R & P (2010) 28: 211 – 233 Rechtsprechung 230 Ziel« billigend in Kauf nahm. Anschließend öffnete der Angekl. – während der Fahrt – den im Kofferraum seines Fahrzeugs angebrachten Verschluss und verteilte im Kreis fahrend die Farbe auf der Straße. Sodann hielt er an und ließ sich widerstandslos festnehmen. Der Angekl. befand sich während der Vorbereitung und Ausführung der Tat – wie die sachverständig beratene Strafkammer festgestellt hat – in einer noch andauernden akuten manischen Phase seiner bipolaren affektiven Störung, aufgrund derer sein Steuerungsvermögen jedenfalls erheblich eingeschränkt, nicht ausschließbar aber auch aufgehoben war. Die Strafkammer bewertete das Verhalten des Angekl. als versuchte gefährliche Körperverletzung, vorsätzlichen gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr und Nötigung. 2. Dem Angekl. die Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung zu versagen, hält der sachlich-rechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Anordnung der Maßregel selbst weist allerdings keinen Rechtsfehler auf. Insbesondere sind die jedenfalls erheblich verminderte, möglicherweise auch aufgehobene Schuldfähigkeit des Angekl. und seine künftige Gefährlichkeit infolge seines Zustandes hinreichend belegt. Auch handelt es sich bei den – ohne medizinische Behandlung – zu erwartenden »ähnlichen Delikten« jedenfalls insofern um erhebliche Taten im Sinne des § 63 StGB, als sie der im angefochtenen Urteil festgestellten (versuchten) gefährlichen Körperverletzung oder dem vorsätzlichen Eingriff in den Straßenverkehr entsprechen. Jedoch ist nach § 67 b Abs. 1 S. 1 StGB die Aussetzung des Vollzugs der Unterbringung geboten, wenn besondere Umstände die Erwartung rechtfertigen, dass der Zweck der Maßregel auch ohne deren Vollzug erreicht werden kann. Bei dieser Prüfung sind zwar auch die vom LG allein herangezogenen Umstände zu berücksichtigen, nämlich dass der Angekl. keine Krankheitseinsicht zeigt und sich weigert, die Medikamente einzunehmen, die eine »schnelle Linderung der krankheitsbedingten Symptome« herbeiführen würden. Jedoch hätte die Strafkammer erörtern müssen, ob sich die vom Angekl. ausgehende Gefahr insbesondere durch die Begründung eines Betreuungsverhältnisses nach §§ 1896 ff. BGB (vgl. BGH, Urt. vom 23.05.2000 – 1 StR 56/00, NStZ 2000, 470, 471) und/oder durch geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht (§§ 67 b Abs. 2, 68 b StGB; vgl. dazu BGH, Beschl. vom 25.04.2001 – 1 StR 68/01 – und Urteile vom 11.06.1987 – 4 StR 227/87 – und vom 12.06.2001 – 1 StR 574/00) abwenden oder jedenfalls so stark abschwächen lässt, dass ein Verzicht auf den Vollzug der Maßregel gewagt werden kann. Denn die damit verbundenen Überwachungsmöglichkeiten und das dem Besch. zu verdeutlichende Risiko, bei Nichterfüllung solcher Weisungen mit dem Vollzug der Unterbringung rechnen zu müssen, können geeignet sein, die vom Sachverständigen und der Strafkammer angeführten Voraussetzungen einer erfolgversprechenden ambulanten Therapie herbeizuführen (vgl. BGH, Urt. vom 12.06.2001 – 1 StR 574/00 – und Urt. vom 27.03.2007 – 1 StR 48/07, NStZ 2007, 465 jeweils m. w. N.). Hierzu bestand vorliegend schon deshalb Anlass, weil – was die Strafkammer ebenfalls nicht erörtert – sich der Angekl. trotz seines Zustandes bis zur Begehung der verfahrensgegenständlichen Tat straffrei geführt hat und auch danach ohne weitere relevante Auffälligkeiten zunächst auf freiem Fuß verblieben ist (vgl. BGH, Beschluss vom 26.05.2009 – 4 StR 148/09 m. w. N.). 10. Vorlagepflicht schriftlicher Gutachten KG, Beschluss v. 08.03.2010 – 2 Ws 40, 41/10 § 454 Abs. 2 StPO Leitsatz: Im Gegensatz zur Beauftragung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung, in der die Regeln der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit herrschen, handelt es sich bei der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes nach § 454 StPO in seinem Grundsatz um ein schriftliches Verfahren, sodass ein Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Vorlage eines schriftlichen Gutachtens besteht. Aus den Gründen: Die StVK hat mit Beschluss vom 04.12.2009 den Arzt für Neurologie und Psychiatrie R. mit der Erstellung eines nur mündlich zu erstattenden kriminalprognostischen Gutachtens nach § 454 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 StPO beauftragt. Ent- sprechend hat der Sachverständige seine gutachterlichen Erwägungen im Anhörungstermin am 18.12.2009 mündlich dargelegt, die für die StVK ausweislich der Beschlussgründe zumindest mit ausschlaggebend für die Aussetzungsentscheidung waren. Das Fehlen eines schriftlichen Gutachtens stellt jedoch einen Verfahrensfehler dar. Denn im Gegensatz zur Beauftragung eines Sachverständigen in der Hauptverhandlung, in der die Regeln der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit herrschen, handelt es sich bei der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes nach § 454 StPO in seinem Grundsatz um ein schriftliches Verfahren, sodass ein Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Vorlage eines schriftlichen Gutachtens besteht (BGH NJW 2010, 544; a. A. Appl in KK, StPO 6.Aufl., § 454 Rn. 29 a). Nach dem Gesetzeszweck soll ein fundiertes, wissenschaftlich begründetes Gutachten das Gericht in die Lage versetzen, die Art der von dem Verurteilten drohenden Straftaten und das mit der vorzeitigen Entlassung verbundene Risiko wesentlich zuverlässiger einzuschätzen (BT-Drs 13/8586, 10 vom 25.09.1997). Mit der nach § 454 Abs. 2 S. 3 StPO vorgesehenen Anhörung des Sachverständigen gewährt der Gesetzgeber den Verfahrensbeteiligten zusätzlich die Gelegenheit, das Sachverständigengutachten eingehend zu diskutieren und das Votum des Sachverständigen zu hinterfragen (BTDrs 13/9062, 14 vom 13.11.1997). Schon angesichts der im Zusammenhang mit dem Gutachten häufig auftretenden komplexen tatsächlichen, rechtlichen und psychologisch schwierigen Fragestellungen ist ein schriftliches Gutachten unabhängig von der Anhörung des Sachverständigen unabdingbar, um den Verfahrensbeteiligten überhaupt die Möglichkeit umfassenden rechtlichen Gehörs zu gewähren. Dass der Gesetzgeber stets von der Fertigung eines schriftlichen Gutachtens ausgegangen ist, zeigt überdies die Vorschrift des § 454 Abs. 2 S. 4 StPO, die das Absehen von einer mündlichen Anhörung des Sachverständigen in einem Ausnahmefall regelt; in einem solchen Fall dient allein das schriftliche Gutachten der Entscheidung als Grundlage. Ohne ein solches Gutachten ist zudem das Beschwerdegericht nicht in der Lage zu überprüfen, ob die StVK die Erwägungen des Sachverständigen zutreffend gewürdigt und bei ihrer Entscheidung entsprechend berücksichtigt hat. Allein die Darstellung der Erwägungen in den Beschlussgründen – wie hier – oder dem Anhörungsvermerk reichen dazu nicht aus. R & P (2010) 28: 211 – 233 Das Verfahren leidet darüber hinaus an einem weiteren Mangel; denn die StA hatte keine Kenntnis von dem Anhörungstermin und daher keine Gelegenheit, an diesem teilzunehmen. Dies wiegt umso schwerer, als ein schriftliches Gutachten fehlt. Nach der zwingenden Regelung in § 454 Abs. 2 S. 3 StPO ist der StA – wie den übrigen Verfahrensbeteiligten – aber Gelegenheit zu geben, an der mündlichen Anhörung des Sachverständigen mitzuwirken. Darauf hatte die StA auch nicht verzichtet. Denn die im Formular der staatsanwaltschaftlichen Übersendungsverfügung enthaltene Erklärung, eine Terminsnachricht nicht zu benötigen, bezog sich gerade nicht auf die Anhörung des Sachverständigen, von dessen Einschaltung zu diesem Zeitpunkt noch keine Rede war. Insoweit hätte es einer ausdrücklichen Verzichtserklärung der StA bedurft. Da gemäß § 454 Abs. 2 S. 3 StPO im Regelfall die mündliche Anhörung des Sachverständigen, bei der die Verfahrensbeteiligten Gelegenheit zur Mitwirkung haben, geboten ist, scheidet eine Beauftragung durch den Senat aus und bedarf es der Zurückverweisung der Sachen an die StVK. Das Beschwerdegericht kann das mit einer mündlichen Anhörung verbundene erforderliche Verfahren im Beschwerdeverfahren nicht nachholen; denn eine mündliche Anhörung findet vor dem Beschwerdegericht in der Regel nicht statt (vgl. ThürOLG NStZ 2007, 421; Senat NJW 1999, 1797 und Beschluss vom 23.02.2007 – 2 Ws 121/07; Meyer-Goßner, StPO, 52. Auflage, § 454 Rn. 47 m. w. N.). Rechtsprechung Rechtsprechung in Leitsätzen Alle nachfolgenden Entscheidungen sind im Volltext dokumentiert unter www.verlag.psychiatrie.de/ zeitschriften/rp_rechtsprechung] Zwangsvollstreckung gegen suizidgefährdeten Schuldner BGH, Beschluss v. 15.07.2010 – V ZB 1/10 § 765 a ZPO von dem Arzt zu erfüllen, der eine Zwangsmaßnahme gemäß § 81 a StPO vorzunehmen hat, falls der Betroffene hierdurch in die Lage versetzt wird, den hinzunehmenden Eingriff schonender zu gestalten; weder Verständigungsprobleme noch eine angenommene Eilsituation dürfen den Arzt veranlassen, den Eingriff ohne die gebotene Aufklärung vorzunehmen. Erachtet das Vormundschaftsgericht Maßnahmen zum Schutz des Lebens des Schuldners nicht für geboten, solange die Zwangsvollstreckung nicht durchgeführt wird, so setzt die Fortsetzung der Vollstreckung gegen den suizidgefährdeten Schuldner voraus, dass das Vollstreckungsgericht flankierende Maßnahmen ergreift, die ein rechtzeitiges Tätigwerden des Vormundschaftsgerichts zur Abwendung der Suizidgefahr ermöglichen. 3. Fahrlässig schuldhaftes Handeln kommt unter dem Aspekt des Übernahmeverschuldens bei demjenigen Arzt in Betracht, der eine Tätigkeit vornimmt, obwohl er weiß (bewusste Fahrlässigkeit) oder erkennen kann (unbewusste Fahrlässigkeit), dass ihm die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen. Die Anerkennung eines Übernahmeverschuldens beruht auf der besonderen Schutzpflicht des – durch die Approbation nachgewiesen – ausgebildeten Arztes für das ihm anvertraute Rechtsgut, die Unversehrtheit der Gesundheit seiner Patienten; einer solchen Pflicht unterliegt, weil er gemäß § 81 a Abs. 1 StPO die Regeln der ärztlichen Kunst einzuhalten hat, auch ein nach dieser Vorschrift handelnder Arzt. Ärztliche Verantwortung für Brechmitteleinsatz BGH, Urteil v. 29.04.2010 – 5 StR 18/10 Art. 3 EMRK, Art. 1 GG, §§ 222, 227 StGB, 81 a StPO 4. Der Arzt ist in der Regel nicht befugt, das medizinische Risiko des von ihm vorzunehmenden Eingriffs auf einen Arzt außerhalb des Beweissicherungsdienstes zu übertragen; ein Notarzt ist angesichts seines beschränkten Auftrages ebenso wenig berechtigt, dieses Risiko zu übernehmen. Leitsatz: Leitsatz: Zur Verantwortlichkeit eines im Beweissicherungsdienst tätigen Arztes für tödlich verlaufenen Brechmitteleinsatz gegen Drogen-Kleindealer. Leitsätze (der Redaktion): 1. Der die Zwangsmaßnahme ausführende Arzt ist zu einer verantwortlichen Prüfung der rechtlichen Eingriffsvoraussetzungen jenseits der Beurteilung der medizinischen Risiken allenfalls in dem Maße verpflichtet, als er an einer erkennbar willkürlich angeordneten Zwangsmaßnahme nicht teilnehmen darf. 2. Die für die ärztliche Berufsausübung wesentliche Aufklärungspflicht ist auch 5. Ein Verbot der Fortsetzung der Exkorporation nach erfolgreicher Bergung des ersten Kokainkügelchens kann sich aus dem Gebot der Wahrung der Menschenwürde ergeben: Das sich aus § 7 Abs. 1 der Berufsordnung ergebende Gebot gilt für »jede medizinische Behandlung« und umfasst demnach auch die von Ärzten ausgeführten Zwangsmaßnahmen gemäß § 81 a Abs. 1 StPO; soweit Ärzte als Ermittlungsgehilfen zu betrachten wären, würde im Blick auf die sich wegen eines Verstoßes gegen Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 3 EMRK ergebende Unzulässigkeit des Eingriffs nichts anderes gelten. 231