Wissen A1PIX NZZ am Sonntag 7. Juli 2013 49 Streit um die Evolution Der Philosoph Thomas Nagel kritisiert Darwins Theorie. Seite 53 Musik ohne Störung Kopfhörer mit aktiver Geräuschisolation im Vergleich. Seite 54 Heilende Ruhe Wie Meditation Krankheiten positiv beeinflusst. Seite 55 FRANCO BANFI / NATURE PICTURE LIBRARY Das Treibhausgas Kohlendioxid versauert die Meere, was die Kalkskelette von Korallen – hier in den Malediven – angreift. Inflation der Klimaziele Der Klimawandel führt zur Erderwärmung, bedroht aber auch Ozeane und Böden. Forscher fordern darum eine stärkere Reduktion der CO2-Emissionen. Das bringt die Klimapolitik kaum weiter. Von Patrick Imhasly D er Klimawandel findet statt, und er stellt die Welt vor grosse Herausforderungen. Darüber sind sich die meisten Klimaforscher und Umweltpolitiker einig. Doch ab wann wird die globale Erwärmung wirklich zum Problem für uns Menschen? In den letzten Jahren hat sich in der internationalen Klimapolitik das ZweiGrad-Ziel als eine Art magische Grenze des Erträglichen etabliert. Auch wenn dieser Wert eher ein klimapolitisches Konstrukt als eine wissenschaftlich begründete Limite darstellt, hat man sich darauf verständigt: Ein Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit lässt sich gerade noch in den Griff kriegen. Doch jetzt stören Klimaforscher der Universität Bern diesen Konsens – mit einer Publikation im renommierten britischen Fachblatt «Nature», welche diese Woche online erschienen ist. Sie definiert neben dem Zwei-Grad-Ziel fünf weitere Klimaziele, die die Menschheit unbedingt im Auge behalten sollte. «Der Klimawandel bedeutet mehr als nur eine Erhöhung der Temperatur», erklärt Marco Steinacher, der Hauptautor der Studie. «Mit dem Zwei-Grad-Ziel allein wiegen wir uns in falscher Sicherheit.» Um das Klimasystem umfassend vor einer gefährlichen Beeinflussung des Menschen zu schützen – wie das die 1992 verabschiedete Klimarahmenkonvention der Uno (UNFCCC) vorsieht –, braucht es nach Ansicht der Berner Wissenschafter eine Kombination von globalen und regionalen Zielen. Konkret schlagen die Klimaphysiker diese sechs Klimaziele vor: Î die globale Erwärmung auf zwei Grad beschränken; Î die Bedrohung tropischer Korallen minimieren – das Treibhausgas Kohlendioxid versauert die Meere, wenn es sich im Wasser löst, was die Skelette von Korallen angreift; Î aus dem gleichen Grund die Zersetzung der Kalkschalen von Meerestieren wie Muscheln oder Schnecken im südlichen Ozean vermeiden; Î den Verlust von Kohlenstoff auf Die Rettung des Klimas wird immer aufwendiger Zulässige CO2-Emissionen bis 2100, um bestimmte Klimaziele zu erreichen (mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 Prozent) Jahr 1750 1950 1980 2000 2010 2020 2100 847 Mrd. t 2-°C-Ziel 2100 592 Mrd. t Alle Ziele 0 200 400 600 800 Kumulierte CO2-Emissionen aus fossilen Quellen (Milliarden Tonnen Kohlenstoff) Klimaziel 1 Die globale Erwärmung auf 2 °C beschränken. Klimaziel 2 Die Bedrohung von Korallen durch die Ozenversauerung minimieren. Klimaziel 3 Die Zersetzung der Kalkschalen von Meerestieren vermeiden. Quelle: M. Steinacher/Oeschger Centre/Universität Bern 1000 Klimaziel 4 Den Verlust von Kohlenstoff auf Ackerflächen begrenzen. Klimaziel 5 Die Produktion von Nahrungsmitteln gewährleisten. Klimaziel 6 Den Anstieg des Meeresspiegels begrenzen. Ackerflächen begrenzen – je wärmer es wird, desto mehr Kohlendioxid setzen Bodenbakterien dort frei, und der Treibhauseffekt verstärkt sich; Î die Produktion von Nahrungsmitteln sicherstellen, zumal durch Dürren oder Überschwemmungen Anbauflächen verloren gehen dürften; Î den Anstieg des Meeresspiegels begrenzen, der flache Küstengebiete bedrohen könnte. Ein integrierter Klimaschutz, von dem das ganze Ökosystem Erde profitiert: Das tönt gut, doch dieses Paket ist nicht gratis zu haben. Durch Simulationen mit einem Erdsystemmodell zeigen die Berner Klimaphysiker denn auch im Detail auf, welche Gegenleistung die Menschheit dafür zu erbringen hat. «Wenn wir alle Klimaziele zusammen berücksichtigen, muss der CO2-Ausstoss künftig doppelt so stark reduziert werden, wie wenn wir einzig das Zwei-Grad-Ziel erreichen wollen», sagt Marco Steinacher (siehe Grafik). Das ist eine Herkulesaufgabe, zumal verschiedene Studien zum Schluss .................................................................................. a Fortsetzung Seite 50 50 Wissen NZZ am Sonntag V 7. Juli 2013 Aus den Tropen in die Welt Wie der Mensch aus der wilden Baumwollpflanze eine Nutzpflanze für gemässigte Klimazonen machte: Die Geschichte dieses frühen Zuchterfolges beginnt Jahrhunderte früher als bisher vermutet. Von Geneviève Lüscher E lizabeth Baker Brite und John Marston waren verblüfft. Auch für Archäologen ist es eine Überraschung, wenn bei einer Ausgrabung Sämereien gefunden werden. Und als dann die archäobotanische Analyse nebst Getreide auch Baumwolle nachwies, war die Freude gross: Baumwollsamen aus dem 4./5. Jahrhundert n. Chr. und so weit nördlich – das hatte niemand erwartet. Der Fund liefert einen ersten Hinweis, dass die heute weltweit wichtigste Textilpflanze früher domestiziert wurde als bisher angenommen. Gefunden wurden die botanischen Reste in einem bis auf die Fundamente zerstörten Haus in der Nähe des Aralsees, in Kara-Tepe, Usbekistan, wo die Universität von Los Angeles seit einigen Jahren Grabungen durchführt. Erhalten haben sie sich nur, weil das Haus ein Raub der Flammen geworden war. Die Samen, welche für die nächste Aussaat bereitlagen, waren alle verkohlt, was sie vor dem Verrotten schützte. Über die Kultivierung und Verbreitung der Baumwolle ist wenig bekannt. Wie alle Kulturpflanzen hat sich die Nutzpflanze aus einer Wildform entwickelt. In Indien und Afrika beheimatet, musste sie verschiedene, irreversible Prozesse durchlaufen, welche die Botaniker unter dem Begriff Domestikation zusammenfassen. Zu den ältesten domestizierten Pflanzen gehören die Getreide, mit deren genetischen Veränderung der Mensch vor rund 10 000 Jahren im Fruchtbaren Halb- mond begonnen hat. Im Laufe der Zeit sind weitere Nahrungspflanzen dazugekommen – Erbsen, Linsen, Bohnen. Als erste Faserpflanze taucht in der Alten Welt der Lein auf, dessen ölhaltige Samen geniessbar sind. Aufwendige Verarbeitung Die Baumwolle hingegen kann nur für die Textilproduktion genutzt werden. Sie befriedigt keine existenziellen menschlichen Bedürfnisse, sondern liefert ein Rohmaterial, das noch aufwendig verarbeitet werden muss. Ihre Kultivierung und Verbreitung folgte deshalb anderen Mustern. Das mag mit ein Grund dafür sein, warum sie in der Menschheitsgeschichte erst spät kultiviert wurde. Und warum sie noch so wenig erforscht ist. Die ältesten Baumwollsamen und -fasern stammen aus dem 6. Jahrtausend v. Chr. und kamen in der Siedlung Merhgarh im heutigen Pakistan zum Vorschein. Ab der Mitte des 3. Jahrtausends wird Baumwolle in Südasien häufiger. Vereinzelt taucht sie in der Mitte des 1. Jahrtausends am Persischen Golf auf und erst kurz nach der Zeitenwende auch in Nordafrika. Insgesamt bleiben die Samenfunde – nur sie allein zeigen an, dass Baumwolle angepflanzt wurde – spärlich. Für die sechs Jahrtausende präsentieren Elizabeth Baker Brite und John Mars- Fundstellen im Osten Baumwollsamen aus dem 6. Jh. vor Christus, bis zum 1. Jh. nach Christus USBEKISTAN TURKMENISTAN CHINA PAKISTAN ÄGYPTEN SAUDIARABIEN INDIEN CHARLES SYKES / AP PHOTO Noch mehr . . . .................................................................................. c Fortsetzung von Seite 49 gekommen sind, dass nur schon das Zwei-Grad-Ziel zu entschwinden drohte, wenn die Treibhausgasemissionen nicht rasch und massiv gesenkt werden. Der weltweite Ausstoss von Kohlendioxid aus fossilen Quellen ist aber laut einem Bericht der Internationalen Energieagentur im vergangenen Jahr auf ein Rekordhoch angestiegen. «Es führt kein Weg daran vorbei: Wollen wir die Risiken für das Klimasystem vermindern, dann müssen wir bei der Reduktion der fossilen CO2Emissionen vorwärtsmachen», sagt Fortunat Joos, neben Thomas Stocker der zweite Mitautor der «Nature»Studie aus Bern. Massnahmen, um dieses Ziel möglichst effizient zu erreichen. Im Politikbetrieb hingegen werden Ziele viel weniger konsequent verfolgt: Wenn Sachzwänge es nötig machen, ändern Politiker ihre Ziele ab oder geben sie sogar ganz auf. «Politik hat immer noch die Tendenz, sehr kurzfristig orientiert zu sein», sagt Oliver Geden. Der Weg aus dem Dilemma «Sicheres Betätigungsfeld» «Wie bei den meisten Studien auf der Basis von Modellen liegt die Bedeutung dieser Arbeit weniger in den konkreten Zahlen als in einer grundlegenden Erkenntnis», schreibt der ETHKlimaphysiker Joeri Rogelj in einem Kommentar in «Nature». Die Studie beschreibe eine Art «sicheres Betätigungsfeld für die Menschheit». Und er ist überzeugt: «Die Relevanz solcher Arbeiten für politische Entscheidungsprozesse kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.» Doch genau das bezweifelt der Politikwissenschafter Oliver Geden. «Nimmt ein Politiker die Erkenntnisse dieser Studie zum Nennwert, dann müsste er sich fragen: Warum soll ich Dinge beschliessen, die noch viel unrealistischer sind als das Zwei-Grad- ton eine Liste, die bis anhin nur knapp 30 Fundorte umfasst. Um 1000 n. Chr. erfolgte dann ein eigentlicher Baumwoll-Boom. Es war jetzt gelungen, die Staude auch in Gegenden mit kühlerem Klima anzupflanzen, wo sie intensiv bewässert werden musste. Dieser entscheidende Sprung in der Entwicklung wurde in der bisherigen Forschung mit dem Islam und seiner Ausbreitung in Zusammenhang gebracht. Die expandierende Religion erschloss neue Handelsmärkte und förderte den technischen Fortschritt in der Bewässerung in Persien, Südwestasien, Ägypten, der Türkei, im Maghreb und sogar in Spanien. Im iranischen Hochland wurde die Pflanze fast industriell angebaut; Rohmaterial wie Stoffe und Kleider gelangten über die grossen Märkte in Bagdad und Basra in den Handel. Die gemeinsame Religion, die arabische Sprache und Kultur erleichterten Kommunikation und Weitergabe von Know-how. Zudem unterstützten islamische Kleidervorschriften, welche den Männern das Tragen von Seide verbieten, die Vorliebe für die damals vermutlich noch kostbare Baumwolle. Der entscheidende Schritt war aber nicht die Bewässerung der Pflanze, sondern ihr Wechsel von der Mehrzur Einjährigkeit. Die älteste kultivierte Baumwolle – Gossypium herbaceum und Gossypium arboreum – wächst, wie ihre wilden Vorfahren, als mehrjähriger Busch oder kleiner Baum. Auch längere Trockenperioden oder leicht salzhaltige Böden machen ihr nichts aus. Sie erträgt keinen Frost, ist aber auf etwas kühlere und kürzere Winter- Hochwasser in New York nach dem Hurrikan «Sandy». Ziel?», erklärt der Experte für Klimapolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, die Bundesregierung und Parlament berät. Geden bringt damit eine prinzipielle Diskrepanz auf den Punkt – nämlich, dass sich die Logik der Wissenschafter fundamental von jener der Politiker unterscheidet. «Den Klimawandel nicht auf Temperatureffekte zu reduzieren, dieser Ansatz ist wissenschaftlich absolut legitim», erklärt Geden. «Aber zumindest den Entscheidungsträgern an der Spitze der Politik hilft es nicht weiter, wenn man die Komplexität erhöht.» Wissenschafter identifizieren ein Problem, erarbeiten eine Lösung, setzen sich ein Ziel und suchen dann nach .................................................................................. «Wenn ein Auto gegen eine Mauer fährt, fragt sich der Fahrer nicht, wie stark er bremsen soll, er bremst einfach.» .................................................................................. Ähnlich ernüchternde Erfahrungen hat auch der Klimaphysiker Reto Knutti von der ETH Zürich gemacht, der am neuesten Bericht des Uno-Klimarats IPCC mitarbeitet. «Die Klimawissenschaft hat immer gesagt: Ihr müsst die CO2-Emissionen reduzieren, dann wird alles gut. In der Praxis herrschen aber Zielkonflikte, darum kommt die internationale Klimapolitik nicht vom Fleck», sagt der Forscher. Naturschützer möchten die Gletscher durch die Verwendung von Energieträgern aus nichtfossilen Quellen vor dem Abschmelzen bewahren, Vogelschützer wollen aber keine Windturbinen, und Staaten wie China denken nicht daran, sich ihr wirtschaftliches Entwicklungspotenzial von klimapolitischen Massnahmen einschränken zu lassen. «Aus diesem Dilemma gibt es keinen einfachen Ausweg», erklärt Knutti. «Es wäre naiv, zu glauben, die Wissenschaft könne diese Zielkonflikte lösen.» Wie in anderen Politikfeldern führe auch in der Klimapolitik wohl nur ein langer und schmerzhafter Prozess der Konsensfindung weiter. «Statt ständig über Klimaziele und Zeitpläne zu reden, sollten wir in der Klimapolitik pragmatisch vorgehen und uns zum Beispiel fragen: Was sind wir bereit, in den nächsten fünf Jahren In Ländern wie Kasachstan wird Baumwolle auch heute noch von Hand geerntet. tage angewiesen, um im Folgejahr Blüten bilden zu können. Den Menschen war es nun gelungen, eine einjährige Baumwollpflanze zu züchten. Nur so konnte sie auch in kalten Regionen – mit ausreichend warmen Sommern – angebaut werden. Dort musste sie nun allerdings Jahr für Jahr neu ausgesät werden. Wann und wo diese grundlegende Selektion stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Es scheine aber logisch, sagen die amerikanischen Forscher, dass sie noch in den Tropen oder Subtropen vor sich gegangen sei, weil «Experimente» mit mehrjähriger Baumwolle in kalten Gezu tun?», sagt Oliver Geden. In Staaten – besonders in Demokratien – sei es unmöglich, ein politisches Ziel während Jahrzehnten generalstabsmässig zu verfolgen. Schon bei den nächsten Wahlen kann sich die umweltpolitische Agenda ändern. Geden plädiert deshalb dafür, vom globalen Masterplan zur Rettung des Klimas durch verbindliche Grenzwerte wegzukommen. «Klimapolitisch ambitionierte Staaten sollten nicht grosse Ziele definieren, sondern versuchen, bei den Emissionen eine Trendwende herbeizuführen.» Insbesondere die Europäer stehen laut dem Berliner Klimapolitik-Experten vor der ganz praktischen Aufgabe, zu zeigen, inwiefern eine Dekarbonisierungsstrategie technologisch möglich und zugleich ökonomisch erfolgreich sein kann. Einen Schritt in diese Richtung hat auch US-Präsident Barack Obama getan, als er jüngst ankündigte, etwa durch die Förderung erneuerbarer Energien oder Abkommen mit Drittstaaten den Klimaschutz auf eigene Faust voranzutreiben. «Wenn ein Auto gegen eine Mauer fährt, fragt sich der Fahrer nicht, wie stark er bremsen soll, er bremst einfach», erklärt Klimaforscher Reto Knutti. Wir sollten nicht lange darüber diskutieren, um wie viele Milliarden Tonnen die CO2-Emissionen gesenkt werden müssten, sondern damit anfangen. «Die Ziele, die wir damit erreichen wollen, können wir später noch justieren.» Und Oliver Geden sagt: «Lässt man sich auf eine pragmatische Haltung im Klimaschutz ein, dann können nicht alle wünschbaren Klimaziele erreicht werden. Wichtiger ist, dass nach Jahrzehnten des Stillstands überhaupt etwas in Gang kommt.»