Der Euro auf der Suche nach seiner Identität. Economic Briefing Nr. 21 Zwischenbilanz zum 2. Geburtstag der Europäischen Währungsunion. Unglückliches Timing oder strukturelle Schwächen? Wie lange ist der Schatten der USA? Economic Research Politik als Achillesferse von Euroland. Inhalt 1. Euroland auf dem Prüfstand 4 Politik: die Achillesferse der EWU? 4 US-Wechselkurspolitik: der starke Dollar liegt im Interesse der Amerikaner 4 Geldpolitik: die «one size fits all»-Problematik 4 Standortattraktivität: USA haben die Nase vorn 5 Kapitalströme: alles drängt in die USA 2. Wegmarken für den Euro Verantwortung für die Reihe Economic Briefing Cesare Ravara, Telefon +41 1 333 59 12 [email protected] Autoren Cédric Spahr, Telefon +41 1 333 96 48 [email protected] Hans-Peter Wäfler, Telefon +41 1 333 28 08 [email protected] Layout und Grafiken Carmen Sopi, Telefon +41 1 333 66 49 [email protected] Druck Fröhlich Druck AG, Dachslerenstrasse 3, 8702 Zollikon Redaktionsschluss 12. Dezember 2000 Erscheinungsweise ca. 6 Ausgaben pro Jahr gemäss Aktualität der Themen. Abonnements und Bestellungen Direkt bei Ihrem Kundenberater oder bei jeder CREDIT SUISSE Geschäftsstelle. Interne Bestellungen via HOST mit Mat.-Nr. 1511491 (HOST: MW01). Abonnements mit Publicode EBD (HOST: WR10). Einzelexemplare über EBIC Fax 01 333 37 44 oder e-mail: [email protected]. Besuchen Sie uns auf dem Internet www.credit-suisse.ch Kopien unter Quellenangabe gestattet. 7 EU-Politik: Nizza als Startpunkt 7 Wirtschaftspolitik: eindeutiger Reformkurs erforderlich 7 EWU-Erweiterung: Wünsche und Realitäten 8 3. Ausblick Herausgeber CREDIT SUISSE Economic Research, Postfach 100, CH-8070 Zürich 6 9 Der Euro auf der Suche nach seiner Identität Die Einführung des Euro Anfang 1999 wurde mit ehrgeizigen Zielen verknüpft. Die Einheitswährung werde so stark wie die Deutsche Mark, hiess es damals. Diese Prognose erwies sich weitgehend als Wunschdenken. Gegenüber dem US-Dollar hat der Euro schrittweise mehr als einen Viertel seines Wertes eingebüsst. Die Attraktivität des Standorts USA – gekennzeichnet insbesondere durch ein starkes Produktivitätswachstum und die hohe Glaubwürdigkeit der Notenbank – hat vermehrt Kapital in den Dollar-Raum gezogen. Der Euro konnte dem Dollar seine Vormachtstellung als internationale Währung nicht streitig machen, und die Konjunkturangleichung zwischen Euroland und den USA liess sehr lange auf sich warten. Nach zwei Jahren Europäischer Währungsunion stellt sich daher die Frage, ob die Geburtswehen des Euro strukturelle Ursachen haben oder nur das Ergebnis eines unglücklichen Timing sind. CREDIT SUISSE Economic Research Economic Briefing Nr. 21 3 1. Euroland auf dem Prüfstand 1.1. Politik: die Achillesferse der EWU? Eine ungenügende politische Stabilität im Euro-Raum wird oft als Grund für das Misstrauen ausländischer Investoren gegenüber dem Euro angeführt. Politische Fehltritte und Krisen haben gleich nach dem Start der Europäischen Währungsunion (EWU) tatsächlich nicht gefehlt. Die deutsche Regierung erfuhr 1999 unter Bundeskanzler Schröder eine Glaubwürdigkeitskrise, die durch die umstrittene Wirtschaftspolitik des damaligen Finanzministers Lafontaine an den europäischen Finanzmärkten erhebliche Verwirrung stiftete. Frankreich hat ebenfalls für Schlagzeilen gesorgt. Die Steuerreform der aktuellen Regierung signalisiert mehr die Ausrichtung der französischen Politik auf die Präsidentschaftswahl im Jahr 2002 als einen echten Reformwillen. Italien hat den Beitritt zur EWU dank massiven budgetären Anstrengungen in allerletzter Minute geschafft. Seither herrscht dort ein ausgeprägter Reformstau. Die Ablehnung des Euro in Dänemark hat der Einheitswährung einen zusätzlichen politischen Bärendienst erwiesen. Der Entscheid hatte Signalwirkung und wirft die Frage der Akzeptanz des Euro in der Bevölkerung auf. Das einzige Land der EU, dessen Bevölkerung über eine Teilnahme an der EWU abstimmen konnte, hat der Einheitswährung die kalte Schulter gezeigt. Die Frage stellt sich auch, ob die Zusammenführung so vieler Länder den Euro nicht für politische Krisen anfälliger macht. Beim ersten Blick sind die politischen Risiken einer diversifizierten Euro-Anlage nicht grösser als diejenigen eines gemischten Portfolios aus den historischen Währungen der Mitgliedländer der Euro-Zone. Eine Krise in einem Land der EWU könnte, wie die Strassenblockaden in Frankreich aus Protest gegen den hohen Ölpreis zeigten, die Anleger aber dazu bewegen, ihre Euro-Guthaben «en bloc» zu veräussern und dadurch mangels verbleibender Alternativwährungen in Europa der ganzen Euro-Zone den Rücken zu kehren. Die Europäische Währungsunion bedeutet, dass Krisen in einem grösseren Land der EWU eine erhöhte Ansteckungsgefahr für die gemeinsame Währung darstellen und einen Dominoeffekt auslösen könnten. 1.2. US-Wechselkurspolitik: der starke Dollar liegt im Interesse der Amerikaner Die Produktivitätsfortschritte der amerikanischen Industrie haben eine günstige Ausgangslage für die Hausse 4 Economic Briefing Nr. 21 des Dollars geschaffen und erlaubten zudem, einen höheren handelsgewichteten Dollar in Kauf zu nehmen, ohne besondere Risiken für die Wettbewerbsfähigkeit der eigenen Exportindustrie einzugehen. Die amerikanischen Behörden haben darüber hinaus die Aufwertung des Dollars gezielt gefördert. Seit dem Amtsantritt von Finanzminister Robert Rubin Anfang 1995 hat sich die US-Administration ununterbrochen zu einer Politik des «starken Dollars» bekannt und darauf verzichtet, den Wechselkurs als Waffe gegen widerborstige Handelspartner einzusetzen. Es ist kein Zufall, dass sich gerade ein ehemaliger Wall Street-Banker für diese Politik stark gemacht hat. Die Politik der US-Administration, eine Aufwertung des Dollars gezielt zu fördern, hat nebst realwirtschaftlichen Faktoren mitgeholfen, einen stetigen Zufluss an ausländischem Kapital zur Finanzierung des Leistungsbilanzdefizits sicherzustellen. Dies nicht zuletzt in der Erwartung, dass internationale Anleger einen Teil der Rendite auf Dollar-Wertschriften in Form von Wechselkursgewinnen erhalten würden. Ein starker Dollar würde zudem die Importpreise drosseln, während der damit einhergehende Zufluss an ausländischen Gütern ebenfalls zur Dämpfung der inflationären Kräfte beitragen würde. Dieser Punkt wurde von Notenbankchef Alan Greenspan mehrmals hervorgehoben. Sowohl bei den Demokraten als auch bei den Republikanern herrscht die Auffassung vor, dass eine Abkehr von der bisherigen Politik die Prosperität der USA gefährden würde. 1.3. Geldpolitik: die «one size fits all»-Problematik Oberste Aufgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) ist die Gewährleistung von Preisstabilität, womit eine Inflationsrate unter 2% gemeint ist. Die Heterogenität der Wirtschaftsstrukturen im Euro-Raum erschwert die Erfüllung dieser Aufgabe wesentlich. Schnell wachsende Länder wie Irland oder Spanien weisen Überhitzungstendenzen und eine anziehende Inflation auf und bräuchten deshalb eine viel straffere Geldpolitik. Die Anhebung der Steuern bzw. Drosselung der Staatsausgaben wäre als Alternative zu einer autonomen Geldpolitik denkbar, ist aber aus politischen Gründen wenig realistisch. Das Noteninstitut könnte zudem in Phasen ausgeprägter Wachstumsflaute unter den Druck einiger wichtiger Länder geraten, mehr Rücksicht auf deren Wirtschaft zu nehmen. Zu Recht wurde die Frage aufgeworfen, ob die EZB in der Ausgestaltung ihrer Geldpolitik die BedürfCREDIT SUISSE Economic Research nisse der grössten Länder des Euro-Raums stärker berücksichtigen würde als diejenigen der kleineren. Laut EU-Prognosen dürfte die Teuerungsrate in der EuroZone nicht nur im Jahr 2000, sondern auch 2001 über der Zielmarke von 2% liegen. Darin spiegelt sich nicht zuletzt die Ölpreishausse. Auf Dauer wird der Verweis auf den Erdölpreis-Effekt aber nicht genügen, um ein Überschiessen der Inflationsrate zu rechtfertigen. Als zusätzliche Belastung haben sich die Kommunikationspannen erwiesen, welche die Europäische Zentralbank im Laufe ihrer jungen Geschichte mehrmals erlebt hat. Dass sich die EZB lange Zeit über die Entwicklung des Euro-Aussenwertes unbesorgt zeigte, wurde an den Devisenmärkten als Zeichen von Nonchalance interpretiert. Widersprüchliche Stellungnahmen von Notenbankvertretern und EU-Politikern sind seither oft vorgekommen und haben der Glaubwürdigkeit des Euro geschadet. Die Skepsis vieler Investoren gegenüber der Praktikabilität einer einheitlichen Geldpolitik für einen immer noch heterogenen Wirtschaftsraum hat sich in einer höheren Risikoprämie bei der Bewertung von EuroWertschriften niedergeschlagen. Seit Anfang 1999 – zeitgleich mit dem Beginn der Währungsunion – reagiert der USD/EUR-Wechselkurs nicht mehr auf die Bewegungen der realen 10-jährigen Zinsdifferenz zwischen Deutschland und den USA (siehe Figur 1). Der Euro sollte aufgrund des historischen Zusammenhangs höher notieren. Die optimistische Erklärung wäre, dass Marktteilnehmer früher oder später auf diese Fehlbe- Figur 1: Wechselkurse und reale Zinsdifferenz* * Differenz 10-jähriger Swapsätze zwischen EU-11 und USA Quelle: Datastream, CREDIT SUISSE Economic Research CREDIT SUISSE Economic Research wertung reagieren werden, was zu einer Aufwertung des Euro führen sollte. Eine nüchternere Erklärung wäre, dass die wachsende Schere zwischen Wechselkurs und Zinsdifferenz auf eine Risikoprämie für langfristige Euro-Anleihen hinweist, was als Ausdruck der Marktskepsis gegenüber dem langfristigen Erfolgspotenzial der europäischen Einheitswährung zu werten wäre. 1.4. Standortattraktivität: USA haben die Nase vorn Die Sogwirkung der US-Wirtschaft auf ausländisches Kapital und ausländische Fachkräfte ist eine wesentliche Eigenschaft des Aufschwungs der amerikanischen Wirtschaft seit 1995. Im Zeitalter des «globalisierten Kapitalismus» fliesst das Kapital in diejenigen Länder, welche die besten Renditeperspektiven bieten. Das Defizit der Leistungsbilanz verliert an Bedeutung, solange ausländisches Kapital durch attraktive Rahmenbedingungen angezogen werden kann. In den Neunzigerjahren wies der USD/EUR-Wechselkurs eine positive Korrelation mit dem Defizit der amerikanischen Leistungsbilanz auf. Die fundamentalen Rahmenbedingungen der EuroZone waren in den letzten Jahren fast ausnahmslos schlechter als jene der USA. Die Deregulierung der Arbeits- und Gütermärkte ist unzureichend, und die hohen Arbeitskosten in einigen Ländern führen oft zu einer Verlagerung der Produktion ins Ausland. Manchenorts verkrustete Bildungssysteme dämpfen die Innovationsdynamik, und in vielen Schlüsselbranchen, wie Computer- oder Biotechnologie, liegt Europa eher im Rückstand. Experimente wie die Einführung der 35-Stunden Woche in Frankreich zeugen zudem von einem beschränkten Verständnis für die Wirtschaftsmechanismen. Die mehrheitlich sozialdemokratisch gesinnten EU-Regierungen haben schliesslich seit Ende 1998 eine geringe Reformbereitschaft an den Tag gelegt, was die Zurückhaltung der Anleger gegenüber dem Euro verschärft hat. Die Steuerbelastung und die Regulierungsdichte hemmen ebenfalls das Wachstumspotenzial der Euro-Zone. In vielen Ländern der EU beansprucht der Staat rund die Hälfte der nationalen Wertschöpfung für sich. In einer solchen «Marktwirtschaft» bleibt der Privatkonsum oft schwach, die Unternehmen investieren zusehends im Ausland und verlagern Arbeitsplätze. Ein Blick auf die Entwicklung der Nettoströme an Direktinvestitionen in Economic Briefing Nr. 21 5 Figur 2: Netto-Direktinvestitionen Euroland signalisieren mangelnde Standortattraktivität Quelle: Europäische Zentralbank Euroland seit 1997 (siehe Figur 2) belegt die mangelnde Attraktivität des Euro-Raums als Investitionsstandort. Die Expansion europäischer Unternehmen in die USA ist zwar als Zeichen von Dynamik zu werten, hat aber negative Folgen für den Wechselkurs gehabt. Das amerikanische Beispiel beweist trotz den unübersehbaren Übertreibungen der Reaganomics in den Achtzigerjahren (aggressive Steuersenkungen ohne Reduktion der Staatsausgaben), dass eine tiefe Steuerbelastung das Wachstumspotenzial einer Volkswirtschaft erhöht. Euroland leidet – verglichen mit den USA – immer noch unter strukturellen Nachteilen, was sich in höheren Risikoprämien für Anlagen in Euro niedergeschlagen hat. 1.5. Kapitalströme: alles drängt in die USA Die Hauptursache der Euro-Schwäche ist in der Richtung der Kapitalflüsse zwischen den USA und Euroland zu suchen. Die zunehmende Diversifikation von Aktienportfolios in den Neunzigerjahren, die hohe Eigenkapitalrentabilität der amerikanischen Unternehmen und der Wachstumseinbruch in zahlreichen aufstrebenden Ländern 1997/98 haben die USA zum Hauptziel internationaler Kapitalströme gemacht. Die Euro-Zone hat dagegen die Folgen ungünstiger Rahmenbedingungen verspürt. Ein Blick auf die verschiedenen Komponenten der Kapitalverkehrsbilanz der Euro-Zone verdeutlicht diesen Tatbestand. Direktinvestitionen: In den zurückliegenden Jahren haben europäische Konzerne, nicht zuletzt dank der Schaffung eines einheitlichen Euro-Kapitalmarkts, in 6 Economic Briefing Nr. 21 grossem Stil Übernahmen in den USA getätigt. Kein Unternehmen kann heute Branchenführerschaft anstreben, ohne eine starke Präsenz in den USA aufzubauen. Inzwischen haben viele europäische Firmen, wie die Deutsche Telekom mit dem Mobilfunkbetreiber VoiceStream, einen Brückenkopf in den Vereinigten Staaten erworben. Selbst wenn die Verwerfungen an den Technologiebörsen und Kreditmärkten die Finanzierung von Übernahmen erschweren und die Abkühlungstendenzen in der Weltwirtschaft auf eine rückläufige Fusionstätigkeit hinweisen, ist ein abruptes Versiegen der Direktinvestitionen in den Dollar-Raum aus strukturellen Überlegungen kaum zu erwarten. Portfolioinvestitionen: Ausländische Anleger haben seit 1997 vermehrt in amerikanische Unternehmensanleihen und Aktien investiert. In einer Zeit zunehmender Finanzkrisen wirkten die eindrückliche Schubkraft der US-Binnenkonjunktur, das fast unerschöpfliche Gewinnwachstum der US-Technologiekonzerne und die angebliche Unfehlbarkeit der amerikanischen Notenbank wie ein Magnet auf ausländisches Kapital und trieben den Dollar in die Höhe. Die Abschwächung der amerikanischen Konjunktur und die Verschlechterung der Bonität von US-Unternehmen dürften hier dauerhafte Spuren hinterlassen, so dass in diesem Sektor eine Abnahme der Kapitalzuflüsse zu erwarten ist. Neugewichtung der MSCI-Indexfamilie: Die Berücksichtigung des Streubesitzes («Free Float») an der Marktkapitalisierung einer Firma führt zu einer Neugewichtung der bekannten Aktienindexfamilie von Morgan Stanley Capital International (MSCI), die per Saldo zugunsten amerikanischer Aktien ausfällt. Die europäischen Staaten halten zum Beispiel immer noch grosse Aktienblöcke an ihren ehemaligen Telekombetrieben – Blöcke, die aus der neuen Indexberechnung fallen. Portfolioumschichtungen indexgerichteter Vermögensverwalter dürften zu einem Mittelabfluss aus Euroland von rund 45 Mrd. USD führen, während die USA mit einem Zufluss von etwa 35 Mrd. USD rechnen können. CREDIT SUISSE Economic Research 2. Wegmarken für den Euro In einem Jahr, am 1.1.2002, beginnt die EuroBargeldeinführung. Damit bekommt die Einheitswährung ein Gesicht und wird auch für die breite Bevölkerung greifbar. Der Euro-Aussenwert erfährt durch die neuen Münzen und Banknoten jedoch nicht automatisch eine Neubewertung. Psychologisch ist der Moment aber enorm wichtig: Wird im Augenblick, da die physische Ablösung nationaler Währungen sichtbar wird, verstärkt Geld aus der Euro-Zone abgezogen? Oder kann der Euro das Vertrauen der Anleger gewinnen? Wegweisend wird sein, welche Signale die EU aussendet, die als Wirtschaftsstandort attraktiver werden will und die Osterweiterung vorbereitet. 2.1. EU-Politik: Nizza als Startpunkt Den institutionellen Rahmen für Euroland bildet das politische System der EU. Vertrauensbildung in den Euro setzt voraus, dass die politischen Entscheidungsprozesse in der Gemeinschaft funktionieren und nicht blockieren. Nur eine handlungsfähige EU kann Impulse für einen wirtschaftspolitischen Reformkurs geben und die Erweiterung mit Zuversicht angehen. Der EU-Gipfel von Nizza mit seinen zahlreichen Kompromissen markiert im institutionellen Reformprozess eine Etappe, aber keinen Schlusspunkt. Nötig wäre insbesondere eine Reform des EZB-Rates, wo über die Geldpolitik entschieden wird. Bereits jetzt ist dort der mögliche Einfluss nationaler Einzelinteressen gross: Sechs EZB-Direktoren stehen zwölf nationale Zentralbankpräsidenten gegenüber. Mit jeder Erweiterung der Euro-Zone wird die nationale Ebene gestärkt und könnte die Handlungsfähigkeit der EZB geschwächt werden. Eine Reduktion der Vertretung nationaler Zentralbanken könnte durch ein Rotationssystem nach amerikanischem Muster erreicht werden. Wie sich die am Nizza-Gipfel beschlossene Stärkung der bevölkerungsreichen Staaten im Ministerrat auf die Entscheidungsfähigkeit der EU auswirkt, wird erst die politische Praxis zeigen. Denn mehr Einfluss für die grossen Länder bedeutet auch, dass sie schon zusammen mit wenigen Verbündeten Entscheide blockieren können. Ungeklärt bleibt zudem die Frage nach der Machtbalance zwischen Ministerrat und Kommission. Die grosse Debatte über eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und den einzelnen MitgliedstaaCREDIT SUISSE Economic Research ten ist auf das Jahr 2004 angesetzt. Ausgeblieben ist in Nizza eine substanzielle Ausdehnung des Abstimmungsverfahrens mit Mehrheitsentscheidungen. Ein Ansatz, um die bremsende Wirkung nationaler Vetos zu entschärfen, ist dagegen mit der Erleichterung der verstärkten Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten eingeleitet worden. Denn dass beim Integrationsprozess alle im Gleichschritt voranschreiten, ist in Zukunft immer schwieriger zu erreichen. 2.2. Wirtschaftspolitik: eindeutiger Reformkurs erforderlich Euroland steht im Schatten der Attraktivität des US-Wirtschaftsraums. Für Europa stellt sich die Schlüsselfrage, ob der Abstand zu den Vereinigten Staaten spürbar verringert werden kann oder ob die USA ihre Spitzenposition auch längerfristig behalten, da dort in den Achtziger- und Neunzigerjahren die wirtschaftspolitischen Weichen richtig gestellt wurden. Gefordert sind in Europa marktwirtschaftliche Reformen, die eine gemeinsame Stossrichtung erkennen lassen und kein diffuses Bild unterschiedlicher Zielsetzungen vermitteln. Dadurch könnte die Wirkung der Euro-Einführung, welche einen tieferen und liquideren Kapitalmarkt entstehen liess, verstärkt werden. Die Steuersenkungen in Deutschland und Frankreich sind ein erster Schritt, weiterer Handlungsbedarf besteht speziell bei der Flexibilisierung der Arbeitsmärkte und der Reform der Altersvorsorge. Die Umsetzung von Vorhaben, welche die Vervollständigung der Binnenmarkt- Figur 3: Ausgaben für Informationsund Telekommunikationstechnologie Quelle: Europäische Kommission, basierend auf EITO 2000 Economic Briefing Nr. 21 7 integration anvisieren, wäre ein positives Signal für die Euro-Zone. Hervorzuheben sind beispielsweise die EU-Aktionspläne für Finanzdienstleistungen und den Risikokapitalmarkt sowie die Initiative eEurope. Bei den Risikokapitalinvestitionen etwa liegt Europa deutlich hinter den USA zurück. Ebenfalls tiefer sind in Europa die Gesamtausgaben für Informations- und Telekommunikationstechnologie (IKT). Bei einer gesonderten Betrachtung der IKT-Ausgaben fällt jedoch auf, dass die EU im Bereich der Informationstechnologie zwar klar im Hintertreffen ist, bei der Telekommunikation aber vor den USA liegt (siehe Figur 3). Potenzial, um die Wettbewerbsposition gegenüber den USA zu verbessern, ist vorhanden. Bremsmanöver bei den Reformprojekten müssen jedoch unbedingt vermieden werden. 2.3. EWU-Erweiterung: Wünsche und Realitäten Nach dem «Nein» Dänemarks zum Euro drängt sich die Frage auf: Ist die Euro-Zone nur für die schwächeren Volkswirtschaften Mittel- und Osteuropas attraktiv, während die stärkeren Länder Nordeuropas auf absehbare Zeit fernbleiben? Skepsis in Nordeuropa: Grossbritannien, Schweden und Dänemark sind die Wunschkandidaten der EuroZone. Gesunde Staatsfinanzen und eine Arbeitslosenrate unter dem EWU-Durchschnitt machen sie für Euroland attraktiv. Nicht nur Dänemark bleibt aber zum Euro auf Distanz: Über 70% der Briten und mehr als die Hälfte der Schweden lehnen heute den Euro ab. Ein Wegweiser für die Entwicklung der Euro-Stimmung im Norden ist das innenpolitische Kräftemessen in Grossbritannien. Bei den nächsten Wahlen, wahrscheinlich im Frühling 2001, werden die Konservativen mit Kampagnen gegen den Euro die Labour-Regierung Tony Blairs herausfordern. Warteschlange im Osten: Die EU-Kandidatenländer Mittel- und Osteuropas weisen im Vergleich zur EuroZone ein deutlich tieferes Pro-Kopf-Einkommen auf. Damit ihre Volkswirtschaften aufholen können, müssen sie über Jahre hinweg höhere Wachstumsraten erzielen, womit erfahrungsgemäss höhere Inflationsraten verbunden sind. Der Aufholprozess wird den EU-Kandidatenländern besser gelingen, wenn sie weiterhin über das Ventil einer eigenständigen Geldpolitik und flexibler Wechselkurse verfügen. Ein allzu früher Beitritt zur EWU wäre für den Euro belastend, obwohl rein statistisch gesehen höhere Inflationsraten in Mittel- und Osteuropa einen geringen Einfluss auf die Teuerungsrate in 8 Economic Briefing Nr. 21 Figur 4: Ländergewichtung im Verbraucherpreisindex einer erweiterten EWU Zur Messung der Inflation in der Euro-Zone benutzt die EZB den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI). Die Gewichtung eines Landes im HVPI entspricht seinem Anteil am privaten Inlandsverbrauch der EWU insgesamt. Quelle: CREDIT SUISSE Economic Research der Euro-Zone haben dürften (siehe Figur 4). Nimmt die EZB in einer solchen Situation dennoch Rücksicht auf die Lage Mittel- und Osteuropas, belastet sie mit einer Zinserhöhung die ganze EWU. Bleibt die EZB tatenlos, führen die künstlich tief gehaltenen Zinsen zu einer Überhitzung der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften und einer Verschlechterung der dortigen Wettbewerbsfähigkeit. Die Devisenmärkte müssten unweigerlich den Schluss ziehen, dass Euroland durch schwache Volkswirtschaften belastet ist – nicht vorübergehend, sondern auf Dauer. Die ersten Staaten Mittel- und Osteuropas können voraussichtlich ab 2005 zur EU stossen. Mit dem rechtlichen Besitzstand der Gemeinschaft übernehmen sie die Pflicht, nach einer Übergangsphase der EWU beizutreten. Voraussetzung dafür ist die Erfüllung der Maastrichter Konvergenzkriterien (Inflationsrate, Budgetdefizit, Verschuldung, Zinssätze und zweijährige Mitgliedschaft im EWS II) sowie die Berücksichtigung weiterer Faktoren wie namentlich die Integration der Märkte und die Lohnstückkosten. Die Frage nach zusätzlichen – realwirtschaftlichen – Kriterien ist politisch sehr umstritten. Bei der Vorbereitung auf einen allfälligen EWU-Beitritt sollten die Länder Mittel- und Osteuropas aber aus eigenem Interesse die realwirtschaftliche Entwicklung beachten und ein etwas längeres Verweilen im Warteraum von Euroland in Kauf nehmen. CREDIT SUISSE Economic Research 3. Ausblick In der kurzen Frist hat der Euro die Talsohle durchschritten. Die abnehmende Wachstumsdynamik der amerikanischen Wirtschaft führt nun zu einer spürbaren Verringerung der Wachstumsdifferenzen zwischen den beiden Regionen und hat den Weg für eine Erstarkung des Euro geebnet. Im Jahreshorizont sehen wir den Euro zwischen 0.95 – 0.98 USD/EUR. Mit einem stärkeren Kursanstieg des Euro ist kaum zu rechnen. Ein panikartiger Rückzug der Anleger aus dem Dollar ist ein unrealistisches Szenario. Die amerikanischen institutionellen Anleger kontrollieren nach wie vor beachtliche Vermögen und haben sich seit der Geburt des Euro gegenüber der Einheitswährung sehr zurückhaltend gezeigt. Angesichts der unsicheren amerikanischen Konjunkturentwicklung dürfte an den USFinanzmärkten die Risikoaversion zunehmen, was nicht für grössere Umschichtungen aus dem Heimmarkt in den Euro-Raum spricht. Da der intensive Preiswettbewerb in der US-Wirtschaft inflationsdämpfend wirkt, kann es sich die amerikanische Notenbank im Fall von Börsenturbulenzen erlauben, den lokalen Finanzmärkten mit Zinssenkungen unter die Arme zu greifen. Damit kann sie einem Vertrauensverlust gegenüber dem Dollar entgegenwirken. Dass die US-Wirtschaft nicht aus dem Tritt gerät und der Euro-Kurs nicht über 1 USD/EUR steigt, liegt auch im Interesse Europas. Der schwache Euro hat einiges zur Ankurbelung der europäischen Wirtschaft beigetragen. Ein rascher Wertzerfall des Dollars, verknüpft mit einer harten Konjunkturlandung in den USA, würde den exportgestützten Aufschwung in Europa abwürgen. Zwei Unsicherheitsfaktoren könnten die Erholung des Euro ebenfalls in Grenzen halten. Der erste ist der Ölpreis. Da Erdöl auf dem Weltmarkt in Dollar gehandelt wird, führt ein hoher Ölpreis zu einem Anstieg der DollarNachfrage. Eine Zuspitzung der Lage im Nahen Osten könnte die Erdölnotierungen wieder anziehen lassen. Der zweite Unsicherheitsfaktor liegt in einer möglichen Aufweichung der US-Fiskalpolitik. Die Konjunkturabflachung in den USA dürfte selbst einem geschwächten Präsidenten erlauben, ein Paket aus Steuersenkungen und Ausgabenerhöhungen durch den Kongress zu bringen. Im Extremfall könnte sich in Jahresfrist die Konstellation einer expansiven Fiskalpolitik bei restriktiver Geldpolitik wiederholen, die in den Achtzigerjahren unter Präsident Reagan den Dollar in die Höhe trieb. CREDIT SUISSE Economic Research Strukturelle und institutionelle Elemente beeinflussen die längerfristige Entwicklung des Euro. Nur ein eindeutig erkennbarer wirtschaftspolitischer Reformkurs kann ausländische Kapitalflüsse in die Euro-Zone leiten. Ein Reformstau in Europa lässt das Kapital vorbeifliessen. Unter diesem Gesichtspunkt haben die Länder der EWU noch einige Hausaufgaben zu lösen, um die Gefahr einer dauerhaften strukturellen Schwächung der Einheitswährung abzuwenden. Der Euro-Aussenwert dürfte zudem von den künftigen Aussengrenzen von Euroland beeinflusst werden. Ein anhaltendes Abseitsstehen Nordeuropas und eine überhastete EWUErweiterung nach Osten würden den Euro belasten. Gerade im Hinblick darauf, dass sich nach einer EU-Erweiterung dereinst auch die Euro-Zone nach Osten ausdehnen soll, braucht Euroland funktionierende institutionelle Rahmenbedingungen. Dazu gehört ein EZB-Direktorium, das bei den geldpolitischen Entscheiden im EZB-Rat genügend Einfluss hat. Dazu gehören politische Entscheidungsprozesse, die auch in einer EU mit 27 Mitgliedern nicht zu einer Blockade führen. Diesbezüglich bleibt nach dem Ringen um erste institutionelle Reformen am EU-Gipfel von Nizza weiterer Handlungsbedarf. Economic Briefing Nr. 21 9 Notizen 10 Economic Briefing Nr. 21 CREDIT SUISSE Economic Research In der Reihe «Economic Briefing» sind bisher folgende Ausgaben erschienen: Nr. Titel Mat.-Nr. Deutsch Mat.-Nr. Französisch Mat.-Nr. Italienisch Mat.-Nr. Englisch 1 Europäische Währungsunion: Ein Jahr vor der Entscheidung (4/97) vergriffen vergriffen – – 2 Europäische Währungsunion: Ihre Fragen, unsere Antworten (7/97 und 5/98) 1521021 1521022 1521023 1521024 3 Inflation: Totgesagte leben länger (10/97) 1510331 – – – 4 Die EWU: Spreads and more . . . (10/97) vergriffen – – vergriffen 5 Schweizerische Sozialpolitik: Quo Vadis (10/97) vergriffen 1510352 – – 6 Elchtest für den Euro: Der Weg zur Einheitswährung (3/98) vergriffen vergriffen – vergriffen 7 Kreditmarkt Schweiz: Ökonomische Zusammenhänge (7/98): 1510771 1510772 1510773 – 8 Unternehmen und Euro: Habe ich an alles gedacht? (5/98) 1510781 1510782 vergriffen – 9 Der Euro kommt: Mechanik und Dynamik im Euroland (7/98) vergriffen vergriffen – vergriffen 10 Kantonale Finanzen: Die Herausforderungen der Zukunft verlangen Teamarbeit (9/98) 1510871 1510872 – – 11 Das Jahr-2000-Problem: Keine Rezession in Sicht (6/99) vergriffen vergriffen – vergriffen 12 Allfinanz: Nicht neu, aber mit Zukunft (10/99) 1510991 1510992 1510993 – 13 Neuer Glanz für Gold . . . (10/99) 1540701 1540702 – – 14 Aktien als langfristige Kapitalanlage (11/99) 1540711 1540712 – 1540714 15 Electronic Commerce: (R)evolution für Wirtschaft und Gesellschaft (1/00) 1511361 1511362 – 1511364 16 Europäische Union: Gestern, heute, morgen (3/00) 1511381 1511382 – 1511384 17 Shareholder Value: Viel mehr als ein Schlagwort (6/00) 1540801 – – 1540804 18 Die Schweiz im internationalen Wettbewerb (8/00) 1540811 1540812 – 1540814 19 Der schweizerische Arbeitsmarkt – ein wachstumslimitierender Faktor? (9/00) 1540831 1540832 1540833 – 20 Diversifikation – Strategie für eine erfolgreiche Kapitalanlage (12/00) 1540871 1540872 – 1540874 21 Der Euro auf der Suche nach seiner Identität (1/01) 1511491 1511492 1511493 1511494 CREDIT SUISSE Economic Research Economic Briefing Nr. 21 11 CCV / Mat.-Nr. 1511491 / 1.2001 Gedruckt auf 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff