehen von Prüfungen, fördert.76 Damit
einher geht die Ablehnung von Wissen, das der „bloßen Theorie“ zugeordnet
wird.77
68
69
70
71
72
73
74
75
76
77
vgl. ebd.: 72.
vgl. ebd.: a.a.O. , Oelkers 1999: 71.
vgl. Oelkers 1999: 70.
vgl. Hedtke 2007: 71.
vgl. Oelkers 1999: 71, Hervorhebungen im Original.
vgl. Nakamura 2006: 10.
vgl. Nakamura 2006: 10.
vgl. ebd.: 12.
vgl. ebd.: 8.
ebd.: a.a.O.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
12
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Vor dem Hintergrund vielerlei begrifflicher, struktureller und systematischer Unschärfen scheint es erforderlich, die Idee der Vermittlung von Theorie und Praxis zugunsten anderer Konzeptionen aufzugeben.
Dabei muss festgehalten werden, dass eine bedingungslose Anwendung von
wissenschaftlichem Wissen in der Praxis nicht möglich erscheint und die Problematisierung in dieser Form nicht den Kern des Problems trifft: Statt einem Defizit sollte also von einer grundlegenden Differenz ausgegangen werden.78 Das
in Kapitel 2.1 aufgeworfene Problem der selektiven Aneignung wissenschaftlichen Wissens macht statt einer „situationsexternen Aneignung“79 eine angemessene Umkontextualisierung nötig.80 Zur Neukonzeptionierung der Lehrerbildung müssen die Bedingungen einer solchen Umkontextualisierung oder Transformation wissenschaftlichen Wissens in Handlungswissen transparent gemacht und die Differenz von Theorie und Praxis aufgedeckt und verständlich
gemacht werden.81
Dabei wird es notwendig einen Perspektivwechsel vorzunehmen: Anstatt die
Transformation von der Wissenschaftsseite, dem vermeintlichen Sender des
wissenschaftlichen Wissens also, aus zu denken, sollte die autonome Aneignung des Empfängers in den Mittelpunkt des Interesses rücken:
„Der Rezipient nimmt die Transformation selbst vor und baut das
wissenschaftliche Wissen nach Maßgabe seiner eigenen Motive,
Erfahrungen und Interessen und der organisatorisch vorgefundenen Möglichkeiten oder ihm aufgenötigten Einschränkungen in seinen eigenen, komplex aufgebauten, institutionalisierten Wissens82
haushalt ein.“
Wie diese Neukonzeption des Theorie-Praxis-Verhältnisses auf Basis einer sozialwissenschaftlichen Sicht auf die relevanten Wissensbestände passieren
kann, soll im nächsten Kapitel aufgezeigt werden.
78
79
80
81
82
vgl. Bohnsack 2000: 78f.
ebd.: 80.
vgl. ebd.: a.a.O., vgl. Kurtz 1997: 170.
vgl. Bohnsack 2000: 82.
Radtke 2006: 76.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
13
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
3. Wissensverwendung statt Dilemmabearbeitung: Der sozialwissenschaftliche Blick auf ein pädagogisches Grundproblem
Wer die Idee der Theorie-Praxis-Vermittlung als pädagogisches Grundproblem
konzeptionell kritisiert, muss Alternativen dazu anbieten. Dabei erscheint es
notwendig, die Perspektive zu wechseln, weil sich eine Bearbeitung des Problems in den unklaren Dimensionen des Theorie-Praxis-Begriffs, wie eben gezeigt, als schwierig erweisen kann.
Die Sozialwissenschaften, genauer gesagt die neuere sozialwissenschaftliche
Wissensverwendungsforschung, liefern einen solchen Perspektivwechsel, indem sie der Frage nachgehen, welche unterschiedlichen Typen von Wissen
existieren und wie deren Verhältnis zu bestimmen und zu beeinflussen ist. Um
sich diesem Angebot eines Alternativkonzepts zu nähern, sollen zunächst zwei
Zwischenschritte zur Verdeutlichung der Problematik eingelegt werden. Im ersten Schritt (Kap 3.1) soll angesichts des neuen Fokus „Wissen“ eine sozialwissenschaftliche Konzeption von Wissenstypen statt der Theorie-PraxisDichotomie vorgestellt werden. Im zweiten Schritt (Kap. 3.2) werden dann zentrale wissensbezogene Anforderungen an die Lehrerausbildung unter Berücksichtigung der vorgestellten Wissenstypen formuliert, um dann im dritten Schritt
(Kap. 3.3) das In-Beziehung-Setzen der Wissensformen als Beitrag zur Professionalisierung der Lehrertätigkeit zu thematisieren.
3.1 Differenz statt Defizit: Wissenstypen statt Theorie und Praxis
Die Annahme einer grundlegenden Differenz83 zwischen Wissenschafts- und
Erziehungssystem und den damit verbundenen Handlungsweisen erfordert es,
beim Anspruch einer Neukonzeption auf Basis von Wissenstypen, die Eigenheiten der jeweiligen Wissensbestände ins Auge zu fassen, um der Unschärfe des
Theorie-Praxis-Verhältnisses eine trennschärfere Konzeption entgegenzusetzen. Dabei soll auch die besondere Rolle erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Wissens für die Lehrerausbildung beleuchtet werden.
Das im Wissenschaftssystem produzierte Wissen folgt konsequenterweise der
Systemlogik der Wissenschaft. Damit orientiert es sich „am durch Theorie- und
Methodenprogramme kontrollierten Wahrheitskriterium“.84 Es lässt sich somit
nach RYLE als ein der Situation enthobenes, implizites Begründungswissen im
Sinne eines knowing that verstehen, welches eng mit der Fähigkeit verbunden
ist, in Rückschau oder in Voraussicht Rechenschaft abzulegen.85 Es ist gekennzeichnet, so GRAMMES im Rückgriff auf POPPER, „durch eine spezifische
83
84
85
Diese Annahme ist auch in der Professionsforschung nicht unumstritten, was lt. Wildt
(2005:183) dazu führt, dass der unklare Prozess des In-Beziehung-Setzens in die Lehrpersonen selbst hineinverlagert wird. Zu anderen Konzepten vgl. Hedtke 2007: 32f., vgl.
Neuweg, Georg Hans (2004): Figuren der Relationierung von Lehrerwissen und Lehrerkönnen. In: Hackl, Bernd (Hrsg.): Zur Professionalisierung pädagogischen Handelns. Arbeiten aus der Sektion Lehrerbildung und Lehrerbildungsforschung in der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen. Münster: LIT (Österreichische Beiträge zur Bildungsforschung, 1), S. 1-26.
Wildt, Johannes (1996): Reflexive Lernprozesse. In: Hänsel, Dagmar; Huber, Ludwig
(Hrsg.): Lehrerbildung neu denken und gestalten. Weinheim: Beltz (Beltz grüne Reihe),
S. 91-107.
vgl. Kurtz 1997: 176.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Form der Kommunikation: eine Methodologie intersubjektiver Wahrheitssuche
durch systematische Reflexion und ,institutionalisierten Zweifel und Kritik’.“86
Dem gegenüber steht das Handlungswissen,87 welches dazu dient, nach den
gültigen Regeln der Praxis in dieser und auf Basis der dort herrschenden Anforderungen an das Lehrerhandeln angemessen zu handeln.88 RYLE wiederum
bezeichnet dieses Wissen als Können, mit dem intuitiv und routiniert zu Entscheidungen gelangt wird oder dazu gelangt werden kann.89 Dabei zeichnet
sich dieses knowing how dadurch aus, dass es praxismäßig relevant und situativ ist.
Die Frage nach den Wissensformen90 statt der Einheit von Theorie und Praxis
beantwortet so aber primär nicht die Frage nach dem Verhältnis. Schon gar
nicht, wenn konstruktivistisch betrachtet aufgrund unterschiedlicher Systemlogiken und Wissensformen kein situationsbezogener Zugriff auf die eine oder andere Wissensform möglich erscheint.91 Beide Wissensformen stehen sich also
gegenüber, wirken aber komplementär.92 Die Begegnung von Theorie und Praxis, Wissenschafts- und Handlungswissen schafft also eine „Wirklichkeit sui generis“,93 wie DEWE ET AL. feststellen. Dieses Konzept beinhaltet in seiner Form
per se also noch keine Vermittlung, der Vorteil des klarer gefassten Beobachterverhältnisses, wie ihn beispielsweise HEDTKE für das Theorie-PraxisVerhältnis vermisst,94 liegt aber nach DEWE ET AL. auf der Hand: „Wissenschaftliche Erkenntnis und praktisches Handlungswissen beobachten sich gegenseitig
und können die blinden Flecken der jeweils anderen Perspektive aufdecken.“95
Ein weiterer Vorteil der Konzeption von Wissensformen liegt weiter in der trennschärferen Zuordnung von Organisationen und Phasen der Lehrerausbildung.
Überblickartig lässt sich die Trennung wie folgt zusammenfassen:
86
87
88
89
90
91
92
93
94
95
Grammes, Tilman (1998): Kommunikative Fachdidaktik. Politik–Geschichte–Recht–
Wirtschaft. Opladen: Leske+Budrich (Schriften zur politischen Didaktik, 25), S. 86.
Kurtz verwendet für dieses Wissen den Begriff des „Entscheidungswissens“, da in seiner
Auffassung professionelles Erziehen vor allem entscheiden lernen bedeutet. Vgl. Kurtz
1997: 176.
vgl. Wildt 1996: 96.
vgl. Kurtz 1997: 176.
Grammes (1998: 84) verweist darauf, dass es sich bei der Beschreibung der Wissensformen um eine rein analytische Unterscheidung handelt. Eine Wissensform lässt sich
auch in den Kategorien der anderen Formen beschreiben.
vgl. Dewe, Bernd; Ferchhoff, Wilfried; Radtke, Frank-Olaf (1992): Das „Professionswissen" von Pädagogen. Ein wissenstheoretischer Rekonstruktionsversuch. In: Dewe, Bernd
(Hrsg.): Erziehen als Profession. Zur Logik professionellen Handelns in pädagogischen
Feldern. Opladen: Leske+Budrich , S. 70-91, hier: S. 84.
vgl. ebd.: 80.
ebd.: 79.
vgl. Hedtke 2007: 53.
Dewe et al. 1992: 79.
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Praktiken statt Praxis
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Geltungsbereich
Wissenschaft
Praxis
Wissensformen
wissenschaftliches
Wissen
Handlungswissen
Urteilsformen
Wahrheit
Angemessenheit
Lernort
Hochschule
Schule in Verbindung
mit begleitendem Studienseminar
Studienstruktur
1. Phase
2. Phase
Bildungsaufgabe
Aneignung von Fachwissen
Einübung in die Regeln
der Praxis
Anleitung durch
Wissenschaftler
Praktiker
Reformstrategie
innere Integration
äußere Integration
Abbildung 2 Wissenschaft und Praxis (Aus: Wildt 1996: 97)
Auch die sozialwissenschaftliche Wissensverwendungsforschung, die sich seit
den 1960er-Jahren mit dieser Thematik befasst, bediente sich ursprünglich der
Idee des einfachen Wissenstransfers, geprägt von einer „naiven Transfermentalität“.96 Dabei wurde dem wissenschaftlichen Wissen unterstellt, dass es eine
höhere Rationalität als das Handlungswissen besäße und sozialwissenschaftlichem Wissen die Aufgabe zufiele, das Rationalitätsgefälle zwischen wissenschaftlichem Wissen und praktischen Entscheidungsprozessen auszugleichen
(vgl. Abb. 3). Dies sollte dadurch geschehen, dass sozialwissenschaftliches
in
Wissen97
gesellschaftlichen Praxisfeldern
verwendet
wird
und dadurch
das Rationalitätsniveau der
Praxis angehoben wird.98 Abbildung 3: Transfermodell (Aus: Dewe et al. 1992: 71)
Wissenschaftliches Wissen sollte also die Basis für praktisches Handeln bilden. Die Transferidee folgte aber der, wie sich empirisch erwies, falschen Annahme, dass sich
wissenschaftliches Wissen als „parzellierte Information speichern und im handlungspraktischen Kontext der Schule situativ verausgaben“99 ließe, was allerdings nicht dem Umstand Rechnung trägt, dass wissenschaftliches Wissen
96
97
98
99
ebd.: 71.
vgl. hierzu auch Radtke, Frank-Olaf (1996): Wissen und Können. Die Rolle der Erziehungswissenschaft in der Erziehung. Opladen: Leske+Budrich (Studien zur Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Bd. 8).
vgl. Dewe et al. 1992: 71.
ebd.: 72.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
16
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
nicht gleichbedeutend mit besserem Handeln sein kann. Dem steht vor allem
der generali-sierende, unspezifische und situations-enthobene Charakter entgegen, der es für konkrete Situationen gar nicht oder nur schwer anwendbar
macht.100
Dieses Modell konnte schließlich durch die Idee der Wissenstransformation abgelöst werden. Damit wurde zugleich ein Perspektivwechsel vollzogen: Statt
den Transfer von der Wissenschaft aus zu denken, setzt die Wissenstransformation beim Verwender an. Dabei wird gleichzeitig die Idee der höheren Dignität wissenschaftlichen Wissens aufgegeben und die Bedeutung von subjektiven
Theorien und implizitem Wissen betont.101 Im Rahmen dieser Reformulierung
des Theorie-Praxis-Problems als Theorie-Theorie-Problem, stellt sich auch die
Frage, wie Akteure mit diesen Wissensbeständen umgehen und in welchem
Verhältnis diese zueinander stehen. Empirisch lässt sich eine selektive Verarbeitung sozialwissenschaftlicher Wissensbestände im Handeln der Akteure
feststellen, wobei sich vier Formen der Selektion unterscheiden lassen.102 Bei
der Selektionsform der Abschirmung wird sozialwissenschaftliches Wissen nur
insofern verwendet, wie es zur Legitimation der eigenen Praxis beitragen kann.
Im Rahmen einer Umfunktionierung wird das Wissen an die bestehende Praxis
angeglichen und damit in Einklang gebracht. Außerdem lässt sich die inkontingente Abspaltung von Wissensbeständen beobachten. Normativ vervollständigt
eine vierte Variante, die produktive Auseinandersetzung, die Selektionsformen.
Hier wird wissenschaftliches Wissen systematisch aufgegriffen und die eigene
Praxis damit konfrontiert.103 Die Ergebnisse der neueren Wissensverwendungsforschungen fassen DEWE ET AL. schließlich so zusammen:
„Es wird davon ausgegangen, dass der Umgang mit den wissenschaftlichen Wissensangeboten jeweils spezifischen, situativpragmatischen Regeln folgt, wobei im Adaptionsprozess wissenschaftliches Wissen erst durch den Handelnden selbst aktiv in prak104
tische Problemlösungsweisen und -situationen eingeführt wird.“
Diese systemtheoretisch und konstruktivistisch geprägten Konzeptualisierungen
von Wissensformen liefern die Grundlage für eine dritte Wissensform, die aus
der Begegnung von wissenschaftlichem und handlungspraktischem
Alltagswissen erfolgt.105 Wissenschaftliches Wissen und Handlungswissen bilden in ihrer Begegnung in dieser Vorstellung eine
eigene „Wirklichkeit sui generis“,
bleiben aber nebeneinander stehen, stehen sich diametral gegenüber und lassen sich nicht ineinan- Abbildung 4: Professionswissen zwischen
der auflösen.106 Dieses Verhältnis Wissenschafts- und Handlungswissen. Aus:
und das Verständnis der Verwen- Dewe et al. 1992: 78.
100
101
102
103
104
105
106
vgl. Dewe et al. 1992: 72.
vgl. ebd.: 74f.
vgl. ebd.: 76.
vgl. ebd.: a.a.O.
ebd.: 78.
vgl. Dewe et al. 1992: 78.
vgl. ebd.: 79, vgl. Kurtz 1997: 173.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
17
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
dung als eigener Handlungstyp macht die Konzeptualisierung einer eigenen,
hybriden Handlungsebene nötig, die zwar beide Wissensebenen in Beziehung
setzt, die Funktionsbereiche aber klar trennt107 (vgl. Abb. 4): die Ebene des Professions- oder Begründungswissens.108
Dieses Professionswissen ist nicht vom wissenschaftlichen Wissen abgeleitet,
sondern Bestandteil des praktischen Handlungswissens, das bei pädagogischen Professionen eine besondere, entlastende Wirkung durch Routinen und
Orientierung ermöglicht.109 Es handelt sich dabei um eine spezifische Form des
Fachwissens, welches sich aus der Berufstätigkeit und der Ausbildung dazu
entwickelt und ausdifferenziert.110 Dabei unterliegen die darauf gründenden Fähig- und Fertigkeiten nicht der Wahr/Falsch-Unterscheidung der Wissenschaft,
sondern dem Angemessenheitskriterium: „Man bewährt sie dadurch, dass man
in stets neuen Situationen sachgerecht agiert und reagiert.“111 Seine Umsetzung orientiert sich an institutionellen und organisatorischen Strukturen und der
Profession, welche eine (pädagogische) Idee zum kommunikativen Geschehen
macht.112 Mit der Konzeption des Professionswissens wird auch die Bedeutung
sozialwissenschaftlichen Wissens relativiert, indem es nicht als Rezeptologie
handlungsleitend verstanden wird, sondern seine Domäne in der sinnadäquaten
Deutung und Bearbeitung von Problemen hat.113 KURTZ betont, dass es sich bei
der Neufassung der Bedeutung wissenschaftlichen Wissens nicht um einen Bedeutungsverlust handelt, sondern dadurch die Leistung des Erziehungssystems
hervor gehoben wird:
„Hier kann natürlich nicht die Bedeutung wissenschaftlichen Wissens
bestritten werden, aber hervorgehoben werden soll doch, dass Wissen zum einen nicht nur im Funktionssystem Wissenschaft produziert wird und dass es in der Gesellschaft nicht nur um neues und
immer besseres Wissen gehen kann. Mindestens ebenso wichtig ist
es nämlich, das notwendige Wissen auch zu vermitteln – zwischen
der Form der Wissensgenerierung und der Wissensverwendung
steht die Form der Wissensvermittlung: eine Leistung, auf die sich
das Erziehungssystem mit seinen Bildungsprofessionen spezialisiert
114
hat.“
Über den Zwischenschritt der Analyse der Bedeutung des Wissens für die Lehrtätigkeit soll später der Prozess der Relationierung und seine Bedeutung für die
Professionalisierung näher beleuchtet werden.
107
108
109
110
111
112
113
114
vgl. Dewe et al. 1992: 79.
Während Kurtz (1997: 176) den Wissenstypus aus seiner Funktion im organisationellen
Kontext der Schule (Begründungs- und Legitimationsfunktion) heraus als Begründungswissen konzipiert, bezeichnen Dewe et al. (1992: 84) ihn aus seiner Bedeutung für das
professionelle Handeln als Professionswissen. Um den zentralen Prozess der Professionalisierung zu betonen, wird hier im Folgenden der Begriff des Professionswissens verwendet.
vgl. Dewe et al. 1992: 83.
vgl. Grammes 1998: 90.
Dewe et al. 1992: 84.
vgl. Grammes 1998: 90.
vgl. Kurtz 1997: 180.
Kurtz, Thomas (2007): Bildungsprofessionen und Wissen. In: Schützeichel, Rainer
(Hrsg.): Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung. Konstanz: UVK-Verl.-Ges.
(Erfahrung-Wissen-Imagination, Bd. 15), S. 505-511, hier: S. 510.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
3.2 Anforderungen an die Lehrerausbildung: Die Funktionen des Wissens
Der Anspruch der (universitären) Lehrerausbildung besteht – kurz gesagt – darin, die Studierenden zu urteilsfähigen Professionellen auszubilden, die in der
Lage sein sollen, ihre Handlungen mit Hilfe wissenschaftlichen Wissens zu begründen.115 Wissenschaftliches Wissen soll im Erziehungssystem dabei v.a.
zwei Funktionen erfüllen: Legitimation und Reflexion.116 Für den Bereich der
Legitimation lässt sich dabei ein doppelter Kontext von Operationen beobachten: Neben der operativen Ebene des Unterrichts, dem Alltagsgeschäft quasi,
muss das Erziehungssystem zeitgleich klassifizieren und selektieren. Wissenschaftliches Wissen dient bei dieser Aufgabe dazu, die bereits abgelaufenen
Handlungen zu begründen.117 Diese ex-post-Bearbeitung dient insbesondere
der Darstellung nach außen, nicht der Entscheidungsfindung an sich: Verkürzt
bedeutet das also sense making statt decision making.118 Die Funktion, die wissenschaftliches Wissen im Hinblick auf die Reflexion entfaltet, gründet sich auf
Wissen als zentralem Bestandteil des Professionalitätskonzepts. Die Konstruktion des Professionellen entsteht dabei in der Summe von Wissen und Können
und letztendlich deren Kombination.119 HEDTKE weist dabei dem wissenschaftlichen Wissen im Erziehungssystem außerdem die Funktion der Innovation
durch Irritation zu.120
Wissen bildet in Situationen pädagogischen Handelns außerdem die Basis für
pädagogische Entscheidungen: pädagogisches, fachdidaktisches und fachwissenschaftliches Wissen wird durch das in der Berufspraxis erworbene Wissen
zu einer „situativ relevanten Entscheidungskompetenz verknüpft.“121 Wissenschaftliches Regelwissen erhält dabei handlungstheoretisch betrachtet den Status von Vorkenntnissen, bildet aber selbst nicht die Basis für gelingende Handlungspraxis.122 Der Weg vom Erklärungswissen der Universität zum Entscheidungswissen in Praxiskontexten kann dabei nicht linear erfolgen, weil sich beide Wissenstypen eben diametral gegenüber stehen.
Dabei fällt auch auf, dass pädagogische Entscheidungen strukturell andere
Merkmale aufweisen, als es für wissenschaftliche Entscheidungen gilt:123 „Er
[der Lehrer, C.B.] muss sich immer wieder entscheiden und im Gegensatz zur
Wissenschaft ist eben eine Nicht-Entscheidung in der Unterrichtssituation auch
115
116
117
118
119
120
121
122
123
vgl. Nakamura et al. 2006: 7.
vgl. Radtke 2006: 82. Bei Hedtke (2000: 81) werden diese Funktionen auf Systemebene
als Kompetenzen für die Lehrperson formuliert: Reflexions- und Beurteilungskompetenz.
vgl. ebd.: 84.
vgl. Radtke 2006: 84.
vgl. ebd.: a.a.O. Darüber hinaus weist Pfadenhauer (2003) dem Professionellen die besondere Notwendigkeit von Darstellungskompetenz zu: „Professionalität anzuzeigen bedeutet, glaubhaft seine Kompetenz für etwas darzustellen. Dies wiederum setzt zumindest eine bestimmte Kompetenz voraus: Darstellungskompetenz. Im allgemeinsten Sinne erscheint Professionalität somit als institutionalisierte Kompetenzdarstellungskompetenz."
vgl. Hedtke 2000: 80. Radtke (2006: 82) beschreibt hingegen die Funktion von Innovation
als problematisch, weil die Einheit von Ausbildung und Innovation zunehmenden Auflösungserscheinungen unterworfen ist: Ausbildung dient der Berufsvorbereitung und Innovation wird zur Daueraufgabe organisationeller Steuerung.
Kurtz 1997: 173.
Dewe et al. 1992: 84f.
Zur Unterscheidung zwischen den unterschiedlichen Wissensformen, vgl. Kap. 3.1
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
19
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
eine Entscheidung.“124 Dabei gilt es insbesondere auch, den Handlungsdruck in
der Unterrichtssituation zu berücksichtigen. Die Anwesenheit der Schüler zwingt
die Lehrperson zu raschen Entscheidungen, und das unabhängig der Qualität
der in der Lehrerausbildung vermittelten Wissensgrundlagen.125 Der Entscheidungszwang führt, im Rückgriff auf die Konzeption von Wissenstypen, insbesondere dazu, dass sozialwissenschaftliche Theorien bei einer NichtVerknüpfung der Wissensbestände bedeutungslos werden:
„In kritischen Situationen scheint es demnach so zu sein, dass das
Lehrerhandeln nicht auf sozialwissenschaftlichen Theorien, sondern
auf Erfahrungswissen aus dem beruflichen Alltag rekurriert, wobei
der Lehrer sich um so eher an seinen subjektiven Theorien orientiert,
126
desto schneller er sich in der Situation entscheiden muss.“
Untersuchungen von Lehrerentscheidungen haben gezeigt, dass im Handlungsvollzug selbst Wissen eine untergeordnete Rolle spielt.127 Vielmehr scheint
es sich beim Handlungsvollzug um eine intuitive Situationsdeutung mit anschließender routinehafter Reaktion zu handeln. Dabei fällt insbesondere bei
unproblematischen Situationen ein faktisches „Nebenbei-Erledigen“ auf, welches in Ausbildungskontexten nur schwer explizierbar bleibt.128 Nur dieses intuitive Bearbeiten und Erleben „normaler“ Situationen ermöglicht es schließlich,
dem hohen Tempo und der Dynamik der Unterrichtssituationen mitsamt ihrer
Komplexität auch gewachsen zu sein.129 Dies wird dadurch verschärft, dass
pädagogisches Handeln im Alltag dem „Problem der zielgerichteten Bewältigung einer weitgehend institutionell determinierten Abfolge von Lehr-LernSituationen“ unterliegt.130 DEWE ET AL. verwenden in diesem Kontext die Metapher des Sprechens als tacit knowledge: So ist Grammatik zwar Teil unseres
Alltags, wird aber erst nachträglich als solche rekonstruiert. Die Sprecher verfügen über ein komplexes System von Regeln und Schemata, welches erst im
Rahmen grammatischer Theoriebildung expliziert wird.131 Dabei muss auch der
kompetente Sprecher selbst nicht in Kenntnis dieser Regeln sein, um sie anwenden zu können. Übertragen auf pädagogische Handlungen bedeutet dies,
dass beim Lehrer der Habitus Teil einer gemeinsamen Berufskultur ist, der
handlungsdispositiv wirkt.132 Zur Steigerung der Handlungssicherheit werden
dabei Handlungs- und Deutungsmuster verwendet, die von Lehrern auf Schülergenerationen übertragen werden und dabei implizites Wissen übermitteln,
welches, ohne es zu kennen, kompetent verwendet wird.133 Die Übereinstimmung der Handlungs- und Deutungsmuster wird nachher innerhalb der Berufs-
124
125
126
127
128
129
130
131
132
133
Kurtz 1997: 173.
vgl. ebd.: 172.
Kurtz 1997: 173.
vgl. Neuweg, Georg Hans (2002): Lehrerhandeln und Lehrerbildung im Lichte des Konzepts impliziten Wissens. In: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 48, H. 1, S. 10-29, hier: S. 12.
vgl. Bohnsack 2000: 74.
vgl. Neuweg 2002: 12.
Dewe et al. 1992: 85.
vgl. ebd.: 86.
vgl. ebd.: 87.
vgl. ebd.: a.a.O. Das Verständnis der Handlungs- und Deutungsmuster als tradierte
handlungsleitende Momente von Unterrichtshandeln findet sich auch in der Giddens’schen Theorie der Strukturierung in Form sozialer Praktiken wieder (vgl. Kap. 4).
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
20
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
gruppe kommunikativ hergestellt, die Handlungssicherheit dabei durch nicht
mehr hinterfragbare Muster erhöht.134
Bei der Betrachtung der Anforderungen, die an den Lehrer im Unterricht gestellt
werden, fällt hier bereits auf, dass der Beziehung der Wissensbestände unterund zueinander besondere Bedeutung geschenkt werden muss. Entscheidend
hierfür wird der Prozess der Relationierung, der nun unter besonderer Berücksichtigung seiner Bedeutung für die Professionalisierung thematisiert werden
soll.
3.3 Relationierung von Wissensbeständen als Professionalisierung
Professionen erfüllen anforderungsreiche Tätigkeiten in den Funktionssystemen. Diese Tätigkeiten sind klassischerweise dadurch gekennzeichnet, dass
sie die anspruchsvolle Arbeit an Individuen enthalten und zugleich gesellschaftliche Zentralwerte wie Glauben, Gerechtigkeit, Erziehung und Gesundheit vermittelt werden.135 Die Professionellen erfüllen damit „monopolisierte Leistungsrollen des Funktionssystems“, indem sie in ihrem professionellen Handeln einen
besonderen Wissenskorpus innerhalb des Systems verwalten und eine Kontrollund Delegationsfunktion gegenüber anderen Berufen innerhalb des Funktionssystems erfüllen.136 Dabei bildet der kognitive Inhalt den Kern des Professionellen.
In seiner besonderen Handlungsstruktur ist der Professionelle gleichsam beiden
Urteilsformen – Wahrheit und Angemessenheit – verpflichtet (vgl. Abb. 5).137
Abbildung 5: Wissenschaft, Praxis und Profession (Aus: Dewe et al 1992: 82)
Empirisch treten die Professionen als Institutionalisierung der Relationierung
der Urteilsformen in Erscheinung:138
134
135
136
137
138
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Kurtz 2007: 506.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Dewe et al. 1992: 82.
vgl. ebd.: a.a.O.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
21
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
„Im professionellen Handeln begegnen sich wissenschaftliches und
praktisches Handlungswissen und machen die Professionalität zu
einem Bezugspunkt, an dem potentiell oben skizzierte Kontrastie139
rung und Relationierung beider Wissenstypen stattfinden kann.“
Professionalität symbolisiert dabei zugleich die Verknüpfung von Wahrheit und
Angemessenheit, bei der über den Umweg der Begründung der Weg vom Wissen zum Können beschritten wird.140 Professionalität beschreibt damit auch den
durch Lehrerbildung initiierten und in ihr stattfindenden Prozess des InBeziehung-Setzens von Wissenschaft und Praxis bzw. Wissenschafts- und
Handlungswissen, und damit zugleich den Weg vom Novizen zum Experten141
(vgl. Abb. 6).
Abbildung 6: Professionalisierung durch Lehrerbildung (Aus: Wildt 2005: 184)
Dadurch, dass Wissenschafts- und Handlungswissen komplementär zu verstehen sind, beobachten sich beide Wissensbestände gegenseitig und decken so
gegenseitig blinde Flecken auf.142 Das Können des Professionellen wird durch
wissenschaftliches Wissen somit um Reflexivität erweitert. Die Verarbeitung der
auftretenden Strukturdeutungen obliegt aber dem Professionellen selbst in seiner Autonomie.143
Wissenschaftliches Wissen erfüllt dabei in seiner Funktion als Deutungs- und
Reflexionsinstanz den zentralen Anspruch des Professionellen auf Autonomie
in Handlungssituationen.144 Die wissenschaftlichen Wissensbestände werden
dabei praktisch-kommunikativ in die tägliche Handlungsorganisation und Problemlösung eingebunden.145 Das alleinige Vorhandensein von Erklärungs-, also
Wissenschaftswissen, ist hierbei jedoch nicht ausreichend, weil grundsätzlich
die Schwierigkeit der technologischen Anwendung in Interaktionskontexten besteht. Stattdessen geht es um ein interpretatives Sinn- und Bedeutungsverste-
139
140
141
142
143
144
145
Dewe et al. 1992: 81.
vgl. Kurtz 1997: 177.
vgl. Wildt, Johannes (2005): Auf dem Weg zu einer Didaktik der Lehrerbildung? In: Beiträge zur Lehrerbildung, Jg. 23, H. 2, S. 183-190, hier: S. 183.
vgl. Dewe et al. 1992: 79.
vgl. ebd.: 80.
vgl. Wildt 1996: 92, vgl. Dewe et al. 1992: 81.
vgl. Dewe et al. 1992: 82.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
22
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
hen, welches situationsbezogenes Urteilsvermögen mit einschließt.146 KURTZ
beschreibt den Umgang mit sozialwissenschaftlichem Wissen im Lehrerberuf
als eine Form des ‚Umgangs mit Unsicherheit’, weil dieses Wissen das Alltagsverständnis mit Fremddeutungen aus einer Beobachterperspektive irritiert.147
Dieser Einsatz von Fremddeutungen schafft aber zugleich über die Fähigkeit,
die eigenen Entscheidungen zu hinterfragen, den eigentlichen Gewinn von sozialwissenschaftlichem Wissen in pädagogischen Kontexten.148
Unklar bleibt die Antwort auf die Frage, wie in der Person des Professionellen
die Relationierung von Wissensformen stattfindet und welcher Wissenshaushalte sie sich bei Entscheidungen und Begründungen letztendlich bedienen. Damit
erscheint der Professionelle weiter als „die black box der Relationierung und
Kontrastierung handlungstheoretisch ausdifferenzierter Wissenstypen, in die es
hineinzublicken gilt“.149
Bei allem Fokus auf die Person des Professionellen bleibt zu bedenken, dass
es sich beim pädagogischen Professionswissen nicht um einen individuellen
Gegenstand handelt:
„Vielmehr bedient sich der Handelnde bei der Entscheidungsfindung
bzw. der nachträglichen Begründung aus einer kollektiv erwirtschafteten Teilkultur bzw. aus einem berufsspezifisch bereitgestellten
Fundus. ,Pädagogisches Professionswissen’, sofern davon länger
die Rede sein kann, steht in diesem Sinne zwischen dem wissenschaftlichen und dem alltäglich-praktischen Wissen – es kennzeichnet den Modus der Relationierung des kognitiv Nicht150
Vermittelbaren.“
WILDT verweist darauf, dass in der Lehrerbildung prinzipiell die Aufgabe bzw.
Möglichkeit einer doppelten Relationierung von Wissensbeständen besteht.151
So wird die einfache Betrachtung der Relation von Wissenschaft und Schule
durch eine zweite Relation ergänzt. Diese Erweiterung der Perspektive macht
die Vorgänge im Wissenschaftssystem selbst zum Gegenstand der Relationierung: Die erweiterte Perspektive bezieht die hochschuldidaktische Praxis und
die subjektiven Theorien, die sich im didaktischen Handeln (oder vielmehr Erleben) an der Hochschule ergeben, mit ein (vgl. Abb. 7).152
146
147
148
149
150
151
152
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Kurtz 1997: 180.
vgl. ebd.: a.a.O.
Dewe et al. 1992: 83.
ebd.: 88.
vgl. Wildt 2005: 185.
vgl. ebd.: a.a.O.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
23
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Abbildung 7: Die doppelte Relationierung von Theorie und Praxis (Aus: Wildt 2005: 185)
Diese beiden Betrachtungspunkte liegen außerhalb der systemimmanenten
Selbstbeobachtung der Wissenschaft, finden aber zugleich im Wissenschaftssystem, quasi in dessen blindem Fleck statt. Durch die Verdopplung (und damit
auch Präzisierung) der Theorie-Praxis-Verhältnisse ergeben sich zeitgleich
neue Relationierungsmöglichkeiten, die über ihre Spiegelphänomene zur Lösung des Relationierungsproblems beitragen können.
Nach einer Ergänzung der Perspektive der Wissensverwendung um die Interpretation der Lehr-Lernpraxis an Schulen und Hochschulen als soziale Praktiken, werden die Folgen dieses Verständnisses für die Hochschule in Kap. 5
weiter thematisiert.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
24
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
4. Soziale Praktiken und Lehrerbildung: Gemeinsamkeiten in Schule
und Hochschule und Konsequenzen für die Lehrerbildung
Nachdem die Notwendigkeit der Relationierung von Wissensformen zur Professionalisierung der Lehrertätigkeit und damit zur Überwindung der TheoriePraxis-Konstruktion herausgearbeitet wurde, soll nun überprüft werden, inwieweit bereits auf Basis einer anderen Hochschuldidaktik eine Relationierung der
Wissensbestände in der Lehrerausbildung herbeigeführt werden kann. Dazu
wird zunächst in die für diese Arbeit relevanten Teile der GIDDENS’schen Theorie sozialer Strukturierung eingeführt (Kap. 4.1). Anschließend (Kap. 4.2) werden vor diesem Hintergrund die bestehenden Strukturen der Lehrerausbildung
auf Gemeinsamkeiten bezüglich ihrer dominierenden sozialer Praktiken untersucht, um dann im dritten Teil (Kap. 4.3) davon ausgehend Rückschlüsse für
die Lehrerbildung zu ziehen.
4.1 GIDDENS’ Theorie der Strukturierung: Die Dualität von Struktur
und Handeln
GIDDENS wählt als Ausgangspunkt für seine Theorie der Strukturierung das
menschliche Handeln selbst,153 welches sich in sozialen Praktiken ausdrückt.
Durch die Konstruktion von sozialen Praktiken wird es GIDDENS möglich, alle
Dimensionen menschlichen (Zusammen-)Lebens per se zu erfassen, ohne die
für andere Sozialtheorien notwendige Sichtweise von Struktur oder Handeln
von vornherein einnehmen zu müssen.154 Dieser Ansatz verbindet so auf die
ihm eigene Weise individuelle Handlungen und soziale Strukturen.155 Diese beschreibt er quasi als zwei Seiten derselben Medaille, als Dualität von Struktur
und Handeln,156 was GIDDENS wie folgt erklärt: „Unter Dualität von Struktur verstehe ich, dass gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche
Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser
Konstitution sind.“157 Dabei bestimmen Handlungen sowohl die soziale Ordnung
als Strukturen, determinieren aber gleichsam neue Handlungen und folgen fließend auf andere Handlungen.158 Strukturen werden dabei eben nicht als äußerer Zwang auf menschliches Handeln, sondern als Handlungsfolge und bedingung zugleich verstanden: Strukturen und Handlungen sind so untrennbar
miteinander verknüpft: Das implizite Wissen um soziale Regeln ist ein bestimmender Teil menschlichen Bewusstseins.159
153
154
155
156
157
158
159
vgl. Lamla, Jörn (2003): Anthony Giddens. Frankfurt am Main: Campus (CampusEinführungen), S. 46.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Hedtke 2007: 39.
vgl. Lamla 2003: 45.
Giddens, Anthony; Föste, Wolfgang (1984): Interpretative Soziologie. Frankfurt am Main:
Campus (Campus Studium, 557), S. 148, Hervorhebungen im Original.
vgl. Müller, Klaus (2002): Die Strukturierung der Moderne: Anthony Giddens’ Beitrag zu
Sozialtheorie und soziologischer Zeitdiagnose. In: Stark, Carsten; Lahusen, Christian
(Hrsg.): Theorien der Gesellschaft. Einführung in zentrale Paradigmen der soziologischen
Gegenwartsanalyse. München: Oldenbourg (Lehr- und Handbücher der Kultur- und Sozialwissenschaften), S. 163-201, hier: S. 168.
vgl. Müller 2002: 168.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Durch die Konstruktion von Handlungsfolgen und -bedingungen als „soziale
Praktiken“ (GIDDENS), die über Raum und Zeit hinaus stabil sind, wird der Handlungsbegriff zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Handeln wird dabei als
kontinuierliches Moment, als Fluss aller möglichen oder stattfindenden Taten
verstanden, mit denen ein körperliches Wesen in den Prozess der in der Welt
stattfindenden Ereignisse eingreift.160 Dabei wird dem Handeln unterstellt, dass
es sowohl anders hätte stattfinden können und das es strukturbildenden Einfluss auf die Welt hat:
„Es ist im Handlungsbegriff zu unterscheiden, dass (a) eine Person
anders hätte handeln können und dass (b) die Welt, die von einem
Strom von Ereignissen konstruiert wird, die unabhängig vom Han161
delnden sind, keine vorbestimmte Zukunft hat.“
Ausgehend von diesem Handlungsbegriff finden sich bei GIDDENS weiter der
Begriff der Interaktion und der zentrale Begriff der sozialen Praktiken. Interaktionen zeichnen sich dabei dadurch aus, dass mehr als ein Akteur an ihnen beteiligt ist. Soziale Praktiken wiederum sind Handlungen oder Interaktionen, die
in gewisser Kontinuität über Zeit und Raum stattfinden.
Den Akteuren, die diese Handlungen vollziehen, wohnt dabei bei GIDDENS ein
besonderes Maß an Selbstreflexivität inne: Die Akteure besitzen nämlich die
Fähigkeit „zu verstehen, was sie tun, während sie es tun.“162 Dabei zeigt sich
der Akteur „(selbst-)bewusst, selbstständig, wissensbegabt [und] aktiv.“163 Diese Eigenschaften sind Voraussetzung für die Kontinuität von sozialen Praktiken,
da nur selbstreflexiv Handelnde steuernden Einfluss auf den Prozess gesellschaftlichen Lebens nehmen können.164 GIDDENS erteilt dabei der Idee eine Absage, dass menschliches Handeln als Abfolge einzelner Motive, Intentionen
oder Gründe passiert, sondern fasst es vielmehr als durée, als Verhaltensstrom,
auf. Ob Handlungen reflexiv gesteuert werden können, hängt dabei vom Grad
der Rationalisierung des Handelns ab, der ebenfalls eher prozesshaften Charakter hat (vgl. Abb. 8).165 Dabei geht es bei GIDDENS nicht allein um die Steue-
Abbildung 8: Reflexionsgrade von Handlungen und ihre Folgen nach GIDDENS
(Aus: Giddens 1997: 56)
160
161
162
163
164
vgl. Giddens/Föste 1984: 90.
ebd.: a.a.O.
Giddens, Anthony (1997): Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der
Strukturierung. 3. Aufl. Frankfurt/Main: Campus (Theorie und Gesellschaft, 1), S. 36
Kouli, Ekaterina (2006): Vom Fachwissen zur Handlungskompetenz – Die Berufsschule
vor den Herausforderungen des sozioökonomischen Strukturwandels. Herausgegeben
von der Universität Stuttgart, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Institut
für Sozialwissenschaften, Abteilung für Umwelt- und Techniksoziologie. Online verfügbar
unter http://elib.uni-stuttgart.de/opus/volltexte/2006/2744/, zuletzt geprüft am 20.06.2008,
hier: S. 36.
vgl. Giddens 1997: 53.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
26
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
rung der eigenen Handlungen, sondern auch um die Erwartung gegenüber den
Handlungen anderer in einer zeitlichen Dimension wie auch um die Kontrolle
des Kontextes im Hinblick auf soziale und psychische Kriterien.166 GIDDENS unterstellt hier den Akteuren in der Konzeption von drei Bewusstseinsebenen die
Möglichkeit, eine Art theoretisches Verständnis von Handlungsgründen zu entwickeln, welches bei Akteuren unterschiedlich ausgeprägt sein kann.167 Die erste Bewusstseinsebene, das „praktische Bewusstsein“, bildet dabei das Handlungswissen, welches zwar nicht explizit ist, aber dafür sorgt, den Handlungsstrom aufrecht zu erhalten.168 Explizierbar ist dagegen das „diskursive Bewusstsein“. Die Unterscheidung zwischen diesem und dem praktischen Bewusstsein ist nicht ausschließlich, sondern aufhebbar, z.B. im Zuge von Sozialisationsprozessen, und meint allein den Unterschied in der Verbalisierbarkeit.169
Das „Unbewusste“ bildet bei GIDDENS die dritte Bewusstseinsebene, die sich
von den anderen beiden eben dadurch unterscheidet, dass die Handlungsantriebe nicht artikulierbar sind und sich dem Zugriff des Akteurs entziehen.170
Handeln findet aber auch im Rückgriff auf die vorgefundene Struktur statt.171
Die Handlungsoptionen schaffen über die Wahlfreiheit des Akteurs, dem hier
eine gewisse Autonomie eingeräumt wird, die Möglichkeit zur Veränderung.172
Durch die Handlungsoptionen, die sich aus der durée der Handlungen ergeben,
wohnt den Strukturen ermöglichender Charakter inne;173 die autonomen Handlungsinstanzen bilden sich vermittelt durch Strukturen. Die Autonomie des Akteurs, aus diesen Strukturen Handlungen abzuleiten und Entscheidungen zu
treffen, bezeichnet GIDDENS als capability. Die Möglichkeit, dabei auch anders
zu handeln, macht den Handelnden zu einem Individuum. Welche Entscheidungsoptionen jeweils vorhanden sind und was diese bedeuten, wird dem handelnden Subjekt durch Regeln vermittelt.174 Diese existieren unabhängig von
den Ressourcen als Vorbedingungen von Entscheidungen. Im Sinne „verallgemeinerte[r] Verfahrensweisen und Konventionen“ bilden sie das Kontextwissen
der Entscheidung, indem sie allgemeine Gültigkeit besitzen. Diese Regeln wirken allerdings im GIDDENS’schen Sinne nicht einschränkend, sondern geben
Aufschluss über mögliche Anschlüsse: „To know a rule, as Wittgenstein says, is
to ,know how to go on’.“175 Dieses praktische Regelwissen (knowledgeability)
muss dem Individuum keineswegs bewusst sein, um es erfolgreich anwenden
zu können.176 Werden Regeln und Ressourcen kontinuierlich gleich verwendet,
erlangen sie eine besondere Stabilität in räumlicher und zeitlicher Dimension,
so dass sie institutionellen Charakter entwickeln. Institutionen sind allerdings
nicht das Produkt einzelner Akteure, sondern der Gemeinschaft.177
165
166
167
168
169
170
171
172
173
174
175
176
177
vgl. ebd.: 53.
vgl. ebd.: 55.
vgl. ebd.: 56.
vgl. Kouli 2006: 37.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. ebd.: 38.
vgl. Lamla 2003: 50.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. ebd.: 51.
vgl. ebd.: 52.
zitiert in: Lamla 2003:52.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Kouli 2006: 47.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
27
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Der Aspekt der Stabilität von sozialen Praktiken über Raum und Zeit hinweg
legt die Frage nahe, wie soziale Praktiken überhaupt geändert werden können.
Hier erweist sich paradoxerweise der Moment der Reproduktion durch erneutes
Handeln als entscheidender Ansatzpunkt. Wenn die Akteure zur Bildung von
Strukturen, und damit zur Stabilisierung der sozialen Ordnung, ihr Handeln reproduzieren, zeitgleich aber in ihren Entscheidungen autonom sind, existiert
immer auch, wie oben beschrieben, die Möglichkeit, sich anders zu entscheiden. Die Reproduktion sozialer Ordnung durch soziale Praktiken bietet also
zeitgleich auch die Möglichkeit zur Veränderung dieser, da Strukturen immer
wieder durch die Handlungen der Akteure hervorgebracht und damit auch erneuert werden müssen.178 Diese Notwendigkeit der Erneuerung ermöglicht aber
auch die Veränderung. Dadurch, dass nach GIDDENS keine äußeren Zwänge
existieren, obliegt es den Akteuren, die bestehenden Praktiken zu bestätigen,
zu verändern oder aufzuheben.179 Die Veränderung von bestehenden Strukturen beginnt also damit, dass die Akteure beginnen, anders zu handeln, was deren Einverständnis und Überzeugung voraussetzt, da ein Anders-Handeln immer auch den Verlust von Handlungssicherheit bedeutet.180 Begrenzt wird diese
Eingriffsmöglichkeit des Akteurs durch die Beschränkungen des menschlichen
Bewusstseins besonders dadurch, dass der Akteur keine Möglichkeit hat, nichtintendierte Folgen vollständig zu überblicken:181
„Der Handlungsstrom produziert kontinuierlich Folgen, die die Akteure nicht beabsichtigt haben, und diese unbeabsichtigten Folgen können sich wiederum auch, vermittelt über Rückkopplungsprozesse,
wiederum als nicht eingestandene Bedingungen weiteren Handelns
darstellen. Die menschliche Geschichte wird durch intentionale
Handlungen geschaffen, sie ist aber kein beabsichtigter Entwurf; sie
entzieht sich beständig den Anstrengungen, sie unter eine bewusste
182
Führung zu bringen.“
GIDDENS Theorie sozialer Strukturierung bietet einen erkenntnisfördernden Ansatzpunkt, soziale Strukturen jenseits der Trennung von Struktur und Handeln
zu erklären. In der Bestimmung des Verhältnisses von Struktur und Handeln als
Dualität wird ebenfalls deutlich, wie erfolgtes Handeln über die Ausbildung von
Strukturen in Form sozialer Praktiken in der Kontinuität von Raum und Zeit
nachfolgendes Handeln bestimmt. Besonders wichtig erweist sich in diesem
Zusammenhang, Struktur nicht als Zwang oder deterministischen Moment für
folgendes Handeln, sondern als Sammlung bestehender Handlungsoptionen
zur Steigerung von Handlungssicherheit zu verstehen. Dem Akteur steht in den
Ebenen des handlungspraktischen und des diskursiven Bewusstseins dabei in
Graden unterschiedlicher Reflexivität die Möglichkeit zur Reproduktion des
Handelns und damit Festigung der Struktur oder die Entscheidung zugunsten
von Alternativen zur Verfügung. Je nach Grad der Reflexivität ist er in der Lage,
seine Entscheidung für das eine oder gegen das andere zu verbalisieren. Aus
Überzeugung und in seinem Einverständnis ist es ihm möglich, frei von äußeren Zwängen, bestehende Strukturen durch neues Handeln zu ändern, was
seine Grenzen im menschlichen Bewusstsein und in dem Problem nichtintendierter Folgen findet.
178
179
180
181
182
vgl. Lamla 2003: 55.
vgl. Kouli 2006: 48.
vgl. ebd.: a.a.O.; vgl. Hedtke 2007: 52.
vgl. Kouli 2006: 48.
Giddens 1997: 79.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
28
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
4.2 Soziale Praktiken in Schule und Hochschule: Gemeinsamkeiten
und Unterschiede in den Organisationen der Lehrerbildung
Soziale Praktiken sind im GIDDENS’schen Sinne, wie oben gezeigt, bestimmende Handlungsvorgaben, die über Raum und Zeit hinweg bestehen und im
Wechselspiel von Struktur und Handeln die Akteure maßgeblich prägen. Wenn
dem so ist, muss im Sinne dieser Arbeit die Frage gestellt werden, inwiefern
Schule und Hochschule über gemeinsame soziale Praktiken verfügen, welche
prägend für die Handlungen der Akteure sein könnten. Der Fokus der Analyse
liegt hierbei auf den für die Lehrerbildung relevanten Praktiken im Bereich des
Unterrichts.
4.2.1 Soziale Praktiken der Schule
Folgt man dem GIDDENS’schen Theorem der Dualität von Struktur und Handeln,
muss zur Analyse der sozialen Praktiken in der Schule zunächst Aufschluss
über das Handeln in der Schule gewonnen werden. Darüber, was tatsächlich,
also empirisch belegbar, in der Schule stattfindet, gibt es jedoch wenig evidente
Erkenntnisse. Ein anderer Ansatzpunkt wäre der, aus den Strukturen der Schule, also aus ihrer Funktion, ihren Programmen usw., Rückschlüsse auf das
Handeln zu ziehen. Dafür spricht, dass durch die Dualität von Struktur und
Handeln beim Blick auf die Strukturseite, gleichzeitig die Seite des Handelns mit
gesehen wird, wenn auch aus anderer Perspektive. Gegen ein solches Verfahren an dieser Stelle spricht jedoch die Notwendigkeit einer umfangreichen theoretischen Vorarbeit samt der Umsetzung dieser Strategie, also der Übersetzung
von Strukturen in Handlungen. Insofern wird vor dem Hintergrund des begrenzten Umfangs dieser Arbeit und des dominierenden Anliegens darauf verzichtet.
Der Analysefokus Schule muss hier im doppelten Sinne für die Lehrerausbildung als relevant angesehen werden. Die Lehramtsanwärter verfügen bei ihrem
Eintritt in die Schule als Referendare und später als Lehrer bereits über vielfältige Erfahrungen in dieser Organisation. So hat jeder Lehramtsanwärter in der
Regel mehr als zehn Jahre Schulzeit vor der Aufnahme seines Referendariats
durchlaufen. Da Schule für Schüler im Wesentlichen in der Interaktionsform Unterricht zu Tage tritt, überwiegt hier also offenkundig die soziale Praxis des
„Lehrens/Unterrichtens“. 183
Vor Aufnahme eines (Lehramts-)Studiums haben die angehenden Lehrer bereits Zweidrittel ihres Lebens in der sozialen Praktik Unterricht in der Schule
verbracht. Die hohe Intensität der Konfrontation mit dieser sozialen Praktik legt
die Vermutung nahe, dass sie bereits zu diesem Zeitpunkt die wichtigsten
Überzeugungen über ihr zukünftiges Arbeitsgebiet mitbringen.184 Die lange
Kontaktzeit mit Schule und Unterricht führt dazu, dass sie „wissen, wie man sich
in dieser Praktik bewegt und [sie] verfügen über ein umfangreiches, spezifisches handlungspraktisches Wissen, durch Beobachtung und Erfahrung auch
über auf Unterricht bezogenes Wissen.“185 Damit unterscheidet sich die Lehrerausbildung strukturell von der anderer akademischer und nicht-akademischer
Ausbildungen, da die Lehramtsstudierenden über ein besonders ausgeprägtes
Praxiswissen verfügen, ja sogar in besonderer Weise durch die soziale Praktik
183
184
185
vgl. Hedtke 2007: 41.
vgl. ebd.: 44.
Hedtke 2007: 43.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
29
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
„Lehren/Unterricht“ geprägt zu sein scheinen.186 Die in der Schule vorherrschenden Handlungs- und Deutungsmuster, welche vornehmlich zur Steigerung
der Handlungssicherheit der beteiligten Akteure beitragen, werden durch die
Tätigkeit der Lehrer auf die Schüler übertragen. Diese Konventionen enthalten
das Wissen über Unterricht und Schule, welches, ohne sich dessen bewusst zu
sein, kompetent verwendet wird.187 Damit werden die sozialen Praktiken reproduziert und bilden Orientierungs- und Ausgangspunkte für anschließendes
Handeln;188 das diesem Handeln zugrunde liegende handlungspraktische Wissen der Akteure ist das Medium zum Fortbestand der sozialen Struktur.189
4.2.2 Soziale Praktiken der Hochschule
Hochschulen, die Ort der ersten Phase der Lehrerausbildung sind, weisen funktionale Differenzen zu Schulen auf. So sind Hochschulen als Teil des Wissenschaftssystems nicht nur Orte mit Ausbildungsfunktion, wie die Schule, sondern
zeitgleich auch Orte der Erkenntnisproduktion, welche sich im Forschungsauftrag der Universität widerspiegelt. Trotz dieses Unterschieds nimmt auch in
Hochschulen, die eben Orte von Lehre und Forschung sind, die soziale Praxis
„Lehren/Unterrichten“ bedeutenden Raum ein, nämlich in Form von Vorlesungen, Seminaren, Übungen, Exkursionen oder Praxisseminaren. Der Blick auf
diese universitären Veranstaltungen macht deutlich, dass neben der ihr eigenen
sozialen Praxis „Forschen“ auch das „Lehren/Unterrichten“ von zentraler Bedeutung ist: „Phänomenal und funktional unterscheidet sich die akademische
Lehr-Lernpraxis nicht grundlegend von der Lehr-Lernpraxis in den Schulen des
Erziehungssystems.“190
Das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden folgt hier, ähnlich dem der Schule, einem eher klassischen Rollenverständnis, welches sich am Leitbild des Professors orientiert.191 Seine Aufgabe besteht in erster Linie darin, den Studenten
wissenschaftliches Wissen zugänglich zu machen. Der Schwerpunkt liegt dabei
darauf, dieses wissenschaftliche Wissen – qualifiziert und überprüft – auf Basis
der methodischen und theoretischen Regeln der jeweiligen Disziplin anzubieten.192 Die didaktischen Bemühungen konzentrieren sich darauf, dieses Wissen
darzubieten, wissenschaftlich-diskursiv zu bearbeiten und die fachspezifischen
und allgemeinwissenschaftlichen Arbeitsmethoden einzuüben.193
186
187
188
189
190
191
192
193
vgl. ebd.: 48.
vgl. Dewe et al. 1992: 87.
vgl. Hedtke 2007: 39.
vgl. ebd.: 40.
ebd.: 54.
vgl. Wildt, Johannes (2000): Ein hochschuldidaktischer Blick auf die Lehrerbildung: Hochschule als didaktisches Lern- und Handlungsfeld. In: Bayer, Manfred (Hrsg.):
Lehrerin und Lehrer werden ohne Kompetenz. Professionalisierung durch eine andere
Lehrerbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt , S. 171-182, hier: S. 173.
vgl. Wildt 2000: a.a.O.
vgl. ebd.: a.a.O.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
30
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
4.3 Lehren/Unterrichten in Schule und Hochschule:
Folgen für die Lehrerbildung
Lehren/Unterrichten erweist sich sowohl in Schule als auch in Hochschule als
dominante soziale Praxis. Bereits in den Ähnlichkeiten räumlicher Arrangements, der Raumgestaltung und -ausstattung wird deutlich, dass es sich hier
um zumindest ähnliche Praktiken handelt. In ihnen zeigen sich sowohl Rollengefüge (in der Regel ein Lehrender/viele Lernende), wie auch didaktische Programme mit ihren medialen Darstellungsformen (Pult mit Tafel, Tageslichtprojektor, Beamer). Auch auf Interaktionsebene lassen sich unweigerlich Parallelen
feststellen. So wird in beiden Organisationen gelesen, diskutiert, erläutert, erklärt usw. 194
Die Parallele in Bezug auf die soziale Praktik „Lehren/Unterricht“ ist weitestgehend unbeachtet, aber folgenreich. Durch die Konfrontation mit der sozialen
Praktik „Lehren/Unterrichten“ sammeln die Akteure, in diesem Fall besonders
die Lehramtsstudierenden, in großem Maße bereits handlungspraktisches Wissen für ihre spätere Berufstätigkeit. Zwar unterscheiden sich Schule und Hochschule von der späteren Tätigkeit als Lehrer durch den stattfindenden Rollenwechsel vom Lernenden zum Lehrenden, dies erscheint jedoch kaum entscheidend. Bei dem Rollenpaar Lehrender/Lernender handelt es sich nämlich um
eine komplementäre Rollenstruktur, die insbesondere in der Schule zusätzlich
durch eine gewisse Asymmetrie gekennzeichnet ist, welche aber auch an der
Hochschule nicht vollkommen fehlt.195 Neben diesem Rollenverhältnis lässt sich
funktional feststellen, dass Lehren immer nur auf das Lernen gedacht werden
kann, Lehren und Lernen stehen also ebenfalls in einem beiderseitigen Abhängigkeitsverhältnis und weisen sogar einen ansatzweise komplementären Charakter auf196– um didaktisch angemessen zu handeln, muss das Lehren durch
das Lernen hindurch gedacht werden.197 So lässt sich auch bezogen auf das
Rollenverhältnis und den Lehr-Lernprozess eine gewisse Dualität beobachten.
Diese führt dazu, dass die Lehramtsanwärter in den Organisationen Schule und
Hochschule und in ihrer Rolle als Schüler und Studenten in der sozialen Praktik
„Lehren/Unterrichten“ handlungspraktisches Wissen für ihre Tätigkeit als Lehrer
erhalten und dabei die Komplementärrolle bzw. die andere Seite des Prozesses
immer auch mitdenken bzw. in der Lage sind, diese zu rekonstruieren. Sie erhalten dadurch ein Kontinuum an Handlungsoptionen, welches sich an den bestehenden Strukturen und damit auch an den Handlungen orientiert, die sie
selbst als soziale Praktik „Lehren/Unterrichten“ kennengelernt haben und die in
dieser Form über Zeit und Raum Bestand haben (vgl. Abb. 9). Immerhin haben
194
195
196
197
Hedtke (2007: 56) diagnostiziert die Parallele in den Lehr-Lernformen auch für Hochschule und Studienseminar: Typisch für beide seien die Vermittlungsformen „Lesen von“ und
„Reden über“, mit dem Unterschied, dass es sich beim „Reden über“ Praxis in den Hochschulen um dokumentierte und in den Studienseminaren um erlebte Praxis handele.
Luhmann, Niklas; Lenzen, Dieter (2003): Das Erziehungssystem der Gesellschaft. 1.
Aufl., [Nachdr.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft,
1593), S. 108.
vgl. Hammel, Walter (1975): Lehrerverhalten und Rollenbilder des Lehrers. In: Gröschel,
Hans (Hrsg.): Das Lehrer-Schüler-Verhalten in Erziehung und Unterricht. Grundlagen und
Wechselwirkungen aus pädagogischer, soziologischer und psychologischer Sicht. München: Ehrenwirt, S. 25-31, hier: S. 25.
vgl. Wildt 2000: 174.
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Praktiken statt Praxis
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Lehramtsanwärter bei Aufnahme ihres Studiums bereits Zweidrittel ihres Lebens in der sozialen Struktur Schule verbracht.198 Das verfestigte handlungspraktische Wissen der Akteure liefert so das Medium zum Fortbestand der sozialen Struktur.199
Abbildung 9: Dauerhaftigkeit der sozialen Praktik "Lehren/Unterrichten" in der Lehrerbildung
(Aus: Hedtke 2007: 47)
An dieser Stelle wird nun deutlich, welcher problematischen Aufgabe sich Lehrerbildung an der Universität stellen muss, wo aber auch ihre Chancen und Ansatzpunkte liegen. Faktisch begegnet universitäres Wissen, wie in Kapitel 3 gezeigt, dem Problem, dass seine Anwendung selektiv, umfunktioniert oder zur
Legitimation des eigenen Handelns erfolgt.200 Dies rührt nicht zuletzt von der
stark bindenden Wirkung der sozialen Praktiken in der Schule. Wo wissenschaftliches Wissen idealtypisch die Aufgabe hätte, das Handeln der Akteure
und die soziale Struktur aufzudecken sowie das Laienwissen kritisch zu überprüfen und blinde Flecken aufzuklären,201 dient es so eher durch Eingang in das
diskursive Bewusstsein der Festigung der bestehenden Strukturen. Insbesondere im institutionalisierten Schulpraktikum sieht sich der Student neben den
starken sozialen Praktiken, die sein handlungspraktisches Wissen bestimmen,
außerdem mit den Problemen des Praktikantenstatus, der „normativen Kraft der
faktischen Praktik Unterricht“ (HEDTKE) und der eher kurzen Phase wissenschaftlicher Reflexion und dem damit nicht ausreichend entwickelten wissenschaftlichen Habitus konfrontiert.202 Dies führt dazu, dass er sich trotz Handlungsoptionen, die er hat, gegen vorhandene Alternativen oder Kritik entscheidet, um die in dieser Phase des Berufseinstiegs sehr wichtige Handlungssicherheit durch Anschluss und Reproduktion bestehender sozialer Strukturen zu
erhalten.
198
199
200
201
202
vgl. Hedtke 2007: 48.
vgl. ebd.: 40.
vgl. Dewe et al. 1992: 72.
vgl. Hedtke 2007: 41.
Hedtke 2007: 52.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
32
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
So wirkt Schulpraxis institutionalisiert in Schulpraktika entgegen ihrer Intention:
Sie wirkt dem so genannten „Praxisschock“ nicht entgegen oder dient dem so
genannten „Theorie-Praxis-Transfer“, sondern verstärkt ihn, indem sie die bestehenden sozialen Praktiken bestärkt:
„Je früher, je mehr und je intensiver Schulpraxis und Unterrichtspraxis handlungsorientiert in das Studium eingebracht werden, desto
reibungsloser kann sich die forme scolaire samt ihrer vielfältig disziplinierenden Macht reproduzieren, indem sie Denken und Handeln
203
des Lehrerinnennachwuchses kontrolliert.“
Auch die zweite Phase der Lehrerausbildung, das Referendariat an den Studienseminaren, wirkt hier in ähnlicher Form. Durch die Vermittlung von fachdidaktischem und erziehungswissenschaftlichem Wissen und gleichzeitig stattfindender Vermittlung handlungspraktischen Wissens sind die Studienseminare
sowohl Teil der Theorie der Lehrerausbildung wie auch ihrer Praxis, so dass die
durée von Handlung und Struktur durch Erhöhung des Reflektionsgrades insbesondere zur Reproduktion der bestehenden sozialen Praktiken beiträgt.204
Dies wird insbesondere dadurch noch verstärkt, dass in dieser Ausbildungsphase durch den ihr eigenen Bewertungsdruck der Handlungssicherheit für die
Akteure eine besonders große Bedeutung zukommt. So wird der Lehramtsanwärter nach der Konfrontation mit eher progressiv-innovativen Einstellungen in
der Universität im Referendariat mit eher konservativen Einstellungen konfrontiert, die das subjektive Gefühl bestärken, auf die Berufstätigkeit als Lehrer nicht
ausreichend vorbereitet worden zu sein.205
In der Betrachtung der sozialen Praktiken der an der Lehrerbildung beteiligten
Organisationen zeichnet sich nunmehr ein schärferes Bild der Problematik, die
auch die Wissensverwendungsforschung, wenn auch aus anderer Perspektive,
dennoch ähnlich interpretiert:206 die Herstellung einer Beziehung zwischen wissenschaftlichem Wissen und dem handlungspraktischen Wissen des Akteurs.
So erscheint es nicht nur aus Gründen unterschiedlichen Systemlogiken unterworfener Wissensformen, sondern auch aus der Dominanz bestehender sozialer Strukturen heraus schwierig, wissenschaftliches Wissen bei der Wahl von
Handlungsoptionen der Akteure Berücksichtigung finden zu lassen, da die damit einhergehende Änderung sozialer Praktiken zu Handlungsunsicherheiten
innerhalb der sozialen Strukturen führt. Die „Überlast“207 der Schulpraxis als
Lehr-Lernpraxis, welche als Bezugspunkt und Anspruch (vgl. Kap. 2) auch im
Studium präsent bleibt, wirft so die Frage auf, wie überhaupt angemessenes
Theoriewissen in die „kontinuierlich erlebten und erstrebten Praktiken Schule
und Unterricht“208 gebracht und dort wirksam gemacht werden kann. Es gilt also, wissenschaftlicher Theorie einen Ort in der Praxis einzuräumen und dieses
über Relationierung wirksam werden zu lassen.
203
204
205
206
207
208
ebd.: 49.
vgl. ebd.: 55.
vgl. Bohnsack 2000: 83.
Interessanterweise treffen sich sowohl Giddens’ (1984: 144) Vorstellungen der Dualität
von Struktur und Handeln als auch die Erkenntnisse der neueren Wissensverwendungsforschung bei Dewe et al. (1992: 86) zum Handeln auf Basis des tacit knowledge im Bild
des Handelns als Sprache bzw. als Grammatik, die zwar kompetent verwendet wird, deren Struktur aber erst nachträglich konstruiert wird.
vgl. Hedtke 2007: 50.
vgl. ebd.: a.a.O.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
33
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Vor dem Hintergrund dieses Anspruchs erlangen die dominierenden sozialen
Praktiken des „Lehrens/Unterrichtens“ in Schule und Hochschule besondere
Relevanz. Wenn beide Institutionen der Lehrerbildung von ihr geprägt sind und
sich die Änderung der sozialen Praktik in der Schule aus o.g. Gründen als
schwierig erweist, liegt es nahe, den anderen Ort, in dem diese Praktik präsent
ist, einer genaueren Betrachtung zu unterziehen: die Hochschule.
Einer der maßgeblichen Unterschiede innerhalb der sozialen Praktik „Lehren/Unterrichten“ zwischen Schule und Hochschule liegt in der didaktischen
Ausgestaltung. Nicht die Vermittlung des Wissens, wie sie die Schule anstrebt,
ist das didaktische Ziel der Hochschule, sondern v.a. das Schaffen eines Zugangs zum wissenschaftlichen Wissen, bei der die Aneignung dem Lernenden
überlassen wird –ein didaktischer Zugang, der außerdem durch seinen heimlichen Lehrplan im weiteren Verlauf der Ausbildung und Berufstätigkeit förderlich
auf das schulische Einzelkämpfertum wirkt.209 Diese didaktische Aufgabe des
„Zugang-Schaffens“ zu wissenschaftlichem Wissen wird in der Regel mit einem,
im Vergleich zur Schule, engen Handlungsrepertoire210 vollzogen, wo Variationsmöglichkeiten häufig ungenutzt bleiben.211 Der Rückzug vieler Wissenschaftler auf den universitären Habitus, um den unterschiedlichen Wissensformen gerecht zu werden, ist trotzdem irreführend, da sie sich selbst in der Rolle
von Lehrpraktikern befinden und sich damit auch dem Relationierungsproblem
gegenüber sehen.212
Dadurch, dass das implizite didaktische Wissen, welches der pädagogischen
Praxis an Hochschulen innewohnt und durch die soziale Praxis „Lehren/Unterrichten“ an ihr eingeübt wird, auch außerhochschulische Bereiche dominiert, liefert diese Praxis hier einen Ansatzpunkt zur bereits an der Hochschule stattfindenden Relationierung der Wissensbestände und intendierten Änderung der sozialen Praxis „Lehren/Unterrichten“ an den Schulen.
209
210
211
212
vgl. Bohnsack 2000: 108.
Hier sei unbestritten, dass dieser Befund je nach Fach- oder Universitätskultur, aber auch
von Hochschullehrer zu Hochschullehrer selbst, in unterschiedlichem Maße zutrifft, wie
sich der umgekehrte Befund auch nicht für jede Schule als treffend erweist. Hier geht es
allerdings um allgemeine Tendenzen, die einen systematischen Ansatz überhaupt erst
handhabbar machen. Zu Lehrkulturen und -habitus vgl. u.a. Schaeper, Hildegard (1997):
Lehrkulturen, Lehrhabitus und die Struktur der Universität. Eine empirische Untersuchung
fach- und geschlechtsspezifischer Lehrkulturen. Weinheim: DSV (Blickpunkt Hochschuldidaktik, 100).
vgl. Wildt 2000: 173.
vgl. ebd.: 175.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
34
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
5. Relationierung durch Hochschuldidaktik: Änderung der sozialen
Praktiken in der Universität zur Verknüpfung von Handlungs- und
Wissenschaftswissen
Die soziale Praktik des „Lehrens/Unterrichtens“ ist konstitutiver Bestandteil von
Schule und Hochschule. Ausgehend von dieser Feststellung sollen nun
Ansatzpunkte
für
eine
Relationierung
der
Wissensformen
über
Hochschuldidaktik aufgedeckt werden (Kap. 5.1). Besonders soll davon
aufbauend das Konzept des Forschenden Lernens (Kap. 5.2) beleuchtet
werden, um die eher allgemeinen Ansatzpunkte in Form eines didaktischen
Konzepts offenzulegen.
5.1 Lehr-Lernpraxis an Hochschulen als Ansatzpunkt zur Relationierung
von Wissensformen
Für eine Relationierung wissenschaftlichen Wissens und Handlungswissens,
welche schon in der Hochschule beginnt, sprechen mehrere Argumente. So ist
die Hochschule der originäre Ort wissenschaftlichen Wissens, gleichzeitig aber
auch, wie in Kapitel 3 gezeigt werden konnte, der Ort von Lehr-Lernpraxen.213
Die Praxis von Lehre und Studium lässt sich dabei mit den gleichen methodischen und theoretischen Instrumentarien betrachten wie Schule und Unterricht.
WILDT stellt dazu grundsätzlich fest: „Hochschulisches Lernen gehorcht im Prinzip den gleichen Gesetzmäßigkeiten bzw. Konzeptionen wie Lernen an anderen
Orten.“214 So wird auch am Lernort Hochschule Handlungswissen sichtbar, da
eben nicht nur wissenschaftliches Wissen, sondern auch Sozialisation durch
„Habitualisierung der Regeln der Praxis“215 oder, um es mit GIDDENS zu sagen,
die Reproduktion der sozialen Praktik „Lehren/Unterrichten“ stattfindet. Gerade
aus seiner Bedeutung für diese soziale Praktik heraus ergibt sich die Notwendigkeit zur Förderung hochschuldidaktischer Kompetenz, um eine didaktischmethodisch reflektierte universitäre Lehre gestalten zu können.216 Dabei erscheint es nicht nur wichtig, Theorie lebendig zu vermitteln, sondern zeitgleich
auch ihre Unzulänglichkeiten zum Gegenstand der Hochschulbildung zu machen.217 So sieht sich die (erziehungs-)wissenschaftliche Lehrerbildung einer
Verdopplung des Handlungsraumes gegenüber, wie LUHMANN/SCHORR feststellen: „Sie lehrt das Lehren.“218
Entgegen dieser Anforderungen, die zugleich auch Möglichkeiten darstellen,
sieht sich die Hochschuldidaktik häufig mit dem so genannten „Oxbridge“Syndrom konfrontiert, was bedeutet, dass die Wissenschaftlichkeit der For213
214
215
216
217
218
vgl. Wildt 2000: 175.
Wildt 2005: 185.
Wildt 1996: 100.
vgl. Mehnert, Helmut; Wyschkon, Uwe (1997): Warum muß die Lehrerbildung an der
Universität stattfinden? In: Bayer, Manfred (Hrsg.): Brennpunkt Lehrerbildung. Strukturwandel und Innovationen im europäischen Kontext ; [Beiträge zum 15. Kongreß der DGfE
an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg 1996]. Opladen: Leske + Budrich
(Schriften der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft), S. 65-85, hier: S. 83.
vgl. Nakamura et al. 2006: 16.
Luhmann, Niklas; Schorr, Karl-Eberhard (1976): Ausbildung für Professionen – Überlegungen zum Curriculum der Lehrerausbildung. In: Jahrbuch für Erziehungswissenschaft,
Jg. 1, S. 247-277, hier: S. 248.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
35
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
schungsergebnisse und Fachinhalte als Gradmesser für die Qualität der Lehre
genommen werden, während sie didaktisch-methodisch eher einfältig bleibt.219
Für eine beginnende Relationierung der Wissensbestände schon in der Hochschule ergeben sich derweil zwei wesentliche Ansatzpunkte: zum einen das
Verständnis von Schule als Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung, zum
anderen in der hochschuldidaktisch verankerten Relationierung zur Erhöhung
der Handlungssicherheit durch die Änderung sozialer Praktiken.
In Bezug auf den ersten Ansatzpunkt bedeutet dies für die Hochschulbildung,220
dass die sozialen Praktiken der Schule zum Bezugspunkt wissenschaftlichtheoretischer Reflexion und zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu
machen sind.221 In diesem Beobachtungsverhältnis lassen sich die unterschiedlichen Urteilskategorien für die Studenten verdeutlichen und das Verhältnis von
Wissenschaft und Praxis in einem angemesseneren Licht erscheinen. Die Herstellung gegenseitiger Bezüge kann dementsprechend dazu beitragen, die Relationierung von Wissenschafts- und Handlungswissen durch die Beschäftigung
mit den Charakteristika der jeweiligen Urteilsform voran zu treiben und insbesondere dem Problem der eher theoriefernen Praxis entgegenzuwirken.222 Einen wichtigen Beitrag kann in diesem Zusammenhang die empirische Unterrichtsforschung sowohl in der Erziehungswissenschaft, als auch in den Fachdidaktiken leisten.223 Das Konzept des Forschenden Lernens, welches empirische Schul- bzw. Unterrichtsforschung mit universitärer Lehre verbindet, soll an
anderer Stelle in diesem Zusammenhang noch ausführlicher beleuchtet werden. Darüber hinaus lassen sich aber auch weitere, vielfältige Lerngelegenheiten in der Hochschule ausmachen. So wären beispielsweise Arrangements kollegialer Fallberatung oder Supervision – in der Hochschule sogar ob der nicht
so immanenten Vermischung von Beratung und Bewertung unter günstigeren
Hierarchiekonstellationen als im Referendariat – denkbar.224 Aber auch auf
Feedbackregeln basierende teilnehmende Beobachtungen, biographische Zugänge zur eigenen Lerngeschichte oder Thematisierung des Lernortes Hochschule selbst, z.B. als didaktische Reflexion der Hochschulbildung als knowing
how, erweisen sich hier als aussichtsreich.225 Bei der Implementierung dieser
Gelegenheiten geht es vor allem darum, in Lehre und Studium neben konkreten
Handlungsmustern vor allem auch didaktisches Denken zu schulen.226 Als Beitrag zur Relationierung lässt sich auch eine bessere Implementierung der bestehenden Praxisphasen in das Lehramtsstudium verstehen. Hier erscheint es
angezeigt, statt einem Nebeneinander von Universität und Schulpraxis, systematische Bezüge und Reflexionsgelegenheiten zu institutionalisieren, die die
unterschiedlichen Urteilsformen thematisieren und reflektieren.
Im Sinne der Änderungen sozialer Praktiken im Zusammenspiel mit der Ausbildung eines stabilen wissenschaftlichen Habitus, der in der Lage ist, systema219
220
221
222
223
224
225
226
vgl. Bohnsack 2000: 94.
Ist hier von Hochschulbildung die Rede, ist insbesondere der Teil dieser gemeint, der
sich in erster Linie an die Ausbildung von Lehrern richtet.
vgl. Hedtke 2007: 81.
vgl. Bohnsack 2000: 69.
vgl. Mehnert/Wyschkon 1997: 80.
vgl. Wildt 1996: 101ff., vgl. Wildt 2005: 186.
vgl. Wildt 1996: 101.
vgl. Wildt 2005: 186.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
36
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
tisch wissenschaftliches Wissen und Handlungswissen zu relationieren, erscheinen jedoch neben diesen Großformen insbesondere Mikroformen der didaktischen Inszenierung aussichtsreich. Die Wirkungschancen dieser liegen vor
allem darin, dass sie durch Eingang in das Handeln die Entscheidung der Akteure zugunsten dieser relationierten Handlungsoptionen erleichtern. Auf Mikroebene – damit ist hier die Ebene des hochschuldidaktischen Handlungsrepertoires gemeint – bedeutet das v.a. durch das Auffinden von Gelegenheiten reflexiven Lernens einen didaktischen Ansatzpunkt für das In-Beziehung-Setzen
von Wissenschaft und pädagogischer Praxis und damit die Ausbildung eines
Professionswissens zu erreichen.227 Hier kommen besonders solche Handlungsmodi in Betracht, die gerade das Verhältnis der beiden Perspektiven und
damit verbundenen Urteilsformen thematisieren und verdeutlichen. W ILDT, der
diesen Ansatz in der Entwicklung einer Didaktik der Lehrerbildung zusammenführt, sieht hier vor allem sieben Mikroformen, welche in die Hochschulausbildung der Lehrer und in das didaktische Handlungsrepertoire ihrer Lehrveranstaltungen integriert werden sollten:228
Metakommentieren: Das eigene didaktische Handeln (z.B. Dozent/Referent) in einer Lehrveranstaltung wird kommentiert und begründet.
Feedback geben: Feedbackprozeduren werden systematisch eingeübt und didaktische Aktion so mit Reaktion verknüpft.
Transponieren: Abgestimmte schulpädagogische Handlungsmuster
werden übernommen.
Integrieren: Behandelte Themen werden mit der hochschulischen
Lernsituation verknüpft.
Simulieren: Pädagogische Aktion im Berufsfeld Schule wird spielerisch in der Hochschule antizipiert (z.B. Microteaching).
Trainieren: Didaktische Handlungsmuster werden unter geringerem
Gewicht der Theorie systematisch aufgebaut.
Reflektieren: Praxiserfahrungen der Studierenden werden didaktisch
verwendet und dienen der methodischen Reflexion.
Mit Hilfe dieser Techniken kann dazu beigetragen werden, universitäres Lernen
zum Aufbau eines didaktischen Handlungsrepertoires zu verwenden. Damit
wird der geheime Lehrplan der Universität in eine explizite Lehrkonzeption verwandelt.229
227
228
229
vgl. Wildt 1996: 103.
vgl. auch im Folgenden Wildt 2000: 176ff.
vgl. Wildt 2000: 181.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
37
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
5.2 Konzepte zur beginnenden Relationierung:
das Beispiel Forschendes Lernen230
Bereits der Begriff Forschendes Lernen signalisiert den Anspruch dieses Konzepts: Wissenschaftliche Erkenntnissuche (Forschen) soll als didaktisches Konzept in die Lehr-Lernpraxis der Universität (Lernen) integriert werden. Den Bezugspunkt bildet dabei das Wissenschaftssystem mitsamt seinem Anspruch,
theoretisches und methodisches Wissen zu konstruieren, welches auf Geltungsansprüche und Wahrheit hin überprüft ist. 231 Da Lernen an sich anderen
Logiken folgt, besteht die Herausforderung darin, Wissenschaft und Lernen didaktisch zusammenzuführen.232 Das bedeutet, dass originäre Forschungssituationen erst in Lernsituationen umgesetzt werden müssen. Ziel ist dabei die Ausbildung eines professionellen Habitus, „der engagierte Praxis mit dem distanzierten Blick der Wissenschaft auf die Praxis verbindet“.233 Gewissermaßen als
Nebenprodukt ergeben sich dabei auch Erkenntnisse über Standards guten
Unterrichts und damit verbundene Kompetenzen im Hinblick auf Schule und
Unterricht.234 Das eigentliche Ziel der Ausbildung, die Verbindung zwischen pädagogischer Praxis und wissenschaftlicher Reflexion, leistet in seiner Umsetzung einen wichtigen Beitrag zur Relationierung.
Im Zuge seiner Durchführung entsteht beim Forschenden Lernen durch die ihm
eigene Begegnung von Wissenschafts- und Handlungswissen das Professionswissen, welches durch die Beurteilung von Schul- und Unterrichtssituationen auf Basis der Kriterien Wahrheit und Angemessenheit entsteht. Damit wird
die Relationierung, welche sonst erst mit der beginnenden Berufstätigkeit des
Lehrers einsetzt, bereits zeitlich früher initiiert und ermöglicht so eine stärkere
Begleitung und Reflexion dieses Prozesses. Dabei wird konstatiert, dass Professionalisierung nicht oder nicht nur ein individueller Vorgang in der Person
des Lehrers ist, sondern dass sich der Professionelle in seinem Handeln, den
Entscheidungen, die dazu führen, und den nachträglichen Begründungen an
einer „kollektiv erwirtschafteten Teilkultur bzw. aus einem berufsspezifisch bereitgestellten Fundus“235 orientiert. Diese Berufskultur wirkt sogar handlungsdispositiv.236 Für diese Konstruktion des Professionswissens als Metawissen
zwischen Individuum und Berufsgruppe spricht auch die Konzeption GIDDENS’,
der Wissen zwischen Subjekt und Kollektiv verortet.237 Durch diese Annahme
wird die Konzeption einer beginnenden, überindividuellen Relationierung erst
möglich.
230
231
232
233
234
235
236
237
Zu einem anderen hochschuldidaktischen Konzept, dem situierten Lernen vgl. Spieler,
Britta: Ansätze situierten Lernens in der (wirtschaftsberuflichen) Lehrerbildung. (Reader
Lehrer(aus)bildung und ökonomische Bildung.). Online verfügbar unter http://www.sowionline.de/reader/lehrerausbildung/spieler_lehrerbildung.htm,
zuletzt
geprüft
am
26.06.2008.
vgl. Wildt 2005: 187.
vgl. ebd.: 186.
vgl. ebd.: 188.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Dewe et al. 1992: 88.
vgl. ebd.: 87.
vgl. Hedtke 2007: 39.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
38
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
Das didaktische Konzept des Forschenden Lernens, wie es beispielsweise
Wildt vorschlägt238 (vgl. Abb. 10), basiert dabei ausgehend von alltäglichem,
spontanem Lernen auf zunehmender Komplexität, welche schließlich in Forschendem Lernen mit Theorie und Methode gipfelt.239 Die höheren Stufen
schließen dabei idealerweise die Attribute der niedrigerer Stufe mit ein.240 Es
realisiert dieses Vorhaben über die systematische Beobachtung, Analyse und
Reflexion von Unterricht, wobei wissenschaftliche Modelle und Erkenntnisse
Berücksichtigung finden.241 Dabei sollen differenzierte Wahrnehmungsmuster
ausgebildet werden, die sich in der „flexiblen Anwendung von professionsbezogenen Wissenskomponenten“242 ergeben.
Abbildung 10: Stufen Forschenden Lernens nach WILDT (Aus: Wildt 2005: 189)
Das Konzept des Forschenden Lernens bietet insbesondere als Beitrag zu einer Didaktik der Lehrerbildung, wie sie bei WILDT in konzeptionellen Ansätzen
zu finden ist, eine Möglichkeit, die Relationierung von Wissenschafts- und
Handlungswissen über die soziale Praktik „Lehren/Unterrichten“ bereits in der
universitären Phase der Lehrerausbildung beginnen zu lassen. Dabei finden
wissenschaftliche Erkenntnisproduktion und pädagogische Praxis in der LehrLernpraxis der Hochschule selbst zueinander und liefern so einen Beitrag zur
Ausbildung des Professionswissens und zum Wandel sozialer Praktiken in
Hochschule und Schule.
238
239
240
241
242
Andere Konzeptionen finden sich u.a. bei Obolenski, Alexandra; Meyer, Hilbert (Hrsg.)
(2003): Forschendes Lernen. Theorie und Praxis einer professionellen LehrerInnenausbildung. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt.
vgl. Wildt 2005: 188f.
vgl. ebd.: a.a.O.
vgl. Kammertöns, Annette (o.J.): Schulpraxis als Forschungsfeld – ein Beispiel für forschendes Lehren und Lernen in den schulpraktischen Studien. Unveröffentlichtes Manuskript, S. 1.
ebd.: 2.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
39
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
6. Ausblick: Praktiken statt Praxis? Die Rolle der Hochschuldidaktik
in der universitären Lehrerausbildung zum Wandel sozialer
Praktiken
Wie gezeigt werden konnte, unterliegt die Dichotomie von „Theorie und Praxis“ und
ihre Weiterbearbeitung als Transferproblem der wesentlichen Vereinfachung eines
komplexen Verhältnisses. Die Terminologie suggeriert mit der vorgeschlagenen Operation des Transfers oder der Transformation in jedem Fall einen Grad geringer Komplexität: Theorie müsste einfach nur in Praxis und auf Praxis angewendet werden.243 Über
die Tatsache hinaus, dass mit den Begriffen Theorie und Praxis eine gewisse Unschärfe einhergeht, die im Dunklen lässt, welche Theorie oder welche Praxis damit überhaupt gemeint zu sein scheint,244 wird hier (zumeist wissenschaftliche) Theorie als reines Werkzeug zur Bewältigung (schulischer) Praxis verstanden. Damit werden zentrale
Funktionen wissenschaftlichen Wissens insbesondere in der Lehrerbildung ignoriert.
Wissenschaftliches Wissen verfügt zwar nicht, wie auf Seiten der Wissenschaft schon
behauptet wurde, über eine höhere Dignität oder Rationalität als beispielsweise subjektive Theorien, es leistet aber durch die Methodik seines Entstehens und seine Perspektive als Beobachtung zweiter Ordnung einen wichtigen Beitrag zur Reflexion und Analyse „der“ Praxis. Dabei folgt die Produktion und Aggregation wissenschaftlichen Wissens, und so auch im Ergebnis das Wissen selbst, der Systemlogik der Wissenschaft
und ihres Leitkriteriums, der Wahrheit. Die Praxis, oder besser die Schule und das
Handeln in ihr, folgen dabei im Gegensatz dem Kriterium der Angemessenheit. Im Unterricht erscheint es so weniger relevant, ob das dort verarbeitete Wissen und seine
Vermittlung in Form von Methodiken und Didaktiken nach den Kriterien der Wissenschaft als wahr gilt, sondern vielmehr, ob sich das Handeln als angemessen im Sinne
seines Kontextes verstehen lässt. Der Anspruch der Lehrerbildung, den Lehrer als Professionellen zu verstehen, der sein Handeln auf Basis wissenschaftlichen Wissens
reflektiert und analysiert, um komplexe Handlungssituationen kompetent bearbeiten zu
können, macht es allerdings notwendig, die beiden Wissensbestände – das reflexive
Wissen der Wissenschaft und das Handeln unter Druck der Schul- und Unterrichtspraxis – ins Verhältnis zu setzen. Dieses In-Beziehung-Setzen, die Relationierung, schafft
dabei in der Begegnung von Wissenschafts- und Handlungswissen einen eigenen Wissenstypus: das Professionswissen. Dieses urteilt nach den Kriterien Wahrheit und Angemessenheit und ermöglicht es dabei der Lehrperson, in der sozial hochkomplexen
Situation des Unterrichts unter Druck kompetent zu handeln und dieses Handeln
gleichsam auf Basis wissenschaftlichen Wissens zu überprüfen. Dabei geht es eben
sowohl um die handlungspraktische Entscheidung wie auch ihre Begründung, um wissenschaftliches Wissen wie um handlungspraktisches Können.
In der Perspektive unterschiedlicher Systemlogiken und damit nicht einfach zu vermittelnder oder zu transferierender Wissensbestände, kommt also der Relationierung dieser beiden Wissensbestände eine zentrale Rolle zu.
In der bisherigen Praxis der dreiphasigen Lehrerausbildung, wurde diese Relationierung nicht institutionalisiert, sondern den Lehrern im Anschluss an ihr Referendariat,
als quasi dritte Phase in ihrer Berufstätigkeit selbst überlassen. Dieses Vorgehen führt
dazu, dass die Schulpraxis und mit ihr das handlungspraktische Wissen zum dominanten Bezugsrahmen der Relationierung wird. Unterstützt wird dieser Rahmen durch die
ihrerseits stetig steigende Forderung nach Praxis im Studium, welche unter einer eher
unbestimmten und stark auf Schulpraxis verengten Vorstellung von Praxisbezug nie als
ausreichend festgestellt werden kann. Die stark bindenden Kräfte der sozialen Praktik
Schule und ihre Dauer determinieren damit die Relationierung in Richtung einer eher
theoriefernen Bearbeitung des Schulalltags. Wissenschaftliches Wissen wird, sofern es
243
244
vgl. Nakamura et al. 2006: 7f.
vgl. Hedtke 2007: 29
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
40
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
überhaupt Eingang in das Unterrichtshandeln findet, in den meisten Fällen lediglich zur
Legitimation der eigenen Praxis oder höchst selektiv angewandt. Insofern erscheint die
Überwindung des Theorie-Praxis-Problems durch Erhöhung des Praxisanteils im Studiums auch ein Teil organisationeller Heuchelei nach BRUNSSON zu sein.
Betrachtet man die Lehrerausbildung in der Perspektive der Theorie der Strukturierung
nach GIDDENS, so fällt auf, dass sowohl in Schule als auch in Hochschule die soziale
Praxis des „Lehrens/Unterrichtens“ stattfindet. Trotz unterschiedlicher Systemlogiken
und produzierter Wissenstypen weisen so die beiden Organisationen der Lehrerbildung
auf Ebene ihrer sozialen Praxis einen Anknüpfungspunkt auf, der für die Lehrerausbildung urbar gemacht werden kann. GIDDENS sieht den Ausgangspunkt sozialer Strukturen im Handeln, in dem er Struktur und Handeln als Dualität betrachtet. Handeln und
Struktur sind dabei sich wiederholende Teile einer durée von Handlungen, eines Handlungsstroms, der durch die Handlungen Strukturen bildet, die wiederum Ausgangspunkt für neue Handlungen sind. Die Akteure reproduzieren damit über Raum und Zeit
hinweg soziale Strukturen in Form sozialer Praktiken, wobei sie selbstreflexiv und autonom sind. Strukturen determinieren dabei ihre Handlungen nicht, sondern bilden
vielmehr eine Häufung von Handlungsoptionen, derer sich der Akteur bedienen kann.
Dabei obliegt es ihm selbst, sein Handeln in der Kontinuität bestehender sozialer Praktiken fortzuführen oder sich anders zu entscheiden. Dieses Anders-Entscheiden leitet
sozialen Wandel ein. Akteure brauchen jedoch gute Gründe, sich für Handlungen außerhalb bestehender sozialer Praktiken zu entscheiden, da jedes Anders-Entscheiden
Unsicherheit erhöht.
An dieser Stelle stellt sich die Frage, inwieweit über soziale Praktiken die Relationierung der Wissensformen und damit eine teilweise Änderung der bestehenden sozialen
Praktiken des Lehrens/Unterrichtens begonnen werden kann. In der Organisation
Schule unterliegt dieses Vorhaben mehreren Schwierigkeiten. Zum einen sind die angehenden Lehrer mit den sozialen Praktiken des Lehrens/Unterrichtens in der Schule
bereits vor Studienbeginn bestens vertraut, da sie einen Großteil – i.d.R. mehr als
Zweidrittel – ihres Lebens in dieser verbracht haben und so schon wichtige Überzeugungen über sie in sich tragen.245 Verstärkt wird die Dimension der Kontaktzeit durch
die Intensität des Kontakts, der, insbesondere je früher und umfangreicher die Schulpraxis Eingang in das Studium findet, die Reproduktion der bestehenden Praktiken
fördert und mit ihrer „vielfältig disziplinierenden Macht (…) Denken und Handeln des
Lehrerinnennachwuchses kontrolliert“.246 Zum anderen widerspricht auch die beobachtbare Repräsentanz der relevanten Wissensformen, die faktisch häufig eher eine
theorieferne Praxis247 als den umgekehrten Fall bedeutet, dem Vorhaben, die Schule
als Ort des Wandels bestehender sozialer Praktiken zu begreifen. Über die Gemeinsamkeit der sozialen Praxis „Lehren/Unterrichten“ lässt sich aber auch die Hochschule
als Ort sozialen Wandels dieser Praxis ansehen. Hierfür spricht, dass die Hochschule,
neben ihrer Bedeutung und als Ort wissenschaftlicher Theorie, eben auch Ort von
Lehr-Lernpraxis ist. Diese unterschiedet sich dabei nur geringfügig von der LehrLernpraxis, wie sie in der Organisation Schule auszumachen ist.248 Hinzu kommt, dass
durch die Lehr-Lernpraxis an den Hochschulen selbst im Sinne sozialer Praktiken implizites didaktisches Wissen vermittelt wird, welches als soziale Praktik Einfluss auf das
didaktische Handlungswissen der Lehramtsstudenten hat.249 Der Rollenwechsel, den
die Studenten bei ihrem Übergang von der Hochschule in die Schule vollziehen müssen, widerspricht dieser Tatsache nur teilweise, schließlich wird ob der komplementären Rollenstruktur zwischen Lehrendem und Lernendem die andere Seite immer auch
245
246
247
248
249
vgl. Hedtke 2007: 44.
ebd.: 49.
vgl. ebd.: 50.
vgl. ebd.: 54.
vgl. Wildt 2005: 186.
Bulmahn
Praktiken statt Praxis
41
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
mitgedacht. Insgesamt gesehen scheint so die Hochschule angesichts ihres Status als
Ort der Begegnung zwischen wissenschaftlichem Wissen und pädagogischer Praxis
ein prädestinierter Ort zum Beginn der Relationierung beider Wissenstypen, was angesichts der bestehenden Lehr-Lernpraxen und der darin gegenüber der Vermittlung von
Lerninhalten dominierenden Idee des Zugangschaffens allerdings eine Neuformulierung des Stellenwerts der Hochschuldidaktik erfordert. Das bedeutet v.a., dass hochschulische Lernarrangements auf Gelegenheiten zum reflexiven Lernen überprüft und
für diese genutzt werden müssen:
„Mit dem Aufspüren von Gelegenheiten für reflexives Lernen lässt
sich auf der didaktischen Ebene ein Zugang öffnen, Lehrerbildung an
Wissenschaft und zugleich pädagogische Praxis – in Schule wie
250
Hochschule als Lernorten – anzuschließen.“
Der Anschluss der Hochschuldidaktik an Wissenschaft und pädagogische Praxis gleichermaßen kann dabei auf mehreren Ebenen erfolgen: Auf der Ebene der Seminare
können Mikroformen eingesetzt werden, die didaktische Arrangements reflektieren
oder solche z.B. durch Simulationen selbst schaffen.251 Damit werden Handlungs- und
Deutungsmuster eingeübt,252 die beim Handeln der Lehrpersonen als alternative Handlungsoptionen zur Verfügung stehen und einen Wandel der sozialen Praktiken des
Lehrens/Unterrichtens in der Schule erleichtern können.
Auf der Ebene institutionalisierter hochschuldidaktischer Großformen kann dies zum
Beispiel im Rahmen Forschenden Lernens passieren, wo wissenschaftliches Wissen
und Handlungspraxis in Beziehung gesetzt und aufeinander bezogen werden. Dieses
Lehr-Lernkonzept beinhaltet dabei gleichzeitig die Professionalisierung des Lehrerhandelns, indem das eigentliche Lehrerhandeln um die Fähigkeit zur Analyse und Reflexion erweitert wird. Dies geschieht im Wesentlichen durch den Zugang mit den Methoden und Programmen der Wissenschaft auf das Handeln der Praxis. Dadurch wird die
Ausbildung eines professionellen Habitus gefördert, „der engagierte Praxis mit dem
distanzierten Blick der Wissenschaft auf die Praxis verbindet“253, was einen Beitrag zur
Relationierung bedeutet.
Bei allen Versuchen, die Relationierung von Wissenschaftswissen und Handlungswissen und damit die Entwicklung eines Professionswissens voranzutreiben, darf nicht
außer Acht gelassen werden, dass der Prozess dieses Vorgangs heute noch weitestgehend unerforscht ist. Hier ist es nötig, die black box der Relationierung, die individuell in den Lehrpersonen stattfindet, aber trotzdem Teil einer kollektiv bereitgestellten
Teilkultur ist, zu öffnen und die dort stattfindenden Vorgänge zu explizieren, um so einen Beitrag zur Wissenschaftlichkeit der Lehrerbildung und zur Professionalisierung
der Lehrtätigkeit zu leisten.254 Neben den sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen der
Wissensverwendungsforschung kann die Soziologie hier mit der Erklärkraft der GIDDENS’schen Theorie sozialer Strukturierung einen wertvollen Beitrag zum Erkenntnisgewinn leisten, den es näher auszuarbeiten gilt.
250
251
252
253
254
Wildt 1996: 103.
vgl. Wildt 2000: 176f.
vgl. Dewe et al. 1992: 87.
Wildt 2005: 188.
vgl. Dewe et al. 1992: 83, vgl. ebd: 88.
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Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper 2/2008
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https://www.innovation.nrw.de/Service/broschueren/BroschuerenDownload/Broschuere
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Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
Didaktik der Sozialwissenschaften
Working Paper Nr. 2
Anschrift des Verfassers:
Christoph Bulmahn, M.A.
Universität Bielefeld
Fakultät für Soziologie
AG Didaktik der Sozialwissenschaften
Postfach 100 131
33501 Bielefeld
E-Mail: christoph.bulmahn[at]web.de
Quelle: http://www.uni-bielefeld.de/soz/ag/hedtke/pdf/bulmahn_praktikenstattpraxis.pdf
© Hedtke, Reinhold. Bielefeld 2008.
Didaktik der Sozialwissenschaften – Working Papers
Herausgegeben von Reinhold Hedtke und Birgit Weber
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