Drogenkonferenz 2002

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Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit
Drogenkonferenz 2002
Arbeitsergebnisse
für Rheinland-Pfalz
"Rede nicht – Traue nicht – Fühle nicht"
(Claudia Black)
Kinder Suchtkranker und junge Suchtkranke
in verschiedenen Hilfesystemen
Arbeit
Soziales
Familie
Gesundheit
Drogenkonferenz
2002
24. Fachtagung der Landesregierung
mit den Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe
in Rheinland-Pfalz
am 22. April 2002
"Rede nicht – Traue nicht – Fühle nicht"
(Claudia Black)
Kinder Suchtkranker und junge Suchtkranke
in verschiedenen Hilfesystemen
Arbeitsergebnisse
Herausgeber:
Ministerium für Arbeit, Soziales,
Familie und Gesundheit Rheinland-Pfalz
Referat für Reden und Öffentlichkeitsarbeit
Bauhofstraße 9, 55116 Mainz
www.masfg.rlp.de
Broschürentelefon: (0 61 31) 16-2016
(Bürgerservice-Telefon: (0800) 1 18 13 87)
Juni 2003
ISBN: 3-936257-03-5
Gestaltung und Druck:
Repro- & Druckstudio
Müller / Stieber, Waldböckelheim
Titelgestaltung: Andrea Wagner, Mainz
Diese Druckschrift wird im Rahmen der Öffentlichkeitsarbeit der rheinland-pfälzischen Landesregierung kostenlos herausgegeben. Sie darf weder von Parteien noch von Wahlwerbern oder Wahlhelfern während eines Wahlkampfes zum Zwecke der Wahlwerbung verwendet werden. Dies gilt
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einzelner Gruppen verstanden werden könnte. Den Parteien ist es jedoch gestattet, die Druckschrift zur Unterrichtung ihrer einzelnen Mitglieder zu verwenden.
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort
Malu Dreyer, Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit . . . . . . . . . .5
"Kinder Suchtkranker und junge Suchtkranke
in verschiedenen Hilfesystemen"
Malu Dreyer, Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit . . . . . . . . . .7
I. Kinder Suchtkranker – suchtkranke Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .17
Prof. Dr. Michael Klein, Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen,
Köln
II. Strafrechtliche Risiken im Umgang mit Kindern suchtkranker Familien . .49
Prof. Dr. Peter Bringewat, Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg
III. Beiträge aus den Foren
Forum I:
Kinder in suchtkranken Familien
Die Notwendigkeit differenzierter Handlungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .61
Dr. Martin Zobel, Rheinisches Institut für angewandte Suchtforschung,
Mayen und Koblenz
Präventive Arbeit mit Kindern suchtkranker Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .70
Traudel Schlieckau, Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen,
Fachreferat der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in
Niedersachsen, Hannover
Kinder Suchtkranker in therapeutischen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .80
Helmut Schwehm, Therapiezentrum Villa Maria, Ingenheim
Forum II:
Beratungs- und Behandlungskonzepte für Jugendliche mit einer
Suchtproblematik
Soziale und berufliche Eingliederung junger Menschen
mit Suchtproblemen im Rahmen der Jugendhilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .93
Dr. Uwe Bach, CJD Jugenddorf Wolfstein, Niedermühle, Odernheim
Szenenwechsel – ein Behandlungskonzept
für junge Suchtkranke bis 18 Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .104
Dr. Ursula Kirsch, Rheinische Kliniken, Viersen
Behandlungskonzept für jugendliche Drogenabhängige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .113
Robert Schnöd, Therapeutische Einrichtung Eppenhain, Kelkheim
Forum III:
Offene Grenzen – gemeinsame Probleme.
Junge suchtkranke Migrantinnen und Migranten
Sucht und Migration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .120
Bernhard Bätz, Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Warstein
Rehabilitationskonzept für suchtkranke Aussiedlerinnen und Aussiedler . . . . . . . . .129
Karin Müller, Evangelische Heimstiftung Pfalz, Speyer
Soziokultureller Hintergrund und Vernetzung der Hilfeangebote
für suchtkranke Migrantinnen und Migranten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .136
Siegfried Weber, Jugend- und Drogenberatungsstelle
Help-Center, Idar-Oberstein
IV. Anhang
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .144
Tagungsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146
Geleitwort
Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene
werden in unterschiedlichen Lebenszusammenhängen mit Suchtstoffen, Suchtgefährdung und Abhängigkeit konfrontiert. Als
Kinder suchtkranker Eltern erleben sie ein
widersprüchliches Erziehungsverhalten, instabile Beziehungen, Enttäuschungen und Hoffnungslosigkeit. Als Jugendliche, die ohnehin
eine Vielfalt von Entwicklungsaufgaben zu
bewältigen haben, werden sie damit konfrontiert, dass Suchtstoffe in unserer Gesellschaft in einem hohen Maße verfügbar sind.
Häufig machen sie in diesem Lebensalter
selbst erste Erfahrungen mit den verschiedenen legalen und illegalen Substanzen und müssen sich entscheiden, wie sie damit umgehen wollen.
Erschwert wird die Lebenssituation junger Menschen, wenn sie Migrantinnen und Migranten sind und sich mit Verständigungsschwierigkeiten,
Ablehnung und enttäuschten Erwartungen auseinandersetzen müssen.
Es ist festzustellen, dass eine erhebliche Zahl von Kindern und Jugendlichen, sei es durch ihre Sozialisationserfahrungen in der Familie oder durch
eigenen Suchtmittelmissbrauch und eigene Abhängigkeit, in ihren Entwicklungschancen beeinträchtigt ist.
Die damit verbundenen vielfältigen Probleme wurden anlässlich der 24.
Fachtagung der Landesregierung mit den Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe erörtert. Unter der Überschrift - Kinder Suchtkranker und junge
Suchtkranke in verschiedenen Hilfesystemen – wurden differenzierte Hilfestrategien, erprobte Handlungskonzepte und neue Behandlungsangebote vorgestellt und diskutiert. Dabei ist deutlich geworden, dass die
bestehenden Hilfeangebote für junge Menschen in Rheinland-Pfalz eine
gute Voraussetzung für die Weiterentwicklung spezifischer Hilfeangebote
darstellen. Diese Chance gilt es zu nutzen.
Malu Dreyer
Ministerin für Arbeit, Soziales,
Familie und Gesundheit
des Landes Rheinland-Pfalz
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Malu Dreyer,
Ministerin für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit
"Kinder Suchtkranker und junge Suchtkranke in verschiedenen Hilfesystemen"
Rede zur 24. Fachtagung der Landesregierung mit den Einrichtungen der
Suchtkrankenhilfe
Inhalt:
1.
2.
3.
4.
5.
Begrüßung und Vorbemerkung
Ergebnisse der Repräsentativbefragung
Entwicklung der Hilfeangebote für Kinder Suchtkranker
Hilfeangebote für suchtgefährdete und suchtkranke junge Menschen
Verstärkte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Suchtkrankenhilfe ist
notwendig
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1. Begrüßung und Vorbemerkung
Sehr geehrte Herren und Damen, sehr geehrte Fachkräfte und Ehrenamtliche der Suchtkrankenhilfe, sehr geehrte Gäste aus den anderen Bundesländern, aus Luxemburg und Belgien.
Zu einer weiteren Fachtagung der Landesregierung mit den Einrichtungen
der Suchtkrankenhilfe in Rheinland-Pfalz begrüße ich Sie gerne. Die erfreulich große Zahl von Teilnehmern und Teilnehmerinnen zeigt die Aktualität
der Tagungsthemen und belegt, dass ein Bedarf an kollegialem Informations- und Meinungsaustausch besteht.
Bevor Sie sich eingehend durch Fachreferate und in den Foren mit den verschiedenen Themen befassen, will ich als zuständige Familien- und Gesundheitsministerin die Gelegenheit zu einigen Anmerkungen und Anregungen
nutzen. Im Übrigen verweise ich auf den vorliegenden Kurzbericht.
2. Ergebnisse der Repräsentativbefragung
Die im Auftrag meines Ressorts erweiterte Repräsentativbefragung zum
Gebrauch psychoaktiver Substanzen in Rheinland-Pfalz bietet uns aktuelle Daten, die auch Trendaussagen über einen Zeitraum von 10 Jahren
ermöglichen. Ich will nur einige Zahlen nennen, die für unser Thema von
Bedeutung sind.
Nach den Ergebnissen der Untersuchung erfüllen 3,6 Prozent der Befragten die diagnostischen Kriterien für einen Alkoholmissbrauch, das sind
88.000 Personen; bei weiteren 3,2 Prozent, das sind zusätzlich 78.000 Personen, ist von einer Alkoholabhängigkeit nach den anerkannten diagnostischen Kriterien (nach DSM-IV) auszugehen. Mit rund 5 Prozent erhalten
Männer diese Diagnose fast fünf mal häufiger als Frauen.
Eine gesonderte Auswertung zeigt, dass 54,3 Prozent der Personen mit
einem riskanten Alkoholkonsum ein Kind oder mehrere Kinder haben.
Auch die Befragten, bei denen die Kriterien einer Abhängigkeit vorliegen,
haben zu einem erheblichen Anteil – nämlich zu 45,3 Prozent – Kinder.
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Auf Grund dieser repräsentativen Daten müssen wir davon ausgehen, dass
in Rheinland-Pfalz mindestens 80.000 junge Menschen leben, die mit Alkoholmissbrauch oder Alkoholabhängigkeit eines Elternteils konfrontiert werden.
Wie viele Kinder durch eine Alkoholembryopathie dauerhaft geschädigt
sind, lässt sich anhand der Daten nur grob schätzen. Es muss jedoch davon
ausgegangen werden, dass jährlich etwa 100 Kinder in Rheinland-Pfalz
geboren werden, welche die typischen Symptome dieses Krankheitsbildes
zeigen, nämlich prä- und postnatale Wachstumsstörungen, Störungen des
zentralen Nervensystems, angeborene Fehlbildung und Anomalien der
Gesichtszüge.
Wir wissen, dass Kinder für einen positiven Entwicklungsprozess unter
anderem stabile soziale Beziehungen, emotionale Zuwendung und fördernde Rahmenbedingungen benötigen. Kinder in suchtkranken Familien erleben dagegen instabile Beziehungen, widersprüchliches
Erziehungsverhalten, Vernachlässigung und nicht selten Gewalt. Wir wissen auch, dass die Kinder Suchtkranker ein deutlich höheres Risiko tragen,
später selbst eine Abhängigkeit zu entwickeln. Deshalb sollten diese Kinder und Jugendlichen eine wesentliche Zielgruppe der Jugend- und der
Suchtkrankenhilfe sein.
Die aktuelle Repräsentativerhebung belegt außerdem, dass sich das Konsumverhalten der 15- bis 17-Jährigen in den vergangenen 10 Jahren verändert hat. Zwar ist die Lebenszeitprävalenz illegaler Drogen in allen
Altersgruppen gestiegen, die größten Veränderungen sind jedoch bei den
15- bis 17- Jährigen festzustellen. Mit 18,4 Prozent haben sich die Erfahrungen mit Cannabis vervierfacht. Auffällig ist auch, dass 1990 kaum
jemand in dieser Altersgruppe Erfahrungen mit Amphetaminen hatte. 10
Jahre später ist ein Anstieg um 4,4 Prozent auf 4,9 Prozent festzustellen.
Ein weiterer Aspekt ist zu beachten. Während die Prävalenz des Rauchens
bei den Erwachsenen kontinuierlich zurückgegangen ist, stieg der Anteil
der Raucher und Raucherinnen in der Altersgruppe der 15- bis 17-Jährigen
in den letzten 10 Jahren von 24 auf 30 Prozent. Hinzuweisen ist auch auf
den zunehmenden Bierkonsum in der genannten Altersgruppe und die
gestiegene Trinkhäufigkeit.
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Die Erhebung gibt uns vielfältige Hinweise für eine bedarfsorientierte und
zielgruppenspezifische Weiterentwicklung suchtpräventiver Maßnahmen
sowie zur Verbesserung der Hilfeangebote.
Ich will auf zwei nahe liegende Schlussfolgerungen eingehen. Unter Berücksichtigung der aktuellen Daten sowie eines notwendigen effektiven und
effizienten Einsatzes vorhandener Ressourcen sind meiner Meinung nach
folgende fachlichen Konsequenzen zu ziehen:
•
Erstens: Für Kinder suchtkranker Menschen sind verstärkt adäquate Hilfeangebote zu entwickeln. Vor allem die Jugendhilfe, aber auch die aus
öffentlichen Mitteln finanzierte Suchtkrankenhilfe – deren Konzepte
in der Regel regional abgestimmt und verankert sind – haben dazu eine
besondere Verpflichtung.
• Zweitens: Jugendhilfe und Suchtkrankenhilfe sind gefordert, neue
Zugangswege sowie spezifische Angebote für gefährdete und abhängige junge Menschen zu entwickeln und umzusetzen. Ein vorurteilsfreier Diskurs über den gesellschaftlichen Umgang mit legalen und illegalen
Suchtmitteln ist dabei notwendig.
Beispielhaft will ich im Folgenden auf einige Projekte eingehen, die dazu
beitragen sollen, die genannten Ziele zu erreichen.
3. Entwicklung der Hilfeangebote für Kinder Suchtkranker
Kinder von Suchtkranken waren lange Jahre für die Jugendhilfe, die Suchtkrankenhilfe und auch für die Suchtkrankenselbsthilfe ein eher randständiges Thema. Die Auswirkungen einer Suchterkrankung auf das System
Familie wurden zwar temporär in Fachzirkeln diskutiert, dies führte jedoch
nur in wenigen Fällen zu praktischen Konsequenzen. Dafür gibt es vielfältige Gründe. Einer davon mag sein, dass entsprechend den gesetzlichen
Vorgaben die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit zentrales Ziel der
medizinischen Rehabilitation ist. Für die Leistungsträger steht damit der
suchtkranke Mensch und seine Erwerbstätigkeit im Mittelpunkt. Das
schließt jedoch nicht aus, dass die Verantwortlichkeit anderer Akteure der
Suchtkrankenhilfe auch andere oder ergänzende Ziele beinhaltet.
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Einzelne Träger und Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe in RheinlandPfalz haben daher – zum Teil mit Unterstützung des Landes – spezifische
Hilfeangebote für die Kinder der Suchtkranken entwickelt, die eine stationäre Behandlung in Anspruch nehmen. Auch bei einem Bundesmodellprojekt, das Mitte der 90er Jahre durchgeführt wurde, war man bestrebt,
ein Hilfeangebot für Kinder Suchtkranker in Suchtberatungsstellen zu verankern. Zunehmend diskutiert wurde die Situation der Kinder Suchtkranker auch mit dem Ausbau frauenspezifischer Hilfeangebote.
Festzuhalten ist, dass all diese engagierten Initiativen der Suchtkrankenhilfe den Kindern erst dann ein spezifisches Hilfeangebot machen können,
wenn der suchtkranke Elternteil Veränderungsbereitschaft zeigt, zum Beispiel durch den Besuch einer Beratungsstelle oder eines therapeutischen
Angebots. Da aber nur rund 12 Prozent der Alkoholkranken und 30 bis 40
Prozent der Drogenabhängigen durch das spezifische Hilfesystem erreicht
werden, erfolgt bei der überwiegenden Mehrzahl der Kinder Suchtkranker
keine Intervention, die ihrer Problemlage gerecht wird.
Als Teil des Aktionsprogramms "Kinderfreundliches Rheinland-Pfalz"
wurde daher Ende 1996 das Modellprojekt "Prävention und Frühintervention bei Kindern aus suchtbelasteten Multiproblemfamilien" eingeleitet. Sein Ziel war es, durch eine engere Zusammenarbeit zwischen
Jugendhilfe und Suchtkrankenhilfe sowie einer Optimierung der regional
vorhandenen Angebote die Hilfen für alle Kinder Suchtkranker zu verbessern; also auch für die Kinder, deren Eltern noch kein Problembewusstsein für ihren Alkoholkonsum haben und die noch keine oder nur eine
geringe Veränderungsbereitschaft zeigen. Die Ergebnisse der aus Landesmitteln finanzierten wissenschaftlichen Begleitung wurden im Februar 2001
veröffentlicht.
Mit dem Projekt im Landkreis Altenkirchen konnte eine Reihe positiver
Erfahrungen gesammelt werden. Beispielsweise wurde eine Fortbildungsreihe erprobt, die rege Nachfrage gefunden hat. Außerdem fanden Fortbildungs- und Trainingsmaßnahmen für Fachkräfte verschiedener
Sozialer Dienste und Einrichtungen aus der Region statt und die Kinder
Suchtkranker wurden in einer besonderen Gruppe betreut. Trotz des hohen
Engagements aller Beteiligten, unter anderem der Suchtkrankenselbsthilfe, hat das Projekt aber auch deutlich gemacht, welche Probleme in diesem
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Arbeitsfeld zu überwinden sind. Ohne den nachfolgenden Beiträgen vorzugreifen, will ich auf zwei Punkte kurz eingehen.
Mit dem Projekt konnte belegt werden, dass bei den Einrichtungen und
Diensten eine große Bereitschaft besteht, adäquate Hilfeinstanzen einzuschalten. Es besteht jedoch zugleich eine erhebliche Unsicherheit bei den
Fachkräften bei der Erkennung der Problemlage der betroffenen Kinder
und hinsichtlich der Anwendung der verschiedenen Interventionsformen;
vor allem dann, wenn die Eltern den Alkoholkonsum leugnen oder bagatellisieren.
Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz soll Jugendhilfe Kinder und
Jugendliche vor Gefährdungen schützen. Dabei muss im konkreten Einzelfall die gesamte Lebenssituation des Kindes bewertet und eine prognostische Einschätzung vorgenommen werden. Die Jugendhilfe muss für die
Probleme der Kinder Suchtkranker sensibel sein und die Erziehungsberechtigten in der Wahrnehmung ihrer Pflichten unterstützen. Die Veränderungsbereitschaft der Erziehungsberechtigten ist aber bei der Planung von Hilfen für das Kind ein entscheidendes Kriterium.
Letztlich bleibt die Jugendhilfe und damit die einzelne Fachkraft des Jugendamtes in der schwierigen Situation, ohne anerkannte einheitliche Mindeststandards – sieht man von den Primärbedürfnissen der Kinder ab –
darüber zu befinden, ob auf Grund der Gefährdung des Kindeswohls Maßnahmen auch gegen den Willen der Eltern einzuleiten sind. Die Diskussion in der Fachöffentlichkeit über die möglichen strafrechtlichen Folgen
getroffener Entscheidungen zeigt eine zunehmende Sensibilisierung für
das Thema. Auf diesen Aspekt wird daher in einem gesonderten Beitrag zur
Fachtagung eingegangen.
Und auch der folgende Aspekt muss meines Erachtens künftig stärker
Beachtung finden, um das Hilfeangebot für die Zielgruppe unter den gegebenen Bedingungen zu verbessern. Nach Berichten der Praxis müssen wir
zur Kenntnis nehmen, dass sich Kinder suchtkranker Menschen – nicht
zuletzt auf Grund der Anhäufung von Problemen in den Familien – zu
einem erheblichen Anteil bereits in anderen Maßnahmen der Jugendhilfe
befinden. Ohne Verknüpfung dieser Hilfeangebote mit den Angeboten der
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Suchtkrankenhilfe, die dem betroffenen Elternteil den Ausstieg aus der
Sucht öffnen können, bleibt das Hilfeangebot rudimentär. Die Bedürfnisse der Kinder und der suchtkranken Erziehungsberechtigten können mit
dem Instrumentarium der Jugendhilfe alleine nicht hinreichend abgedeckt
werden.
Berichte aus der Praxis und Untersuchungen zeigen, dass es erforderlich ist,
die Kooperation zwischen allgemeinem Sozialdienst oder anderen Formen der Jugendhilfe und der Suchtkrankenhilfe zu verbessern. Dabei gilt
es, unter Berücksichtigung der in der Suchtkrankenhilfe zu Recht hoch
bewerteten Grundsätze von Freiwilligkeit und Anonymität, neue Konzepte der Zusammenarbeit zu entwickeln und zu erproben. Beide Hilfesysteme benötigen einander, beide müssen sich ergänzen.
4. Hilfeangebote für suchtgefährdete und suchtkranke junge Menschen
Wie bereits ausgeführt, belegen die Daten der Repräsentativerhebung auch
einen zunehmenden Suchtmittelkonsum junger Menschen selbst. Auffällig ist zum einen die gestiegene Zahl jugendlicher Raucher und Raucherinnen. Die Fortführung der Ende 2000 von uns in Zusammenarbeit mit
der Landeszentrale für Gesundheitsförderung (LZG) initiierten Nichtraucherkampagne "Lass stecken" ist in diesem Kontext zu sehen. Mit erheblicher Unterstützung durch Krankenkassen und Wirtschaftsunternehmen
konnte die Kampagne sachgerecht erweitert werden.
Mit den eingeleiteten Maßnahmen werden verschiedene Ziele verfolgt.
Durch Plakate, Kino-Spots, Anzeigen in Stadtillustrierten und CityCards wird in einer öffentlichkeitswirksamen Form auf die Problematik
aufmerksam gemacht; nichtrauchende Jugendliche sollen dabei in ihrem
Verhalten bestärkt werden. Darüber hinaus sind personalkommunikative
Maßnahmen vorgesehen, um junge Menschen darin zu unterstützen, nicht
mit dem Rauchen zu beginnen.
Vorgesehen ist auch, Fachkräfte in der Durchführung von Nichtraucherkursen zu schulen um damit die regionalen Angebote zu verstärken. Ich
vermute, dass auch die Fachkräfte der Suchtkrankenhilfe das geplante Fort13
bildungsangebot in Anspruch nehmen. Geplant ist darüber hinaus ein
gesonderter Fachaustausch zum Thema und eine Informationsbroschüre, die in übersichtlicher Form Informationen zur Raucherentwöhnung bietet. Die Kampagne hat auch bundesweit Beachtung gefunden und wurde anlässlich der WHO-Konferenz der Europäischen
Gesundheitsminister für ein tabakfreies Europa in Warschau vorgestellt.
Junge Menschen haben zunehmend Erfahrung mit psychoaktiven Stoffen.
Diese Jugendlichen sind mit den Mitteln der Primärprävention nicht mehr
zu erreichen und nehmen die herkömmlichen Angebote der Suchtkrankenhilfe noch nicht an. Deshalb müssen verstärkt sekundärpräventive
Projekte erprobt werden. Ich sehe in diesem Arbeitsfeld einen erheblichen
Handlungs- und Forschungsbedarf. Denn einerseits erreicht die vorrangig primärpräventiv ausgerichtete Suchtprävention diese jugendlichen
Suchtmittelkonsumenten und –konsumentinnen nicht und andererseits
liegen noch wenig empirisch gesicherte Erkenntnisse über die Umsetzung
und die Ergebnisse sekundärpräventiver Projekte vor. Dazu gehört auch,
dass die Methoden zur Früherkennung und Frühintervention bei Jugendlichen mit einem problematischen Suchtmittelkonsum zu verbessern sind.
Um ein häufiges Missverständnis zu vermeiden, sei betont: Es geht mir
nicht um Konsumberatung, sondern um die Erreichbarkeit der jungen
Menschen und um die Eröffnung von Chancen zur Veränderung.
Ich finde es erfreulich, dass die vom Büro für Suchtprävention angebotenen Seminare zum Umgang mit gefährdeten Jugendlichen und zur motivierenden Gesprächsführung ein großes Interesse finden. Die
Dokumentation des Projekts zur Sekundärprävention in einem Jugendzentrum soll die zwischenzeitlich gesammelten Erfahrungen auch anderen
Fachkräften zugänglich machen.
Hinweisen möchte ich auch auf das Bundesmodell "Frühintervention bei
erstauffälligen Drogenkonsumentinnen und –konsumenten", an dem
aus Rheinland-Pfalz zwei Beratungsstellen teilnehmen. Zielgruppe sind insbesondere junge Menschen, bei denen nach § 31a Betäubungsmittelgesetz
von einer Strafverfolgung abgesehen wird. Die Jugendlichen erhalten die
Möglichkeit, in einem Kurs ihren Suchtmittelkonsum zu reflektieren. Die
Teilnahme ist freiwillig. Eine erste Auswertung durch die wissenschaftliche
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Begleitung zeigt, dass 96 Prozent der Kursteilnehmer und –teilnehmerinnen noch nie psychosoziale Hilfen in Anspruch genommen haben und
dass dieses Angebot neue Zugangschancen zu Gefährdeten eröffnet. Schon
jetzt zeigt sich, dass nach Vorlage des Abschlussberichts der wissenschaftlichen Begleitung eine Erweiterung der Zielgruppe zu erörtern ist, um mehr
Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, sich mit ihrem Suchtmittelkonsum kritisch auseinander zu setzen.
Wir müssen uns aber auch darauf einstellen, dass auf Grund des zunehmenden Suchtmittelkonsums junger Menschen verstärkt spezifische Anforderungen an die Jugendhilfe und die Suchtkrankenhilfe gestellt werden.
Heime und sonstige betreute Wohnformen der Jugendhilfe werden
zunehmend mit suchtgefährdeten oder suchtmittelabhängigen Jugendlichen konfrontiert. Suchtberatungsstellen verzeichnen vor allem bei jugendlichen Aussiedlern und Aussiedlerinnen eine deutliche Beschleunigung
der Suchtkarrieren, die innerhalb kurzer Zeit in einer Abhängigkeit enden.
Bei der Weiterentwicklung von adäquaten Hilfeangeboten kann angeknüpft
werden an den Erfahrungen in der ambulanten Jugend- und Drogenberatung. Besonders zu berücksichtigen sind die Ergebnisse der in Rheinland-Pfalz bereits bestehenden Einrichtungen für junge Suchtgefährdete
und Suchtkranke. Seit 1995 hält das Christliche Jugenddorfwerk mit der
"Niedermühle" in Odernheim ein spezifisches Hilfeangebot vor, das inzwischen von 14 Plätzen auf 42 Plätze erweitert wurde. Die anschließende Diskussion und der Informationsaustausch über beispielhafte Angebote in
anderen Bundesländern können dazu beitragen, Bedarfe zu klären und
Hinweise zu geben, welche Aspekte zu beachten sind.
Bei der notwendigen Weiterentwicklung spezifischer Angebote für junge
Suchtkranke muss auch die Problemlage junger Aussiedler und Aussiedlerinnen beachtet werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich das Engagement
der Träger und Fachkräfte für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen
den Migrationsdiensten und der Suchtkrankenhilfe. Hervorheben möchte ich auch die Bereitschaft der Evangelischen Heimstiftung Pfalz und der
Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz – als federführender Leistungsträger – zur Umsetzung eines stationären Behandlungsangebots mit
24 Plätzen für drogenabhängige Migranten. Ich hoffe, dass diese Initiati15
ven dazu beitragen, das Beratungs- und Behandlungsangebot für diese Menschen zu verbessern und die Chancen auf eine gelungene Integration zu
erhöhen.
5. Verstärkte Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Suchtkrankenhilfe ist notwendig
Bereits 1993 haben die damaligen Jugendminister und –ministerinnen in
einer Entschließung dazu aufgefordert, dass Jugendhilfe und Suchtkrankenhilfe spezifische Hilfeangebote für suchtgefährdete und abhängige junge
Menschen entwickeln und umsetzen. Die aktuellen Daten der Repräsentativbefragung belegen die Notwendigkeit einer verstärkten Zusammenarbeit. Der große Erfolg des am 16. Mai 2001 durchgeführten landesweiten
Aktionstages der Regionalen Arbeitskreise Suchtprävention belegt, dass
Jugend- und Suchtkrankenhilfe in der Primärprävention inzwischen tragfähige Arbeitsbündnisse entwickelt haben, die auch beispielgebend für
andere Tätigkeitsfelder und Zielgruppen sein können.
Abschließend möchte ich den Fachkräften und den Trägern der Suchtkrankenhilfe in Rheinland-Pfalz für ihr fachliches Engagement danken.
Ihre Ideen und ihre Initiativen ermöglichen es, dass für suchtkranke Menschen ein qualifiziertes Hilfeangebot vorgehalten werden kann. Danken
möchte ich auch den in der Suchtkrankenselbsthilfe tätigen Ehrenamtlichen.
Ich wünsche den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung einen
interessanten fachlichen Austausch und hoffe, dass diese Veranstaltung
dazu beiträgt, die Hilfeangebote für Kinder Suchtkranker und für junge
suchtgefährdete oder abhängige Menschen zu verbessern.
Freuen wir uns nun auf die Beiträge der beiden Hauptreferenten,
Prof. Dr. Michael Klein von der Katholischen Fachhochschule NordrheinWestfalen in Köln und Prof. Dr. Peter Bringewat von der Fachhochschule
Nordostniedersachsen in Lüneburg.
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I. Kinder Suchtkranker – suchtkranke Kinder
Prof. Dr. Michael Klein
Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen, Köln
Das Thema der Abhängigkeitsgefahren bei Kindern und Jugendlichen ist
in den letzten Jahren zunehmend ins öffentliche Interesse gerückt. Zahlreiche Forschungen und Publikationen belegen dies. Wegen der sehr hohen
Konsumquoten einzelner Substanzen bei Kindern und Jugendlichen in
Deutschland ist eine Beschäftigung mit dieser Problematik mehr als notwendig geworden.
Der Einstieg in den Konsum psychotroper Substanzen stellt eine entscheidende, sensible Phase im Erwerb sowohl kontrollierter Konsumgewohnheiten als auch missbräuchlicher und süchtiger Verhaltensweisen dar. In der modernen Gesellschaft
leben Kinder und Jugendliche in einem besonderen Spannungsverhältnis: Auf
der einen Seite reifen sie schneller und früher heran. Sie imitieren auch in
einem früheren Alter Erwachsenenverhalten und –modelle. Auf der anderen Seite dauern Schule und Ausbildung länger als früher. Dadurch verbleiben sie länger in einem Abhängigkeitsverhältnis von ihren Eltern.
Die Lösung dieser ambivalenten Situation ist für viele Jugendliche schwierig bis unmöglich. Viele Kinder und Jugendliche – manche Experten meinen immer mehr - reagieren darauf auch mit problematischem
Substanzkonsum. Zu den entscheidenden Veränderungen der Kindheit in den
letzten Jahrzehnten gehört die Infiltration fast aller Lebensbereiche mit psychotropen
Substanzen. Alkohol in Kiosken und Supermärkten, Zigaretten in Automaten, Haschisch und Ecstacy bei Mitschülern sind einige Beispiele dieser
Situation, die als Allverfügbarkeit von Drogen bezeichnet wird. Die Griffnähe zu den meisten psychotropen Substanzen hat sich erniedrigt. Fast
automatisch erhöht sich damit die Anforderung an Ablehnungs- und
Widerstandsfähigkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Dies ist beim Tabak
besonders deutlich, bei dem durch die 830.000 Zigarettenautomaten in
Deutschland eine besonders niedrige Griffnähe gegeben ist.
Psychotrope Substanzen werden von Kindern und Jugendlichen immer
häufiger zur gezielten chemischen Selbstbeeinflussung als aus anderen Gründen
benutzt.
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Konsumquoten und Prävalenzen der wichtigsten Substanzen
Die Konsumquoten in Bezug auf Alkohol sind in den letzten 20 Jahren für
die Gesamtgruppe der Kinder und Jugendlichen (Kolip, 2000) zwar kontinuierlich gesunken. Hinzuzufügen ist hier allerdings, dass diese Verringerung der Konsumquoten von einem (im internationalen Vergleich) sehr
hohen Niveau ausgegangen ist (Breitenacher, 1999) und der Rückgang deshalb nur einen statistischen Artefakt darstellen könnte, der darauf beruht,
dass die Mehrzahl gemessener Extremwerte in einer Population bei Wiederholungsmessungen zu geringeren Werten tendiert. Dieser Effekt wird
gewöhnlich als Regression zur Mitte bezeichnet. Falls sich dies so verhält,
wäre die Notwendigkeit für gezielte Präventionsmaßnahmen nach wie vor
immens groß. Mehr als 120g Alkohol in der Woche (das entspricht einer
Menge von etwa 18 Kölsch) konsumieren 7% der 14- bis 15-Jährigen. Bei
den 16- bis 17-Jährigen sind es dann schon 15%. Einen Alkoholrausch im
letzten Jahr berichten 8% der 12- bis 13-Jährigen, 31% der 14- bis 15-Jährigen und 56% der 16- bis 17-Jährigen (BZgA, 2001). Beim Alkoholkonsum
weisen die Jungen deutlich höhere Quoten als die Mädchen auf, zeigen also
das riskantere Verhalten. Ähnlich Besorgnis erregende Zahlen liefert die
EDSP-Studie (Early Developmental Stages of Psychopathology) des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychiatrie (Wittchen & Nelson, 1998). Dort
wiesen 9.7% der befragten 14- bis 24-Jährigen die Diagnose eines Alkoholmissbrauchs und weitere 6.2% die einer Alkoholabhängigkeit auf. Jungen sind etwa dreimal (15.1% im Vergleich zu 4.5%) häufiger von
Alkoholmissbrauch und viermal (10.0% im Vergleich zu 2.5%) häufiger
von Alkoholabhängigkeit betroffen.
30.4% der Jugendlichen bezeichnen sich als Raucher, während 5.0% schon
als Exraucher gelten. 11.4% der Jugendlichen rauchen mehr als 20 Zigaretten täglich. Nach den etwas strengeren Fagerstöm-Kriterien sind 26.2% der
Personen zwischen 15 und 17 Jahren nikotinabhängig, nach dem etwas gröberen DSM-IV sind es 15.1%
(Kraus et al., 2001). In der Drogenaffinitätsstudie der BZgA (2001) ist die
Zahl der Nieraucher von 38% im Jahre 1993 auf 49% im Jahre 2001 angestiegen. Besorgnis erregend erscheint jedoch, dass bei den 12- bis 17-Jährigen der Anteil der Raucher von 20% im Jahre 1993 auf 28% im Jahre 2001
angestiegen ist. Bei den 18- bis 25-Jährigen ist der Anteil im selben Zeit18
raum von 47% auf 45% gefallen. Das durchschnittliche Alter des ersten
Zigarettenrauchens beläuft sich ohne Geschlechtsunterschied auf 13.7 Jahre.
Der Anteil der starken Raucher mit 20 und mehr Zigaretten täglich ist bei
allen Probanden im Alter zwischen 12 und 25 Jahren von 34% im Jahre
1993 auf 19% im Jahre 2001 gefallen.
Das substanzbezogene Konsumverhalten von Kindern und Jugendlichen
hat sich insgesamt also günstig entwickelt. Problematische Verhaltensweisen sind eher bei Sub- und Randgruppen zu finden. Auf diese sollte sich
daher auch das besondere Augenmerk der künftigen Suchtprävention richten. Gerade die Marginalisierung von Bevölkerungsgruppen birgt ein verstärktes Risiko für die Entstehung von Problemverhaltensweisen der
betroffenen Kinder und Jugendlichen in sich. Zu nennen sind insbesondere die Kinder suchtkranker und psychisch kranker Eltern, Kinder von
Migranten (insbesondere aus Ost- und Südost-Europa) (Dill et al., 2002),
arbeitslose Jugendliche (Remschmidt, 2002) und die Kinder allein erziehender Mütter. Die Suchtprävention muss sich in Zukunft wesentlich stärker differenzieren und schwerpunktmäßig verschiedene Subgruppen
ansprechen.
Besonders gefährdete Gruppen von Kindern
Die folgende Abbildung zeigt, welche Gruppen von Kindern besonders für
künftige Suchtentwicklungen gefährdet sind. Zunächst ist festzuhalten, dass
Jungen im Unterschied zu Mädchen immer noch ein deutlich erhöhtes Risiko für Suchtstörungen aufweisen. Zu den besonders gefährdeten Gruppen
zählen neben den Kindern suchtkranker Eltern und solchen mit einem
genetisch transmittierten Risiko, bekanntermaßen Söhne alkoholabhängiger Väter (Schuckit, 1996), auch solche aus psychisch und sozial stark belasteten Familien. Besonders erschwerend kommt hinzu, dass die einzelnen
Risiken miteinander interferieren und sich in der Gesamtwirkung zum Teil
erheblich verstärken können. So sind Kinder suchtkranker Eltern mit genetischem Risiko und eigenen frühen Auffälligkeiten deutlich gefährdeter als
Kinder, die nur über suchtkranke Eltern verfügen. Die fachgerechte Prävention muss auf diese Risikokonstellationen in Zukunft viel zielgenauer und
frühzeitiger eingehen.
19
Die für spätere Suchtstörungen besonders gefährdeten Gruppen von
Kindern sind:
1. Kinder suchtkranker Eltern
2. Kinder psychisch kranker und comorbider Eltern
3. Psychisch auffällige Kinder
4. Kinder mit biologisch-genetischen Risiken
5. Kinder in sozialen Problemlagen ("Multiproblemkontexte")
6. Kinder von Migranten
7. Früh konsumierende Kinder
8. Jungen
++
+
+
+
+
+/0/+++
!
!: erhöhtes Risiko; +: gefährdet; ++: stark gefährdet; +++: sehr stark
gefährdet; 0: unklar; -: nicht gefährdet
Es bestehen zahlreiche Interaktionen zwischen diesen einzelnen Gruppen,
welche die Risiken noch verstärken können. So können die substanzbezogenen Risiken für Kinder suchtkranker Eltern sich noch verstärken, wenn
diese selbst psychische Auffälligkeiten (z.B. Angststörungen, affektive
Störungen) oder biologische Risiken (Schuckit, 1996) aufweisen. Es liegen
keine zwingenden wissenschaftlichen Belege dafür vor, dass alleine das Aufdecken der Zugehörigkeit zu einer dieser Risikogruppen das Problemverhalten entscheidend verstärkt. Daher ist in der Abwägung zwischen
identifikatorischer Frühintervention und stigmatisierungsvermeidender
Generalprävention auch dem ersten, zielgerichteten Ansatz Platz einzuräumen.
Eigene Untersuchungen zum Substanzkonsum von Kindern und
Jugendlichen
Im Rahmen einer eigenen Untersuchung zum Einstieg in den Gebrauch
psychotroper Substanzen bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen
11 und 16 Jahren wurden im Jahre 2001 insgesamt 4431 Schülerinnen und
Schüler weiterführender Schulen in NRW mit einem Kurzfragebogen
("Screeningbogen") schriftlich befragt (vgl. Klein, 2002). Die Schülerinnen
und Schüler wurden nach Alter, Geschlecht und Schulform nahezu reprä20
sentativ ausgewählt. Die Bearbeitung des Fragebogens dauerte durchschnittlich 15 Minuten. Die Fragebögen wurden im Regelfall nicht in Anwesenheit der betreuenden Lehrpersonen ausgefüllt.
Die Bögen wurden von den Projektmitarbeiterinnen nach Bearbeitung in
der jeweiligen Schulklasse in einer Urne eingesammelt. Die Proband/-innen
wurden darauf hingewiesen, dass sie keinen Namen auf den Bogen schreiben sollten.
Tabelle 1 gibt die Verteilung auf die verschiedenen Schulformen im Land
wieder.
Tabelle 1:
Verteilung der Proband/-innen auf die verschiedenen Schulformen.
Schulform
Sonderschule
Hauptschule
Gesamtschule
Realschule
Gymnasium
Summe
Häufigkeiten
317
1220
765
712
1417
4431
Prozentanteil
7.1
27.5
17.3
16.1
32.0
100.0
Zunächst interessierte die Frage, wie viele der Kinder und Jugendlichen in
welchem Alter überhaupt über Erfahrungen mit psychotropen Substanzen
verfügen. Tabelle 2 gibt die entsprechenden Ergebnisse, getrennt nach Klassenstufen, für den erstmaligen Konsum von Tabak, Alkohol oder Cannabis wieder.
Tabelle 2: Kinder und Jugendliche verschiedener Klassenstufen ohne Konsumerfahrung in Bezug auf Tabak, Alkohol und Cannabis (Werte in Prozent; N = 4431).
Ohne Konsumerfahrung
Tabak
Alkohol
Cannabis
6. Klasse
55.3
31.7
79.4
7. Klasse
44.2
20.8
85.1
8. Klasse
25.9
8.6
76.5
9. Klasse
21.9
7.0
69.2
21
Es zeigt sich, dass am frühesten Erfahrungen mit Alkohol gemacht werden.
Aber auch mit Tabak weisen die Kinder der sechsten Schulklassen (11-12
Jahre) bereits fast zur Hälfte (44.7%) Konsumerfahrungen auf. In Bezug auf
Cannabis sind es immerhin in allen Altersstufen zwischen 20% und 30%,
die Konsumerfahrungen berichten.
Zur Beurteilung des Risikos im Umgang mit psychotropen Substanzen ist
neben dem Erstkonsum die Intensität des Konsums in Abhängigkeit vom
Lebensalter von großer Bedeutung. Dazu wurden die Schülerinnen und
Schüler nach der Häufigkeit des Konsums der genannten drei Substanzen
befragt.
Tabelle 3 liefert die Ergebnisse für häufigen und regelmäßigen Konsum.
Tabelle 3: Kinder und Jugendliche verschiedener Klassenstufen mit häufigem oder
regelmäßigem Konsum von Tabak, Alkohol und Cannabis (Werte in Prozent; N =
4431).
Häufiger oder
regelmäßiger Konsum 6. Klasse 7. Klasse 8. Klasse 9. Klasse
Tabak
häufig
regelmäßig
6.5
5.6
24.2
9.8
36.4
36.8
24.2
37.7
Alkohol
häufig
regelmäßig
1.4
0.7
3.0
0.7
7.2
3.4
12.6
4.2
Cannabis häufig
regelmäßig
0.1
0.2
0.4
0.7
2.2
1.2
2.2
1.5
Während die Kinder mit Alkohol im Vergleich zu Tabak in der Mehrzahl
die früheren Erfahrungen hatten, setzt in Bezug auf Tabak eher und stärker ein regelhafter Konsum (häufig oder regelmäßig) ein. In den 8. und 9.
Klassen sind es etwa 10-mal so viele Probanden, die einen regelmäßigen (in
der Regel täglichen) Konsum von Tabak berichten, verglichen mit denjenigen, die einen regelmäßigen Konsum von Alkohol berichten. Mehr als
jeder dritte Achtklässler (13 bis 14 Jahre) zeigt regelmäßigen Tabakkonsum
(täglich oder fast täglich). Ebenso mehr als jeder Dritte dieser Altersstufe
berichtet häufigen Tabakkonsum (mehr als zweimal in der Woche).
22
Im Folgenden wurde der Frage nachgegangen, wie sich das Konsummuster
früher regelmäßiger Konsument/-innen einer Substanz (Tabak oder Alkohol) im Laufe der Zeit entwickelt.
Tabelle 4: Anteil der regelmäßigen Konsument/-innen verschiedener Substanzen.
Alter in
Jahren
Anteil
Nichtkonsu
-ment/-innen
Anteil
regelmäßiger
Tabakkonsument/-innen
von allen
regelmäßigen
Konsument/
-innen
12
13
14
15
75.2
56.5
32.9
19.4
44.4
34.4
22.0
14.6
Anteil
regelmäßiger
Alkoholkonsument/-innen
von allen
regelmäßigen
Konsument/
-innen
33.3
27.6
26.8
25.8
Anteil
regelmäßiger
Tabak- und
Alkoholkon
-sument/-innen
von allen
regelmäßigen
Konsument/
-innen
22.2
37.9
51.2
59.6
Ausgangsstichprobe: N = 4431
Wie aus Tabelle 4 zu entnehmen ist, vergrößert sich der Anteil der regelmäßigen Konsument/-innen beider Substanzen bei den frühen Regelkonsument/-innen kontinuierlich. Während bei den 12-Jährigen von allen
hochfrequenten Konsument/-innen jede(r) Fünfte regelmäßig Tabak und
Alkohol konsumiert, ist der Anteil der regelmäßigen Konsument/-innen
beider Substanzen bezogen auf alle regelmäßigen Konsument/-innen bei
den 15-Jährigen bereits auf knapp 60% gestiegen. Gleichzeitig sinkt der
Anteil der Nichtkonsument/-innen kontinuierlich.
Identifikation vs. Stigmatisierung von Risikogruppen
Sollen die gefährdeten Personengruppen in ihrem Konsum positiv beeinflusst werden, so müssen sie früh erreicht werden. Frühidentifikation ist
also eine Aufgabe im Rahmen der Frühintervention. Für solche Zwecke
sind epidemiologische Untersuchungen zum Substanzkonsum bei Kindern und Jugendlichen, wie im vorangegangenen Kapitel beispielhaft vor23
gestellt, notwendig. Es muss darum gehen, die vorhandenen Risiken lebensgeschichtlich frühen Alkohol- und Tabakkonsums, die lange Zeit verleugnet und verdrängt wurden, für eine verbesserte und zielgerichtete
Prävention und Behandlung aufzudecken und zu beeinflussen. Lange Zeit
haben unreflektierte oder unbewiesene Annahmen der soziologischen Stigmatisierungs- und Labelingdebatte zielgerichtete Prävention verhindert.
Die eigentlichen Risiken bestehen darin, dass früher problematischer Substanzkonsum unentdeckt und unbehandelt bleibt. Dadurch können sich
chronifizierte Verläufe von Missbrauch und Abhängigkeit mit frühem
lebensgeschichtlichem Beginn herausbilden. Für solche frühen substanzbezogenen Störungen sind vor allem Kinder suchtkranker Eltern empfänglich.
Sie sind die größte bekannte Risikogruppe, was die Entwicklung eigener
Suchtstörungen betrifft.
Substanzkonsum bei Kindern
Dass Alkoholkonsum bei manchen Kindern schon weit verbreitet ist, wurde
in einem Beitrag in der FAZ vom 18. Mai 1994 unter dem Titel "Frühe
Anfänge der Sucht" betont. Darin heißt es u.a., dass etwa ein Drittel der
Heranwachsenden Alkohol schon im Alter von weniger als zehn Jahren zu
sich genommen hat. Von den 12 bis 18 Jahre alten Jungen trinken durchschnittlich 38% regelmäßig Alkohol, bei den gleichaltrigen Mädchen sind
es 14%. Bis zu 20% der alkoholsüchtigen Erwachsenen geben an, dass sie
schon im Kindesalter regelmäßig getrunken haben. In Alkoholikerfamilien ist es nicht nur das Trinken der Eltern oder eines Elternteils, das einen
gefährlichen Einfluss auf die heranwachsenden Kinder ausübt, sondern
auch das gestörte Zusammenleben allgemein. Körperliche Gewalt und emotionale Misshandlung kommen dabei häufig vor. Kinder alkoholkranker
Eltern leiden unter den Unberechenbarkeiten des Alltags, aber auch unter
Verschuldung, Arbeitslosigkeit, sozialem Abstieg und Straffälligkeit.
Vor allem Kinder, die wenig Anerkennung erhalten, nutzen Tabakkonsum,
um mit anderen Kindern, die wie sie auf einer niedrigen Prestigestufe stehen, Kontakt zu haben (Hurrelmann & Bründel, 1997). Die Attraktivität
des Tabakrauchens hat nicht so viel mit seiner Wirkung, sondern mit den
24
nonverbalen und sozialen Bedeutungen des diesbezüglichen Handelns zu
tun. Insofern könnten sich die hohen Tabakkonsumquoten bei Kindern,
wie sie bereits berichtet wurden, mit der sozialen und psychischen Lage vieler Kinder erklären lassen.
Der Einstieg in den Konsum psychotroper Substanzen stellt eine entscheidende Phase
im Erwerb sowohl kontrollierter Konsumgewohnheiten als auch missbräuchlicher
und süchtiger Verhaltensweisen dar.
Diese Phase ist als eine Entwicklungsaufgabe für Kinder und Jugendliche
zu verstehen. Das Lebensalter, in dem diese Entwicklungsaufgabe zu lösen
ist, hat sich in den letzen Jahrzehnten deutlich erniedrigt. Derzeit ist es eine
Entwicklungsaufgabe der späten Kindheit. In dieser Phase sind auch andere Entwicklungsaufgaben anzusiedeln, wie z.B. die Auseinandersetzung
mit der eigenen Geschlechtsrolle, die sich entwickelnde Sexualität, der Aufbau eines gemischtgeschlechtlichen Netzwerks und die langsame Distanzierung von den Eltern. Heutige Kinder müssen nicht nur den
kontrollierten Umgang mit einer Vielzahl psychotroper Substanzen im
Sinne einer Verhaltenskompetenz lernen, sondern sind zusätzlich mit der
komplexen Entwicklungsaufgabe des Erwerbs von Kompetenzen zur
affektiven Selbstregulation mit Substanzen konfrontiert. Darunter wird
die Fähigkeit verstanden, Substanzen so einzunehmen, dass sie dem Individuum in seinem Verhaltensrepertoire nützlich sind (z.B. bei Stressbewältigung, Interaktionserfahrungen, Partnersuchverhalten und Sexualität),
und ohne dass sie ihm schaden oder gar eine Abhängigkeit erzeugen. Kinder sind heute in hohem Maße darauf angewiesen, ihre emotionale Befindlichkeit und ihre Stimmung zu modulieren. Dies geschieht zum einen, weil
sie immer weniger Zeit mit ihren Eltern verbringen können, die dann als
Orientierung und Modell entfallen. Andererseits sind sie in viel höherem
Maße aufgefordert, emotionale Beständigkeit ("Coolness"), kontinuierliche Leistungsfähigkeit und Verhaltensstabilität zu zeigen. Insofern müssen
sie zu einem früheren Zeitpunkt typische Erwachsenenverhaltensweisen
zeigen, als dies früher der Fall war. Der Umgang mit psychotropen Substanzen ist heutzutage ein pädagogisches Lern- und Erfahrungsfeld, in dem
sich viele Kinder und Jugendliche sicher bewegen. Für diejenigen, die diese
Sicherheit nicht besitzen oder entwickeln können, bedarf es früher, zielgerichteter und effektiver Hilfen.
25
Da es an einer systematischen, rationalen Alkohol- und Drogenerziehung
in Gesellschaft und Schule mangelt und die Prävention zum größten Teil
auf nicht konsumierende Personen ausgerichtet ist, sind die Kinder und
Jugendlichen weitgehend auf familiäre Modelle, ihre Peers und auf sich
selbst angewiesen, um diese komplexe Aufgabe zu bewältigen. Nötig wäre
eine gesellschaftlich getragene und akzeptierte Prävention in Bezug auf psychotrope Substanzen, die Elemente von Information, Psychoedukation,
affektiver Erziehung, Förderung der Widerstandsfähigkeiten und der Verhaltensalternativen sowie umfassendes Lebenskompetenztraining umfasst. Dies ist bislang in unserer Gesellschaft nicht zu erkennen. Vielmehr
konkurrieren viele Ansätze kleinerer Reichweite miteinander. Erschwerend
kommt hinzu, dass auf Länderebene, bisweilen auf der Ebene von Kreisen
und Städten, bisweilen sogar einzelner Beratungsstellen, Ansätze miteinander konkurrieren. Besser und ökonomischer wäre die Entwicklung basaler Manuale und Module, für die die Fachkräfte bundesweit geschult werden
und die sie nach individuellen Anforderungen erweitern könnten.
Kinder suchtkranker Eltern
Kinder suchtkranker Eltern sind die größte bekannte Risikogruppe zur Entwicklung eigener Suchtstörungen (Klein, 2001). Dies heißt aber nicht, dass
zwangsläufig alle Kinder suchtkranker Eltern selbst suchtkrank werden müssen, wie dies der antike Philosoph Plutarch einst mit seinem Satz "Trinker
zeugen Trinker" nahe legte. Auch sind nicht alle Kinder und Jugendliche
mit auffälligem Suchtverhalten automatisch Kinder suchtkranker Eltern.
In einer amerikanischen Übersichtsstudie (Cotton, 1979) zeigte sich, dass
von knapp 4000 alkoholabhängigen Personen 30.8% einen abhängigen
Elternteil aufwiesen. Demgegenüber gaben in einer nichtklinischen Kontrollstichprobe von 922 Personen lediglich 4.7% der Befragten einen abhängigen Elternteil an. Für eine gemischte psychiatrische Vergleichsstichprobe
von 1082 Patient/-innen konnte in 12.0% der Fälle eine Alkoholabhängigkeit in der Elterngeneration ermittelt werden. Eine Langzeitstudie über
einen Zeitraum von 33 Jahren (Drake & Vaillant, 1988) brachte für erwachsene Kinder aus Suchtfamilien in 28% der Fälle eine Diagnose für Alkoholabhängigkeit. Männer mit einem abhängigen Vater hatten mehr als
26
doppelt so häufig eine Alkoholabhängigkeit als Männer ohne abhängigen
Vater. Ähnliche Resultate berichten Schuckit (1994), Schuckit & Smith
(1996) sowie Sigvardsson et al. (1996).
Diese Studien belegen zusammen mit einer Vielzahl anderer Untersuchungen (siehe zusammenfassend: Sher, 1991; Lachner & Wittchen, 1997),
dass Kinder von Alkoholikern, und zwar insbesondere Söhne, als Risikogruppe für die Entwicklung von Alkoholmissbrauch und -abhängigkeit angesehen
werden müssen. Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass diese
Kinder ein bis zu sechsfach höheres Risiko haben, selber abhängig zu werden oder Alkohol zu missbrauchen. Dieser Zusammenhang kann als homopathologisches Risiko, die Weitergabe der gleichen Störung auf die nächste
Generation beschrieben werden. Offensichtlich ist auch, dass für Kinder in
suchtbelasteten Familien das Risiko der Erkrankung an anderen psychischen Störungen (insbesondere Angststörungen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen) deutlich - wenn auch nicht so stark wie für
Abhängigkeitserkrankungen - erhöht ist (Velleman, 1992; Cuijpers et al.,
1999). Dieses Phänomen wird als heteropathologische Transmission, die
Entwicklung einer andersartigen Störung in der Folgegeneration im Vergleich zur Herkunftsgeneration, beschrieben.
Jedoch ist – wie bereits weiter oben formuliert - ausdrücklich nicht davon
auszugehen, dass alle Kinder von Alkoholikern eine eigene Abhängigkeit
oder andere psychische Störungen entwickeln müssen. Vielmehr spielen
offenbar zahlreiche Faktoren bei der Transmission von Störungen, also der
Weitergabe einer Krankheit von der Elterngeneration auf die Kinder, eine
wichtige Rolle. Einzelne Moderatorvariablen vermögen das Risiko in einer
verstärkenden oder abschwächenden Form zu beeinflussen. Die Frage, wie
genau ein Risiko zu einer Transmission führt, wird durch die Analyse der
Mediatorvariablen beantwortet. Als vollständige Mediation gilt, wenn z.B.
der Zusammenhang zwischen Familiengeschichte und psychischen Krankheiten der Kinder komplett durch genetische Anlagen ("mediating variable") erklärt werden kann. Als partiale Mediation gilt, wenn diese
Drittvariable nur Teile des Zusammenhangs zu erklären vermag oder noch
weitere Mediatorvariablen beteiligt sind. Im Rahmen eines allgemeinen
Vulnerabilitätskonzepts ist davon auszugehen, dass verschiedene Kinder
eine unterschiedliche Vulnerabilität gegenüber familiärem Alkoholismus
27
aufweisen und dass je nach konkreten Mediatoren und Moderatoren die
individuelle Vulnerabilitätsschwelle für bestimmte Störungen überschritten werden kann (vgl. Sher, 1991). Insofern sind Kinder von Suchtkranken
eine heterogene Gruppe hinsichtlich Entwicklungsmerkmale, protektiven
Faktoren, Verläufen von Störungen und sonstigen relevanten Variablen.
Politische Rahmenbedingungen
Im Bericht der Enquete-Kommission "Situation der Kinder in RheinlandPfalz – Rechte der Kinder in einer sich wandelnden Welt" hieß es zur Problematik der Kinder suchtbelasteter Eltern: "Nach Angaben der
Landesregierung gibt es in der Bundesrepublik Deutschland ca. 2,5 Millionen behandlungsbedürftige Alkoholkranke. Viele dieser Kranken leben
in Familien und haben Kinder. Schätzungsweise zwei bis drei Millionen
Kinder in Deutschland wachsen in Familien mit Suchtproblemen auf. Diese
Kinder sind besonderen seelischen Belastungen ausgesetzt, was erhebliche
Auswirkungen auf ihre Sozialisation hat. Nach Angaben der Landesregierung stammt fast die Hälfte der Suchtkranken, die Angebote der Suchthilfe in Anspruch nehmen, aus Familien, in denen der Vater oder die Mutter
Suchtprobleme hatte. Außerdem werden in der Bundesrepublik pro Jahr
ca. 2200 bis 2500 Kinder mit starken körperlichen und geistigen Schädigungen geboren, die u.a. auf den Alkoholkonsum ihrer Mütter, aber auch
auf deren soziale Lebensumstände zurückzuführen sind. Problematisch sei
– so der Vertreter der Landesregierung in den Beratungen -, dass über stationäre und ambulante Maßnahmen nicht alle der tatsächlich betroffenen
Kinder erreicht werden könnten. Daher seien insbesondere präventive Maßnahmen von Bedeutung" (Landtag Rheinland-Pfalz, 1996, 77).
Rheinland-Pfalz kann als das Bundesland innerhalb der Bundesrepublik
gelten, in dem das politische Interesse am frühesten und am intensivsten
auf die Problematik von Kindern in suchtbelasteten Familien gelenkt worden ist. In einem weiteren Dokument, dem Beschluss des Ministerrats vom
04. Juli 1995, war das Aktionsprogramm "Kinderfreundliches RheinlandPfalz – Politik für und mit Kinder" verabschiedet worden. Dieses 21-Punkte-Programm der Landesregierung sieht als eigenständigen Programmpunkt
die Hilfe für Kinder von suchtkranken Eltern vor. Im Einzelnen heißt es
28
dort: "Die Landesregierung ergreift die Initiative, um den Kindern suchtkranker Eltern verstärkt Hilfen zu vermitteln" (Ministerium für Kultur,
Jugend, Familie und Frauen Rheinland-Pfalz, 1995, 19).
Trends und Zukunftsentwicklungen im Bereich Sucht und Familie
Bei allen genannten epidemiologischen Ergebnissen ist zusätzlich noch zu
bedenken, dass im Langzeitvergleich jüngere Geburtskohorten eine erhöhte Lebenszeit-Prävalenzrate und ein geringeres Ersterkrankungsalter aufweisen als früher geborene Alterskohorten (Lachner & Wittchen, 1997).
Dies bedeutet jedoch nicht nur, dass heute mehr Menschen unter Alkoholstörungen leiden, sondern auch dass derzeit mehr Kinder in suchtbelasteten Familien aufwachsen. Dadurch wiederum wird - vor dem
Hintergrund des beschriebenen Transmissionsrisikos - auch die Zahl der in
Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter beeinträchtigten Personen zunehmen. Diese Annahme wird auch durch die jährlichen Befragungen des amerikanischen Gallup-Instituts unterstützt. Seit 1947 werden dort Kinder und
Jugendliche unter anderem gefragt, ob das Alkoholtrinken eines Elternteils
jemals Probleme in der Familie verursacht habe. Fernquist (2000) fand einen
klar ansteigenden Trend in der Beantwortung dieser Frage. Waren es in den
50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts noch unter 15% der Kinder und
Jugendlichen, die diese Frage bejahten, sind es in den 90er Jahren um und
über 25%.
Bei einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von 3021 Jugendlichen
und Jungerwachsenen im Alter zwischen 14 und 24 Jahren stellte sich eine
Quote elterlicher Alkoholabhängigkeit bzw. elterlichen Alkoholmissbrauchs von 15.1% heraus (Lachner & Wittchen, 1997). Dies entspricht
jeder siebten Familie, die (zumindest zeitweise) von Alkoholmissbrauch
oder –abhängigkeit wenigstens eines Elternteils betroffen ist. Nach dieser
epidemiologischen Studie steigt das relative Risiko, eine Suchterkrankung
zu entwickeln, für Mädchen in suchtbelasteten Familien besonders stark
an (Lachner & Wittchen, 1997). Während die Söhne alkoholkranker Väter
ein 2.01fach erhöhtes Risiko und die Söhne alkoholkranker Mütter ein
3.29fach erhöhtes Risiko im Vergleich zur Basisrate unbelasteter Söhne aufweisen, betragen die Vergleichszahlen für Töchter alkoholbelasteter Väter
29
8.69 und alkoholbelasteter Mütter 15.94. Dadurch wird deutlich, dass
neben den erhöhten Risiken auch geschlechtssensible Formen der Frühintervention und Prävention zu entwickeln sind.
Dass Alkoholabhängige überhaupt Kinder haben, wurde lange Zeit von der
Suchtforschung und der Suchthilfe ignoriert. Dies ist insofern überraschend,
da die Zahl der betroffenen Kinder insgesamt enorm ist. In Deutschland
ist nach offiziellen Angaben von etwa 2.5 Millionen Alkoholikern auszugehen (Feuerlein, 1996). Demnach dürften 1.8 bis 2 Millionen Kinder
durch die Abhängigkeit eines Elternteils betroffen sein. Weitere 2 bis 2.5
Millionen erleben zeitweise oder dauerhaft einen problematischen Alkoholmissbrauch eines Elternteils. Vor dem Hintergrund, dass Kinder in erster
Linie das Konsumverhalten ihrer Eltern (und späterhin ihrer Peers) imitieren (Ellis et al., 1997), kann dies als ein besonders kritischer Entwicklungsaspekt betrachtet werden. Als erwachsene Kinder aus suchtbelasteten
Familien sind weitere 5-6 Millionen Personen potentiell durch eine erhöhte Vulnerabilität gegenüber psychischen Störungen gefährdet. In Nordrhein-Westfalen sind etwa 400.000 Kinder und Jugendliche im Alter bis zu
18 Jahren betroffen. Kinder von Suchtkranken sind die größte bekannte
Risikogruppe bezüglich der Entwicklung von Suchtstörungen.
Lachner & Wittchen (1997, 68-70) berichten, dass bei einer repräsentativen
Bevölkerungsstichprobe von 3021 Jugendlichen und Jungerwachsenen im
Alter zwischen 14 und 24 Jahren der Anteil der Eltern ohne eine Substanzabhängigkeit oder Substanzmissbrauch nach den DSM-IV Kriterien
bei 84.9% liegt. Bei den insgesamt 15.1% Eltern mit einem Suchtproblem
sind es in 11.9% der Fälle die Väter, in 4.7% die Mütter und in 1.5% beide
Elternteile, die einen Substanzmissbrauch oder eine Substanzabhängigkeit
aufweisen. Bei den Jugendlichen und Jungerwachsenen wurde in Abhängigkeit vom Suchtstatuts der Eltern nach komorbiden Störungen geforscht:
Bei allen möglichen psychischen Störungen waren die Quoten für die Kinder und Jugendlichen erhöht. Meist war die Risikoerhöhung am geringsten
bei väterlichen Alkoholproblemen, gefolgt von mütterlichen Risikoerhöhungen. Die höchsten komorbiden Belastungen ergaben sich, wenn für
beide Eltern eine DSM-IV Diagnose für Substanzmissbrauch- oder -abhängigkeit vorlag. So zeigten sich die klinischen Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung in solchen Fällen 14.77-mal häufiger als in der
30
Normalbevölkerung. Wenn nur ein Elternteil Suchtprobleme hatte, betrug
das entsprechende relative Risiko 5.53 (Vater Suchtprobleme) bzw. 5.15
(Mutter Suchtprobleme). Bei den meisten komorbiden Störungen ist ein
linearer Anstieg zu finden mit den niedrigsten komorbiden Belastungen,
wenn nur der Vater Suchtprobleme aufweist, gefolgt von der Gruppe, in
der nur die Mutter Suchtprobleme berichtet, bis hin zu der schon erwähnten, am stärksten belasteten Gruppe mit zwei Elternteilen, die Suchtprobleme zeigen.
Der frühe Einstieg in Tabak- und Alkoholgebrauch von 10- bis 12-jährigen
Jungen lässt sich aus dem Suchtverhalten der Väter gut vorhersagen. In einer
entsprechenden Untersuchung (Clark et al., 1998) mit 102 Söhnen von
Vätern mit einer diagnostizierten substanzbezogenen Störung und 166
Kontrollprobanden wurde gefunden, dass frühes Probieren von Tabak und
früher regelmäßiger Alkoholgebrauch bei den belasteten Söhnen häufiger
stattfand als bei den Kontrollprobanden. Bezogen auf komorbide psychische Störungen der Jungen waren Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten und die Abwesenheit von Angststörungen die wichtigsten
Prognosevariablen für frühen Tabakgebrauch. Ebenso zeigten frühe externalisierende Verhaltensstörungen einen deutlichen Zusammenhang mit
regelmäßigem Alkoholgebrauch in der Kindheit. Früher Tabakgebrauch
und Verhaltensauffälligkeiten wiederum standen in Zusammenhang mit
Cannabisgebrauch.
Im Rahmen einer nationalen Befragung in Finnland aus dem Jahre 1994
waren 1010 erwachsene Personen ausführlich interviewt worden (Peltoniemi, 1995). Diese repräsentieren die finnische Bevölkerung ab einem Alter
von 15 Jahren. 17% der Proband/-innen gaben an, dass in ihrer Herkunftsfamilie exzessiver Alkoholmissbrauch betrieben worden war. Von
diesen gaben 65% an, dass der exzessive Alkohol- oder Drogengebrauch
ihrer Eltern ihnen Probleme bzw. Schaden in ihrer Kindheit bereitet hat.
Zu den am häufigsten genannten Problemen zählen: Die Exposition
gegenüber familiären Streitigkeiten und Konflikten (48%), Mangel an
Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl (41%), Angst vor den Eltern (31%),
selbst psychische Probleme (Verwirrtheit, Unruhe, Angst, Depression)
(21%), Störungen bei den Schulleistungen (19%), Schamgefühl in Bezug
auf Eltern (19%) und Vernachlässigung durch die Eltern (16%).
31
Die Betrachtung der Zahlen in Bezug auf elterliche Suchtbelastung (17%)
und die darauf bezogene Quote von Problemlagen (65%) ergibt, dass 12%
der erwachsenen finnischen Bevölkerung in Familien aufgewachsen sind,
in denen sie als Kind auf Grund von Substanzproblemen beschädigt wurden. Von diesen geben immerhin nochmals 50% (d.h. 6% der Gesamtbevölkerung) an, dass sie auch als Erwachsene immer noch unter den
negativen Ereignissen und Einflüssen aus ihrer Kindheit und Jugendzeit
leiden bzw. sich beeinträchtigt fühlen. Am häufigsten werden hier Probleme im Umgang mit Alkohol (28%), Ängste und Spannungen (21%), Angst
vor Situationen mit Alkoholgebrauch (19%), niedriges Selbstwertgefühl
(18%), gelegentlicher Alkoholmissbrauch (15%) sowie Partnerschafts- und
Interaktionsprobleme (14%) genannt.
Dass auch bei Migrant/-innen das Suchtverhalten der Eltern einen entscheidenden Einfluss auf das eigene Konsumverhalten spielt, bestätigt eine
Studie zum Risikoverhalten junger Migrantinnen und Migranten in
Deutschland (Dill et al., 2002). Von denjenigen, die täglich Alkohol trinken, sind überproportional viele aus Familien, in denen Mutter oder Vater
Alkoholprobleme haben (12.7%, alle 5.9%). "Nach Nationalitäten betrachtet, treten Alkoholprobleme in der Familie überproportional häufig in kroatischen (10.5%) und jugoslawischen Familien (9.0%) auf. An dritter Stelle
stehen Familien aus Osteuropa (8.1%)" (Dill et al., 2002, 22). Auch für diese
Gruppen von Kindern und Jugendlichen sind frühe und umfassende Hilfen im suchtpräventiven Bereich unerlässlich, um Chronifizierungsprozesse und erhebliche gesellschaftliche Langfristprobleme zu vermeiden.
Prävention, nötige Hilfen, Strukturentwicklung
Kinder suchtkranker Eltern und andere früh konsumierende Kinder sind
ein besonders wichtige Thema für Prävention und Hilfe. Dies gilt auch für
den frühen problematischen Konsum von Tabak, der als "Einstiegsdroge"
in den problematischen Konsum anderer Substanzen fungieren kann. Die
weit verbreitete Meinung, wir seien alle (irgend wie) süchtig, fördert die Haltung, dass die Situation mit früh oder stark konsumierenden Kindern doch
nicht so schlimm sein könne.
32
Hilfen für Kinder von Alkoholabhängigen
Aus dem gesamten Forschungsstand (z.B. Sher, 1991; Zobel, 2000; Klein,
2001) ist abzuleiten, dass entscheidend für die Pathogenisierung des Kindes in der suchtbelasteten Familie die Dauer, Art und Häufigkeit der Exposition gegenüber den Folgen des süchtigen Verhaltens eines oder beider Elternteile ist.
Daher sind dies auch die für Prävention und Intervention bedeutsamsten
Aspekte. Im Folgenden werden Ansätze und Leitlinien der Suchtprävention für Kinder von Suchtkranken dargestellt, die im Wesentlichen für alle
früh konsumierenden Kinder gelten.
Unter präventiven Aspekten erscheint es ratsam, Kindern von Alkoholikern möglichst früh Hilfen bereitzustellen, um eine optimale Entwicklung
wahrscheinlicher zu machen bzw. erste auftretende Störungen schnell zu
behandeln. Daher bewegen sich Frühinterventionen für Kinder aus suchtbelasteten Familien meist an der Grenzlinie zwischen Primär- und Sekundärprävention. Diese Frühinterventionen umfassen die ganze Familie.
Dabei müssen auf der einen Seite das vorhandene Risiko und die resultierende Vulnerabilität, auf der anderen Seite die bereits vorhandenen Ressourcen genau erfasst werden, um beide Bereiche in Präventionsplanung
und effektive Frühintervention einfließen zu lassen.
Die direkte Arbeit mit Kindern von Suchtkranken hat sich als wichtig und
wirksam erwiesen. Dies trifft zum einen auf diejenigen Fälle zu, in denen
die Eltern (noch) nicht oder nur ein Elternteil (i.d.R. der Angehörige) bereit
sind, Hilfe anzunehmen, zum anderen – als unterstützende Maßnahme -,
wenn die Eltern bereits eine Hilfeleistung erhalten. Im Einzelnen ist bei
den Hilfeleistungen für Kinder von Suchtkranken zwischen Einzel- und
Gruppenarbeit mit den Kindern, begleitender Elternarbeit und freizeitpädagogischen Angeboten zu unterscheiden. Die Arbeit geschieht in der Regel im
ambulanten Kontext, kann aber auch in komplexeren Fällen halb- oder
vollstationär, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erfolgen.
33
Leitlinien für die Prävention für Kinder aus suchtbelasteten Familien
Die wichtigsten Prinzipien für Hilfen für Kinder von Alkoholabhängigen
sind in der Frühzeitigkeit, der Dauerhaftigkeit und Vernetztheit der Maßnahmen in Bezug auf andere familienbezogene Hilfen zu sehen. Die Hilfen müssen umfassend, langfristig und kontinuierlich stattfinden. Für
ihre Durchführung muss eine klare finanzielle Sicherung hergestellt werden. Kinder Suchtkranker sollten ein eigenes Recht auf Hilfe und Prävention haben. Die beteiligten Helfer sollten besonders eng und verbindlich
zusammenarbeiten. Dies kann auch im Tandem (Adressatenarbeit mit zwei
Helfern aus verschiedenen Hilfesektoren) geschehen. In besonders schwierigen Fällen ist ein konsequentes, engmaschiges case-management mit motivationalen und familienorientierten Maßnahmen vorzusehen. Hinzu
kommen die Notwendigkeit hoher Kontinuität und Nachhaltigkeit. Um
die Wirksamkeit eines solchen Präventionsansatzes zu überprüfen und zu
sichern, bedarf es zusätzlich evaluativer und qualitätssichernder Maßnahmen. Auf der Basis dieser Leitlinien kann sich eine wirksame Struktur
frühinterventiver Suchtprävention für die benannten Problemgruppen entwickeln.
Bereiche der Suchtprävention
Als Bereiche der Suchtprävention für Kinder aus suchtbelasteten Familien
und anderen Kindern mit problematischen Konsummustern kommen in
erster Linie diejenigen in Frage, die den natürlichen Lebensraum des Kindes darstellen. Diese sind Elternhaus/Familie, Kindergarten, Schule, PeerGruppen und spezielle Interaktionsfelder (wie z.B. Arztpraxen,
Krankenhäuser, Felder der offenen Jugendarbeit).
Elternhaus und Familie
Präventive Bemühungen im Bereich des Elternhauses sind zum einen solche, die sich auf die Schwangerschaft, und zum anderen solche, die sich auf
die Alkoholerziehung für die Kinder und Jugendlichen beziehen. Da es bisher nicht gelungen ist, die Rate der alkoholembryopathisch geschädigten
34
Neugeborenen erkennbar zu senken, sind hierfür stärkere Anstrengungen
notwendig. Dabei sind zum einen (generalpräventiv) jene Ansätze nützlich, die den Pro-Kopf-Alkoholverbrauch der Bevölkerung zu senken versuchen. Dies ist am ehesten durch eine Kombination von Nachfrage
reduzierenden und aufklärenden Maßnahmen zu erreichen. Zum anderen
sind spezifische Primärpräventionsbemühungen notwendig mit dem Ziel
einer Sensibilisierung der Schwangeren und ihres direkten Umfeldes.
Zum Bereich der Alkoholerziehung gehören Ansätze der Information, der
Korrektur irrealer oder dysfunktionaler Wirkungserwartungen, der Stärkung der Ablehnungskompetenz in Verführungssituationen, der Steigerung der alkoholfreien Selbstwirksamkeits- und Sozialkompetenz und der
elterlichen Erziehungskompetenz. Die Entwicklung umfassender Präventionsansätze, vor allem im Sinne des Lebenskompetenzmodells, ist prinzipiell hilfreich. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass diese Ansätze sehr
global bleiben und wenig problemverhaltensbezogen sind, dass die Suchtmittel als solche also "außen vor" bleiben und dadurch eine neuerliche
Tabuisierung erfahren, nachdem dies bereits im Klima in der suchtbelasteten Familie geschehen sein mag.
Kindergarten und Vorschule
Obwohl fast alle Autorinnen und Autoren die Bedeutung möglichst früh
ansetzender Prävention betonen, sind kaum valide Ansätze für Präventionsprogramme für Kinder von Suchtkranken im Vorschulalter entwickelt
worden. Die Kinder dieser Altersstufen verfügen noch über keine ausreichenden Verbalisierungs- und Strukturierungsfähigkeiten, um für viele
Interventionen aufgeschlossen sein zu können. Sie drücken ihre Situation
vielmehr in multiplen Symptomen aus, die - weil nur analog - vieldeutig
und schwer interpretierbar sind. Zur Diagnostik entsprechender frühkindlicher Probleme schlagen Robinson & Rhoden (1998) folgende Methoden
vor: (1) Beobachtung täglicher Verhaltensroutinen, (2) Spielbeobachtungen, (3) Analyse der emotionalen Anpassung und (4) Aufbau einer intensiven Elternbeziehung. Auch sollten in verstärktem Maße Routineelemente,
wie z.B. Elternabende oder - noch besser - Elterngespräche, für genauere
Beobachtungs- und Verhaltensanalysen genutzt werden. Darüber hinaus
35
sollten Initiativen im Rahmen von Selbsthilfe und Selbstorganisation, etwa
unter dem Motto "Eltern helfen Eltern", gestärkt und gefördert werden,
damit auch hier brach liegende Ressourcen entwickelt werden, um die psychische Gesundheit von gefährdeten Kindern zu fördern. Es kann und soll
nämlich nicht darum gehen, im Sinne einer Statusdiagnostik alkoholkranke und erziehungsunfähige Eltern auszumachen und ihre Kinder dauerhaft
der Aufsicht des Jugendamtes zu übergeben, sondern die Chancen familienorientierter und kindgerechter Prävention und Frühintervention zu nutzen, damit maligne Entwicklungen gar nicht erst entstehen. Dass in
Einzelfällen eine Fremdplatzierung des Kindes (z.B. Pflegefamilie, Heim)
als letzte Lösung übrig bleibt, soll dabei jedoch nicht bestritten werden.
Im Rahmen einer am Lebenskompetenzmodell orientierten Suchtprävention gelten für Kinder im Allgemeinen und für Kinder aus suchtbelasteten
Familien im Besonderen, folgende Präventionsziele: Seelische Sicherheit,
Anerkennung und Bestätigung, Freiraum und Autonomie, realistische und
glaubhafte Vorbilder, ausreichende Bewegung, richtige Ernährung, Freundeskreis, Verständnis und Liebe, Phantasie, Träume und Lebensziele.
Neben den alkoholerzieherischen Ansätzen sind auch spielerische Ansätze um die Themen "Alltagsdrogen" (Medikamente, Süßigkeiten), Medienkonsum und Nikotin mehr als wünschenswert. Auch wenn viele Kinder im
Vorschulbereich sich sprachlich noch nicht so reflektiert ausdrücken können, dass deutlich wird, welche Begrifflichkeiten und Schemata sie bzgl.
der erwähnten Alltagsdrogen schon entwickelt haben und welche Erfahrungen sie schon gemacht oder beobachtet haben, ist dennoch davon auszugehen, dass diese frühen Lernerfahrungen entwicklungs- und
kognitionspsychologisch von hoher Relevanz sind, vielleicht sogar gerade
wegen des eher affektiven als rationalen Lern- und Erfahrungsklimas.
Schule
Die im Bereich der Schule entwickelten suchtpräventiven Programme sind
inzwischen immens in ihrer Zahl und reflektieren allzu oft das problematische Klima der Institution "Schule": Dieses ist häufig durch Lerndruck
und –stress einerseits und zu wenig Freiraum für pädagogisch sinnvolle
36
Interventionen andererseits ausgezeichnet. Sie kranken oft unter einer Zergliederung der suchtpräventiven Angebote in einzelne Schulfächer. Dass
aber diese in Wissenselemente zergliederte Suchtprävention tatsächlich Folgen auf der Verhaltens- und Selbststeuerungsebene der Schüler haben sollte, ist als eher unwahrscheinlich einzustufen, da eine schulische
Suchtprävention neben der Vermittlung von Fakten, Informationen und
Wissen vor allem affektive und soziale Qualitäten vor dem Hintergrund
psychosozialer Unterstützungssysteme, Beziehungskontinuität und Lebenskompetenz aufweisen muss. Das Thema der Kinder in suchtbelasteten
Familien spielt hier wie bei den meisten suchtpräventiven Ansätzen in Schulen leider überhaupt keine Rolle. Dass aber für die schulische Suchtprävention die Berücksichtigung des familiären Hintergrundes der Schüler
von entscheidender Bedeutung ist, unterstreichen zahlreiche Studien. So
wurden Kinder aus suchtbelasteten Familien erfolgreich in Methoden des
Gefühlsmanagements als präventive Strategie zur besseren Regulierung
stark erregender emotionaler Krisen und Konflikte unterwiesen. Darüber
hinaus ist es natürlich wichtig, Kinder suchtkranker Eltern in der Schule in
ihrer oft verzweifelten Situation zu erkennen, sie behutsam zu unterstützen und ihnen adäquat zu helfen, ohne sie zu stigmatisieren. Dies bringt
oft ein hohes Ausmaß an Einzel- und Beratungskontakten zwischen Lehrern und betroffenen Schülern mit sich.
Leitlinien
Zur Weiterentwicklung der Hilfen für Kinder suchtkranker Eltern empfiehlt
sich die Orientierung an Handlungsleitlinien. Die Deutsche Gesellschaft
für Suchtpsychologie (dg sps) hat als erste Fachgesellschaft derartige Leitlinien für die Hilfen in Bezug auf Kinder von Suchtkranken aufgestellt. Sie
sind im Folgenden wiedergegeben:
Die Deutsche Gesellschaft für Suchtpsychologie sieht Kinder und Jugendliche als eine von Suchtstörungen und negativen psychischen Entwicklungen besonders betroffene Gruppe an. Diese Gefährdung resultiert oft, aber
nicht nur, aus der Sozialisation in einer suchtbelasteten Familie. Geeignete, psychologisch fundierte Maßnahmen zur Frühintervention und Schwerpunktprävention könnten hier entscheidend helfen. Um diese notwendige
37
gesundheitspolitische Innovation voranzubringen und das gesellschaftspolitische Bewusstsein für die Problematik von Suchtstörungen in Familien zu verbessern, hat die dg sps folgende Positionen beschlossen und zur
Maxime ihres Handelns erklärt:
1.
Alle Kinder haben das Recht, in einer Umwelt aufzuwachsen, in der
sie vor den negativen Begleiterscheinungen des Alkohol- und Tabakkonsums und so weit wie möglich vor Alkohol- und Tabakwerbung
geschützt sind.
2.
Wie alle alkoholgefährdeten oder alkoholgeschädigten Bürger/-innen
und ihre Familienangehörigen haben auch die mitbetroffenen Kinder
das Recht auf Zugang zu Therapie und Betreuung.
3.
Kinder haben das Recht auf Schutz vor den negativen Auswirkungen
des Drogen-, Alkohol- und Tabakkonsums in Familie und Gesellschaft.
Die diesbezügliche Prävention und Behandlung ist auch eine suchtpsychologische Aufgabe. Leitlinie des Handelns ist die Förderung des
Kindeswohls.
4.
Hilfen für Kinder von Suchtkranken sind eine Querschnittsaufgabe
für Erziehung, Bildung, Jugendhilfe, Suchthilfe und Gesundheitsvorsorge. Sie müssen bedarfsgerecht und auf den Einzelfall abgestimmt
sein und flexibel vorgehalten werden. Hilfen und Versorgungsleistungen werden so kurz wie möglich und so lange wie notwendig vorgehalten.
5.
Kinder sind so weit wie möglich vor den negativen Folgen übermäßigen Substanzkonsums in ihrem familiären Umfeld zu beschützen. Zu
den negativen Folgen zählen Gewalt, Unfälle, Verletzungen, Vergiftungen, Vernachlässigung, Missbrauch und entwürdigende Erziehungsmethoden. Auch vor den negativen Folgen des Passivrauchens
sind Kinder zu schützen.
6.
Ungeborene Kinder sollen nicht durch den Alkohol-, Tabak- und Drogenkonsum ihrer Mütter in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmt,
beeinträchtigt oder geschädigt werden. Es ist gesellschaftliche Auf—
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gabe, vorgeburtliche Schädigungen durch psychotrope Substanzen
weitestgehend zu verhindern. Dazu sind entsprechende Maßnahmen
der Aufklärung, Information, Frühintervention, Prävention und
Behandlung unter Beteiligung psychologischer Fachkräfte einzurichten.
7.
Abhängigkeitskranken Eltern soll Unterstützung in Form psychologischer, pädagogischer und sozialer Hilfen bei der Erziehung, Betreuung und Versorgung ihrer Kinder gegeben werden. Das
Zusammenleben von Eltern und Kindern unter Wahrung des Kindeswohls hat dabei als Ziel Vorrang. In Fällen schwerer und nachhaltiger Gefährdung des Kindeswohls soll eine – ggf. vorübergehende –
Fremdplatzierung des Kindes nach den einschlägigen Rechtsvorschriften des KJHG erfolgen. Zur Unterstützung von Pflegefamilien
und im Rahmen der Heimerziehung sind dabei auch psychologische
Behandlungs- und Unterstützungsformen anzuwenden.
8.
Die Hilfen für gefährdete Kinder im Umfeld von Suchtstörungen sollen frühzeitig, umfassend und psychologisch fundiert erfolgen. Die
Hilfen sollen sich an der Schadensverhinderung, und, falls dies nicht
möglich ist, an der Schadensbegrenzung orientieren. Im Konfliktfalle
haben Kinder von Suchtkranken ein Recht auf psychologische Behandlung und Hilfe auch gegen den Willen eines Elternteils oder beider
Elternteile.
9.
Kindergarten und Schule sind verpflichtet, ein Höchstmaß an suchtpräventiven Interventionen für Kinder im Allgemeinen und Risikokinder im Speziellen vorzuhalten und anzuwenden.
10. Bei dauerhaft vorhandenen kindlichen Verhaltensproblemen und
–störungen im Umfeld familialer Suchterkrankungen soll so früh wie
möglich durch geeignete Fachkräfte interveniert werden.
11. Kinder von Suchtkranken sollen in allen Belangen vor Stigmatisierung
und den negativen Folgen der Krankheit ihrer Eltern geschützt werden. Sie sollen dadurch vor sozialer Isolierung, Ächtung, Benachteiligung und Marginalisierung bewahrt und geschützt werden.
39
12. Psychologische Fachkräfte sollen sich der Situation von Kindern, die
im Umfeld von Suchtstörungen aufwachsen, bewusst sein und ihre
Interventionen differenziell auf deren Bedürfnisse abstimmen. Innerhalb der Suchtpsychologie als psychologischer Teildisziplin sollen Forschung und Weiterbildung auf die Situation der von Suchtstörungen
betroffenen oder gefährdeten Kinder ausgerichtet werden.
13. Kinder von Suchtkranken tragen keine Schuld an der Suchtkrankheit
ihrer Eltern und sind auch nicht für deren Genesung verantwortlich.
Sie haben ein Recht auf kindgerechte Verhaltensweisen, eine kindgerechte Umwelt und verantwortliche Elternschaft seitens ihrer Eltern.
Kinder von Suchtkranken sollten die Möglichkeit haben, sich emotional, intellektuell und psychisch so zu entwickeln wie andere Kinder
aus nicht belasteten Familien. Auf ihren Wunsch hin muss ihnen die
Möglichkeit zur Entwicklung in entsprechenden Kontexten gegeben
werden. Kinder von Suchtkranken haben ein Recht auf Erklärung und
Information bezüglich der Erkrankung ihrer Eltern. Diese Maßnahmen sollten durch die Eltern selbst, aber auch (falls nicht möglich)
durch Therapeut/-innen, Lehrer/-innen und Massenmedien erfolgen.
Sie haben das Recht auf wenigstens eine enge und kontinuierlich vorhandene Vertrauensperson, mit denen sie ihre Sorgen und Probleme
besprechen können. Falls die Eltern hierzu nicht in der Lage sind, muss
ihnen eine derartige Person (z.B. ein/-e Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut/-in) vermittelt werden.
Die dringende Notwendigkeit vorausschauenden, präventiven Handelns
haben Silverman & Schonberg (2001) aus der Perspektive der Jugendmedizin deutlich beschrieben: "Health care professionals need to be sensitive
to the possibility of substance abuse in the home, and should aggressively
pursue early treatment/therapy options for those at risk” (Silverman &
Schonberg, 2001, 485).
40
Fazit
Für Kinder von Alkoholikerinnen und Alkoholikern kann das Risiko einer
psychosozialen Schädigung als gesichert gelten. Auch wenn von ihnen ein
gewisser Teil eine unauffällige Entwicklung schafft, ist wenigstens ein Drittel stark beeinträchtigt (Cotton, 1979). Sie stellen die größte bekannte Risikogruppe (in Rheinland-Pfalz etwa 100.000 Kinder und Jugendliche im
Alter bis 18 Jahren) für die Entwicklung von Suchtstörungen dar. Entsprechende Konsequenzen für das Hilfesystem sind nahe liegend und zwingend: Darunter sind Frühintervention, Netzwerkarbeit, spezialisierte,
zumindest jedoch problemsensibilisierte Hilfeangebote, Verstärkung der
Sekundärprävention, Schwerpunktprävention für Risikogruppen und
schließlich an den Ressourcen und der Lebenswelt orientierte Hilfen zu
verstehen. Kinder von Suchtkranken können dabei als die Gruppe mit dem
größten Risiko bezüglich einer späteren Suchtentwicklung besonders von
gezielten Präventionsmaßnahmen profitieren. Hinzu kommen weitere Kinder und Jugendliche mit frühen, problematischen Konsumstilen, für die
ähnliche Maßnahmen im Bereich der Sekundärprävention zu schaffen sind.
Schließlich ist noch anzumerken, dass sich Hilfen für Kinder und Partner/innen von Alkoholabhängigen in gegenseitiger Abstimmung ergänzen und
befruchten sollten. Die Zielgröße heißt dann nämlich: Adäquate Hilfen für
die von Sucht belastete Familie, für die einzelnen Mitglieder genauso wie für die
Familie als Ganzes. Auf jeden Fall dürfen die Kinder von Suchtkranken nicht
länger vernachlässigt werden, will man verhindern, dass diese schon in Kindheit und Jugend beginnend oft ein Leben lang unter den Erfahrungen in
der suchtbelasteten Familien leiden.
Schlussfolgerungen
Kinder suchtkranker Eltern gelten zu Recht als eine Risikogruppe bezüglich der Entwicklung von Verhaltensauffälligkeiten und psychischen Störungen. Präventive Hilfen sollten entsprechend frühzeitig und umfassend
durchgeführt werden. Insgesamt bestätigen zahlreiche, vor allem angloamerikanische Studien (siehe zusammenfassend: Klein, 2001), dass Kinder
in suchtbelasteten Familien öfter eine familiäre Umwelt, die von Disharmonie,
41
Unberechenbarkeit, Vernachlässigung, Misshandlung/Missbrauch, Gewalt und
Lieblosigkeit geprägt ist, erleben. Dies führt zu problematischen Situationen
in Kindheit und Jugend und kann im späteren Erwachsenenalter in bedeutsame Beeinträchtigungen der Lebensqualität münden. Gleichzeitig sind
aber auch partiell durchaus kompetente soziale Verhaltensweisen vorhanden, die als so genannte Resilienzen (Werner, 1986) einen Ausgangspunkt
für spätere Interventionen bieten können.
Aus dem gesamten Forschungsstand (siehe z.B. Sher, 1991) ist abzuleiten,
dass entscheidend für die Pathogenisierung des Kindes die Lebenswelt und
Modelllernkultur in der suchtbelasteten Familie (vor allem: Dauer, Art und Häufigkeit der Exposition gegenüber den Folgen des süchtigen Verhaltens eines oder beider Elternteile) sind. Für die Frage, in welchen Fällen es also zur Transmission
einer Störung kommt, sind vor allem Qualität und Quantität der Exposition gegenüber den negativen Folgen der Alkoholabhängigkeit der Eltern
entscheidend. Daher sind dies auch die für Prävention und Intervention
bedeutsamsten Aspekte.
Die meisten generalpräventiven Programme zur Suchtprävention gehen an
den Notwendigkeiten und Bedürfnissen der Kinder von Suchtkranken und
der früh konsumierenden Kinder und Jugendlichen vorbei, da sie nicht
deren spezielle Lebenssituation, ihre Erfahrungen und ihre speziellen Entwicklungsrisiken in Betracht ziehen. Deshalb müssen verbesserte, zielgenauere, in der Regel sekundärpräventive, Programme für diese größte
bekannte Risikogruppe bezüglich einer Suchtentstehung entwickelt werden. Hinsichtlich der Effektivität risikogruppenorientierter Prävention ist auf
jeden Fall anzumerken, dass diese schneller und mit geringerem finanziellen Aufwand größere Effekte erzielen kann, da sie überall dort ansetzt, wo
ungünstige biopsychosoziale Entwicklungen mit hoher Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehen (Primärprävention) oder schon begonnen
haben (Sekundärprävention).
Eine ausführliche Darstellung der Hilfen für Kinder alkoholabhängiger
Eltern liefern Robinson & Rhoden (1998). In Deutschland sind Hilfen für
Kinder alkoholkranker Eltern nur punktuell vorhanden und scheitern oft
an ungünstigen strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen. Um
42
eine umfassende, frühe Prävention für diese Risikogruppe zu erreichen, ist
jedoch die baldige Überwindung dieser Barrieren unerlässlich.
Auch die zwischen einzelnen Professionen und Versorgungssektoren herrschenden Abgrenzungen und Kommunikationsprobleme verhindern bisweilen eine adressatengerechte Prävention. Der 104. Deutsche Ärztetag
forderte daher im Mai 2001 zu Recht in einer Entschließung ein CaseManagement für Kinder von Drogenabhängigen und deren Eltern. Im Einzelnen wurde ausgeführt, "dass Suchtmediziner, Hausärzte, Gynäkologen,
Pädiater und Kinder- und Jugendpsychiater entsprechende Kooperationsvereinbarungen mit ihren Jugendämtern treffen" sollen ... "Die anderweitige ‚Fremdunterbringung‘ dieser Kinder kann so vielfach verhindert
werden" (Deutsches Ärzteblatt, 2001).
Prävention und Intervention sollten zur Vermeidung maligner Entwicklungen früh und umfassend erfolgen. Kinder suchtkranker Eltern sollten
frühzeitig umfassende und koordinierte Hilfen erhalten. Dies kann und
soll in Abstimmung mit der Familie geschehen. Diese Hilfen sind im Optimalfall im Einverständnis mit den Eltern durchzuführen. Sie können
jedoch auch bei bestehender Abhängigkeit eines Elternteils gegen dessen
Willen notwendig werden. Gerade bei Kindern unbehandelter suchtkranker
Eltern, die als die größte Risikogruppe innerhalb der Kinder suchtkranker
Eltern (Klein 2001) gelten, ist dies immer wieder der Fall. Die Bemühungen der Jugendhilfe in diesem Bereich sollten von enger Kooperation mit
anderen Berufsgruppen und einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen werden.
In manchen dieser schwierigen Fälle kann die Berücksichtigung des Kindeswohls auch zu Fremdplatzierungen führen. Die Hilfen, die Kinder von
Suchtkranken erhalten sollen, dienen der Förderung der psychischen
Gesundheit, der sozialen Kompetenz und Integration, der Verbesserung
der sozialen Lage und der Selbststeuerungsfähigkeiten. Vorhandene Institutionen (z.B. Erziehungsberatung, Schulpsychologie, Hilfen gegen häusliche Gewalt usw.) müssen ihre Sensibilität für die Gefährdungen der Kinder
suchtkranker Eltern erhöhen, die Möglichkeiten der Früherkennung und
Frühintervention müssen erweitert und das öffentliche Bewusstsein
geschärft werden. Sucht als Familienproblem muss vom Tabu zum bekann43
ten und akzeptierten Anlass für kinder- und familienbezogene Hilfen werden. Die Hilfen müssen langfristig, effizienzorientiert und qualitätsgesichert sein.
Die direkte Arbeit mit Kindern von Suchtkranken hat sich als wichtig und
wirksam erwiesen. Dies trifft zum einen auf diejenigen Fälle zu, in denen
die Eltern (noch) nicht oder nur ein Elternteil (i.d.R. der Angehörige) bereit
sind, Hilfe anzunehmen, zum anderen – als unterstützende Maßnahme -,
wenn die Eltern bereits eine Hilfeleistung erhalten. Im Einzelnen ist bei
den Hilfeleistungen für Kinder von Suchtkranken zwischen Einzel- und
Gruppenarbeit mit den Kindern, begleitender Elternarbeit und freizeitpädagogischen Angeboten zu unterscheiden. Die Arbeit geschieht in der Regel im
ambulanten Kontext, kann aber auch in komplexeren Fällen halb- oder
vollstationär, vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, erfolgen. In diesem Kontext kommt innerhalb der Suchtselbsthilfe der Berücksichtigung der Kinder und ihrer Bedürfnisse eine wichtige Rolle zu. Gelingt
es, bestehende Hemmungen, Schuld- und Schamgefühle abzubauen bzw.
effektiv zu bearbeiten, haben die Kinder gerade in diesem Kontext mit vielen Beispielen gelingender Lebensbewältigung nach Zeiten schwerer Abhängigkeit positive und glaubwürdige Modelle.
Kinder aus suchtbelasteten Familien haben andere Lebenserfahrungen als
Kinder aus herkömmlichen Familien. Kinder aus anderen dysfunktionalen
Familien können ähnliche oder gleiche Entwicklungsstörungen wie Kinder aus suchtbelasteten Familien haben. Wenn der suchtkranke Elternteil
seine Alkoholabhängigkeit erfolgreich überwunden hat, beginnt für viele
Kinder erst die Chance auf langfristige Veränderung.
44
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II. Strafrechtliche Risiken im Umgang mit Kindern
suchtkranker Familien
Prof. Dr. Peter Bringewat
Fachhochschule Nordostniedersachsen, Lüneburg
Der Schutz von Kindern vor Gefahren für ihr leibliches und geistig-seelisches Wohl ist eine Aufgabe, an der viele Professionen mitwirken, zu deren
Erledigung manche Professionen gesetzlich ausdrücklich aufgefordert und
manche Professionen ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung immerhin
doch rechtlich und - wie sich gleich zeigen wird - vor allem auch strafrechtlich verpflichtet sind. Man braucht - so meine ich - keine rechtlichen
und schon gar keine strafrechtlichen Vorkenntnisse zu haben, um zu erahnen, dass in Fällen von Kindeswohlgefährdungen und/oder -verletzungen
der unterschiedlichsten Art die mit Mutter/Vater und Kind beschäftigten
Ärzte/innen, Therapeuten/innen, Familienrichter/innen und Sozialarbeiter/innen jeglicher Provenienz strafrechtlichen Risiken ausgesetzt sind. Das
gilt für die Sozialarbeit in der Kinder- und Jugendhilfe in besonderer Weise.
Es gilt aber auch für die soziale Arbeit in der Suchthilfe und Drogenberatung.
Die strafrechtliche Risikolage in der Drogenberatung
Allerdings zielt die Arbeit in der Suchthilfe und Drogenberatung nicht wie
in der (öffentlichen) Kinder- und Jugendhilfe darauf ab, das körperliche
und/oder geistig-seelische Wohl von Kindern suchtkranker
Mütter/Väter/Familien zu schützen. Im Vordergrund der Drogenberatung
steht in der Regel aller Fälle die Befassung mit suchtkranken
Müttern/Vätern selbst, wenn es denn um die Arbeit mit Familien geht. Und
doch können die Kinder suchtkranker Familien in die beratende oder sonst
helfende Tätigkeit von Drogenberatern/innen einbezogen sein. Bringt beispielsweise die um Beratung/Hilfe nachsuchende Mutter ihr (Klein)Kind
in die Beratung mit, ist das Kind auf die eine oder andere Weise in die soziale Arbeit der Drogenberatung mit einbezogen. Erkennt in einem solchen
Falle, der (die) Drogenberater(in) - möglicherweise in Kombination mit
49
früher erworbenen Kenntnissen - eine Gefährdung des Kindeswohls, fragt
es sich, wie er (sie) damit umzugehen hat. Muss das Jugendamt informiert
werden? Muss er (sie) selbst zur Beseitigung der Kindeswohlgefahr tätig beitragen? Steht dem allem eine Schweigeverpflichtung entgegen? Darf er (sie)
womöglich das Jugendamt gar nicht informieren? Und wie verhält es sich
in Fällen, in denen der (die) Drogenberater(in) lediglich aus Äußerungen
des Klienten/der Klientin weiß oder annehmen muss, dass Kinder in dieser Familie in ihrem Wohl massiv gefährdet sind?
Natürlich soll immer alles "gut gehen". Aber was ist, wenn die Sache nicht
gut, sondern tragisch endet, sei es mit Körperverletzungen, sonstigen Misshandlungen oder gar mit dem Tod eines Kindes. Spätestens dann, wenn
sich die Kindeswohlgefahr in dieser Weise realisiert hat, steht in Frage, ob
der (die) Drogenberater(in) und gewiss auch die zum Kinderschutz gesetzlich verpflichteten Professionen in den verschiedenen Stadien des kindlichen Lebensweges alles oder doch möglicherweise zu wenig oder gar
überhaupt nichts getan haben, um den Schutz des Kindeswohls zu Gewähr
leisten. Mit dieser Fragestellung ist zugleich eines der strafrechtlichen Haftungsrisiken angesprochen, das auch die soziale Arbeit in der Drogenberatung erfasst: Es geht um die Frage, ob den jeweils Betroffenen ein
Unterlassungsvorwurf zu machen ist, ob eine Verpflichtung bestand, zum
Schutze der in ihrem Wohl gefährdeten Kinder etwas zu unternehmen. Es
geht um eine in der Diskussion über die strafrechtliche Risikolage der kommunalen Jugendhilfe schon seit längerem immer wieder aufgegriffene, freilich auf die soziale Arbeit in der Drogenberatung bezogene und
entsprechend modifizierte Garantenproblematik.
Auslöser der - wie ich meine - längst überfälligen Auseinandersetzung mit
strafrechtlichen Risiken in der sozialen Arbeit war ein Strafverfahren gegen
eine Sozialarbeiterin des Osnabrücker Jugendamtes wegen fahrlässiger
Tötung eines Kleinkindes durch Unterlassen. Das Verfahren wurde bekanntlich nach Zurückverweisung der Sache durch die Revisionsinstanz zu neuer
Verhandlung und Entscheidung vom LG Osnabrück gemäß § 153 Abs. 2
StPO eingestellt, ein für die interessierten Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen anderer Jugendämter sicher überraschender und unbefriedigender Abschluss des mancherorts mit viel Getöse begleiteten Strafverfahrens.
In der Sache selbst hat es uns den Meinungsstreit beschert, der uns in letz50
ter Zeit so sehr beschäftigt: Das AG Osnabrück ging nämlich von einer
Garantenstellung der angeklagten Sozialarbeiterin zum Schutze des zu Tode
gekommenen Kleinkindes aus, das LG Osnabrück verneinte sie und das
OLG Oldenburg hatte als Revisionsinstanz an der Garantenstellung der
Sozialarbeiterin überhaupt keinen Zweifel. Und erst unlängst hat das OLG
Stuttgart und ebenso das LG Stuttgart dem für eine Problemfamilie zuständigen Sozialarbeiter des Jugendamtes aus der von ihm übernommenen Aufgabenerfüllung eine Garantenstellung aus tatsächlicher Schutzübernahme
zu Gunsten des mitbetreuten Kindes zugewiesen. Diese Rechtsprechung
ist inzwischen durch weitere Gerichtsentscheidungen (OLG Düsseldorf,
AG Leipzig) bestätigt worden. Und erst vor kurzem hat das LG Hamburg
in einem Aufsehen erregendem Falle lapidar auch im Arbeitsfeld des
"betreuten Wohnens" erwachsener Klienten auf die Garantenhaftung der
"fallzuständigen" Sozialarbeiter/innen abgehoben.
Man muss sich freilich davor hüten, soziale Arbeit jedweder Art stets denselben Kriterien einer etwaigen Garantenhaftung unterzuordnen. Insbesondere die Typizität der Arbeitsbeziehungen zu suchtkranken
Klient/innen, die der Drogenberatung das Gepräge geben, erfordern beim
Umgang mit Kindern suchtkranker Väter/Mütter/Familien in jedem Einzelfall eine besonders sorgfältige Prüfung, ob tatsächlich die Grundsätze
der strafrechtlichen Garantenhaftung anwendbar sind, wenn sog. strafrechtliche "Erfolge" (Körperverletzung, Freiheitsberaubung usw.) eingetreten sind. Dass auch in der Drogenberatung eine solche Garantenhaftung
des(r) Drogenberaters(in) trotz der im Vergleich zur kommunalen Jugendhilfe andersartigen Arbeitsstruktur nicht von vornherein ausgeschlossen
ist, sondern durchaus begründet sein kann, ist indessen nachdrücklich zu
betonen.
Um sich ein Bild davon machen zu können, was genau mit Garantenproblematik, mit strafrechtlicher Garantenhaftung und mit Garantenstellung
und Garantenpflicht - alles Begriffe, die bisweilen unreflektiert und in vorgeblich sachkundigen Diskussionszirkeln nicht selten sinnverfälscht die
Runde machen - gemeint ist, will ich in aller Kürze den dazugehörigen strafrechtlichen Sachzusammenhang skizzieren.
51
Das "Unterlassen"
Seit langem ist anerkannt, dass die Rechtsordnung dem Einzelnen
grundsätzlich nur die Verpflichtung auferlegt, alles an aktiven Handlungen, was die Rechtsgüter Dritter beeinträchtigen könnte, zu unterlassen.
Dieser Grundgedanke durchzieht - von wenigen Ausnahmen abgesehen auch die Deliktsbeschreibungen des Kern- und Nebenstrafrechts. Man
braucht z.B. nur § 212 StGB "Wer einen Menschen tötet etc." mit umgangssprachlichem Sinn und ohne juristisch vorgebildeten Verstand in eine konkrete Tatsituation umzusetzen, um förmlich zu spüren, wie jemand einen
anderen höchst aktiv vom Leben zum Tode befördert. Wer auf diese Weise
das in § 212 StGB enthaltene Tötungsverbot verletzt, der macht sich wegen
Totschlags, und zwar wegen Totschlags durch aktives Tun und damit wegen
Totschlags in Gestalt eines Begehungsdeliktes schuldig. Strafrechtlich relevantes Verhalten erschöpft sich indessen nicht allein im aktiven Handeln.
Strafrechtliche Verantwortlichkeit ist dementsprechend nicht nur auf Begehungsdelikte beschränkt. Vielmehr erstreckt sich strafrechtlich relevantes
Verhalten auch auf das Unterlassen, und zwar auf ein Unterlassen nicht im
Sinne von bloßem "Nichtstun", sondern im wertenden Sinne von "etwas
Bestimmtes nicht", nämlich etwas (rechtlich) Erwartetes nicht tun. Strafrechtliche Verantwortlichkeit kann somit auch aus einem Unterlassen resultieren.
Das mit dem erwartungswidrigen Unterlassen verwirklichte Unterlassungsdelikt tritt nach einer gesetzlich vorgegebenen Differenzierung in zwei
Erscheinungsformen auf: als sog. echtes Unterlassungsdelikt auf der einen,
als sog. unechtes Unterlassungsdelikt auf der anderen Seite. Diese Ausdifferenzierung in echte und unechte Unterlassungsdelikte ist wichtig und hat
für den Problemkreis "Garantenstellung und Garantenpflicht" grundlegende Bedeutung.
Echtes und unechtes Unterlassungsdelikt
Bei echten Unterlassungsdelikten handelt es sich um Straftaten, die sich in
der Nichtvornahme einer vom Gesetz geforderten Handlung, also in einem
Verstoß gegen eine Gebotsnorm und im bloßen Unterlassen einer gesetz52
lich ausdrücklich geforderten Handlung erschöpfen. Beispiele für solche
Unterlassungsdelikte finden sich in § 323c StGB - unterlassene Hilfeleistung - und § 138 StGB - unterlassene Verbrechensanzeige - und in einer
Reihe weiterer Vorschriften des Kern- und Nebenstrafrechts. Als Gegenstück zu den schlichten Tätigkeitsdelikten im Begehungsbereich kommt es
bei ihnen nicht darauf an, dass mit dem Ausbleiben der geforderten Handlung ein bestimmter "Erfolg", also etwa der Tod eines Menschen, eintritt.
Wer einem Unfallopfer nicht die ihm nach den Umständen mögliche und
zumutbare Hilfe leistet, macht sich nach § 323c StGB strafbar, ohne Rücksicht darauf, ob das Unfallopfer stirbt, weitere Schmerzen erleidet oder
durch die Hilfe anderer gerettet wird. Die Abwendung des sog. Taterfolgs
ist daher nicht Bestandteil des echten Unterlassungsdelikts, obwohl mit der
gesetzlich geforderten Handlung selbstverständlich auch bezweckt ist, von
der Rechtsordnung negativ bewertete sozialschädliche (Unterlassungs-)Folgen zu verhindern. Normadressat/in der echten Unterlassungsdelikte ist
"jede/r von uns" unterschiedslos. Schon aus dieser groben Kurzcharakteristik des sog. echten Unterlassungsdelikts ergibt sich klar und deutlich, dass
im Kontext des echten Unterlassungsdeliktes die Begriffe "Garantenstellung und Garantenpflicht" fehl am Platze sind. Die in echten Unterlassungsdelikten geforderten Handlungen verstehen sich als allgemeine, an
jedermann adressierte Handlungsverpflichtungen und gerade nicht als
"Garantenpflichten". Wer das verkennt, hat den (strafrechtlichen) Sinn der
Differenzierung des Unterlassens in echte und unechte Unterlassungsdelikte nicht begriffen und mehr noch: er wird ohne sachgerechtes Verständnis für den strafrechtlichen Sinnzusammenhang von Unterlassung,
Garantenstellung und Garantenpflicht bleiben.
Zur Garantenstellung/Garanteneigenschaft
Garantenstellung und Garantenpflicht sind strafrechtlich besetzte Begriffe, die ausschließlich im Sach- und Normbereich der sog. unechten Unterlassungsdelikte von Bedeutung sind. Sie bezeichnen Grundelemente der
Strafbarkeit "unechten Unterlassens". Im Gegensatz zu den echten Unterlassungsdelikten sind unechte Unterlassungsdelikte als Spiegelbild der Begehungsdelikte solche Straftaten, bei denen aus dem Kreis aller möglichen
Unterlassenden nur ein ganz bestimmter Unterlassender zur Erfolgsab53
wendung verpflichtet ist. Dieser ganz bestimmte Unterlassende ist der
Garant dafür, dass ein "tatbestandlicher Erfolg" wie z.B. der Tod oder die
Körperverletzung eines Menschen nicht eintritt. Umgekehrt macht sich
daher auch nur derjenige wegen eines unechten Unterlassungsdelikts strafbar, der ein solcher Garant für den Nichteintritt des tatbestandlichen Erfolges ist. Diese Überlegungen haben ihren Niederschlag in § 13 StGB
gefunden, die maßgebliche Vorschrift für die Strafbarkeit des Begehens
durch Unterlassen.
Und genau darum geht es, um die Verwirklichung einer gesetzlich als Begehungsdelikt verbotenen Straftat durch Unterlassen. Es heißt in dieser Vorschrift: "Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand
eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn
er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn
das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch
ein Tun entspricht". Mit § 13 StGB unternimmt das Gesetz, der Gesetzgeber, den Versuch, das verfassungsrechtliche Manko der unechten Unterlassungsdelikte, im StGB nicht ausdrücklich genannt zu sein,
grundrechtsverträglich auszugleichen, indem normative Anforderungen
an die Strafbarkeit unechten Unterlassens im Sinne einer Gleichstellung
von Begehen und Unterlassen als gleichwertige Verhaltensweisen festgeschrieben werden.
Das für eine Strafbarkeit des unechten Unterlassens wesentliche Gleichstellungserfordernis ist danach die Garanteneigenschaft des Unterlassenden. Den für eine Strafbarkeit wegen unechten Unterlassens zwingend
notwendigen Status des Unterlassenden, Garant zu sein, erläutert das
Gesetz trotz seiner eminenten auch verfassungsrechtlichen Bedeutung
jedoch nicht; es setzt ihn gewissermaßen als bekannt voraus. Und das heißt
nichts anderes als: Wer auf welche Weise und wann im Einzelfall als Garant
zur Erfolgsverhinderung verpflichtet ist, richtet sich nach den Erkenntnissen der Rechtsprechung der Strafgerichte und nach dem Forschungs- und
Erkenntnisstand der Strafrechtslehre und -wissenschaft.
An dieser Stelle mag es mit dem - inhaltlich gewiss auch verkürzenden Schnelldurchgang durch die Dogmatik der Unterlassungsdelikte sein
Bewenden haben. Mit ihm war bezweckt, die begrifflich-systematische
54
Zuordnung und die strafrechtliche Verortung des Garantenproblems im
Sach- und Normbereich der unechten Unterlassungsdelikte zu verdeutlichen.
Für den Problemkreis Garantenstellung und Garantenpflicht stellt sich nach
alledem nun aber die Frage, welche Kriterien im Einzelnen darüber entscheiden, ob und wie eine Garantenstellung entsteht und begründet wird.
Mit dieser Fragestellung soll zugleich auch klargestellt sein, dass es in der
Risikofrage primär nicht um eine etwaige strafrechtliche Verantwortlichkeit
wegen tätigen Handelns und auch nicht um echtes Unterlassen im Sinne
einer sog. unterlassenen Hilfeleistung geht. Auch diese Varianten etwaiger
strafrechtlicher Verantwortlichkeiten sind im Blick auf die typische Arbeitsbeziehung zwischen suchtkranker Klientel bzw. deren Kindern und Drogenberatern(innen) zwar prinzipiell denkbar, in der praktischen Wirklichkeit
aber in der Regel doch ausgeschlossen. Von vorrangigem Interesse ist und
bleibt deshalb die Frage: Wie gerät man in oder wie erlangt man eine Garantenstellung.
Entstehungsgründe für Garantenstellungen
Über die Entstehungsvoraussetzungen von Garantenstellungen besteht
trotz langer Forschung und intensiver Diskussionen noch keine endgültige Klarheit. Gleichwohl sind Befürchtungen unbegründet, man könne im
Deliktsbereich der unechten Unterlassung die Grenze zwischen rechtswidrigem und rechtmäßigem Verhalten nicht mit letzter Klarheit ziehen.
Nach überkommener Lehre und Rechtsprechung sind es zunächst formale, rechtliche Kategorien, denen Garantenstellungen zu entnehmen sind,
und zwar die Kategorie des Gesetzes und des Vertrages, später ergänzt um
die sog. freiwillige Übernahme, um das gefährliche rechtswidrige Vorverhalten, um die sog. enge konkrete Lebensbeziehung und das Element der
Risiko- und Gefahrengemeinschaft. Mit diesem Kanon von Entstehungsgründen für Garantenstellungen ist das Bemühen verbunden, im Sinne
einer sog. formellen Rechtsquellen- oder Rechtspflichtlehre den verfassungsrechtlichen Unbestimmtheitsbedenken gegen die derzeitige Unterlassungsstrafbarkeit im Wege einer formellen und rechtlichen Begründung
von Garantenstellungen und damit im Wege einer gewissen Anwendungssicherheit Paroli zu bieten.
55
Mehr den sozialen Sinngehalt von Garantenstellungen hat eine neuere,
inzwischen weit verbreitete sog. Funktionenlehre im Auge. Sie orientiert
sich an den Schutzfunktionen von Garantenpflichten und führt alle denkbaren Garantenpositionen auf zwei Grundsituationen zurück, nämlich zum
einen auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter gegen Gefahren aus allen
Richtungen und zum anderen auf die Verantwortlichkeit für Gefahrenquellen mit Sicherungspflichten gegen Gefährdungen aller Rechtsgüter.
Inhaltlich differenzieren sich dementsprechend alle Garantenstellungen in
zwei Grundtypen aus, und zwar in den Grundtyp des Beschützer- und den
des Sicherungsgaranten. Entgegen einem ersten möglichen Eindruck ist an
dieser Stelle zu betonen, dass zwischen dem Theoriekonzept der sog. Funktionenlehre und dem der sog. formellen Rechtspflicht- oder Rechtsquellenlehre kein Gegensatz im Sinne eines sich Ausschließens besteht.
Vielmehr lassen sich beide Grundauffassungen widerspruchslos miteinander verbinden. Nicht zuletzt deshalb empfiehlt ein beachtlicher Teil der
Strafrechtslehre beide Theorieansätze zur Begründung von Garantenpositionen zu kombinieren.
Stellt man mit der neueren Funktionenlehre auf den sozialen Sinngehalt
der Arbeitszusammenhänge ab, die zwischen der Drogenberatung und ihrer
suchtkranken Klientel mit deren Kindern bestehen, dann kommt in erster
Linie eine Garantenposition in Betracht, die dem Grundtyp des Beschützergaranten zur Verteidigung von Rechtsgütern mit Obhutspflichten für
die betroffenen Rechtsgüter zugehört, und zwar auf Grund einer sog.
tatsächlichen Schutzübernahme.
Als Entstehungsgrund für Obhutspflichten in Bezug auf bestimmte Rechtsgüter ist die "tatsächliche Schutzübernahme" durchweg anerkannt. Zwar
sind sich Lehre und Rechtsprechung über die Entstehungsvoraussetzungen
dieser Garantenposition im Einzelnen noch nicht völlig einig. Klar ist aber,
dass der potentielle Garant dem Träger des gefährdeten Rechtsguts oder zu
dessen Gunsten einem Dritten gegenüber es erkennbar und tatsächlich
übernimmt, für den Schutz des gefährdeten Rechtsguts zu sorgen. Insoweit
bedarf es daher noch nicht einmal eines Vertrages oder irgendwelcher gesetzlicher oder sonst rechtlicher Vorschriften. Entscheidend ist zunächst der
Realakt der Schutzübernahme. Hinzukommen muss dann aber ein diesen
Realakt normativ überformendes Element, das der Sache nach in einem
56
unreflektierten Vertrauen des Rechtsgutsträgers in die tätige Schutzverwirklichung des Übernehmers besteht. Dann ist der Schutz des Rechtsguts
- bildlich gesprochen - in die Hände des Übernehmers gelegt. Und selbst
wenn man für das Entstehen einer Garantenposition aus "tatsächlicher
Schutzübernahme" ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem
Rechtsgutträger und dem Übernehmer in dem Sinne verlangt, dass der
eigentlich für den Schutz seiner Rechtsgüter zuständige Rechtsgutsträger
selbst generell oder partiell zu diesem Schutz unfähig ist und die Rechtsordnung ihn zum Ausgleich dieses Schutzmankos der Obhut eines Garanten unterstellt, kann letztlich kein Zweifel daran bestehen, dass die in einen
Arbeitszusammenhang mit suchtkranken Vätern/Müttern und ihren Kindern einbezogenen Drogenberater(innen) in eine Garantenposition aus
tatsächlicher Schutzübernahme zu Gunsten der betreuten Kinder einrücken
können, wenn und soweit sie sich im Rahmen ihrer Beratungstätigkeit auch
mit den in ihrem Wohl gefährdeten Kindern - schützend - beschäftigen
(müssen). Wie fast immer hängt auch in soweit alles von den spezifischen
Umständen des Einzelfalles ab.
Garantenstellung und Garantenpflicht
Garantenstellung und Garantenpflicht sind - strafrechtlich betrachtet - im
Übrigen nicht dasselbe. Zwar besteht zwischen der Garantenstellung und
der aus einer Garantenstellung resultierenden Garantenpflicht ein einheitlicher Sachzusammenhang. Gedanklich sind jedoch beide auseinander zu
halten.
Der Garantenstellung ist die Aufgabe zugewiesen, aus dem Kreis aller in
Betracht kommenden Unterlassenden diejenige Person zu erfassen, die
tauglicher Täter (eines unechten Unterlassungsdelikts) sein kann; denn nur
wer eine Garantenstellung innehat, sie erwirbt oder in sie einrückt etc., ist
Garant und damit Normadressat eines unechten Unterlassungsdelikts. Die
Garantenstellung markiert danach eine eigentümliche, herausgehobene
soziale Position des Unterlassenden, auf Grund derer er eine besondere Verantwortung für den Nichteintritt tatbestandsmäßiger Erfolge hat. Garantenpositionen beruhen auf bestimmten tatsächlichen Umständen, die
entweder eine allgemeine oder aber auch eine spezifische soziale Rolle des
57
Unterlassungstäters charakterisieren. So sind beispielsweise die Eigenschaft
(leibliche) Mutter oder (leiblicher) Vater eines Kindes, die Position des Hauseigentümers oder sonstigen Grundbesitzers, die berufliche Rolle als
Arzt/Ärztin, Bus- oder Fernfahrer(in), Feuerwehrmann, Polizist(in), Lehrer(in), Sozialarbeiter(in) (in der Kinder- und Jugendhilfe) oder auch als
Drogenberater(in) solche tatsächlichen Umstände. Immer aber sind es in
der Lebenswirklichkeit greifbare, in der Realität feststellbare Tatsachen, Fakten, und nicht rechtliche Gegebenheiten, auf die sich die Garantenposition eines "unecht" Unterlassenden gründet.
Hiervon zu unterscheiden ist die Garantenpflicht. Sie ist die normative
Kehrseite der Garantenstellung und gehört insoweit untrennbar zu ihr:
Garantenstellung und Garantenpflicht sind dementsprechend zwei Seiten
desselben einheitlichen Sachzusammenhanges. Die Garantenstellung ist
das Synonym für "garantenpflichtbegründende tatsächliche Umstände."
Sie ist rechtstatsächliche Voraussetzung und der Grund für Garantenpflichten in dem Sinne, dass eben nicht schon die eine Garantenstellung
erzeugenden tatsächlichen Umstände als solche zugleich die Garantenpflicht sind, sondern die Garantenpflicht als eine nach Art und Ausmaß
situationsabhängige Verpflichtung zu erfolgsverhindernder Tätigkeit erst
aus der jeweiligen Garantenstellung resultiert.
Zur strafrechtlichen Fahrlässigkeitshaftung
Die Verletzung von Garantenpflichten allein begründet noch keine Strafbarkeit z.B. wegen Tötung oder Körperverletzung etc. durch Unterlassen.
Vielmehr hängt eine etwaige Strafbarkeit von zahlreichen weiteren Voraussetzungen ab. Für die strafrechtliche Risikolage der Mitarbeiter/innen
in der Drogenberatung ergibt sich ein weiterer durchaus typischer Problemkreis aus dem strafrechtlichen Haftungsrahmen der fahrlässigen
Deliktsverwirklichung. Nach vorherrschender Ansicht in Lehre und Rechtsprechung ist für die Fahrlässigkeitstat charakteristisch eine "ungewollte
Verwirklichung des gesetzlichen Straftatbestandes durch die pflichtwidrige
Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt". Es geht bei der
Fahrlässigkeitstat verkürzt gesagt um eine Sorgfaltspflichtverletzung bei
objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges. Ob nun aber bei
genereller, objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges
58
das gebotswidrige Unterlassen als Sorgfaltspflichtverletzung zu qualifizieren ist, hängt vornehmlich davon ab, welchen Sorgfaltsanforderungen das
Verhalten genügen muss.
Es entspricht - wiederum - vorherrschender Auffassung, dass ein Durchschnittsmaßstab anzulegen ist. Nicht nach den individuellen Kenntnissen
und Fähigkeiten des gebotswidrig Unterlassenden richtet sich die Bestimmung einer Sorgfaltswidrigkeit und ebenso geht es nicht um das Optimum
dessen, was jedermann zur Verhinderung von Gefahren für strafrechtlich
geschützte Rechtsgüter in der Situation des konkreten Tatgeschehens leisten kann, sondern es geht um das, was bei Berücksichtigung der Gefahrenlage ex ante ein besonnener und gewissenhafter Mensch in der konkreten
Lage und sozialen Rolle des Täters zur Verhinderung tatbestandlicher Erfolge in die Wege leiten würde, es geht - kurz gesagt - um einen personalisierten Sorgfaltstyp, nämlich um den gewissenhaften und einsichtigen,
besonnenen Angehörigen des jeweiligen Verkehrs- und Berufskreises. Auf
die Sorgfaltsanforderungen an ein(n) Mitarbeiter/in der Drogenberatung
übertragen kommt es darauf an, von welchen standardisierten Sonderfähigkeiten in der spezifischen professionellen Befassung mit suchtkranken Familien und deren Kindern auszugehen ist. Um gleich einem
Missverständnis vorzubeugen: Dieser Maßstab der "standardisierten Sonderfähigkeiten" ist nicht gleichzusetzen mit Fachlichkeit und fachlichen
Standards. Für die standardisierten Sonderfähigkeiten spielen fachliche
Qualitätsstandards zwar eine maßgebliche Rolle, standardisierte Sonderfähigkeiten im Haftungsverbund der Fahrlässigkeit sind jedoch an der
Gefahrenabwehr orientiert und können im Einzelfall über fachliche Standards hinausgehen. Und deutlich zu machen ist auch erneut, dass bei alledem nicht die strafrechtliche Haftungsproblematik in Bezug auf die Klientel
unmittelbar, sondern in Bezug auf deren Kinder in Frage steht. Ob insoweit ein Vorwurf der fahrlässigen Körperverletzung, Tötung etc. durch
garantenpflichtwidriges Unterlassen erhoben werden kann, richtet sich vor
allem nach der konkreten Ausgestaltung des schutzintendierten (mittelbaren) Arbeitszusammenhangs zwischen dem (der) Drogenberater(in) und
dem mitbetroffenen Kind.
59
Im Kontext von Sorgfaltspflichtverletzung und Sorgfaltsmaßstab steht
schließlich das für einen Fahrlässigkeitsvorwurf oftmals entscheidende Element der Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges. Als voraussehbar
wird - jedenfalls nach der Rechtsprechung des BGH und der Obergerichte
- ein tatbestandlicher Erfolg angesehen, wenn er nach allgemeiner - auch
berufsbezogener - Lebenserfahrung, sei es auch nicht als regelmäßige, so
doch als nicht ungewöhnliche Folge des eigenen Verhaltens erwartet werden kann. Ein solcher Taterfolg braucht überdies nur in seinem Endergebnis und noch nicht einmal in den Einzelheiten des zu ihm führenden
Kausalverlaufs vorhersehbar gewesen zu sein. "Mangelnde Vorhersehbarkeit" - das sei vorsichtshalber angemerkt - kommt daher kaum einmal als
Argument zur Entlastung vom Vorwurf fahrlässiger Rechtsgutverletzung
durch Unterlassen in Betracht.
Resümee
Nach alledem ist auch für das Arbeitsfeld der Drogenberatung in Rechnung
zu stellen, dass im Umgang mit suchtkranken Müttern/Vätern/Familien
und deren Kindern je nach Fallgestaltung im Einzelnen eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des(r) "zuständigen" Drogenberaters(in) nicht ausgeschlossen ist. Sind in der Arbeitsbeziehung zwischen Drogenberater(in)
und Klientel zu Gunsten der mitbetroffenen Kinder "gefährdungsabwehrende Tätigkeiten" entfaltet worden, die den Voraussetzungen einer sog.
tatsächlichen Schutzübernahme genügen, ist eine strafrechtliche Garantenstellung des(r ) Drogenberaters(in) begründet. Ob sich die dann bestehende strafrechtliche Risikolage des(r ) Drogenberaters(in) bis hin zur
Strafbarkeit verdichtet, hängt allerdings von zahlreichen weiteren Haftungselementen ab.
60
III. Beiträge aus den Foren
Forum I: Kinder in suchtkranken Familien
Die Notwendigkeit differenzierter Handlungsstrategien
Dr. Martin Zobel
Rheinisches Institut für angewandte Suchtforschung, Mayen und Koblenz
Kinder aus Suchtfamilien können nicht als homogene Gruppe angesehen
werden, da sie sich naturgemäß auf verschiedenen Altersstufen und damit
in verschiedenen Entwicklungsabschnitten befinden. Wenn diese Kinder
auffällig werden, dann in den unterschiedlichsten Settings, bzw. Einrichtungen. Die jeweiligen Hilfesysteme sind daher gefordert, den jeweils unterschiedlichen Bedürfnissen dieser Gruppe gerecht zu werden.
Bisher wurden die Kinder in der Suchthilfe wenig berücksichtigt, im Vordergrund stand der Abhängige, den es in eine ambulante oder stationäre
Therapie zu vermitteln galt. Die Suchthilfe hat lange Zeit hingenommen,
dass die Kinder dieser Eltern oft die nächste Generation ihrer
Klienten/innen bildeten. Es wurde auch häufig die Meinung geäußert, für
diese Kinder "nicht zuständig" zu sein, da diese in den Kompetenzbereich
der Jugendhilfe fallen würden. Gleichzeitig gab es häufig wenig
Berührungspunkte bzw. Vernetzung zwischen Sucht- und Jugendhilfe,
sodass die in der Suchthilfe auffälligen Kinder nicht der Jugendhilfe zugeführt wurden und keine entsprechenden Hilfen eingeleitet werden konnten.
Auch heute ist es in vielen Beratungsstellen Realität, dass es kein Angebot
für die Kinder ihrer Klienten/innen gibt und Kontakte zum Jugendamt eher
die Ausnahme darstellen. Als Gründe werden oftmals ausgeschöpfte personelle, finanzielle oder räumliche Ressourcen sowie mangelndes Knowhow in der Arbeit mit Kindern angeführt. Die Vernetzung mit der
Jugendhilfe ist längst nicht Standard und muss häufig erst aufgebaut werden. Dies trifft nicht für alle Beratungsstellen zu, nach einer aktuellen Erhebung halten aber nur 10% der Beratungsstellen ein Angebot für die Kinder
von Suchtkranken vor. Aber auch in der Jugendhilfe ist die Kooperation
mit den Suchtberatungsstellen längst noch nicht Alltag.
61
Kinder aus Suchtfamilie brauchen auf unterschiedlichen Altersstufen unterschiedliche Hilfeangebote. Diese Hilfeangebote sind teilweise schon vorhanden, teilweise müssen sie noch geschaffen werden. Es stellen sich im
Wesentlichen folgenden Fragen: Wer handelt, auf welcher Altersstufe, mit
welchen Interventionen? Im Folgenden sollen diese Fragen angerissen werden.
Wer handelt?
Interventionen bei Kinder aus suchtbelasteten Familien können auf mehreren Ebenen stattfinden. Abhängig davon, in welchem Bereich das Kind
auffällig ist, sind unterschiedliche Institutionen und Fachkräfte gefordert:
-
Jugendhilfe (u.a. ASD, SPFH)
Suchthilfe/Selbsthilfe
Pädagogische Fachkräfte (u.a. Erzieher/innen, Lehrer/innen)
Ärzte/Ärztinnen (Pädiater, Gynäkologen/innen)
Sonstige Personen
Wie wird gehandelt?
Die Art der Intervention kann sehr verschieden sein, je nach Symptomen
des Kindes und der Zielrichtung des(r) Behandlers(in). Im Folgenden soll
ein kurzer Überblick über mögliche Schwerpunkte gegeben werden:
Primärprävention vs. Sekundärprävention
Die Primärprävention bei Kindern aus Suchtfamilien steckt noch in den
Anfängen, da es dazu bislang wenig Konzepte gibt und die Gruppe "Kinder aus Suchtfamilien" als spezifische Zielgruppe häufig mit dem Verweis
auf eine mögliche Stigmatisierung der Betroffenen nicht als solche angesprochen wird. Sekundärpräventiv bieten sich u.a. entsprechende Kindergruppen an, um bereits in einem frühen Stadium Kompetenzen der Kinder
aufzubauen bzw. zu erweitern und bestehende Problemlagen zu entschärfen.
62
Suchtmittelspezifisch vs. suchtmittelunspezifisch
Strittig ist, ob die Kinder eher in eine suchtmittelspezifischen Gruppe integriert werden sollten, oder an einer Gruppe teilnehmen, in der auch Kinder mit anderen häuslichen Problemlagen vertreten sind. Prinzipiell gibt
es für beide Angebote gute Argumente, praktisch wird es auch von den
Gegebenheiten vor Ort abhängen, ob die Kinder eher suchtmittelspezifisch
oder eher suchtmittelunspezifisch betreut werden.
Für eine suchtmittelspezifische Behandlung sprechen:
-
Die Problemlagen in der Gruppe sind insgesamt homogener.
Das Thema Alkohol ist sehr viel stärker präsent.
Der eigene Umgang mit Suchtmitteln ist stärker im Vordergrund.
Süchtiges Verhalten kann frühzeitig erkannt und verändert werden.
Spezielle Problemlagen und Dynamiken in Suchtfamilien können
stärker thematisiert werden.
Für eine suchtmittelunspezifische Behandlung sprechen:
-
Es erfolgt eine geringere Stigmatisierung der Gruppe und der einzelnen
Kinder (insbesondere bei jüngeren Kindern).
Der Zugang zur Gruppe wird für die Eltern (und auch für die Kinder)
dadurch erleichtert, dass der Alkohol nicht im Vordergrund steht.
Weitere Probleme in der Familie sind in der Gruppe ähnlich.
Pragmatische Gründe (z.B. Zahl der Teilnehmer, v.a. im ländlichen
Bereich).
Psychotherapeutisch vs. pädagogisch
Kinder aus Suchtfamilien sollten nicht per sé als gestört und behandlungsbedürftig eingestuft werden. Im Gegenteil finden wir bei den Kindern
häufig eine Vielzahl von Fähigkeiten und Ressourcen, an denen in der praktischen Arbeit angeknüpft werden kann. Eine psychotherapeutische
Behandlung ist aber dann indiziert, wenn die Kinder Auffälligkeiten mit
Störungswert zeigen, die einer professionellen Behandlung bedürfen.
63
Einzelintervention vs. Gruppenintervention
Grundsätzlich ist eine Gruppenintervention sinnvoll, da die Kinder hier
vor allem soziale Kompetenzen erlernen, Freunde gewinnen, von anderen
Kindern ähnliche Probleme erfahren und unterschiedliche Rückmeldungen erhalten können. Für Jugendliche ist der Kontakt zu Gleichaltrigen häufig wichtiger als der zu professionellen Helfern. Bei spezifischen
Problemlagen sind allerdings auch Einzelinterventionen angezeigt, insbesondere bei sehr schambesetzten Themen, über die die Kinder in der Gruppe nicht reden möchten.
Defizitorientiert vs. Ressourcenorientiert
Kinder aus Suchtfamilien werden häufig à priori schon als gestört und
behandlungsbedürftig eingeschätzt, da eine Schädigung des Kindes durch
den elterlichen Alkoholismus plausibel erscheint. Auch viele professionelle Helfer/innen neigen dazu, Kindern aus Suchtfamilien – unabhängig von
ihrem Verhalten – eine höhere Pathologie zuzuschreiben als Kindern aus
unbelasteten Familien (Burk & Sher, 1990). Diese eher defizitorientierte
Sichtweise wird allerdings häufig den Betroffenen nicht gerecht und führt
zu einseitigen Stigmatisierungen der Betroffenen. Forschungsergebnisse
weisen immer wieder darauf hin, dass Kinder aus Suchtfamilien ein beachtliches Potential an Möglichkeiten zeigen, das es zu würdigen und zu fördern gilt (Tweed & Ryff, 1991).
Arbeit mit den Kindern vs. Arbeit mit den Eltern
Der Kontakt mit den Eltern ist unerlässlich, da diese das Aufenthaltbestimmungsrecht haben und daher der Teilnahme an der Gruppe zustimmen müssen. Dabei reicht in vielen Fällen aber die Zustimmung eines
Elternteils aus. Häufig wird die Elternarbeit dadurch erschwert, dass ein
Elternteil noch aktiv trinkt und der andere Elternteil auf Grund seiner coabhängigen Struktur die Alkoholproblematik in der Familie nicht wahrhaben will. Hier ist sicherlich viel Motivationsarbeit zu leisten, um den
Abhängigen zur Aufnahme einer entsprechenden Behandlung zu bewe64
gen. Unabhängig davon sollte die Arbeit mit dem Kind weitergehen, um
ihm Entlastung von den häuslichen Gegebenheiten zu bieten. In der Elternarbeit gilt es vor allem darum, den nicht-abhängigen Elternteil zu stützen
und Wege aus dem co-abhängigen Verhalten aufzuzeigen.
Vernetzung vs. eigenständiges Handeln
Bei der Versorgung von Kindern aus Suchtfamilien ist die Zusammenarbeit von Sucht- und Jugendhilfe unerlässlich. Die bereits in vielen Kommunen erfolgreich geleistete Kooperation gilt es weiter auszubauen und
auch in anderen Kommunen als Standard zu übernehmen. Verschiedenen
Träger der Suchthilfe sehen den Nutzen einer vernetzten Zusammenarbeit
mit anderen Suchthilfeträgern und schließen entsprechende Kooperationsverträge. Gerade bei Kinder- und Jugendlichengruppen können mehrere Träger zusammen arbeiten und ein gemeinsames Angebot vorhalten,
Wann wird gehandelt?
Abhängig vom Alter der Kinder sind unterschiedliche Interventionen notwendig. Gemäß den Entwicklungsstadien der Kinder sind folgende Einteilungen sinnvoll:
Pränatal
Säuglingsalter
Kleinkindalter
Vorschulalter
Grundschulalter
Frühes Jugendalter
Jugendalter
(0 – 1 Jahr)
(1 – 3 Jahre)
(3 – 6 Jahre)
(6 – 10 Jahre)
(10 – 14 Jahre)
(14 – 18 Jahre)
Die folgenden Tabellen geben entsprechend den einzelnen Altersstufen
eine Übersicht über die primäre Symptomatik der Kinder, die jeweiligen
Bedürfnissen der Kinder sowie über Möglichkeiten der Interventionen von
Sucht- und Jugendhilfe
65
Pränatal
Symptomatik der Bedürfnisse
Kinder
Möglichkeiten der Intervention
Suchthilfe
Jugendhilfe
- Gefahr von
- Sicherung des
AlkoholembryoÜberlebens und der
pathie bzw.
körperlichen
Alkoholeffekten.
Unversehrtheit des
- Gefahr von
Embryos.
Aborten,
- Begleitung bei
Frühgeburten.
Behördengängen
- Betrifft häufig junge und Arztbesuchen.
Drogenabhängige. - Wahl einer Entbindungsklinik.
- Versorgung mit
Erstausstattung.
- Hilfreiche Adressen
(Geburtsvorbereitungskurse,Suchtberatungsstellen).
- Helfende
Gespräche.
- Beratung und
- Sozialpädagogische
Aufklärung.
Familienhilfe
- Aufbau einer
(SPFH).
Behandlungs- Einleitende
motivation.
Gespräche zu einer
- Auswahl einer Entevtl. Fremdunterwöhnungsklinik für bringung des
Schwangerebzw.
Kindes
Mütter mit Kindern. (Pflegefamilie)
- Hinweis auf SPFH.
0 – 3 Jahre
Symptomatik der
Kinder
Bedürfnisse
- Vernachlässigung
- Verlässliche
- Mangelernährung
Befriedigung der
- Körperliche und
Bedürfnisse nach
geistige Folgen einer
Essen, Sicherheit,
AlkoholLiebe, Pflege,
embryopathie bzw.
Zuwendung,
von Alkoholeffekten: Körperkontakt,
Körperliche,
Förderung.
motorische,
- Setzung von
sprachliche und
sinnvollen Grenzen.
kognitive
Entwicklungsverzögerungen
66
Möglichkeiten der Intervention
Suchthilfe
Jugendhilfe
- Beratung und
Aufklärung.
- Aufbau einer
Behandlungsmotivation.
- Auswahl einer
Entwöhnungsklinik
für Mütter mit
Kindern.
- Hinweis auf SPFH.
- Heilpädagogische
Frühförderung.
- Säuglingspflegekurs.
- SPFH.
- Erziehungsberatung.
- Fremdunterbringung
in eine Pflege- oder
Adoptivfamilie.
4 –6 Jahre
Symptomatik der Bedürfnisse
Kinder
Möglichkeiten der Intervention
Suchthilfe
Jugendhilfe
- Verwahrlosung.
- Auffälliges
Verhalten.
- Entwicklungsverzögerungen.
- Einnässen /
Einkoten.
- Häufiges Fehlen in
der Kita.
- Beratung und
Aufklärung der
Eltern.
- Aufbau einer
Behandlungsmotivation bei den
Eltern.
- Hinweis auf SPFH.
- Suchtprävention.
- Kontakte zu
Gleichaltrigen.
- Aufmerksamkeit.
- Geborgenheit.
- Zuwendung.
- Förderung.
- Erlernen
gesellschaftlicher
Regeln.
- Kindertagesstätte.
- SPFH.
- Erziehungsberatung.
- Eltern- und
Familienbildung
7–10 Jahre
Symptomatik der
Kinder
Bedürfnisse
- Schulversagen.
- Mangelndes
Sozialverhalten
(Konflikte mit
Gleichaltrigen).
- Erste Delinquenz.
- Erfolg und das
Gefühl von
Kompetenz.
- Unterstützung und
positives Feedback
von Erwachsenen.
Suchthilfe
Angebote
Jugendhilfe
- Beratung und
Aufklärung der
Eltern.
- Aufbau einer
Behandlungsmotivation bei den
Eltern.
- Hinweis auf SPFH.
- Suchtprävention.
- Angebot von
spezifischen
Kindergruppen.
- Freizeit- und
Spielpädagogik.
- Offene Kinder- und
Jugendarbeit.
- Kindertelefon.
- Erzieherische Hilfen.
- Familienferien.
- Heimerziehung.
- Hausaufgabenhilfe.
- Tagesgruppe.
- SPFH.
67
11–14 Jahre
Symptomatik der Bedürfnisse
Kinder
- Einstieg in
Substanzgebrauch.
- Weglauftendenzen.
- Parentifizierung.
- Verantwortungsübernahme für die
Eltern.
- Orientierung für
altersentsprechendes Verhalten.
Suchthilfe
Angebote
Jugendhilfe
- Beratung und
Aufklärung der
Eltern.
- Aufbau einer
Behandlungsmotivation bei den
Eltern.
- Hinweis auf SPFH.
- Suchtprävention.
- Angebot von
spezifischen
Kindergruppen.
- Jugendberatungsstellen.
- Jugendhilfeplanung.
- Jugendtreff.
- Jugendwerkstätten.
- Jugendzentren.
- Schulsozialarbeit
- Mobile
Jugendarbeit.
- Kinder- und
Jugendschutz.
- Ferienprogramme.
- Installation einer
Erziehungsbeistandschaft.
über 14 Jahre
Symptomatik der
Kinder
Bedürfnisse
- Suchtsymptome.
- Anerkennung.
- Trinkende Peergroup - Selbstständigkeit.
- Entlastung.
- Intimität vs.
Isolation.
- Aufbau von
Beziehungen.
- Berufliche
Orientierung.
68
Suchthilfe
Angebote
Jugendhilfe
- Angebot von
spezifischen Gruppen
für Jugendliche.
- Suchtprävention.
- Niedrigschwellige
Angebote.
- Psychologische
Beratung.
- Beistandschaften.
- Betreutes Wohnen.
- Drogenberatung.
- Sport- und
Kulturangebote.
- Streetwork.
- Jugendberufshilfe.
- Jugendgerichtshilfe.
Auf allen Altersstufen sind Maßnahmen angebracht, die den Aufbau von
Resilienzen fördern und einer Rollenfixierung entgegenwirken. Dazu sind
differenzierte Maßnahmen erforderlich, die sich an den unterschiedlichen
Bedürfnissen der Kinder orientieren müssen.
Allgemein kann gesagt werden, dass für Kinder aus suchtbelasteten Familien noch zusätzlicher Bedarf besteht:
-
im Bereich der Schulsozialarbeit
der Übermittagbetreuung
an Ganztagsschulen
an Hort- und Krippenplätzen (um die Kinder aus dem familiären
Geschehen herauszuziehen)
spezielle Selbsthilfegruppen für Kinder aus suchtbelasteten
spezialisierte Kindergruppen für Kinder aus suchtbelasteten (um Anlaufstellen für betroffene Kinder zu bieten)
Literatur
Burk, J.P. & Sher, K.J. (1990). Labeling the child of an alcoholic: Negative
stereotyping by mental health professionals and peers. Journal of Studies on Alcohol, 51, 156-163.
Tweed, S.H. & Ryff, C.D. (1991). Adult children of alcoholics: Profiles of
wellness amidst distress. Journal of Studies on Alcohol, 52, 133-141.
69
Präventive Arbeit mit Kindern von Suchtkranken
Traudel Schlieckau
Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen, Fachreferat der Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in Niedersachsen, Hannover
Erfreulicherweise nimmt in vielen pädagogischen Arbeitsfeldern das Interesse am Thema Kinder aus Familien mit Suchtproblemen zu. Besonders in Kindertageseinrichtungen, im Grundschulbereich und im Allgemeinen
Sozialen Dienst sind die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sensibel für das
Thema geworden, weil sie immer häufiger mit Kindern konfrontiert werden, deren Eltern Suchtprobleme haben. Präventive Angebote für die Kinder aus den belasteten Familien gibt es allerdings nur wenige und der
Umgang mit den suchtkranken Erwachsenen löst oft große Unsicherheit
aus. Überdies mangelt es an Wissen über die Suchtproblematik und deren
Auswirkung in den betroffenen Familien. Um diesem Zustand abzuhelfen,
muss die Fortbildungsarbeit für pädagogische Fachkräfte zu dieser Thematik intensiviert und in Ausbildung und Studium verankert werden. Es
ist deshalb sehr zu begrüßen, dass die Landesregierung in Rheinland-Pfalz,
insbesondere das Ministerium für Arbeit, Soziales, Familie und Gesundheit, die Arbeit mit diesen Familien intensiv fördert.
Im stationären und auch im ambulanten Bereich der Suchtkrankenhilfe
sind vereinzelt, eher modellhaft Konzepte für die Arbeit mit Kindern von
Suchtkranken entwickelt worden. Voraussetzung für die daraus folgenden
Kinderprojekte war in der Regel der Kontakt zur allen Familienmitgliedern,
die in diesem Stadium bereits eine Einsicht in ihre Problematik bzw. Beratungs- oder Therapiebereitschaft mitbringen, an der angeknüpft werden
kann.
Mit diesen präventiven oder therapeutischen Angeboten will ich mich im
meinem Beitrag nicht auseinander setzen. Vielmehr nehme ich betroffene
Kinder in den Blick, die wir in Kindertageseinrichtungen oder Grundschulen unter anderen Gleichaltrigen regelmäßig antreffen können. Diese
Kinder zeigen neben Mädchen und Jungen aus anderen Problemfamilien
Verhaltensweisen, die von der Gruppennorm abweichen. Welche präventiven Angebote brauchen diese Kinder und wie kann man mit ihnen arbeiten?
70
Erkennen problematischer Familienstrukturen
Aus der Diskussion über den sexuellen Missbrauch von Kindern ist das Phänomen, jahrelang ein gravierendes Problem zu übersehen, bereits bekannt.
Ebenso wie das Beispiel, dass Eltern die langjährige Drogenabhängigkeit
ihres Kindes überhaupt nicht mitbekommen. Die Erklärung hierfür ist relativ einfach: Hinschauen löst Hilflosigkeit aus und tut weh, besonders wenn
Menschen, die einem sehr nahe stehen (Sucht-) Probleme haben.
Vielleicht ist deshalb die Frage, wie kann ich es erkennen, wenn (m)ein(e) Kind,
Partner(in), (m)eine Freundin Drogen nimmt oder Eltern alkoholabhängig sind?
in der Suchtprävention so zentral und wird immer wieder gestellt. Das
Dilemma ist nur, dass eine zufrieden stellende Antwort nicht leicht zu geben
ist und das bloße Aufzählen von Kriterien nicht ausreicht, denn es gibt
keine eindeutigen. Und um Konsum zu erkennen oder Sucht braucht es
schon ein geschultes Auge und Erfahrungswissen.
Viel bedeutender scheint mir die Frage zu sein, will ich überhaupt etwas
sehen, denn das Erkennen eines Problems setzt die Bereitschaft voraus,
auch hingucken zu wollen. Natürlich kann die Wahrnehmung durch den
Erwerb von Kompetenzen geschult und sensibilisiert werden, auf dieser
Fachtagung beispielsweise. Doch das allein reicht zur Verbesserung der
Wahrnehmungsfähigkeit nicht aus. Entscheidend ist vielmehr, dass wir auch
"hinsehen wollen". Darunter verstehe ich die Bereitschaft, sich in der
pädagogischen Arbeit mit speziellen, belastenden Problemen zu befassen.
Belastend deshalb, weil die Erkenntnis dieser Schwierigkeiten meistens zu
Verunsicherungen führt und Ängste auslöst. Wir fühlen uns hilflos und
handlungsunfähig mit folgendem Ergebnis: Die Arbeitsbelastung erhöht
sich spürbar; vielleicht entwickelt sich auch ein schlechtes Gewissen, weil
wir das Problem nicht "lösen" können. Das heißt, wir stehen uns mit der,
in der sozialen Arbeit weit verbreiteten Anspruchshaltung "alles in den Griff
zu bekommen" wieder einmal selbst im Weg. Doch die Entscheidung, nicht
hinzuschauen, hilft weder dem Kind noch uns weiter, denn ein ungutes
Gefühl, "dass da irgendetwas in der Familie nicht stimmt" bleibt, weil die
Symptome, z.B. das auffällige Verhalten des Kindes, natürlich nicht verschwinden.
71
Problematisches Verhalten von Kindern ist ein wichtiges Signal und macht
in der Regel auf gestörte familiäre Beziehungen aufmerksam. Und dem
unguten Gefühl, sollte zunächst eine intensive Beobachtungsphase folgen
und vorschnelles Handeln vermieden werden. Eine gewisse Gelassenheit
ist deshalb angebracht, denn dieser erste Schritt braucht Zeit, weil die auffälligen, oftmals nervenden Verhaltensweisen der Kinder eine Botschaft
darstellen, die wir zunächst entschlüsseln müssen. Erst dann können wir
Handlungsstrategien entwickeln, auch wenn uns das kindliche Verhalten
weiterhin beunruhigt. Der Familientherapeut Klaus Utz bezeichnet aus
systemischer Sicht diesen ersten Schritt als den häufig ergiebigsten, wenn
es gelingt, "eine große Informationsvielfalt zur familiären Situation (zu)
erhalten, zur Atmosphäre in der Familie, zur emotionalen Beziehung zwischen den Familienmitgliedern". (1)
Zielsetzung in dieser Phase ist, sowohl den Kontakt zum Kind als auch zu
der Familie zu intensivieren, vor allem, wenn diese sich abschottet, nach
dem Motto: "Was in unserer Familie passiert, geht niemanden etwas an alles total geheim!"
Es ist ein mühsamer Prozess, Kontakt zu Familien mit Suchtproblemen
aufzubauen und dauerhaft zu halten, erst recht, wenn die Eltern sich entziehen oder ablehnend sind. Bei dieser schwierigen Aufgabe bedeutet professionelles Handeln, dass die Ziele für die Arbeit mit den Familien, vor
allem aber auch die Grenzen, genau abgesteckt werden. "Die Lebenssituation selbst ist "...meist nicht zu verändern. Aus dieser traurigen (auch depressiv machenden) Einsicht heraus ist es für den professionell Helfenden oft
schwierig, nicht in den Standpunkt, es habe doch alles keinen Sinn, abzurutschen, sondern die Kraft, die Hoffnung und den Mut zur "DennochHaltung" zu haben." (2)
Wichtig ist auch die Klärung der Frage, wer für wen zuständig ist. Pädagogische Fachkräfte im Kindergarten und in der Schule beispielsweise haben
die Verantwortung für das Wohlbefinden und die Entwicklung der Kinder,
nicht aber für die Suchtprobleme der Eltern.
Intensives Beobachten beim Spiel oder Arbeiten der Kinder ist erforderlich, um Klarheit über das auffällige oder veränderte Verhalten eines Kindes zu bekommen und perspektivisch handlungsfähig zu werden. "Die
Kompetenz der Erzieherin liegt in der Auswertung dieser vielen Informa72
tionen für einen pädagogischen Umgang mit dem Kind. Ihre Aufgabe ist
nicht die Veränderung der Familie!" (3)
In dieser Phase braucht man Zeit für die Arbeit mit den Kindern, sollte
ihnen Verständnis entgegenbringen für ihr möglicherweise problematisches
Verhalten bzw. ihre familiäre Situation, ihnen - wenn möglich - Zuwendung
geben und eine intensive Beziehung zu ihnen aufbauen.
Ausgesprochen hilfreich sind hierbei ein fester Rhythmus (z.B. geregelter
Tagesablauf im Kindergarten), immer wiederkehrende Rituale, (Stuhlkreise in der Schule, in denen auch die Kümmernisse der Kinder zur Sprache kommen) und eine feststehende Ordnung (jedes Kind hat ein eigenes
Fach, einen festen Platz etc.). Ein Kind aus einer Familie mit einem süchtigen Elternteil braucht dringend klare Strukturen, denn diese bieten Sicherheit und helfen Ängste abzubauen.
Weil die betroffenen Kinder in einer sehr belastenden Familiensituation
aufwachsen wecken sie in ihrer Umgebung viel Mitleid. Leider wird hierbei übersehen, dass diese Kinder trotz aller Schwierigkeiten, denen sie ausgesetzt sind, auch Fähigkeiten und Stärken herausbilden. Bei diesen
Fähigkeiten handelt es sich häufig um Überlebensstrategien, die die Kinder als Reaktion auf ihre familiäre Situation entwickeln. Wir wissen, dass
die Kinder verschiedene Rollen übernehmen. Ein Kind, das z.B. in die Rolle
des "Sündenbocks" schlüpft, macht dadurch auf sich aufmerksam und lenkt
so von der Sucht der Erwachsenen ab.
Vermeidende und ausweichende Bewältigungsstrategien (Coping-Strategien) sind z. B. die Regression, die Verleugnung, der Rückzug, die Vermeidung oder das Ausagieren; alles Verhaltensweisen, die wir bei Kindern aus
Familien mit verschiedenen Problemlagen beobachten können. Klaus Utz
benennt neben aber auch noch Bewältigungshandeln, das zu einer positiven Verarbeitung der familiären Situation beiträgt und somit die Funktion
der Stressreduktion übernimmt. Er versteht darunter
- eine zugewandte aktive Lebenseinstellung
- sowie die Fähigkeiten,
- umfassend Neugier und Interesse zu bewahren,
- Beziehungen eingehen und Kontakte halten zu können (soziales Netz),
- Frustrationen im Spiel auszuleben und zu verarbeiten,
73
-
eigene Perspektiven zu erproben und
ambivalente Gefühle (Schuld, Aggression) und abweichendes Verhalten sichtbar machen zu können. (4)
Die Alltagsbewältigung gestaltet sich stressfreier, wenn Kinder über die von
Utz genannten Ressourcen verfügen. Um einer Suchtentwicklung keine
Chance zu geben, müssen Handlungkonzepte für die Prävention entwickelt
werden, die darauf abzielen, vorrangig die schützenden Faktoren im Leben
der Kinder zu stabilisieren.
Anknüpfungspunkte präventiver Arbeit mit betroffenen Kindern
Kinder aus Familien mit Suchtproblemen sind eine Risikogruppe und brauchen möglichst frühzeitig und kontinuierlich präventive Angebote. Schon
im Kindergarten und in der Grundschule werden neben den Ressourcen
auch die Probleme der Kinder mit suchtkranken Eltern sichtbar. Diese ebenfalls zu beachten macht Sinn, denn aus den Nöten der Kinder und der
Unberechenbarkeit des Familienlebens lassen sich Zielsetzungen für die
Prävention ableiten:
Wenn Kinder von Suchtkranken
-
in ihren Familien weder klare Strukturen noch Kontinuität in den Beziehungen vorfinden, brauchen sie Bezugspersonen, die ihnen Orientierung und Regeln anbieten;
-
kein eigenes Gefühlsleben entwickeln, weil der abhängige Mensch
immer im Mittelpunkt steht, müssen sie lernen, individuelle Gefühle
zu erkennen und auszuleben;
-
nur die Normen und Werte ihrer Familie verinnerlichen, benötigen sie
die Konfrontation mit anderen Lebenseinstellungen, um eigene Einschätzungen und Meinungen herauszubilden;
-
kein Selbstwertgefühl entwickeln und sich ohnmächtig vorkommen,
müssen sie vor Aufgaben gestellt werden, deren Bewältigung mit Aner-
74
kennung verbunden ist und die ihr Kommunikations- und Durchsetzungsvermögen stärken;
-
keine Freundinnen und Freunde mit nach Hause bringen dürfen, sind
Angebote erforderlich, die Freundschaften fördern;
-
dazu angehalten werden, die familiäre Situation zu verschweigen, können sie vertrauenswürdige Erwachsene nicht entbehren, um sich bei
ihnen zu entlasten;
-
sich nicht von ihrer Familie lösen können, weil sie befürchten, dass diese
sonst nicht allein zurechtkommt, helfen zeitlich befristete Trennungen
(z.B. Übernachtungsangebote des Kindergartens oder Klassenausflüge)
die Ablösungsängste zu verringern;
-
häufig Gefühlszustände wie Enttäuschung, Unsicherheit, Traurigkeit
oder Hoffnungslosigkeit erfahren, lohnt es sich, mit ihnen herauszufinden, was das Leben lebenswert macht.
Gezielte Hilfen
Das Medienpaket Alles total geheim besteht aus dem gleichnamigen Bilderbuch von Kirsten Boie und Silke Brix-Henker, einer Videokassette mit der
Verfilmung der Bilderbuchgeschichte und einer Broschüre zum Thema Kinder aus Familien mit Suchtproblemen. Letztgenannte Arbeitsmaterialien für
pädagogische Fachkräfte, herausgegeben von der Landesstelle Jugendschutz
Niedersachsen, enthalten einführende Beiträge, die sich mit der Abhängigkeitsproblematik und der Lebenssituation von Kindern in Familien mit
Suchtproblemen beschäftigen. Vorschläge und Übungen für die präventive Arbeit schließen sich an. Die Broschüre gibt Hilfen für den Umgang mit
betroffenen Kindern sowie ihren suchtkranken Eltern. Praktische Hinweise für Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte und Tipps zur Durchführung von Elternabenden im Kindergarten und in der Grundschule
runden die Arbeitshilfe ab.(5)
75
Die Bilderbuchgeschichte
Michi ist umgezogen und wohnt jetzt in einem Hochhaus in der Stadt, weil seine
Eltern hier Arbeit gefunden haben. Mit Gernot, der mit ihm nicht nur in die erste
Klasse geht, sondern auch im selben Haus wohnt, freundet er sich schnell an. Wenn
das kein Glück ist! Doch mit Michis neuem Freund ist alles ein bisschen anders als
mit anderen Freunden. Gernot hat kein Fahrrad, keinen Go-Kart und keinen Roller. "Ich krieg’ das Rad von meinem Bruder" sagt er. "Ein echtes, großes, Mann.
Nicht so ein Babydingsda!"
Gernot darf auch im Winter mit Turnschuhen draußen spielen, weil Winterstiefel
"Babykram" sind. Aber das Spannendste an der Freundschaft mit Gernot ist, dass
sein Vater als Geheimagent arbeitet und Spione, Verbrecher und Rauschgiftbanden
bekämpft, wie im Fernsehen. Allerdings darf Michi mit niemandem darüber sprechen – weil das alles total geheim ist, hat der Freund gesagt. Jetzt lässt sich auch
erklären, warum Gernots Vater (der Geheimagent) nie mit seinem Sohn spricht, wenn
er draußen, in Hausschuhen und mit einer Plastiktüte in der Hand, an den spielenden Kindern vorbeigeht. Auch dass Gernot nicht besucht werden darf, ist nun einsichtig, und ebenso ist verständlich, weshalb er nicht an einem Klassenausflug in den
Zoo teilnehmen kann, der übrigens etwas teurer war. Schließlich treffen sich dort
fremde Agenten, die Gernot sofort entführen würden, nur um seinen Vater zu erpressen.
Der Hinweis von Michis Mutter, dass Gernots Vater arbeitslos ist und seine Mutter deshalb putzen geht, stimmt Michi keineswegs nachdenklich. Das ist alles nur
Tarnung! Und als Michis Mutter eines Tages mit dem Vater darüber spricht, dass
Gernots vierköpfige Familie in eine Eineinhalb-Zimmer-Wohnung ziehen muss, weil
die Eltern die Miete nicht mehr bezahlen können, geht Michi leise in sein Zimmer.
Denn er weiß es genau, Gernot hat es ihm erzählt: Seine Familie zieht ins Ausland,
in einen Palast mit goldenen Fensterrahmen! Doch auch das darf Michi niemandem
verraten. Alles total geheim!
Überlegungen für den Einsatz der Geschichte in Kindergruppen
Kirsten Boie schildert sehr eindringlich die "Überlebensstrategie" eines Jungen, der immer wieder faszinierende Erklärungen erfindet, um von den Problemen seiner Familie abzulenken. Gernot hat diesen Weg gewählt, weil er
76
befürchtet, seinen besten Freund zu verlieren, wenn dieser die Wahrheit
erfährt: Denn Gernot lebt in einer belasteten Familie, deren Schwierigkeiten durch die Arbeitslosigkeit des Vaters, vielleicht ja auch durch seine Trinkprobleme, immer größer werden. Da ist eine Freundschaft zu einem
Gleichaltrigen besonders wichtig.
Kirsten Boie arbeitet in diesem Buch die angesprochene Thematik nicht
ausdrücklich heraus. In ihrem Bilderbuch sind es Erwachsene, nämlich die
Eltern von Michi, die den Bezug zur Realität herstellen. Doch sie bleiben
mit ihren kritischen Äußerungen im Hintergrund. Michi will Gernot glauben, denn auch er möchte seinen Freund nicht verlieren. Das Ende der
Geschichte bleibt offen, und die Autorin überlässt es den Kindern, ob sie
Gernots Fantasien Glauben schenken möchten oder nachdenklich werden
und sie kritisch hinterfragen. Daran sollten sich pädagogische Fachkräfte
orientieren, die mit diesem Buch arbeiten, weil es nicht vorrangiges Ziel
sein kann, Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren die in dem Buch
angesprochene Problematik unbedingt nahe zu bringen, es sei denn, die
Kinder erkennen selbst die Widersprüchlichkeiten in dieser Geschichte oder
sie werden im Kindergarten bzw. in der Grundschule direkt mit Suchtproblemen von Eltern konfrontiert. (Bei Kindern der 3. und 4. Grundschulklasse kann auf die Widersprüchlichkeit zwischen Gernots aufgebauter
Scheinwelt und den Aussagen von Michis Eltern aufmerksam gemacht werden.)
Vor allem jüngere Kinder, die Fantasie und Realität noch nicht auseinander halten können, glauben Gernots Erklärungen und sind traurig, dass die
Freunde durch den Wegzug des einen getrennt werden. Hier bietet das
Thema Freunde und Freundinnen einen guten Anknüpfungspunkt für suchtpräventive Aktivitäten mit allen Altersstufen. Freundschaften fördern und
insbesondere Freundschaften zwischen Kindern aus belasteten Familien
und anderen Gleichaltrigen zu unterstützen, ist generell ein wichtiges Ziel
in der Suchtprävention. "Innerhalb der Familie kann ein Kind nicht genügend soziale Rollen einüben, dazu bedarf es der Auseinandersetzung mit
Gleichaltrigen in unterschiedlichen Gruppen. Sie bieten viele Identifikationsmöglichkeiten und vermitteln auf andere Weise als Eltern oder Geschwister Sicherheit, Bestätigung, Emotionalität, Spaß und Freude sowie
Rivalität, Frustration und Ablehnung. Auch Jungen und Mädchen lernen
voneinander und nehmen sich in ihrem unterschiedlichen Rollenverhal77
ten wahr. Fühlen Kinder sich in Freundschaften geborgen, haben diese
Erfahrungen günstige Auswirkungen auf ihre gesamte Entwicklung." (6)
Wird vermutet, dass Kinder aus Familien mit Suchtproblemen in einer Klasse oder einer Kindergartengruppe zu finden sind, ist es durchaus möglich,
nur mit diesen Kindern das Bilderbuch gezielt anzuschauen. Verbunden
mit dem unausgesprochenen Angebot der Bezugsperson: "Du kannst dich
mir anvertrauen", ist denkbar, dass betroffene Kinder sich öffnen und mitteilen. Die Entlastung darf nicht unterschätzt werden, die das Kind durch
seine Mitteilung erfährt, auch wenn zunächst das Geheimnis mit dem Kind
geteilt werden muss und sich an seiner familiären Situation nichts verändert.
Alle weiteren Schritte sollten mit Bedacht und nur unter Einbeziehung des
Kindes geplant und realisiert werden.
Wenn sich in Familien mit Suchtproblemen alles auf den suchtkranken
Menschen konzentriert und die Kinder ihre eigenen Gefühle nicht leben
können, muss auch dieses Thema in der Prävention besonders berücksichtigt werden. Gefühle sind sehr unterschiedlich: laut und leise, stark und
schwach und immer individuell. Viele Kinder können ihre Gefühle nicht
leben, weil sie sich den Erwartungen der Erwachsenen anpassen. "Wut z.B.
ist ein starkes Gefühl, aber ein Gefühl, das großen gesellschaftlichen Tabus
unterliegt. Bereits Kinder spüren, dass sie lernen müssen, ihre Wut zu kontrollieren, obwohl Erwachsene sich häufig anders verhalten und in der direkten, auch körperlichen, Auseinandersetzung oder durch Gestik oder Mimik
belegen, dass es offensichtlich schwer fällt, immer cool zu bleiben." (7)
Kinder leiden sehr unter dem süchtigen Menschen in der Familie, können
aber nicht aggressiv oder ablehnend reagieren, weil sie nicht wissen, ob der
Suchtkranke für sein Handeln verantwortlich gemacht werden kann oder
nicht. Diese Unsicherheit wird dann noch verstärkt, wenn der nichtsüchtige Partner oder die Partnerin, trotz eigener Aggressionen, das Verhalten des
Abhängigen einmal deckt und entschuldigt und ein anderes Mal anprangert und verurteilt.
Wird zu den genannten Themen (Freundschaft, Gefühle etc.) im Kindergarten oder der Schule präventiv gearbeitet, nützt das sowohl den betroffenen als auch den anderen Kindern
78
Natürlich belastet die Arbeit mit Kindern aus Familien mit Suchtproblemen auch das eigene (Berufs-) Leben nicht unerheblich und stellt hohe
Anforderungen an jede Pädagogin und jeden Pädagogen im Arbeitsalltag.
Und wenn bestehende Ängste und Unsicherheiten erst überwunden sind,
können Mut zum Handeln und langer Atem gute Wegbegleiter sein.
Literatur
(1) Utz, Klaus: Wenn Familien Probleme haben. Chancen und Grenzen
der Familienarbeit im Kindergarten. Freiburg i.B. 1997, S.49f
(2) ebd., S.56
(3) ebd., S.51
(4) ebd., S.39ff
(5) Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen (Hg.): Alles total geheim.
Kinder aus Familien mit Suchtproblemen. Medienpaket mit einer Broschüre, dem Bilderbuch "Alles total geheim" von Kirsten Boie und
Silke Brix-Henker und einer Videokassette (Verfilmung der Bilderbuchgeschichte)
(6) Schlieckau, Traudel u. Tilke, Barbara: Mäxchen, trau dich. Arbeitsmaterialien zur Suchtvorbeugung im Kindergarten. Hannover, Stuttgart 1996
(7) ebd., S.28
79
Kinder Suchtkranker in therapeutischen Einrichtungen
Helmut Schwehm
Therapiezentrum Villa Maria, Ingenheim
1. Kinder suchtkranker Eltern
Die Kinder suchtkranker Eltern waren lange Zeit eine vergessene Minderheit. Mittlerweile wenden sich Forschung und Hilfesysteme dieser Zielgruppe mit besonderer Aufmerksamkeit zu.
Schwangerschaft und Sucht wurden, der Bedeutung und Verbreitung legaler Drogen entsprechend, zunächst genauer bezüglich Alkohol und Nikotin untersucht. Hierzu liegen Ergebnisse in der Fachliteratur vor. So gehören
Fachtermini wie FAS (Fetales Alkoholsyndrom) und FAE (Fetale Alkoholeffekte), aber auch Alkoholembryopathie zum Basiswissen. Die in der Diskussion befindlichen Zahlen belegen das Ausmaß der Problematik.
In Deutschland sind zwischen fünf bis sieben Millionen Menschen von der
Abhängigkeit eines Familienmitgliedes betroffen, leben 60.000 Kinder in
suchtkranken Familiensystemen, werden jährlich 2.200 Kinder mit dem
Vollbild einer Alkoholembryopathie geboren. Ca. 10.000 Kinder werden
mit Alkoholeffekten geboren, die erst im Durchschnittsalter von sechs bis
sieben Jahren erkannt werden. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen unter
18 Jahren, bei deren Eltern ein Suchtproblem besteht, liegt in der Bundesrepublik nach Schätzungen zwischen 2 bis 3 Millionen. Darüber hinaus ist
von rund 4 bis 6 Millionen inzwischen erwachsen gewordener Kinder
Suchtkranker auszugehen. 50 % der Suchtkranken sollen aus Familien mit
Suchtproblematik kommen. 71 % der Frauen und 50 % der Männer in Beratung und Behandlung haben Kinder.
Die Auswirkungen süchtiger Beziehungs- und Familiensysteme auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind überwiegend in den letzten
10 Jahren genauer beobachtet und in der deutschsprachigen Literatur
behandelt worden. Es gibt mittlerweile hierzu Forschungsprojekte (z.B.
Fachhochschule Koblenz) und thematische Schwerpunktsetzungen von
Dachorganisationen (DHS: Themenschwerpunkt ”Kinder süchtiger
80
Eltern”; 2000: Jahr der Angehörigen) und Fachverbänden (Guttempler:
Den Suchtkreislauf durchbrechen).
2. Kinder drogenabhängiger Eltern
Den Kindern drogenabhängiger Eltern wurde erst in jüngerer Zeit eine
höhere Aufmerksamkeit und Beachtung gewidmet.
Auch Drogenabhängige sind Eltern. Ca. 32 % der Substituierten haben
Kinder. 56 % dieser Kinder leben bei den Substituierten.
Die Problematik Schwangerschaft und Sucht beim Konsum illegaler Drogen wurde allerdings schon 1975 in den USA (Strauß, Firestone u.a.) und
1980 von Finnegan thematisiert und untersucht. Ebenso liegen seit den
80iger Jahren Ergebnisse vor über das NAS (Neonatale Abstinenzsyndrom)
sowie über Langzeitwirkungen von Drogeneinnahme während der Schwangerschaft und NAS auf Säugling und Kleinkind (1982 Wilson et all, Rosen
und Johnson 1982).
Im deutschsprachigen Raum wurden vor allem in den letzten Jahren Untersuchungen veröffentlicht, gerade auch im Hinblick auf die Bedeutung und
die Auswirkungen von Ersatzstoffen (Raben 1995, DHS Themenheft Sucht
Heft 5, Oktober 1999; Fachartikel in der Zeitschrift Suchtmedizin Oktober 1999 und Februar 2000).
3. Prä- und postnatale Risiken für Kinder Drogenabhängiger
Es besteht Konsens in der Fachliteratur darüber, dass der Konsum von psychotropen Substanzen während der Schwangerschaft stoffspezifische schädliche Auswirkungen sowohl toxischer als auch teratogener Art auf den Fetus
und auf das Neugeborene haben kann. Es besteht auch Konsens darüber,
dass mit dem Neonatalen Abstinenz-Syndrom (NAS) Risiken für den Säugling verbunden sind und dass eine unerkannt gebliebene Symptomatik
sowohl zu akuter Gefährdung des Kindes als auch zu Langzeitwirkungen
führen kann. Auch der plötzliche Kindstod muss als Risikofaktor mitbedacht werden. Das grundsätzliche auf die psychotrope Substanz bezogene
Risiko wird durch die jeweilige psychosoziale Gefährdungslage, in der sich
Abhängige befinden können, erheblich verschärft.
81
4. Probleme der Hilfe und Versorgung drogenabhängiger Mütter und
ihrer Kinder
In der Versorgung drogenabhängiger schwangerer Mütter hat sich wegen
der komplexen Umstände, in denen sich Drogenabhängige oft befinden,
die Substitution als Methode der Wahl herausgestellt. Dabei wird in der
Fachliteratur aber immer wieder darauf hingewiesen, dass diese Maßnahme unbedingt über eine dichte psychosoziale Begleitung in das Netzwerk
von Drogenhilfe/Jugendhilfe/ASD/Kinderheilkunde integriert und durch
fachliches Case-Management begleitet werden sollte. Die gängigen Standards für psychosoziale Begleitung werden sehr unterschiedlich befolgt.
Auffallend ist, dass nach Schwangerschaft und Geburt das Interesse der Versorgungsagenturen an Mutter und Kind nachlässt. Es wäre dringend notwendig, Untersuchungen vorzunehmen über die Entwicklung der
Interaktion drogenabhängiger bzw. substituierter Mütter/Eltern mit ihren
Kleinkindern, die sich auf den Zeitraum der ersten 4 bis 6 Lebensjahre des
Kindes beziehen. Eine Untersuchung von A. van Baar widmet sich immerhin der Entwicklung von Kindern drogenabhängiger Mütter. Insgesamt ist
die dürftige Datenlage bezüglich der Mutter-Kind-Interaktion der ersten
Lebensjahre bedauerlich, da gerade die Mutter-Kind-Interaktion während
dieser Zeit von besonderer Bedeutung ist. (Vgl. hierzu die Ergebnisse der
Kleinforschung bei D. Stern und M. Dornes.)
5. Gefahr der Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung
Die Beobachtungen der Eltern-Kind-Interaktion zeigen deutlich, dass
sowohl die Elternkompetenz der Bezugspersonen, als auch die Entwicklung der Kinder deutlich beeinträchtigt sind. Die Beeinträchtigungen der
Kinder haben sich mit Zunahme der Verbreitung von Ersatzstoffen nicht
vermindert, obwohl die kriminelle und soziale Belastung tendenziell infolge von Substitution abgenommen hat. Die Beeinträchtigung der kindlichen Entwicklung steigt in dem Maße, in dem Kinder mit
drogenkonsumierenden und/oder substituierten Eltern über einen längeren Zeitraum zusammenleben ohne psychosoziale Begleitung, ohne Einbindung in ein Netzwerk von Drogenhilfe, Jugendhilfe und kinderärztlicher
Versorgung.
82
Die kindlichen Entwicklung ist bei Abhängigen mit und ohne Substitution beeinträchtigt bzw. gefährdet, weil das Suchtmittel die für die MutterKind-Interaktion notwendigen Kompetenzen der Mutter nachhaltig
negativ beeinflusst. Eine Beeinträchtigung der Interaktionskompetenz gilt
für jede abhängig unter Drogen- oder Ersatzstoffeinwirkung stehende
Bezugsperson.
6. Probleme der Hilfe
Drogenabhängige Eltern haben auch Angst vor amtlicher und institutioneller Hilfe. Um das Wohl des Kindes zu gewährleisten und nachhaltige
Beeinträchtigungen zu vermeiden oder wenigstens zu mindern, ist eine
offensive und konstruktive Zusammenarbeit der zuständigen Fachdienste
untereinander und mit den Eltern unabdingbar. Das setzt aber voraus, dass
fachliche "Konflikträume” geschaffen werden müssen, in denen Ängste,
Widerstände und Bedenken vertrauensvoll und kollegial ausgetauscht werden, um konkrete Handlungsschritte einleiten und umsetzen zu können.
Das setzt auch voraus, dass m.E. abhängigen Müttern in der kritischen Phase
der Angst vor Veränderungen in berufsethischer Verantwortung notwendige Hilfe zugemutet werden muss. Eine stationäre Unterbringung von
Mutter und Kind ist bei entsprechender Indikationen häufig nicht nur eine
sinnvolle, sondern auch eine notwendige Hilfe.
7. Stationäre Hilfe für drogenabhängige Eltern und deren Kinder im
Rahmen der medizinischen Rehabilitation Abhängigkeitskranker
Die Therapiezentrum Ludwigsmühle gGmbH hat der Zielgruppe Mutter/Eltern-Kind schon seit 1989 besondere Beachtung gewidmet und zwar
zunächst durch die Einrichtung einer Kinderbetreuung. Dann wurde 1992
eine Spezialeinrichtung aufgebaut, die Fachklinik Villa Maria, eine suchtund familientherapeutische Einrichtung mit angegliedertem Kinderhaus,
einer spezifischen Jugendhilfeeinrichtung. In der Villa Maria werden Eltern,
überwiegend Mütter, im Rahmen der medizinischen Rehabilitation wegen
ihrer Abhängigkeit behandelt und die mitaufgenommenen Säuglinge,
Kleinkinder und Schulkinder werden heilpädagogisch betreut, gefördert
und behandelt. Zentrales Anliegen neben Behandlung der Eltern und der
heilpädagogischen Förderung/Behandlung der Kinder ist die Förderung
der Eltern-Kind-Interaktion.
83
Die Arbeit in der Villa Maria wurde begonnen, weil
-
Sucht die emotionale Erlebnisfähigkeit, die Beziehungsfähigkeit und
die Verantwortungsfähigkeit beeinträchtigt.
Sucht die erzieherische Kompetenz beeinträchtigt.
Sucht ein Kind prä- und postnatal schädigen und die frühkindliche Entwicklung beeinträchtigen kann mit Spätfolgen.
Sucht unter Umständen nachhaltig die Beziehungsfähigkeit der Kinder
beeinträchtigt.
die Kinder Suchtkranker von heute die Abhängigen von morgen sein
können.
Hilfeangebote für suchtkranke Eltern und deren Kinder eine Form notwendiger Prävention ist.
die Gesellschaft nicht nur eine Verantwortung für die Kranken von
heute, sondern auch eine Verantwortung für das Leben der Kinder von
morgen hat.
Insgesamt wurden in der Villa Maria von April 1992 bis April 2002 aufgenommen:
Frauen
Männer
Kinder
davon Wiederaufnahmen
208
97
186
13
8. Die Villa Maria: ein Kooperationsmodell für Suchtkrankenhilfe und
Jugendhilfe
Die Villa Maria ist ein Kooperationsmodell für Suchtkrankenhilfe und
Jugendhilfe.
Ein Schwerpunkt der gemeinsamen Behandlung ist, die gefährdete Beziehung zwischen Eltern und Kinder zu verbessern und die Gefahr für die Entwicklung der Kinder zu mindern.
Für die Suchtbehandlung wird überwiegend handlungs- und realitätsorientiert (Psychodrama) sowie systemisch (Familientherapie) gearbeitet. Es
84
werden nach Möglichkeit die unterschiedlichen Generationen (z.B. Großeltern) und die Partner des jeweiligen Elternteils bzw. die Väter der Kinder
mit in die Behandlung einbezogen.
Im Kinderhaus wird mit heilpädagogischer Zielsetzung gearbeitet und konsequenter Einbeziehung der Eltern.
Günstige Voraussetzungen für die Arbeit der Villa Maria sind, wenn
- die betroffenen Eltern frühzeitig auf ihre Problemlage aufmerksam
gemacht werden;
- sie frühzeitig mit dem Hilfeangebot vertraut gemacht werden;
- die Angst vor dem Hilfeangebot gemindert werden kann:
- notwendige Hilfe bei der Gratwanderung zwischen Elternrecht und Kindeswohl den Betroffenen auch zugemutet wird;
- alle im Hilfesystem Handelnde gut zusammenarbeiten;
- immer noch bestehende sozialrechtliche Hürden im Handlungsspielraum der Zuständigkeiten unbürokratisch überwunden werden.
Die Erfahrungen der Villa Maria insbesondere in den letzten Jahren zeigen, dass überall da, wo offensiv eine Zusammenarbeit im Netzwerk der
Hilfesysteme entwickelt werden konnte, sowohl bei der Vorbereitung, als
auch bei der Durchführung und vor allem bei der Nachbetreuung der
Behandlungserfolg verbessert wurde. Überprüfbar gestaltete und schriftlich fixierte Therapie- und Hilfepläne erwiesen sich als hilfreich. Die Mütter konnten die zugemutete und oft zunächst abgelehnte Hilfe später als
heilsam erkennen und die problematischen Auswirkungen von Drogenkonsum und Substitution kritisch einschätzen lernen.
9. Aus der Praxis der Arbeit der Villa Maria
9.1 Beobachtungen von Beeinträchtigungen von Kindern
Kinder Drogenabhängiger können infolge der Abhängigkeit der Eltern in
ihrer Entwicklung gefährdet und beeinträchtigt sein, auch Behinderungen
sind möglich. Fast alle Kinder, die bisher in der Villa Maria aufgenommen
wurden, zeigten deutliche Erscheinungen sozioemotionaler Verunsicherung.
85
Im Jahr 2000 wurden 37 Kinder wurden in der Villa Maria genauer untersucht. Bei den 37 ausgewählten Kindern (Durchschnittsalter der Kinder 3
Jahre; Spanne: 0,1 bis 6 Jahre) aus dem Behandlungszeitraum 1/1998 –
5/2000 wurden während des Aufenthaltes in der Villa Maria folgende
Störungsmuster beobachtet:
Störungsmuster
Tendenz zu
Leichte
Auffälligkeit
Deutliche
Störung
Ausgeprägte
Störung
ADS
(Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom)
4
1
2
3
HKS
(Hyperkinetisches
Syndrom)
2
1
2
2
TLS
(Teilleistungsschwächen)
2
3
4
6
Sozioemotionale Störungen
2
3
14
14
Motorische
Entwicklungsstörungen
1
11
4
11
Andere Störungen
3
13
4
1
Drogenkonsum der Mütter während der Schwangerschaft:
Heroin
Kokain
Methadon/Polamidon
Benzodiazepine
Amphetamine
Nikotin
15
10
8
6
5
37
(Mehrfachnennungen möglich)
Bei 11 Kindern wurden von den Müttern drei und mehr Substanzen während der
Schwangerschaft eingenommen.
86
Beobachtung der kindlichen Entwicklung in Bezug auf Drogenkonsum
während der Schwangerschaft
ADS
HKS
Motorische
EntwicklungsStörungen
Mit Drogenkonsum
inkl. Ersatzstoffe
Während der
Schwangerschaft
9
6
17
Ohne Drogenkonsum
und ohne Ersatzstoffe
während der
Schwangerschaft
1
1
12
Bei methadon- bzw. polamidonsubstituierten Müttern zeigten Kinder häufig motorischeTonusregulationsstörungen.
Bei insgesamt 12 Kindern zeigten sich Symptomketten, die auf vorausgegangenes
NAS hindeuten. Diese Kinder fallen insbesondere durch motorische Unruhe, langanhaltendes Weinen, Trinkstörungen, hohe Infektanfälligkeit (häufig Bronchitis)
auf.
Bei Müttern, die in der Schwangerschaft Amphetamine und/oder Kokain eingenommen haben, zeigten sich signifikant stärker ausgeprägte Störungen sowohl in der
motorischen Entwicklung, als auch eine ausgeprägtere Symptomatik, die auf ADS
und HKS hindeutet
87
9.2 Was wird konkret gemacht?
-
-
Behandlung der Sucht / med. Rehabilitation mit klarer Abstinenzorientierung
Ausstieg aus süchtigen Netzwerken durch Leben ohne Drogen in der
Gemeinschaft
Wiederentdeckung von Verantwortung und Lebensfreude durch
gemeinsame sinnliche und sinnstiftende Unternehmungen
Ressourcentraining
Psychotherapie und Traumaarbeit
Rollenspiel und Psychodrama
Geschlechtspezifische Identitätsbegleitung
Bearbeitung von Co-Abhängigkeit
Training von Handlungskompetenzen, sozial und beruflich
(EDV Schule)
Gesundheitserziehung
Generationsübergreifende Familientherapie
Elternschule
-
Förderung der Eltern-Kind-Beziehung
Hilfepläne
-
Förderung der Kinder
Spieltherapie
Eltern-Kind-Aktivitäten
Heilpädagogische Aufarbeitung von Beeinträchtigungen
Kooperation mit kindgemäßer Ergotherapie, Kinderpsychiatrie und
Entwicklungspsychologie
Psychomotorik für Kinder
-
Vorbereitung weiterführender Behandlungen
Kooperation mit Jugendhilfe, Pflegeeltern und Heimen
Pflege von Suchthilfepartnerschaften
Einbindung in stützende Netzwerke
-
Verbesserung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
-
88
9.3 Welche Risiken sind mit der Eltern-Kind-Konzeption verbunden?
-
-
-
-
-
Rückfalldynamik infolge Beziehungsabhängigkeit in der Paardynamik
und die damit verbundenen Auswirkungen auf das Kind.
Tief greifende psychotherapeutische Veränderungsprozessen nur bedingt
möglich, infolge dessen bleibt das eigene innere Kind unterversorgt mit
der entsprechenden Auswirkung auf die Eltern-Kind-Beziehung.
Häufig notwendige Traumaarbeit nur bedingt möglich mit der entsprechenden Auswirkung auf die Eltern-Kind-Beziehung.
Zeitkorridor für nachhaltige Beeinflussung bei Doppeldiagnosen der
Eltern und gleichzeitiger Herstellung deren Erziehungskompetenz oft
zu schmal.
Schwierigkeiten bei der beruflichen Integration gerade auch bei Alleinerziehenden.
Trennungen während der stationären Rehabilitation (Partner, Eltern
und Kinder) mit der entsprechenden Auswirkung auf die Eltern-KindBeziehung.
Unterbrechung des Förder- und Heilungsprozesses bei Kindern infolge irregulärer Beendigungen von Reha-Maßnahmen oder infolge zu
knapper Zeitkorridore.
Probleme der Sorgerechtsgestaltung.
Schwierigkeiten bei sozialer Netzwerkarbeit, da noch zu wenig Suchtkompetenz im Hilfesystem, unterschiedliche Handlungsphilosophien
im Hilfesystem konfligieren und überdies auch rechtliche Barrieren die
Zusammenarbeit behindern.
9.4 Welche Chancen birgt das Kooperationsmodell Villa Maria in sich?
-
Motivation für Veränderung des süchtigen Lebensstiles durch die Elternrolle.
Klärung der Verantwortungsfähigkeit und –bereitschaft für die Übernahme der Elternrolle.
Einblick in eigene Suchtdynamik und in die Suchtdynamik der Herkunftsfamilie.
Alltagserfahrung und Elternrollenerfahrung ohne Suchtmittel.
89
-
Einsicht in Co-Abhängigkeit und damit zusammenhängendem Rollenmissbrauch der Kinder.
Wieder- oder Neuentdeckung von Lebensfreude.
Entwicklung von Verantwortungsfähigkeit gerade auch im Blick auf die
Elternrolle.
Sinnliches Erleben von erzieherischen, sozialen und auch beruflichen
Erfolgserlebnissen.
Deutliche Entwicklungsschübe bei Kindern.
Minderung von Beeinträchtigungen bei Kindern.
Verbesserung des Umgangs mit Kindern.
Eventuell auch Übergabe von Kindern in sicherere Verantwortungsumgebung.
Vorsorgliche Vorbereitung von Krisenintervention.
Aufbau einer tragfähigen und weiterführenden Kooperation im Hilfesystem.
10. Zusammenfassung
➣
Abhängige Mütter bzw. Eltern mit Kindern sind eine Zielgruppe mit
komplexer Problemlage. Ein angemessener Behandlungsspielraum ist
zu gewährleisten. Die Bedürfnisse der Kinder sind zu würdigen und zu
schützen.
➣
Der komplexen Problemlage wird am besten eine koordinierte Vorgehensweise der Hilfeanbieter (Netzwerkarbeit /Suchthilfe/Jugendhilfe /
Suchthilfe-Partnerschaften) gerecht.
➣
Ziele für die genannte Zielgruppe sind z.B.
- Voraussetzung schaffen für eine gesunde Zukunft für Eltern und
Kinder.
- Ermutigung zur Abstinenzorientierung.
- Frühe Anbindung an das Hilfesystem durch Früherkennung und
Frühintervention.
- Frühe Kooperationsvereinbarungen mit anderen zuständigen
Hilfeanbietern sowie angemessene Hilfeangebote für die aktuelle
Realität der Zielgruppe entwickeln; unter Umständen Verzicht auf
90
-
sofortige optimale Lösungen. Die Vorgehensweise ist bei der
Zielgruppe einem professionell koordinierten Versuch- und
Irrtumsprozess vergleichbar.
Kooperation Suchthilfe und Jugendhilfe.
Wegen der komplexen Problemlage und wegen verkürzter Behandlungszeiten rechtzeitige Planung von weiterführenden Maßnahmen
(Case-Management).
➣
Hilfe ist ein ständiger Klärungsprozess und eine Güterabwägung
darüber, welcher größere Schaden in einem ersten Schritt abzuwenden
ist.
➣
Hilfeplanung und Therapieplanung haben ordnende Funktion und sind
begleitende Orientierungen. Sie dienen auch der Überprüfung und Kontrolle vereinbarter Vorgehensweisen und zielgerichteter Veränderungsprozesse.
➣
Hilfe sollte in einer Atmosphäre absoluter Wertschätzung und den
Umständen entsprechend den Betroffenen auch zugemutet werden. Die
Zumutungen sind transparent zu gestalten.
➣
Ergebnisse von Hilfeleistungen können sein:
- Anbindung an das Hilfesystem.
- Optimierung der Hilfeleistungen.
Angstminderung vor den Hilfesystemen.
- Schadensbegrenzung.
- Ordnende Eingriffe.
- Veränderungen auf stetig steigendem Niveau.
- Soziale (Re)Integration.
➣
Anforderungen an Hilfeanbieter:
- Sensibilisierung medizinischer Dienste für die Suchtproblematik,
insbesondere bei Müttern mit Kindern (Praxen, Kliniken,
Kinderkliniken).
- Sensibilisierung von Jugendamt und Sozialamt für die Suchtproblematik bei Müttern mit Kindern.
91
-
➣
92
Qualifizierte Durchführung von Substitution.
Federführende Netzwerkarbeit z.B. von Beratungsstellen oder
anderen kompetenten Diensten.
Hilfeplanentwürfe von Beratungsstellen.
Sozialrechtliche Überprüfung des formalen und regionalen
Zuständigkeitsprinzips.
Neue Perspektiven für die Zuordnung von Elternrecht und
Kindeswohl
Hilfe als Zumutung bedeutet "Fördern und Fordern". Die Hilfeanbieter verkörpern dabei keine einseitige, sondern eine professionelle Parteilichkeit als berufsethische Grundhaltung. Die rechtlichen
Voraussetzungen für eine verantwortungsbewusste Zumutung müssen
geklärt werden.
Forum II: Beratungs- und Behandlungskonzepte für Jugendliche mit
einer Suchtproblematik
Soziale und berufliche Eingliederung junger Menschen mit Suchtproblemen im
Rahmen der Jugendhilfe
Dr. Uwe Bach
CJD Jugenddorf Wolfstein, Niedermühle, Odernheim
Die suchtspezifische Jugendhilfemaßnahme ist im CJD Jugenddorf Wolfstein im Jahr 1994 konzipiert worden. Seit September 1995 nehmen wir
junge Menschen beiderlei Geschlechts im Alter von ca. 14 - 21 Jahren auf,
die Rauschmittel aller Art konsumiert haben und auf Grund einer Notlage bereit sind, ihren Lebensstil zu ändern und abstinent zu leben.
Unser Ziel ist es, diese jungen Menschen als Persönlichkeiten zu stärken,
so dass sie ein normales Leben ohne Rauschmittelkonsum führen können,
einen Schulabschluss erwerben und/oder eine Berufsausbildung absolvieren.
Das CJD Jugenddorf Wolfstein
Unsere pädagogisch-therapeutische Arbeit mit den suchtgefährdeten und
suchtkranken jungen Menschen ist eingebettet in ein komplexes Netzwerk
-
-
-
das CJD Jugenddorf Wolfstein.
Das CJD Jugenddorf Wolfstein ist eine von 150 Einrichtungen des
Christlichen Jugenddorfwerkes Deutschlands e.V. (CJD). Es ist Mitglied
im Diakonischen Werk der Pfalz.
Das CJD Jugenddorf Wolfstein - hervorgegangen aus einem Berufsbildungszentrum - ist heute ein dezentraler Verbund berufsbildender,
sozialtherapeutischer und sozialer Einrichtungen. Es erstreckt sich über
acht Gemeinden in den Kreisen Kusel und Bad Kreuznach.
Wir führen im Jugenddorf vor allem
- stationäre Jugendhilfemaßnahmen nach KJHG §§ 34, 35a und 41
für unterschiedliche Zielgruppen aus ganz Deutschland,
93
-
-
-
berufsvorbereitende Maßnahmen im Auftrag des Arbeitsamtes
Kaiserslautern sowie
- Maßnahmen des Beschützten Arbeitens und Wohnens für
Behinderte, in der Regel psychisch kranke Erwachsene nach BSHG
durch.
Die Schaubilder am Ende diese Beitrages vermitteln einen Eindruck von
der Vielzahl der Maßnahmen sowie der Ausbildungs- und Arbeitsmöglichkeiten.
Da die jungen Menschen mit Suchtproblemen bei verschiedenen Gelegenheiten mit den anderen Maßnahmeteilnehmern des Jugenddorfes
zusammentreffen, müssen wir den Rauschmittelkonsum in den anderen Gruppen soweit wie möglich unterbinden. Wir haben dazu im
Arbeitskreis Suchtprävention eine Rahmenkonzeption zur Suchtprävention im Jugenddorf erarbeitet. Die einzelnen Wohngruppen
haben die Rahmenkonzeption in ihrer jeweiligen Hauskonzeption konkretisiert und ihren Zielgruppen und Gegebenheiten angepasst. Gegenwärtig findet der zweite Kurs zur Ausbildung von 14 Suchthelfern im
Jugenddorf Wolfstein statt. In jeder Wohngruppe außerhalb des Suchtbereichs soll mindestens ein Mitarbeiter/-in suchtspezifische Basiskenntnisse haben.
Die soziale und berufliche Eingliederung junger Menschen mit Suchtproblemen
Die gefährdeten jungen Menschen, die in das Jugenddorf Wolfstein kommen, haben Rauschmittel jeglicher Art konsumiert. Darüber hinaus weisen sie auch psychiatrische Krankheitsbilder, Verhaltensauffälligkeiten,
Lernbehinderungen und andere Störungen auf. Sie kommen aus verzweifelten Familien, Heimen, Psychiatrien, Strafanstalten, Notunterkünften
oder von der Straße.
Wir nehmen alle jungen Menschen auf, die
-
94
erklären, dass sie freiwillig kommen, weil sie unsere Angebote als für
sich hilfreich betrachten,
-
sich zur aktiven Mitarbeit und zur Akzeptanz des Regelwerkes verpflichten und
bereit sind, sich auf eine realistische Perspektive einzulassen.
Ausschlussgründe sind Sexualstraftaten, Zündeln, geistige Behinderung,
starke Körperbehinderung (z.B. Rollstuhlfahrer) und HIV-Infektion.
Unsere Angebote
1. Schulabschluss
Die jungen Menschen haben die Möglichkeit, an internen Förderkursen
teilzunehmen und im Juni eines jeden Jahres den externen Hauptschulabschluss zu erwerben. Im Jugenddorf Wolfstein nutzen insgesamt etwa 50
junge Menschen pro Jahr diese Möglichkeit, im Suchtbereich sind es ca. 12
- 15 Personen pro Jahr.
Ferner können sie weiterführende allgemein bildende öffentliche Schulen
besuchen und dort entsprechende Abschlüsse erzielen.
2. Berufliche Orientierung und Berufsausbildung
Berufsvorbereitende Maßnahmen werden in der Niedermühle, in der
Wohngruppe Stadtgarten und in den Ausbildungsstätten des Jugenddorfes Wolfstein durchgeführt. Eine Berufsausbildung ist intern im Jugenddorf Wolfstein und in Betrieben der Region möglich. Wir haben im
Jugenddorf 108 Ausbildungsplätze. Die meisten jungen Menschen machen
ihre Ausbildung im Jugenddorf, weil sie keine externen Ausbildungsplätze
finden oder mit einer externen Ausbildung überfordert wären. Alle Auszubildenden besuchen öffentliche Berufsschulen. Sie legen die Gesellenprüfung vor der Industrie- und Handelskammer oder Handwerkskammer
ab.
3. Therapeutische Angebote
Alle Jugendliche nehmen an den therapeutischen Angeboten verpflichtend
teil. Diese umfassen in der Regel eine Einzeltherapie und eine Gruppentherapie pro Woche sowie andere therapeutische Angebote (Bewegungstherapie, Traumreisen, Entspannungsübungen, Kriseninterventionen,
Rückfallprophylaxe usw.).
95
4. Erziehungs- und Betreuungsangebote, Freizeitgestaltung
Wir haben ein differenziertes Wohnsystem, das Eingangsgruppen, Verselbstständigungsgruppen, Betreutes Wohnen und die Unterbringung in
Gastfamilien umfasst.
In der Wohngruppe Stadtgarten sind im Gegensatz zur Niedermühle keine
jungen Frauen und keine Teilnehmer mit Hepatitis untergebracht.
Im Freizeitbereich bieten wir neben den üblichen Freizeitgruppen umfangreiche erlebnissportliche Aktivitäten an: z.B. Klettern an unserer eigenen
Kletterwand oder im Gelände, Bogenschießen, Kajakfahren, Mountainbiketouren und Triathlon. Seit 1996 haben wir eine Band. Gegenwärtig erhalten 9 Jugendliche Musikunterricht in der Niedermühle.
Unser Regelwerk
Wir haben ein den Therapieeinrichtungen vergleichbares Regelwerk mit
einem Dreistufensystem und einer Kontaktsperre im ersten Monat. Wir
machen Urintests und kontrollieren die Post. Vor der Aufnahme muss ein
Bewerber in die Entgiftung, wenn dieses notwendig ist.
Die erste Heimfahrt findet nach vier Monaten statt, in der Wohngruppe
Stadtgarten frühestens nach zwei Monaten. Rauchen ist außerhalb der Häuser erlaubt.
Einen Rückfall betrachten wir als Chance zum Lernen. Viele Rückfälle
führen zur Entlassung.
Individualisierung und Vernetzung
Die Vielzahl der Angebote des Jugenddorfes Wolfstein ermöglicht einen
individuellen Zuschnitt unserer Angebote für die jungen Menschen und
eine Vernetzung der Maßnahmeformen. Dadurch können Abbrüche oder
Entlassungen reduziert werden.
Ein Beispiel verdeutlicht dieses: Ein Mädchen war in der Niedermühle auf
Grund der Missachtung des Beziehungsverbotes nicht mehr tragbar. Sie
musste die Niedermühle verlassen, doch konnten wir ihr eine Alternative
bieten:
96
-
Umzug in eine Gastfamilie in der Nähe von Wolfstein;
Betreuung durch einen für die Gasteltern zuständigen Diplom-Sozialpädagogen;
therapeutische Begleitung durch ihre bisherige Therapeutin;
Teilnahme an dem Vorbereitungskurs für den externen Hauptschulabschluss in der Wohngruppe Stadtgarten in Wolfstein.
Nach 8 Monaten hatte das Mädchen die Prüfung bestanden, das Jugenddorf Wolfstein verlassen und eine Ausbildung begonnen.
Es gibt viele andere Beispiele dieser Art, die unser flexibles System ermöglicht.
Perspektive und Verweildauer
Es gibt keine festgelegten Zeiten für die Dauer des Aufenthaltes im Jugenddorf Wolfstein. Vor der Aufnahme wird mit dem jungen Menschen eine
realistische schulische und/oder berufliche Perspektive entwickelt. Wenn
dieses auf Grund verfestigter unrealistischer Vorstellungen des Bewerbers
nicht möglich ist, wird eine Aufnahme abgelehnt.
Die Mindestverweildauer beträgt ca. 1 Jahr (z.B. Ziel: Persönlichkeitsentwicklung und Hauptschulabschluss). Sie kann aber auch 4 Jahre betragen
(Hauptschulabschluss mit anschließender Ausbildung zum Tischler, Pferdewirt o.ä.). Es ist bei der Aufnahme oft nicht klar, wie lange der junge
Mensch im Jugenddorf Wolfstein bleiben wird. Er kann z.B. nach dem
Schulabschluss aus dem Jugenddorf ausscheiden oder nach dem 1., dem 2.
Ausbildungsjahr oder erst nach der Gesellenprüfung.
Die Betreuungsintensität und die Wohnsituation verändern sich im Laufe
der Zeit. Am Schluss steht das Betreute Wohnen in einer vom jungen Menschen selbst angemieteten Wohnung oder die Minimalbetreuung über Fachleistungsstunden. Mit dem Wechsel in das Betreute Wohnen endet die
therapeutische, nicht aber die sozialpädagogische Begleitung.
97
Wenn ein junger Mensch seine ganze Jugendzeit in Wolfstein oder Odernheim verbracht hat, dann wird er nicht selten sesshaft und sucht sich hier
eine Arbeitsstelle. Er fühlt sich in der Region zu Hause.
Auf Grund der beschriebenen Situation ist es nicht möglich, eine Halte-,
Abbrecher- oder Erfolgsquote zu bestimmen und Vergleiche mit anderen
Therapieeinrichtungen anzustellen. War die Maßnahme zum Beispiel erfolgreich, wenn der Jugendliche den Hauptschulabschluss geschafft hat, nach
dem Ausscheiden aus dem Jugenddorf Alkohol aber trinkt? Oder wenn er
clean lebt, den Hauptschulabschluss geschafft hat, die Berufsausbildung
aber wegen Überforderung in der Berufsschule vorzeitig beendet wird?
Wir werden im Jugenddorf Wolfstein auf Grund der oft langen Verweildauer
mit allen über die Suchtproblematik hinausgehenden Defiziten und Problemen bei der Bewältigung von Alltagsanforderungen konfrontiert, die
zum Scheitern des jungen Menschen führen können: mangelndem Leistungsvermögen, mangelnder Belastbarkeit in Berufsschule, Betrieb und
partnerschaftlichen Beziehungen, Unfähigkeit, mit Geld umzugehen,
anhaltenden Psychosen, starken Depressionen, der Normalität des Alkoholkonsums im Arbeitsumfeld, dem Alleinsein in der eigenen Wohnung
usw.
Die Persönlichkeitsstörungen treten deutlicher hervor, wenn die Suchtproblematik zunächst in den Hintergrund getreten ist, der therapeutische
Schonraum verlassen worden ist, die Kontrolle nachlässt, die Normalität
des Lebens beginnt und mehr eigenverantwortliches Handeln gefordert ist.
Elternarbeit
Eine kontinuierliche, systematische Elternarbeit ist gegenwärtig noch nicht
so möglich, wie wir es uns wünschen. Unsere Teilnehmer kommen augenblicklich aus 6 Bundesländern: Hessen 32 %, Rheinland-Pfalz 22 %, BadenWürttemberg und Berlin je 15 %, Nordrhein-Westfalen 10 %, Saarland
6 %. Grundsätzlich treffen wir klare Absprachen mit den Eltern bei Besuchen oder auf telefonischem Wege, damit sie nicht aus Unwissenheit kontraproduktiv handeln. Mit manchen Eltern kooperieren wir sehr gut, andere
98
sind sehr problematische Persönlichkeiten, die nicht in der Lage sind, sich
an Absprachen zu halten.
Ab 2003 wird uns auf dem Gelände der Niedermühle ein Tagungs- und
Gästehaus zur Verfügung stehen, das es uns ermöglichen wird, die Effektivität unserer Elternarbeit durch Elternseminare - zum Teil gemeinsam mit
ihren Kindern - zu erhöhen.
Entscheidend für die Qualität der Kooperation mit den Eltern ist jedoch
nicht die räumliche Distanz, sondern die Bereitschaft und Fähigkeit der
Eltern, ihre Co-Abhängigkeit zu überwinden und einen rationalen Dialog
mit uns zu führen.
Mitarbeiter/innen
Wir beschäftigen ca. 35 Mitarbeiter/innen mit pädagogisch-therapeutischen
Aufgaben im Suchtbereich, die in multiprofessionellen Teams arbeiten. Als
Mitarbeiter/innen haben wir Therapeut/innen, Erzieher/innen, Sozialpädagog/innen, Arbeitserzieher und Handwerker im Erziehungsdienst,
Lehrkräfte im Erziehungsdienst und Hauswirtschafterinnen.
In drei Gruppen wird Nachtbereitschaft von den Teammitgliedern geleistet.
Alle Mitarbeiterinnen erhalten externe Supervision und nehmen an internen und externen Weiterbildungsveranstaltungen teil.
Finanzierung
Der Ausbau der alten Ölmühle ist durch den Besitzer der Niedermühle,
das CJD Jugenddorf Wolfstein sowie durch zahlreiche Spenden finanziert
worden.
Die laufenden Kosten werden über Pflegesätze nach KJHG §§ 34, 35a
oder 41 von den Jugendämtern oder bei jungen Erwachsenen über
BSHG §§ 39/40 oder 72 von den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe
gedeckt. Wir haben im Suchtbereich den einheitlichen Mischpflegesatz
aller Jugendhilfemaßnahmen im Jugenddorf Wolfstein. Die Krankenkassen und Rentenversicherungsträger können uns nicht belegen.
99
Bei der Ablehnung von Kostenübernahmeanträgen durch Jugendämter
spielen folgende 3 Gründe am häufigsten eine Rolle:
1. Der suchtgefährdete oder suchtkranke junge Mensch wird an die Krankenkasse oder an den Rentenversicherungsträger verwiesen. Er soll in
eine Therapieeinrichtung gehen. Für Krankheiten sei das Jugendamt
nicht zuständig.
Wichtig ist, dass in der Begründung für einen Aufenthalt in der Niedermühle vor allem die Entwicklungs- und Erziehungsdefizite und die
- drohende - seelische Behinderung des jungen Menschen aufgezeigt
werden, die eine Jugendhilfemaßnahme erfordern. Da auch eine Abhängigkeit von Rauschmitteln gegeben ist, sollte der junge Mensch in eine
spezialisierte Jugendhilfeeinrichtung.
2. Das Jugendamt zahlt nicht mehr bei jungen Heranwachsenden ab 18
Jahren. Nach dem KJHG § 41 ist dies aber möglich. Daher übernehmen
viele Jugendämter auch bei Volljährigen noch die Kosten.
3. Das Jugendamt belegt nur Einrichtungen in dem Bundesland, in dem
es sich selbst befindet - auch dann, wenn es dort keine geeignete Einrichtung für den Antragsteller gibt. Die neuen Bundesländer belegen
uns grundsätzlich nicht. Neben den negativen gibt es aber auch sehr
viele positive Erfahrungen in der Kooperation mit den Kostenträgern.
In der Mehrzahl der Fälle scheitert eine Aufnahme in der Niedermühle nicht an der fehlenden Kostenübernahmeerklärung, sondern an der
mangelnden Bereitschaft der jungen Menschen, sich auf unsere Bedingungen einzulassen.
Integration in die Region
Es war von Anfang an unser Ziel, in der Region akzeptiert und integriert zu
werden. Dieses haben wir in Odernheim und Umgebung in hervorragender Weise erreicht. Kürzlich haben die 4 umliegenden Gemeinden die
Patenschaften für die Wohnhäuser der Niedermühle übernommen. Die
Häuser tragen die Namen der Gemeinden. Die Menschen sammeln Geld
100
für die Niedermühle, z.B. nach dem Gottesdienst, bei einer Hochzeit, bei
einer Sportveranstaltung, bei einer Aktion von Konfirmanden. Eine Tageszeitung hat eine zehnteilige Serie von Beiträgen über die Niedermühle
gebracht und zu Spenden aufgerufen.
Wir führen landschaftspflegerische Arbeiten für die Gemeinden durch,
laden unsere Mitbürger/innen zu Veranstaltungen in die Niedermühle ein,
beteiligen uns an suchtpräventiven Aktivitäten der Schulen, kooperieren
bei der Nutzung unserer Kletterwand usw.
Der Lions-Club Kirn-Mittlere Nahe hat für 10 Jahre die Patenschaft für die
Niedermühle übernommen und uns finanziell wesentlich gefördert. Nur
durch die hervorragende Unterstützung vieler Helfer/innen ist es uns gelungen, die alte verfallene Ölmühle in Odernheim ganz ohne öffentliche Mittel zu dem auszubauen, was sie heute ist - eine eindrucksvolle, weitgehend
restaurierte Industrieanlage, die einer neuen, sinnvollen Nutzung zugeführt
worden ist.
Berufsausbildung im CJD Jugenddorf Wolfstein
Die Berufsausbildung findet in jugenddorfeigenen Werkstätten und Betrieben in 22 Berufen als Vollausbildung oder behindertengerechte Ausbildung
nach § 48 BBiG statt. Das Jugenddorf bildet in folgenden Berufen aus:
Maler und Lackierer
Metallbauer – Fachrichtung Konstruktionstechnik
Teilezurichter
Metallbearbeiter
Tischler
Holzbearbeiter
Hochbaufacharbeiter/Hochbaufacharbeiterin
Bürokaufmann/Bürokauffrau
Verkäuferin/Verkäufer (Lebensmittel)
Kaufmann/Kauffrau (Lebensmittel)
Hauswirtschafter/Hauswirtschafterin im städtischen Bereich
Hauswirtschaftshelfer/Hauswirtschaftshelferin
101
Koch/Köchin
Fachkraft im Gastgewerbe
Systemgastronom
Restaurantfachfrau/Restaurantfachmann
Hotelfachfrau/Hotelfachmann
Gärtner (Zierpflanzen)
Werker im Gartenbau
Landwirt
Pferdewirt
Zerspanungsmechaniker
Standorte des CJD Jugenddorfes Wolfstein
CJD Wolfstein: ca. 230 junge Menschen, 200 Mitarbeiter
Odernheim
-Niedermühle
Lauterecken
- Wohngruppe Ju.
Reckweiler
- Wohngruppe Ju.
Oberweiler
- Wohngruppe Ju.
WOLFSTEIN
Kusel
- Wohngruppe Ju.
- Inobhutnahme
- Hotel und
Restaurant
Eßweiler
- Wohngruppe Ju.
- Ausb. Büro
- Aussiedlerber.
- Rinderhaltung
Wohnen
- 6 Wohngr. Ju.
- 2 Wohngr. BBE
- Leitung
- Verwaltung
- Versorgung
Rothselberg
- Metzgerei
Zusätzlich zahlreiche Wohnungen im Rahmen der
Verselbständigung, des Beschützten Arbeitens und Wohnens
und bei Gastfamilien
Ju =
BBE =
102
Jugendhilfe
berufsvorbereitender Lehrgang des
Arbeitsamtes Kaiserslautern
Rutsweiler
- Wohngruppe Ju.
- Gestüt 2
Ausbildung/Arbeiten
- Werkstätten Ju.
- Werkstätten BBE
- Gestüt 1
- Gärtnerei
- Landwirtschaft (400
ha)
- Weinbau + Kellerei
- Schweinezucht +
Scvhafhaltung
- Kfz-Werkstatt
- Wäscherei
- Großküche
- Restaurant
Standorte Suchtarbeit im CJD Jugenddorf Wolfstein
Odernheim/Niedermühle
- 4 Wohnhäuser (42 Plätze)
- Clubraum
- Unterrichtsräume
- Seminar- und Gästehaus
(ab 2003)
- Kletterwand
- Werkstätten
- großes Außengelände
(inkl. Weinberg)
- Sporthalle, Freizeiträume
Kusel
- Berufsschule
Eßweiler
- Ausbildung
Büro
Wolfstein
- Wohngruppe
Stadtgarten
plus
zugehörige
Wohnungen
(15 Plätze)
- Ausbildungsstätten
Kaiserslautern
- Berufsschule
Zusätzlich: Wohnungen im Betreuten Wohnen und Gastfamilien,
Betriebe und allgemein bildende Schulen in der Region
103
Szenenwechsel –
ein Behandlungskonzept für junge Suchtkranke bis 18 Jahre
Dr. Ursula Kirsch
Rheinische Kliniken, Viersen
Auf Grund vieler Anfragen von Eltern, MitarbeiterInnen der Jugendhilfe
und/oder der Bewährungshilfe haben wir uns im November 1998 in den
Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters
der Rheinischen Kliniken Viersen entschlossen, ein stationäres Therapieangebot an drogenabhängige Jugendliche zu machen, die psychische Probleme haben. Die Notwendigkeit eines solchen speziellen
Behandlungsangebotes in einer symptomhomogenen Gruppe ergab sich
aber auch aus unserer Erfahrung, dass die drogenabhängigen Jugendlichen
von den therapeutisch-pädagogischen Angeboten einer kinder- und jugendpsychiatrischen Regelstation kaum profitieren konnten, da die Suchtproblematik zusätzlich zum Teil andere Behandlungsmethoden erforderlich
macht. Mit viel Enthusiasmus und Engagement jedes einzelnen Teammitgliedes schufen wir ein Angebot, welches in einer bis zu 6 Monaten stationären Therapiephase besteht, der eine Entgiftungsphase auf der selben
Station vorgeschaltet ist.
Es stehen 10 Behandlungsplätze für männliche und weibliche Jugendliche
im Alter von 15-18 Jahren zur Verfügung. Dieses Therapieangebot ist relativ hochschwellig konzipiert. Bei der Erschaffung dieses Angebotes war uns
natürlich klar, dass wir nicht alle Suchtprobleme von Kindern und Jugendlichen in dem Einzugsbereich unserer Klinik, in dem ca. 3,5 Mill. Menschen leben, lösen können. So kommt es nur bei jedem zweiten
Jugendlichen, mit dem wir ambulant in Kontakt treten, zu einer stationären
Aufnahme.
Der erste, obligatorische Schritt einer Behandlung ist das ambulante Vorgespräch. Kriseninterventionen ohne ambulante Vorgespräche sind nicht
möglich. Ein oder mehrere ambulante Gespräche, an denen die/der Jugendliche, die Familie oder sonstige Sorgeberechtigte und ggf. eine MitarbeiterIn des Jugendamtes oder eine BewährungshelferIn teilnehmen, dienen zur
Klärung von Motivation und Anliegen der Beteiligten, der Darstellung
104
unserer Möglichkeiten und Grenzen sowie der Erarbeitung eines Therapievertrages mit den Jugendlichen, ihren Eltern und/oder sonstigen Zuständigen. Ein Mindestmaß an Veränderungsinteresse und Verantwortungsübernahme bei der/dem Jugendlichen betrachten wir als Voraussetzung für das Zustandekommen der weiteren Arbeit.
Unsere bisherigen Erfahrungen haben gezeigt, dass der überwiegend grösste Teil der Therapieabbrüche in der Entgiftungsphase erfolgen. Dagegen
erhöht sich der Anteil der Jugendlichen, die ihre Therapieziele erreichen
seit Bestehen der Station stetig.
Grundlage unseres Behandlungskonzeptes ist die Konzentration auf die
spezifischen Kompetenzen und Ressourcen aller Beteiligten, die für eine
erfolgreiche und gesunde Entwicklung und damit für eine Lösung ihrer Probleme notwendig sind. Es geht also nicht in erster Linie darum, sich mit
der Entstehung und Ausformung des Problemverhaltens zu beschäftigen.
Vorrangig für unsere therapeutische Arbeit ist vielmehr, die Prozesse innerhalb der Personen und zwischen den Personen zu erkennen und zu aktivieren, die den Jugendlichen helfen, in Zukunft auf selbstdestruktive
Lösungsversuche zu verzichten und ein persönlich stimmiges Lebens- und
Zukunftskonzept zu entwickeln. Es wird ein selbstverantwortungsstärkendes Selbstmanagement der eigenen Gesundheit und des Lebensalltags
unterstützt und begleitet sowie die Interaktionsdynamik gefordert, welche
die Lösungskompetenzen in den Beziehungen der Patienten und ihren
Angehörigen aktiviert. Die familiären Belastungen und Probleme werden
geachtet, Schuld und Entschuldigungen in aktiven Einsatz für die Zukunft
gewendet. Unser Behandlungsansatz zentriert sich somit keineswegs auf
die Droge, auf die Substanz als Problem.
Hilfreich für unsere therapeutischen Ansätze ist ein multifaktoriell orientiertes Verständnis von Sucht, das sowohl die Person mit ihrem lebensgeschichtlichen Hintergrund, den systemischen Lebenskontext - Familie,
Erzieherin und Erzieher, Schule bzw. Arbeitsplatz einerseits sowie die
Gleichaltrigengruppe und sonstige relevante Faktoren andererseits - und
schließlich natürlich auch die Substanz, die Droge, einschließt. Wie das
Landesprogramm gegen Sucht des Landes Nordrhein- Westfalen mit Recht
hervorhebt, steht nicht die Substanz oder das Mittel im Vordergrund, sondern vor allem die Bedeutung, die diesen für eine bestimmte Person auf
dem Hintergrund ihrer besonderen Entwicklung in einer bestimmten
105
Lebenssituation zukommt. In diesem Zusammenhang möchte ich den Leitsatz, unter dem die Sucht- und Drogenpolitik unseres Landes gestellt wurde:
"Sucht hat immer eine Geschichte und diese fängt nicht mit der Einnahme
einer Substanz an und hört nicht mit deren Absetzen auf " zitieren. Dies
ist auch der Grund dafür, dass wir den beliebten Slogan "Keine Macht den
Drogen" letztlich für ganz unglücklich halten. Er wird leicht dahingehend
verstanden, dass die Drogen die Macht hätten und haben könnten. Tatsächlich kann es darum gehen, wie viel Macht die einzelne Person bzw. das relevante Bezugssystem der Droge einräumt - und hier setzen auch die
pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen an. Ich möchte an dieser Stelle nicht ausführlich auf unser Krankheits- und Suchtkonzept eingehen, sondern nur so viel sagen, dass es uns therapeutisch nützlich
erscheint, den Substanzmissbrauch als einen Lösungsweg zu verstehen, bei
dem die Lösung das Problem ist. Damit gehen wir davon aus, dass der
Jugendliche ein positives Ziel verfolgte, als er zu vermehrtem Suchtmittelgebrauch überging und eröffnen uns zukunftsorientiert Möglichkeiten, mit
ihm zu überlegen, welche andere Art und Weisen für ihn denkbar und realisierbar sein könnten, um das selbe Ziel zu erreichen, ohne den Nachteil
des Substanzmittelmissbrauches dabei in Kauf zu nehmen.
Die am Anfang der stationären Behandlung notwendigerweise stehende
Entgiftungsbehandlung, die bei Indikation die Verwendung von Methadon mit einschließt, beinhaltet vor allen Dingen den Aufbau einer tragfähigen Beziehung zwischen Pflege- und Erziehungsdienst, dem
Therapeuten auf der einen und dem Patienten auf der anderen Seite. Außerdem erfolgt in der Entgiftungsbehandlung die Erhebung des geistig-seelischen, körperlichen und schulischen Entwicklungsstandes, eine Klärung
der psychosozialen Bezüge, die Vermittlung medizinischer Informationen.
Die Dauer der Entgiftung beträgt mindestens 14 Tage je nach Suchtstoff
auch länger. Für die Jugendlichen in der Entgiftungsphase sind die Türen
geschlossen. Es gilt eine Kontaktsperre. Es können keine Besuche und keine
Telefonate stattfinden, auch nicht zu den Eltern. Briefe können an die Eltern
geschrieben und von den Eltern erhalten werden. Ausgang ist nur in Begleitung von BetreuerInnen innerhalb des Klinikgeländes möglich. Der Sinn
dieser Maßnahme ist, den Jugendlichen Gelegenheit zu geben, sich selbst
über ihre Entscheidung für oder gegen die Therapie klar zu werden.
106
Durch einen detailliert ausgearbeiteten Stundenplan soll eine Tagesstruktur neu geschaffen werden. Jeden Morgen vor dem Frühstück wird gejoggt
oder spazieren gegangen. Tätigkeiten für die Allgemeinheit, die sog. "Dienste " sind verpflichtend, ebenso die Teilnahme an der "Informationsgruppe" und an der "Entgiftergruppe". In der Informationsgruppe erfolgt eine
Aufklärung über die körperlichen Risiken und Nebenwirkungen der Sucht.
In der "Entgiftergruppe" wird mit den Jugendlichen über den Stand der
Entgiftung, ihre Schwierigkeiten und ihre Hoffnungen gesprochen. Die
individuelle Problematik und die individuellen Behandlungsziele und
-pläne werden in Einzelgesprächen mit den TherapeutInnen erarbeitet.
Im Verlauf der Entgiftungs- und Motivationsphase werden folgende Forderungen an die/den Jugendliche/n gestellt:
- die/der Jugendliche muss regelmäßig an den Gruppen der Entgiftungsphase teilnehmen
- die/der Jugendliche muss deutliches Bemühen zeigen, in der Behandlung mitzuarbeiten
- das regelmäßig durchgeführte Drogenscreening muss negativ sein
- die/der Jugendliche muss einen Lebenslauf schreiben. Inhalt des Lebenslaufes soll die persönliche Geschichte sein, wichtige Lebensereignisse,
wichtige Personen, eine Darstellung, wann sie/er sich für die Drogen
entschieden hat und warum sie/er dabei geblieben ist, was sie/er an sich
verändern will und was sie/er so belassen will, wie es ist.
Das Führen eines Tagebuches ist die weitere Voraussetzung für die Aufnahme in die Therapiegruppe. Themen können sein:
"Was war heute gut, was war schlecht!"
"Was will ich bzw. wollte ich heute erreichen?",
"Wie fühle ich mich?"
"Was tue ich in 4 Monaten, wenn ich mich gut fühle!"
Auf diese Weise soll die/der Jugendliche üben, die eigenen Gefühle zu
erkennen, darüber nachzudenken und sie zu besprechen. Das Tagebuch
wird von uns nicht gelesen, aber es wird kontrolliert, ob es geschrieben wird.
Es muss gemeinsamen mit dem/der Jugendlichen und ihrer/seiner Familie geklärt werden, ob eine Reha- oder Jugendhilfemaßnahme und ggf. wel107
che im unmittelbaren Anschluss der Entgiftung möglich ist, und welche
Maßnahmen dazu einzuleiten sind oder ob eine Therapie der jugendpsychiatrischen Grundproblematik vorrangig zu erfolgen hat.
Hat der Jugendliche die o.g. Anforderungen erfüllt, ist sein Gesundheitszustand auch bezüglich der Co-Morbidität weitgehend stabilisiert, kann er
einen Antrag auf Übernahme in die Therapiegruppe stellen. Die Befürwortung bzw. die Ablehnung des Antrages erfolgt durch das Team, welches
aus allen, die mit der/dem Jugendlichen therapeutisch oder pädagogisch
arbeitenden MitarbeiterInnen besteht.
Ein zentrales Element unseres Behandlungsangebotes stellt das sehr eng
verzahnte Zusammenwirken aller an der Betreuung und Behandlung der
Jugendlichen beteiligten Professionen dar. Nicht nur durch ständigen Informationsaustausch, sondern auch durch tatsächliche Zusammenarbeit der
pädagogischen, pflegerischen und therapeutischen Mitarbeiter bei den einzelnen Elementen des Behandlungsangebotes soll den Jugendlichen ein
geschlossenes Behandlungssystem angeboten werden, in dem Ausweichmöglichkeiten auf isolierte Inseln oder ein gegenseitiges Ausspielen von
mehreren betreuenden Personen weitgehend ausgeschlossen ist. Wir halten diese enge disziplinäre Zusammenarbeit für ein Muss bei der Arbeit mit
Jugendlichen (Rotthaus 1990-1999).
Der Behandlungsansatz beruht auf einer Integration von milieutherapeutischen, psychotherapeutischen, kunsttherapeutischen, ergotherapeutischen, mototherapeutischen und pädagogischen Interventionen. Das
therapeutische Konzept umfasst sowohl Maßnahmen der systemischen
Einzel- und Familientherapie, als auch klientenzentrierte und verhaltenstherapeutische Verfahren.
Die wichtigsten Schwerpunkte der therapeutisch-pädagogischen Arbeit sind:
1. Wir bemühen uns mit den Jugendlichen in detaillierter Weise hilfreiche
Zielvisionen zu erarbeiten, die als Voraussetzung für entsprechende Entwicklungsprozesse angesehen werden können. Dabei nimmt besonders
zu Anfang auch die Analyse der Problemdynamik einen wichtigen Platz
ein; die sehr belastenden, mit vielen Defiziterfahrungen verknüpften
108
Erlebnisse der Vergangenheit werden respektiert und wertgeschätzt. Es
wird mit Mitteln der Einzelpsychotherapie, Familiengesprächen, kunsttherapeutischen Gruppen und ggf. in der Musiktherapie versucht, konkrete Bilder davon zu entwickeln, welche Gedanken, Emotionen und
beziehungsgestaltende Verhaltensweisen an die Stelle der alten Lösungsstrategien und des Lösungsmittels Droge treten können.
2. Ein wichtiges Thema ist, die Ideen und Pläne für ein selbstbestimmtes
Leben auszuprobieren und einzuüben. Dies geschieht durch lebenspraktisches Training, Anleitung zu alternativer Freizeitgestaltung und
Strukturierung des Tagesablaufes. Die konkreten Schritte werden in einer
speziellen Gesprächsgruppe und in Gesprächen mit BezugsbetreuerInnen reflektiert.
3. Ein weiteres wichtiges Ziel ist die Übernahme von Verantwortung für
sich und den anderen sowie die Bearbeitung von Gefühlen, Ängsten
und Konflikten. In einem speziellen Gruppenangebot (Therapiegruppe) können die Jugendlichen lernen, Konflikte zu thematisieren,
gemeinsame Lösungen zu suchen, Erfahrungen auszutauschen, Unterstützung zu geben und anzunehmen, Nähe und Distanz, Offenheit und
Verschlossenheit in der für sie angemessenen Art zu regulieren. Da
bestimmte Probleme und Konflikte im gemischtgeschlechtlichen Kontext kaum angesprochen werden können, erhalten diese Problematiken
einen Raum in Form von gleichgeschlechtlichen Gruppenangeboten
wie Frauen- oder Männergruppe.
4. Durch Bewegungstherapie und Entspannungsübungen wird die Beziehung zum Körper positiv gestaltet, neue Körpererfahrungen vermittelt,
das körperliche Wohlbefinden gefördert. Weitere Ziele sind der fürsorgliche Umgang mit dem eigenen Körper, Konditionsaufbau und
Aggressionsabbau, das Erlernen von Sozialverhalten und die Förderung
gruppendynamischer Prozesse.
5. Durch eine intensive schulische und beschäftigungstherapeutische
Betreuung wird die Konzentrationsfähigkeit langsam wieder aufgebaut
und eine Rückführung in die Schul- und Arbeitswelt angebahnt.
109
Einige Anmerkungen zum speziellen Behandlungsablauf in der
Therapiegruppe:
Dieser ist in vier Stufen eingeteilt, die verbunden sind mit einer Lockerung
des anfänglich streng begrenzten Kontaktes zur Außenwelt und des Ausgangs. Gleichzeitig erfolgt eine stufenweise Übertragung von mehr Eigenverantwortlichkeit an die Jugendlichen. Für jede Stufe werden
Behandlungsziele mit entsprechenden Maßnahmen zu deren Erreichung
aufgestellt. Sie setzen sich aus allgemein geltenden und aus individuellen
Zielen einer/eines Jugendlichen für die jeweilige Stufe, die in einem Vertrag schriftlich festgehalten werden, zusammen. Die Mindestdauer jeder
Stufe beträgt 4 Wochen. Jeder Stufenwechsel muss von der/dem Jugendlichen bei ihren Mitjugendlichen in der Therapiegruppe sowie bei seinen
BezugsbetreuerInnen und den für ihn zuständigen TherapeutInnen beantragt werden. Über den Wechsel wird in einem sog. Wechselgespräch unter
Beteiligung der/des Jugendlichen, der TherapeutInnen, der BezugsbetreuerInnen und der LehrerInnen entschieden.
Eine konzeptionelle Entwicklung haben wir im Umgang mit Rückfällen
gemacht. Anfangs hatten wir ein - aus unserer heutigen Sicht - starres Regelwerk formuliert, das als Konsequenz bei eindeutigen Rückfällen die Entlassung vorsah. Dadurch wurde jeder Rückfall zu einem dramatischen
Ereignis und es kam zu Entlassungen, mit denen alle Beteiligten unzufrieden waren. Auch heute existiert noch grundsätzlich die Möglichkeit der
Entlassung als Konsequenz auf einen Rückfall. Wir werten den Rückfall
aber nicht mehr als eine Katastrophe. Vielmehr schauen wir uns heute
gemeinsam mit den Jugendlichen genau an, wie er mit Rückfällen umgeht
und sehen auch im Rückfall die Chance (Schmidt G. 1988). Der Rückfall
bietet uns die Möglichkeiten, mit den Jugendlichen über schwierige, problematische Situationen zu reflektieren und solche Situationen zu bearbeiten, in denen die Versuchung des erneuten Drogenkonsums sehr hoch
ist. Der Rückfall bietet uns in besonderem Maße die Gelegenheit, dem inneren Erleben, den Gefühlen des Jugendlichen nahe zu kommen, zu verstehen, sie wertzuschätzen und gleichzeitig den Jugendlichen anzuregen, in
anderer Form mit dem umzugehen, was er neu in sich entdeckt hat. Natürlich erfolgt auch bei uns die Entlassung auf längere Zeit nicht offengemachte
Rückfälle, fortgesetzten Drogenmissbrauch oder Einschleppen von Dro110
gen auf die Station. Aber auch bei schweren Verstößen gegen andere Regeln
der Station wie Gewaltanwendung, Androhung von Gewalt oder sexistische, die Menschenwürde verletzende Äußerungen, werden Konsequenzen bis zur Entlassung ausgesprochen.
Von Beginn an, aber schwerpunktmäßig in den letzten 6-8 Wochen, wird
die weitere Perspektive der/des Jugendlichen geklärt und die Entlassung
vorbereitet, der/die Jugendliche hat jetzt freien Ausgang in therapiefreien
Zeiten. Mit ihr/ihm, den Eltern und den MitarbeiterInnen des Jugendamtes wird endgültig abgesprochen, wo und mit wie viel Unterstützung die/der
Jugendliche leben kann, welche weiteren Hilfen im Hinblick auf Schule,
Beruf und Freizeitgestaltung notwendig sind, und ob weiterhin eine ambulante Therapie angezeigt ist. Dazu erfolgt eine Berufsberatung des Arbeitsamtes am zukünftigen Wohnort der/des Jugendlichen. Die Jugendlichen
werden angeleitet, zu ihren neuen Schulen und Arbeitsstätten Kontakt aufzunehmen. Die Entlassung nach Hause oder in andere Lebensräume, z. B.
Wohngruppen wird durch Probebeurlaubungen an mehreren Wochenenden vorbereitet. Den Jugendlichen wird Gelegenheit gegeben, zu ihren späteren BetreuerInnen und TherapeutInnen Kontakt aufzunehmen, um den
Jugendlichen nicht in ein "Beziehungsloch" fallen zu lassen. Für die
Zukunft ist eine enge Zusammenarbeit mit einer in erreichbarer Nähe und
im Aufbau befindlichen therapeutischen Wohngemeinschaft geplant, die
ihre Arbeit speziell auf diese Gruppe von Jugendlichen ausrichtet.
Zukünftige Veränderungen unseres Behandlungsangebotes:
Das von mir vorgestellte Behandlungsangebot wurde bis September vorigen Jahres durch die Krankenkassen vollständig finanziert, so dass viele Formalitäten wegfielen. Seit Oktober vergangenen Jahres sind ein Großteil der
Krankenkassen nicht mehr bereit, die Therapiephase zu finanzieren und
übernehmen nur noch die Kosten für die Entgiftungsphase bzw. für max.
6 Wochen. Damit müssen wir uns nach einem anderen Leistungsträger
umschauen und befinden uns zurzeit in Verhandlungen mit der Landesversicherungsanstalt Rheinland, die ihre Bereitschaft signalisiert hat, die
Therapiephase als medizinische Rehabilitation bei einem geringeren Pflegesatz zu finanzieren. Das bedeutet ganz konkret, dass die Station "Szenenwechsel" in zwei Behandlungseinheiten aufgeteilt wird, in eine durch
111
die Krankenkassen finanzierte Entgiftungsbehandlung mit 4 Betten und
in eine durch den Rentenversicherungsträger finanzierte medizinische Rehabilitation mit 8 Betten. Obgleich viele bewährte therapeutische und pädagogische Behandlungselemente auch in der medizinischen Rehabilitation
inhaltlich bestehen bleiben, sind wir auf Grund der uns geringeren finanziellen Mittel gezwungen, weiter über die Etablierung einer therapeutischen
Gemeinschaft (Rotthaus 1990) nachzudenken, die beinhaltet, viel an Verantwortlichkeit auf die Gruppe der Jugendlichen zu delegieren. Grundsätzlich sehen wir diese Möglichkeit angesichts der für eine Kinder- und
Jugendpsychiatrie relativ hohen Stabilität der Gruppe und denken auch,
dass die Ziele der therapeutischen Gemeinschaft mit dem dominierenden
Aufenthaltsziel der Verantwortungsübernahme für eine selbstachtende und
andere achtende Entwicklung der einzelnen Jugendlichen nützlich ist.
Andererseits kommen wir aber auch nicht umhin, wahrzunehmen, dass die
sozialen Fähigkeiten der 15-18-jährigen Jugendlichen teils noch sehr
begrenzt sind. Einige von ihnen sind mit den notwendigen sozialen Diskurs und der Auseinandersetzung in der Gruppe deutlich überfordert und
benötigen in relativ starkem Maße noch Unterstützung von Seiten der
BetreuerInnen. Das bedeutet: Wenn wir unser Konzept noch mehr dahin
orientieren würden, im Sinne einer therapeutischen Gemeinschaft zu arbeiten, hieße das auch, den Zugang zu der dann medizinischen Rehabilitation in höherem Maße von den intellektuellen, verbalen und sozialen
Fähigkeiten des Jugendlichen abhängig zu machen und damit Eingangsbeschränkungen vorzunehmen. Zurzeit befinden wir uns für die Lösung
dieses Problems noch in interner Erörterung.
Literatur:
Landesprogramm gegen Sucht des Ministeriums für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen (1995), S.12-14
Rotthaus, W. (1990/1999): Stationäre systemische Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dortmund (modernes Leben)
Schmidt, G. (1988): Rückfälle von als suchtkrank diagnostizierten Patienten aus systemischer sicht. In Körkel, J.: (Hrsg.): Der Rückfall des Suchtkranken. Berlin (Springer): 173-213
112
Behandlungskonzept für jugendliche Drogenabhängige
Robert Schnöd
Therapeutische Einrichtung Eppenhain, Kelkheim
Träger
Träger der Therapeutischen Einrichtung "Eppenhain" ist der Verein Jugendberatung und Jugendhilfe e.V., Corneliusstraße 15, 60325 Frankfurt/Main,
Telefon: (0 69) 74 34 80-0, Telefax: (0 69) 74 34 80-61.
Der Verein ist als gemeinnützig anerkannt und korporatives Mitglied im
Caritasverband.
Anschrift: Therapeutische Einrichtung "Eppenhain", Schloßborner Str. 2731, 65779 Kelkheim, Telefon: (06198) 5898-0, Telefax: (06198) 5898-29
Liegenschaft
Die Einrichtung befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen "Villa
Hochschild" im Ortsteil Eppenhain der Stadt Kelkheim. Sie liegt am Ortsrand auf einem ca. 5 Hektar großen parkähnlichen Gelände. Der 440 Meter
hoch im Taunus gelegene Ort ist 32 km von Frankfurt am Main entfernt.
Auf dem Gelände gibt es Wiesen, Obstbäume, einen Garten und einen
Sportplatz.
Das "Haupthaus" der Einrichtung ist ein Funktionsgebäude. Es beherbergt
die Versorgungseinrichtungen, die Leitung und Verwaltung, die Schulräume, Einzel- und Familientherapiezimmer, Arztzimmer sowie das Teamzimmer. Der "Gutshof " ist der Wohn- und Lebensbereich der Klientel. Die
Jugendlichen leben hier in drei Wohngruppen. Zu jeder Wohngruppe
gehören neben den Zimmern eine Küche, ein Gruppenraum und ein Speiseraum. Für den Freizeitbereich stehen eine Bastelwerkstatt, eine kleine
Bibliothek, ein Fitness-, ein Musik-, ein Fernseh - sowie ein Gymnastik- und
Festraum zur Verfügung.
Indikation, Platzzahl und Behandlungsdauer
Das Behandlungsangebot richtet sich an junge Drogenabhängige beiderlei
Geschlechts bis zum 18. Lebensjahr. In begründeten Ausnahmefällen kann
eine Aufnahme bis zum 21. Lebensjahr erfolgen.
113
In "Eppenhain" können insgesamt 30 Jugendliche Aufnahme finden. Für
die Mädchen bzw. jungen Frauen steht eine eigene Wohngruppe mit 10
Plätzen zur Verfügung. Die Zeitdauer der Rehabilitation soll in der Regel
10 bis 12 Monate nicht überschreiten und richtet sich nach dem Ausmaß
der Reifungsdefizite und Entwicklungsstörungen sowie der körperlichen,
psychischen und sozialen Begleit- und Suchtfolgeschäden.
Anerkennungen
Die Landesversicherungsanstalt Hessen ist federführender Leistungsträger
der Einrichtung. Die Kosten für die Entwöhnungsbehandlung werden von
den Rentenversicherungsträgern, den Krankenkassen, den überörtlichen
Sozialhilfeträgern und von den Trägern der Jugendhilfe übernommen.
Die Einrichtung ist vom zuständigen Fachministerium des Landes Hessen
im Sinne der §§ 35, 36 BtMG anerkannt.
Staatlich genehmigte Sonderschule
Die Therapeutische Einrichtung "Eppenhain" ist im schulischen Bereich
als staatlich genehmigte Sonderschule für Kranke der Sekundarstufe I in
freier Trägerschaft mit besonderer pädagogischer Prägung anerkannt. Der
Unterricht wird für schulpflichtige Klienten/-innen an Stelle der Arbeitstherapie angeboten. In der Schule kann während der Rehabilitation der
Haupt- oder Realschulabschluss erreicht werden. Das Abitur kann nach
Abschluss der Behandlung im Bildungszentrum Hermann Hesse in gleicher Trägerschaft in Frankfurt erworben werden.
Einzugsgebiet
Hessen und andere Bundesländer
Leistungs- und Behandlungsprofil
Das spezifische Leistungs- und Behandlungsprofil der Therapeutischen Einrichtung "Eppenhain” weist folgende Charakteristika auf, die für die Beratung und die Kostenantragstellung von vermittelnden Institutionen
hilfreich sein können:
- Angebot für eine spezifische Zielgruppe von Jugendlichen, bei der sich
sehr früh eine Abhängigkeitserkrankung herausgebildet hat,
- jugendspezifische Behandlung der Abhängigkeitserkrankung unter
Berücksichtigung der Entwicklung der Einzelnen,
114
-
-
-
-
-
Korrigieren und Aufarbeiten von Reifungsdefiziten und Fehlentwicklungen,
Bearbeitung spezifischer traumatisierender Erfahrungen wie Gewalt,
Missbrauch, Verwahrlosung, Prostitution und Hafterfahrung,
mädchen- bzw. frauenspezifische Angebote wie eigene Mädchenwohngruppe mit 10 Plätzen, geschlechtspezifische Gruppen- und indikative Einzeltherapie,
umfassende standardisierte medizinische, psychologische und soziale
Diagnostik,
individuelle Therapieplanung und -gestaltung,
suchtspezifische Angebote wie Rückfallprophylaxetraining,
Möglichkeit der Bearbeitung familialer Problemsituationen im Zusammenhang mit der Suchterkrankung durch Angehörigenseminare und
Familiengespräche,
umfassende Information und Kooperation mit Angehörigen,
Aufnahme von Jugendlichen mit psychiatrischen Begleit-Krankheiten
nach Abklärung der Rehabilitationsfähigkeit im Einzelfall,
Schulunterricht mit der Möglichkeit des Erwerbs des Haupt- oder Realschulabschlusses oder zum Ausgleich schulischer Defizite,
Arbeitstherapie mit Fachkundeunterricht,
interne Adaption zur Vorbereitung auf Berufsausbildung und Erwerbsleben durch Hilfen bei der Bewerbung, interne und externe Praktika
sowie Probewohnen,
Gesundheitsförderung durch Entspannungtraining, Akupunktur, Sport,
Sexualberatung, HIV-Prävention und Erste Hilfe Kurse,
Förderung von Freizeitaktivitäten durch Sportunterricht, Bodybuilding,
erlebnispädagogische Angebote, Ferienfreizeiten u.a.,
Schuldnerberatung,
nahtloser Übergang in die angeschlossene Jugendwohngruppe Haus
Bleistein, mit der Möglichkeit des Schulbesuchs in der Therapeutischen
Einrichtung Eppenhain,
Hilfestellung beim Übergang in Betreutes Wohnen und Nachsorge,
Kooperation mit Arbeitsamt, Ausbildungsstätten und Arbeitsprojekten
in der Region,
Kooperation mit regionalen Einrichtungen der Jugendhilfe, Suchthilfe
und Kinder- und Jugendpsychiatrie,
Kooperation mit den Einrichtungen des Suchthilfeverbundes Jugend115
beratung und Jugendhilfe e.V., insbesondere mit dem Bildungszentrum
Hermann Hesse, der Fachstelle für Ambulante Rehabilitation und der
Fachstelle für synthetische Drogen.
Grundorientierung
Wir sind der Überzeugung, dass der Abhängigkeitsproblematik Jugendlicher keine gemeinsame, spezifische Grundstörung zu Grunde liegt. Eine
einheitliche Symptomatik im Sinne einer Suchtpersönlichkeit liegt nicht
vor. Drogenabhängigkeit ist eine Erkrankung, die sich in einem komplexen Kontext biologischer, psychischer, sozialer und gesellschaftlicher Bedingungen entwickelt und von ihnen aufrechterhalten wird. Daher kann die
Abhängigkeitsproblematik nicht nur als ausschließlich individuelles Problem gesehen werden, vielmehr muss sie in ihren komplexen Zusammenhängen erkannt und bearbeitet werden.
Drogenabhängige unterscheiden sich erheblich in ihrer Abhängigkeitsentwicklung und in ihren jeweiligen Möglichkeiten zu einer langfristigen Abstinenz. Erhebliche und rehabilitationsrelevante Unterschiede zeigen sich bei
den Drogengebrauchsmustern, den Begleit- und Folgeerkrankungen, dem
Alter zu Beginn der Abhängigkeit und den daraus folgenden Reifungsunterschieden sowie bei der geschlechtsspezifischen Entwicklung der Drogenabhängigkeit.
Dieses komplexe und vielschichtige Problemverhalten erfordert eine ganzheitliche, die unterschiedlichen Existenzebenen berücksichtigende Behandlungsstrategie. Daraus folgt, dass Drogentherapie von der Struktur der
Angebote, von der Therapieplanung und von der Zielsetzung her individuell für jeden Drogenabhängigen gestaltet werden muss.
Angaben zur Konzeption
Diagnostik
Die Diagnostik in der Therapeutischen Einrichtung "Eppenhain" richtet
sich nach den Notwendigkeiten der adaptiven Indikation und bezieht auch
das Ziel zunehmender Selbstexploration und -reflexion der Klienten/-innen
ein. Eine psychologische Exploration und laufende spezifische Protokollierung behandlungsrelevanter Kontakte führen zusammen mit der ärztlichen Anamnese und der medizinischen Behandlungsdokumentation zu
individuellen Behandlungsplänen, die im therapeutischen Team abgestimmt werden. Die Planung der Behandlung richtet sich nach dem The116
rapieverlauf der einzelnen Klienten/-innen. Sie wird regelmäßig in Fallgesprächen überprüft und weiterentwickelt. Entscheidende Revisionen von
Rehabilitationsplänen erfolgen nach Möglichkeit unter Einbeziehung der
Angehörigen bzw. Eltern.
Ziele der Rehabilitation
a) Suchtspezifische Zielsetzung
- Aufarbeitung der Abhängigkeit (Informationsvermittlung, Reflexion
der Abhängigkeit als Lebensstrategie, Entkonditionierung der Anlässe
zum Drogenkonsum, Rückfallprophylaxe und Rückfallbearbeitung),
- Bearbeitung suchtspezifischer Begleit- und Folgeerkrankungen.
b) Erwerb psychischer Kompetenzen
- Emotionalität entdecken und zeigen lernen,
- Entdecken und Weiterentwickeln der eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten,
- Verbesserung der Beziehungsfähigkeit (Empathie, Nähe-Distanz, Affektund Impulskontrolle, Fähigkeit zur Kompromissbildung etc.),
- Verbesserung der Wahrnehmung (Selbst- und Fremdwahrnehmung, Differenzierung von Affekten etc.),
- Anregung von Sinnfragen (Reflexion von Wertvorstellungen, Gewissensbildung und Lebenssinn etc.).
c) Erwerb sozialer Kompetenzen
- Gewinn von sozialen Netzwerken ( Pflege und Aufbau von neuen sozialen Beziehungen, und Neugestaltung der Beziehung zur Herkunftsfamilie),
- Ablösung vom Elternhaus,
- Erwerb von Kontakt- und Bindungsfähigkeit,
- Regulierung von Belastungen wie rechtliche Probleme und Schulden,
- Pflege und Aufbau von Freizeitaktivitäten.
d)
-
Erwerb schulischer und beruflicher Qualifikation
Erwerb eines Schulabschlusses,
Ableistung von qualifizierten Praktika,
Maßnahmen zur Unterstützung der beruflichen Planung.
117
Das therapeutische Angebot
Zum therapeutischen Angebot, gehören
-
medizinische Behandlung,
Gruppentherapie,
Indikative Einzeltherapie,
Familiengespräche und Angehörigenseminare,
Rückfallprävention,
Sozialberatung,
Schulbesuch,
Arbeitstherapie,
Freizeitpädagogik.
Nachsorge
Für Nachsorge und Adaption steht die Jugendwohngruppe Haus Bleistein
mit 8 Plätzen im selben Ort zur Verfügung. Von dort aus kann der Schulbesuch in der Therapeutischen Einrichtung "Eppenhain” fortgesetzt werden.
Leitung der Einrichtung und Mitarbeiterstruktur
Verantwortlich für die Einrichtung ist das Leitungsteam, in dem die ärztliche Leitung, die Schulleitung und die Hausleitung vertreten sind.
Im multidisziplinären Team der Einrichtung sind darüber hinaus die Fachrichtungen Psychologie, Pädogogik, Sozialarbeit, Arbeitstherapie, Hauswirtschaft, Krankenpflege und Verwaltung vertreten. Für jede Wohngruppe
sind je zwei Mitarbeiter/innen als Bezugstherapeuten/innen in besonderer Weise zuständig.
Informationen zur Aufnahme
Voraussetzungen für die Aufnahme sind ein unmittelbar dem Beginn der
Rehabilitationsmaßnahme vorausgehender körperlicher Entzug und die
Kostenzusage des zuständigen Leistungsträgers (Rentenversicherung, Krankenversicherung, überörtliche Sozialhilfeträger, Jugendhilfe).
Hilfreich ist, wenn bei der Aufnahme folgende Unterlagen bereits vorliegen: Personalausweis, bei Minderjährigen schriftliche Einverständniserklärung der Eltern, Krankenversicherungskarte, letztes Zeugnis von
allgemein- bzw. berufsbildenden Schulen.
118
Die Aufnahmeleitung obliegt dem Leiter der Einrichtung. Für die Aufnahmeplanung und -organisation ist ein Mitarbeiter zuständig.
Ein Informationsgespräch in der Einrichtung ist erforderlich. Jede/-r Interessent/-in kann sich telefonisch oder schriftlich über die Aufnahmemodalitäten erkundigen. Während der Wartezeit bis zur Aufnahme unterhalten
Klienten/-innen der Einrichtung Briefkontakt zu den Interessenten/innen.
119
Forum III: Offene Grenzen – gemeinsam Probleme.
Junge suchtkranke Migrantinnen und Migranten
Sucht und Migration
Bernhard Bätz
Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Warstein
Drogenabhängige Aussiedler in der WKPP Warstein
Vorbemerkungen
Zur Prävalenz von Suchterkrankungen im Allgemeinen und von Drogenkonsum sowie Drogenabhängigkeit im Speziellen bei Aussiedlern in
Deutschland liegen derzeit keine validen Daten vor. Im Allgemeinen wird
angenommen, dass 3 bis 5 % der Migranten in Deutschland Suchtprobleme haben – entsprechend den Prävalenzschätzungen für Abhängigkeitserkrankungen in Deutschland (Czycholl 1997, Hüllinghorst und Holz 1998).
Umfragen sind nicht unproblematisch, da viele Migranten – und zu diesen sind die Aussiedler zu zählen – ein vordergründig angepasstes Verhalten aufweisen und im Sinne sozialer Erwünschtheit antworten (vgl. Braun
1998). Die EBDD führte dazu auch aus, dass "allgemeine Bevölkerungsumfragen und Schülerbefragungen keine probaten Mittel (sind), um zu
zuverlässigen Prävalenzangaben zu kommen." (EBDD 1999)
Untersuchungen, welche in Suchtberatungsstellen, Krankenhäusern und
Kliniken durchgeführt wurden, erfassen nur die dort Behandelten. Unterschiedliche Zugangsschwellen für verschiedene Migrantengruppen und
deutsche Abhängigkeitskranke werden dabei nicht berücksichtigt.
Ein weiteres Problem, welches sich dabei ergibt, ist, dass die bisher größte
Untersuchung im ambulanten Setting über süchtige Migranten (DiozösanCaritas-Verband für das Erzbistum Köln 1997) sich auf "ausländische KlientInnen"
bezieht,
auch
das
Bundesmodellprogramm
"Drogennotfallprophylaxe /Nachgehende Sozialarbeit" (Schmid 1998)
erfasste Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft – Aussiedler, die ja deutsche Staatsangehörige sind, wurden so in diese Untersuchungen nicht einbezogen.
In Anbetracht dieser Probleme soll nur über Aussiedler berichtet werden,
die sich in der WKPP Warstein einer qualifizierten Entzugsbehandlung von
120
illegalen Drogen unterzogen. Dabei ist zu beachten, dass Aussiedler überhaupt keine homogene Gruppe darstellen.
Drogenabhängige Aussiedler in der WKPP Warstein
Seit Anfang der 90er-Jahre unterzogen sich zunehmend mehr Aussiedler
in der WKPP Warstein einer Entzugsbehandlung von illegalen Drogen.
Insbesondere seitdem im Jahr 1998 eine Station sich auf die Entzugsbehandlung drogenabhängiger Migranten spezialisierte, nahm ihr Anteil an
den Drogenabhängigen hier weiter deutlich zu.
Herkunftsländer
der drogenabhängige Aussiedler
(N=1461 Entzüge)
800
700
600
500
Anzahl 400
300
200
100
0
Die Herkunftsländer der drogenabhängigen Aussiedler haben einen deutlichen Schwerpunkt in Zentralasien: Aus Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan kamen bisher 65,2% aller Aussiedler,
die sich bei uns einer Entzugsbehandlung von illegalen –Drogen unterzogen. Die Herkunftsländer der drogenabhängigen Aussiedler weisen eine
deutliche Veränderung in den letzten Jahren auf: So kamen 31,8% aller drogenabhängigen Aussiedler, die bis 1994 einschließlich bei uns stationär
behandelt wurden, aus Polen, im Jahr 2001 waren dies nur noch 6,6%. Dies
zeigt auf, dass insbesondere die Aussiedler aus den Ländern der ehemaligen UdSSR mit Schwerpunkt in Zentralasien wegen Drogenproblemen zur
stationären Entzugsbehandlung kommen.
121
Die drogenabhängigen Aussiedler befanden sich im Durchschnitt 7,3 Jahre
in Deutschland, bevor sie die stationäre Entzugsbehandlung von illegalen
Drogen bei uns in Anspruch nahmen. Dabei reicht die Spannweite von
wenigen Monaten nach der Aussiedlung bis zu 38 Jahren.
Das Alter der drogenabhängigen Aussiedler zum Zeitpunkt der stationären
Entzugsbehandlung war mit durchschnittlich 23,7 Jahren (Spannweite: 16
bis 45 Jahre) signifikant niedriger als das der anderen deutschen Drogen122
abhängigen bei uns mit 28,9 Jahren (Spannweite: 15 – 65 Jahre). Deutlich
wird dieser erhebliche Altersunterschied noch durch zwei andere Zahlen:
75,9% der bei uns entzogenen drogenabhängigen Aussiedler waren bis zu
25 Jahre alt, aber nur 36,3% der anderen drogenabhängigen Deutschen.
Der Frauenanteil der drogenabhängigen Aussiedler, die sich in der WKPP
Warstein einer Entzugsbehandlung unterzogen, betrug 7,8%. Er ist so signifikant geringer als der der anderen drogenabhängigen Deutschen mit
21,7%. Aber auch bei den Aussiedlern gibt es erhebliche Unterschiede nach
den Herkunftsländern, die zum Teil noch größer sind als die zwischen den
Gesamtgruppen der drogenabhängigen Aussiedler und Deutschen: 30,1%
der Aussiedler aus Polen waren Frauen, aber nur 5,6% von denen aus
Kasachstan.
Die drogenabhängigen Aussiedler konsumierten im Durchschnitt 4,3 Jahre
Opiate, bis sie zur stationären Entzugsbehandlung kamen. Die Zeit des
Opiatkonsums war bei den anderen drogenabhängigen Deutschen mit 8,9
Jahren durchschnittlich mehr als doppelt so lange.
Innerhalb der ersten 3 Jahre des Opiatkonsums unterzogen sich 60,9% der
drogenabhängigen Aussiedler erstmals einer Entzugsbehandlung in der
WKPP Warstein, aber nur 26,3% der anderen drogenabhängigen Deutschen.
123
Die Suchtkarrieren der drogenabhängigen Aussiedler unterscheiden sich
deutlich von der der anderen drogenabhängigen Deutschen. Die später drogenabhängigen Aussiedler begannen signifikant später als die anderen Deutschen mit dem Konsum von Tabak (13,8 Jahre vs. 13,0 Jahre), Alkohol (14,6
Jahre vs. 14,1 Jahre) und Cannabis (16,2 Jahre vs. 15,7 Jahre).
Bei den "harten" Drogen Heroin und Kokain sowie bei den Benzodiazepinen, welche häufig in Kombination mit den Opiaten zu deren Wirkungsverstärkung eingesetzt werden, kehrt sich die Situation um: Die bei
uns behandelten drogenabhängigen Aussiedler begannen früher mit dem
Konsum von Opiaten (19,3 Jahre vs. 20,4 Jahre), Kokain (20,5 Jahre vs. 20,8
Jahre) und Benzodiazepinen (21,1 Jahre vs. 22,5 Jahre).
Der mögliche protektive Faktor, der im vergleichsweise späteren Beginn des
Konsums von Tabak, Alkohol und Cannabis liegt, zeigt keine Wirkung
dann, wenn es um den Beginn des Konsum von Opiaten, Kokain und Benzodiazepinen geht. In diesem Sinne beginnt die Suchtkarriere von drogenabhängigen Aussiedlern später als die der anderen drogenabhängigen
Deutschen, sie ist aber gleichzeitig kürzer und "steiler".
124
Die Virus-Hepatitis A, eine Krankheit, welche in Ländern mit geringeren
Hygienestandards hohe Prävalenzraten aufweist, hatten 74% der drogenabhängigen Aussiedler irgendwann durchgemacht. Dabei weisen sie mit
der Zeit des Drogenkonsums keine Zunahme dieser Virus-Hepatitis auf:
Die Durchseuchung mit diesem Virus korreliert bei dieser Population offenbar nicht mit dem Drogenkonsum. "Nur" 34,7% der anderen drogenabhängigen Deutschen hatten jemals Kontakt mit dem Hepatitis A-Virus, bei
diesen bestand auch eine Korrelation der Prävalenz dieses Virus mit der
Zeit des Drogenkonsums.
Eine Virus-Hepatitis B hatten 57,4% der Aussiedler (im Vergleich zu 45,4%
der anderen drogenabhängigen Deutschen), eine Virus-Hepatitis C 68,2%
(und 59,6% der anderen drogenabhängigen Deutschen).
Drogenabhängige Aussiedler – eine schwer erreichbare Gruppe?
Das Bundeskriminalamt ging (im Anhang des Sucht- und Drogenberichts
2000) davon aus, dass die im Jahr 2000 drastische Zunahme von drogentoten Aussiedlern (von 36 in 1999 auf 162 in 2000) auf ihre "fehlende Bereitschaft zur Annahme von Hilfeangeboten" zurückzuführen sei. Die eigenen
Daten zeigen dagegen auf, dass drogenabhängige Aussiedler eine ausgesprochen früh erreichbare Zielgruppe darstellen. Voraussetzung dafür ist,
dass Behandlungsangebote spezifisch für diese Zielgruppe vorgehalten werden. D.h., eine interkulturelle Öffnung der Suchthilfeeinrichtungen ist
125
erforderlich, Migranten als Mitarbeiter sind unabdingbar, migrationsspezifische Anteile sind in der Aus-, Fort- und Weiterbildung Professioneller
im Bereich der Suchthilfe nötig.
Was ist zu tun?
Suchtprävention für Aussiedler ist zielgruppenspezifisch zu gestalten, der
Einsatz muttersprachlicher "key persons" ist von besonderer Bedeutung
(Salman 1998).
Von der üblichen Komm-Struktur ambulanter Einrichtungen ist abzugehen zu Gunsten aufsuchender Angebote.
Der frühzeitige Einsatz von präventiven Maßnahmen ist erforderlich
zusammen mit schulischen und beruflichen Qualifikations- und Integrationsmaßnahmen.
Eine möglichst frühe Aufklärung über die Virus-Hepatitiden ist neben der
AIDS-Aufklärung nötig angesichts der bei dieser Personengruppe deutlich
höheren Gefahr, durch diese Krankheiten infiziert zu werden, da "Informationsdefizite den besten Boden zur Aufrechterhaltung eines Teufelskreises aus illegalen Konsumformen, schlechten hygienischen Bedingungen
und hieraus resultierenden, in der Patientengruppe zirkulierenden zahlreichen Folgeerkrankungen darstellen" (Christensen 1999).
Maßnahmen der "harm reduction" und des "safer use" (Heudtlass, Stöver
und Winkler 1995) sind an diese Personengruppe heranzutragen nicht nur
im Sinne von Wissensvermittlung – wofür sie nach unseren Erfahrungen
im stationären Setting sehr aufgeschlossen sind -, sondern auch mit ganz
konkreten Hilfen wie dem Spritzentausch.
Aussiedlerspezifische Angebote im Rahmen der Suchtberatung, der qualifizierten Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung sind erforderlich, um die
Zugangsschwellen abzusenken. Die Praxis der "Kontingentierung" von Aussiedlern in einigen Entwöhnungskliniken geht am Bedarf vorbei.
126
Literatur:
Braun, A.: Methodische Gesichtspunkte der Diagnostik und Therapie bei
rauschmittelabhängigen Aussiedlern. In: Czycholl, Dietmar (Hrsg.):
Sucht und Migration. Spezifische Probleme in der psychosozialen Versorgung suchtkranker und -gefährdeter Migranten.
Hohenrodter Studien Band 1. VWB, Berlin 1998. S. 106 - 112.
Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.): Drogen- und Suchtbericht der
Drogenbeauftragten der Bundesregierung. Bonn 2000.
Christensen, S.: Hepatitis C unter Drogenabhängigen. Epidemiologie, Klinik, Diagnostik und Therapie in der Praxis. In: Poehlke, T., Flenker, I.,
Schlüter, H.-J., Busch, H. (Hg.): Suchtmedizinische Versorgung. Orientierung am Weiterbildungs-Curriculum der Bundesärztekammer. 2.
Drogen. Berlin, Heidelberg, New York, Springer Verlag 1999,
S.173 – 182.
Czycholl, D.: Krank in der Fremde oder krank durch die Fremde?
In: SuchtReport 6/1997, S. 29 . 36.
Diözesan-Caritas-Verband für das Erzbistum Köln (Hrsg.): Migration und
Sucht. Spezifische Anforderungen an die Beratung/Therapie von
MigrantInnen im Kontext von Sucht. Dokumentation und WorkshopErgebnisse der Tagung vom 12. Bis 14. November 1996. Schriftenreihe
des Diözesan-Caritas-Verbandes, Heft 39.
Köln: Diözesan-Caritas-Verband 1997.
Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht: Jahresbericht über den Stand der Drogenproblematik in der Europäischen Union
– 1999. Luxemburg: Amt für amtliche Veröffentlichungen der
Europäischen Gemeinschaft 1999.
Heudtlass, J.-H., Stöver, H., Winkler, P. (Hg.): Risiko mindern beim Drogengebrauch. Drogenwirkungen, Safer Use, Notfallhilfe, Safer Sex,
Prävention, Peer Support. Frankfurt am Main, Fachhochschulverlag
1995.
127
Hüllinghorst, R., Holz A.: Vorwort. In: Deutsche Hauptstelle gegen die
Suchtgefahren (Hrsg.): Sucht in unserer multikulturellen Gesellschaft.
Freiburg i.Br.: Lambertus 1998.
Salman, R.: Interkulturelle Suchthilfe. Prävention und Beratung für Migranten in Hannover. In: Czycholl, D. (Hg.): Sucht und Migration. Spezifische Probleme in der psychosozialen Versorgung suchtkranker und
–gefährdeter Migranten. Hohenrodter Studien Band 1. Berlin, VWB
1998, S. 22 – 24.
Schmid, M.: Ausländische Drogenabhängige und Zugänge zum Hilfesystem. In: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (Hg.): Sucht
in unserer multikulturellen Gesellschaft. Freiburg i.Br.,
Lambertus Verlag 1998, S. 77 – 91
128
Rehabilitationskonzept für suchtkranke Aussiedlerinnen und Aussiedler
Gedanken zu Sozialisationsbedingungen, spezifischen Bedingungen und speziellem Behandlungsansatz
Karin Müller
Evangelische Heimstiftung Pfalz, Speyer
Drogenkonsum – und insbesondere seine Manifestierung in einer Abhängigkeitserkrankung – ist ein komplexes Störungsbild. Diese Komplexität ist
bei der Gruppe der drogenabhängigen Migranten um eine vielschichtige
und bedeutende Dimension erweitert.
Prägende Erfahrungen der jungen Deutschen, welche aus den ehemaligen
GUS-Staaten in ihrem neuen Heimatland ankommen, sind häufig, dass sie
weder dort noch hier eine akzeptierte Identität ausfüllen konnten. Das in
der ehemaligen Sowjetunion durch die Eltern oft glorifizierte ferne Deutschland konnte nach der Einreise weder materielle noch emotionale Wünsche
erfüllen und bot vielfach keinen Anschluss an vertraute Erfahrungswelten.
Orientierungslosigkeit, Status- und Identitätsprobleme, das Erleben der
Migration als schmerzlicher Prozess sowie die Verwirrungen der Aufgabe
"alter Wirklichkeiten" ohne die gleichzeitige mögliche Definition tragfähiger "neuer Wirklichkeiten" treten in den Vordergrund.
Es ist davon auszugehen, dass die Findung einer akzeptierten Identität für
viele der jungen Migranten nicht gelungen ist. Die neue Heimat ist auf
Grund von Sprachbarrieren, unterschiedlicher Normorientierung u .v. m.
nicht in der Lage, zuverlässige adäquate Lebensmodelle anzubieten. Die
eingetretene Suchtentwicklung zementiert das "Scheitern"; die psychotropen Substanzen beeinträchtigen Realitätsprüfung, Frustrationstoleranz,
Impulskontrolle, Urteils- und Antizipationsbildung.
129
Kennzeichnend für Aussiedlerkinder/-jugendliche (insbesondere bei
Zuwanderung in der zweiten Hälfte der 90er Jahre ) sind:
-
-
die ersten Sozialisationsjahre - oft auch Schuljahre - wurden in Russland
verbracht,
bei der Entscheidung der Familie zur Auswanderung bestand keine
Wahlmöglichkeit,
die deutsche Sprache wird häufig nicht oder nur rudimentär gesprochen
(und manchmal abgelehnt),
die Sozialisation in die Erwachsenenwelt erfolgt in Deutschland auf
Grund von Isolierung häufig in der ethnisch geschlossenen jugendlichen Subkultur,
prägende Erfahrung ist, dass sie weder in den russischen Republiken
noch in Deutschland eine akzeptierte Identität ausfüllen konnten,
das in Russland oft glorifizierte ferne Deutschland konnte weder materielle noch emotionale Wünsche erfüllen ("Erwartungsenttäuschung"),
Aufgabe "alter Wirklichkeiten" ohne die gleichzeitige mögliche Definition tragfähiger "neuer Wirklichkeiten",
Orientierungslosigkeit,
Status- und Identitätsprobleme.
Junge Drogenabhängige aus den ehemaligen sowjetischen Republiken
zeichnen sich überproportional durch die nachstehenden Besonderheiten auf:
-
-
Riskantes Konsummuster (schneller Einstieg in Opiatgebrauch, schneller Umstieg auf intravenösen Konsum, rasante Dosissteigerung, mangelnde Kenntnisse über Eigenschutzmaßnahmen wie Spritzentausch,
Kondomgebrauch,...).
Bagatellisierung von Alkohol als Suchtmittel.
Bereitschaft zum Einsatz von Gewalt als Mittel zur Konfliktregulierung.
Starke Verwurzelung in der Herkunftsfamilie, welche sowohl Schutzals auch Kontrollinstanz ist und in der Eltern und Großeltern hohes
Ansehen genießen. Innerfamiliäre Konflikte verstärken sich durch die
Erfahrungen der Migration, der Abhängigkeit des Familienmitglieds,
des lebensalterlichen Wunsches nach Autonomie und Abgrenzung und
eine häufig gemischtnationale Familienstruktur.
130
-
-
Abwehr gegenüber der Schilderung persönlicher und lebensgeschichtlicher Erfahrungen, insbesondere gegenüber der Schilderungen von
Gefühlen.
Kollektive (gruppenorientierte) Verhaltensweisen dominieren und
behindern den erforderlichen Aufbau individueller Fähigkeiten wie
Übernahme von Verantwortung für sich, für seine Therapie, für seine
eigene Lebensplanung.
Auch im klinischen Setting sind bei dieser Patientengruppe bestimmte
Verhaltensweisen gehäuft wahrzunehmen:
-
Neigung zur Untergruppenbildung
Neigung zu Abgrenzung mittels der eigenen Sprache
Neigung zu kollektiven Verstößen gegen das Regelwerk (bzw. Verschweigen derselben)
Bagatellisierung von Alkoholkonsum
Hoher Anteil bei disziplinarischen Entlassungen
Unterschätzung der Gefährlichkeit von Suchtmitteln/Suchtpotential
Wenig eigene Gründe für Ausstieg aus dem Konsum
Hoher Ehrenkodex innerhalb der eigenen Kulturgruppe
Sehr hoher Stellenwert der Männerrolle
Bevorzugung klarer und transparenter Regeln
Bevorzugung von Einzelgespräch vor Gruppengespräch
Bevorzugung von handlungsorientierten Mitteln vor sprachlichen Mitteln (Problematik der "Versprachlichung" von Gefühlen).
Gültigkeit hat: jeder drogenabhängige Migrant soll so realitätsnah und
integrativ wie möglich behandelt werden!
Für etliche ist eine Mitbehandlung in den bestehenden Drogeneinrichtung
richtig und sinnvoll. Immer mehr Einrichtungen richten sich auch auf die
Erfordernisse dieser Klientel mehr und mehr ein (z.B. ein muttersprachlicher Mitarbeiter, spezifische Themeninhalte in Guppen...) - und das durchaus erfolgreich. Die Mehrheit der Einrichtungen nimmt jedoch die
genannte Gruppe kontingentiert auf, um - aus den oben beschriebenen
131
Gründen - das eigene Konzept zu schützen und für alle Mitpatienten reguläre Behandlungsbedingungen zu garantieren; manche verbieten die russische Sprache.
Für einen Teil der russischsprachig sozialisierten jungen Drogenabhängigen erscheint die Behandlung in einer speziell auf ihre Erfordernisse eingestellten Einrichtung sinnvoll. In einer solchen Spezialeinrichtung muss
durch geeignete Maßnahmen den Erfordernissen Rechnung getragen werden. Das Personal muss hinsichtlich des kulturellen Hintergrundes der Patienten sensibilisiert und geschult sein, ein Teil des Personals muss die
russische Sprache beherrschen. Empathie und Akzeptanz muss den
Umgang mit den jungen Migranten prägen, gepaart mit klarer Haltung im
täglichen Bemühen um die Aufrechterhaltung der Abstinenz. Den vorherrschenden Rollenbildern der Patienten muss in der Form Rechnung
getragen werden, dass sie in ihren Auswirkungen auf das Leben im neuen
Heimatland reflektiert werden. Die russische Sprache wird akzeptiert, allerdings im Sinne der Leitlinie "so viel russisch wie nötig, so viel deutsch wie
möglich". Die Veränderungsfähigkeiten der jungen Patienten müssen
geweckt und gestärkt werden bei gleichzeitiger Kenntnis um auftretendes
Abwehrverhalten gegenüber Verbalisierung von Gefühlslagen. Insbesondere im gruppentherapeutischen Setting sind angemessene Gesprächsformen angezeigt, die den drohenden Gesichtsverlust aus der Sicht des
Patienten vermeiden.
Bei den russischsprachig sozialisierten jungen Männern ist daneben von
entscheidender Bedeutung, ihre sprachlichen und kulturtechnischen Möglichkeiten zu verbessern und ihre Verhaltensmöglichkeiten so weit zu erweitern, dass ihre Teilhabe am Leben in Deutschland machbar und
erstrebenswert erscheint.
Eine Besonderheit junger Suchtkranker ist zudem, dass ihre Suchterkrankung vor bzw. in der Adoleszenz begann und eine Entwicklungsverzögerung zur Folge hatte. Ich-Funktions- und Reifungsdefizite sind die Folge.
Ziel der Behandlung muss auch sein, die Nachreifung zu fördern und das
Leistungsvermögen zu stärken. Da solche Klienten meist nicht auf ein ”reiferes” Verhaltensrepertoire zurückgreifen können, müssen ihnen neben therapeutischen und medizinischen Angeboten praxisnahe Lernfelder zur
Verfügung gestellt werden, in denen sie - durch kontinuierliche Rückmel132
dung der Mitarbeiter korrigiert - ihren ”Alltag” bewältigen lernen. Zudem
müssen sie angehalten werden, Verantwortungsgefühl, Frustrationstoleranz, Realitätsprüfung und ein angemessenes Durchhaltevermögen zu entwickeln.
Leitend für die Behandlung muss sein, dem einzelnen Patienten durch die
Auseinandersetzung und ggf. "Versöhnung" mit der eigenen Migration das
Finden von Lebenssinn und eine befriedigende Lebensplanung zu ermöglichen.
Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Patienten müssen
im therapeutischen Prozess (neben Abstinenz als Mittel zur Drogenfreiheit) Teilziele in den verschiedenen Behandlungsbereichen verfolgt werden:
-
-
-
Sensibilisierung und Förderung der eigenen Fähigkeiten, insbesondere
der Bereitschaft zur individuellen Verantwortungsübernahme.
Aufarbeitung von migrations- und altersbedingten Verhaltensweisen
und Reifungsdefiziten und Erarbeitung alternativer Verhaltensmöglichkeiten.
Erhöhung der Kompetenzen bezüglich der hiesigen gesellschaftlichen
Realitäten.
Stärkung der deutschsprachigen Kompetenzen im Hinblick auf die notwendige Integration und im Hinblick auf alternative Regelungsmöglichkeiten bei Konflikten.
Verzicht auf Gewalt als Regulativ für Konflikte.
Klärung der familiären Situation.
Erhöhung des Wissensstandes hinsichtlich Suchtmittel,
Hygienefragen...
Darüber hinaus sollte eine solche Spezialeinrichtung folgenden Anforderungen genügen:
Die deutsche und die russische Sprache werden akzeptiert ("so viel deutsch
wie möglich, so viel russisch wie nötig"). Die mitgebrachte Sprache darf
weder verboten noch nur geduldet sein: die in ihr liegenden Chancen zur
Veränderung müssen genutzt werden!
133
Die Ermöglichung von Ressourcenorientierung bezogen auf Fähigkeiten
und Defizite müssen bezogen auf die spezifischen Fähigkeiten des Klientels nutzbar gemacht werden (Beispiele Gruppentherapie und Arbeitstherapie).
Kenntnisse um die Selbsteinschätzungen dieser Gruppe müssen genutzt
werden. Evaluiert in einem EU-Modell zur Prävention bei jungen Aussiedlern nennen junge GUS-Migranten als Stärken Mut, Ausdauer, viel aushalten können, Kraft, Willensstärke, Einfälle haben, Freunde haben, gut
zuhören können. Als Bedürfnisse werden benannt: Beschäftigung, eine
Aufgabe haben, Sicherheit, Ansehen und Respekt bekommen, Unterstützung, Geborgenheit, einen festen Platz haben.
Bearbeitung von Themen muss stattfinden, die als trennend hinsichtlich
einer gelungenen Integration in das neue Heimatland erlebt werden, z.B.
-
Männlichkeit (Übersetzung in hier akzeptiertes männliches Verhalten),
Rolle von Religion mit entsprechenden Sitten und Gebräuchen,
Bedeutung von Alkohol im Kontext Suchtmittelabhängigkeit,
Gewaltbereitschaft als Konfliktregulator (alternative Konfliktlösungsstrategien),
Bedeutung von Normorientierung und ihre Umsetzung in straffreies
Leben.
Spezifische sprachliche, schulische und berufliche Förderung in Zusammenarbeit mit Lehrkräften und Arbeitsverwaltungen muss angeboten werden.
Regelungsabsprachen hinsichtlich der Anerkennung schulischer und beruflicher Abschlüsse mit Behörden müssen gesucht werden.
Einleitung von Schuldenregulierung, Sammlung persönlicher Papiere für
Bewerbungsordner etc.
Etablierung eines klaren Regelwerkes und seine Durchsetzung muss sichtbar sein. Die Regelprüfungs- und Durchsetzungsregularien müssen das
ambivalent besetzte Image von Hierarchiespitzen (das sind oft auch The134
rapeuten, Klinikleitung...) und den Ehrenkodex "kein Verrat" berücksichtigen.
Die Schlüsselthemen Gewalt und Rückfall bedürfen der Eindeutigkeit.
Mehr als 10 % der Bevölkerung Deutschland sind nicht hier geboren oder
leben in Migrantenfamilien, davon sind mehr als 2,5 Millionen Aussiedler. Die Pävalenz von Drogenkonsumenten bei Aussiedlern lässt sich nur
schätzen; wahrscheinlich sind 20.000 bis 40.000 Konsumenten von Heroin und Kokain (Zahlen nach Czycholl). Für die Suchtmittelabhängigen dieser Gruppe bedarf es vielfältiger präventiver, ambulanter und stationärer
Behandlungsansätze - bisher scheitern Zugänge zu dieser Abhängigengruppe auf Grund von deren Besonderheiten und sprachlichen Einschränkungen noch viel zu oft im Vorfeld!
135
Soziokultureller Hintergrund und Vernetzung der Hilfeangebote für
suchtkranke Migrantinnen und Migranten
Siegfried Weber
Jugend- und Drogenberatungsstelle Help-Center, Idar-Oberstein
Wer sich als Suchtberater ernsthaft darum bemüht, für suchtkranke Menschen da zu sein, der kommt nicht umhin, sich mit den spezifischen Eigenarten und mit der Situation von Migrantinnen und Migranten auseinander
zu setzen.
Für uns Mitarbeiter der Suchtberatung stellt die Integration der Migrant/innen, die zumeist aus anderen und uns "fremd" erscheinenden Kulturen
stammen, eine Herausforderung dar, sich zunehmend konzeptionell und
planerisch mit diesen Erfordernissen auseinander zu setzen.
Dies ist keine leichte Aufgabe, denn soziokulturelle Unterschiede führen
vor allem zu neuen Kommunikationsproblemen:
-
Die Anliegen, Umgangs- und Ausdrucksformen von Klient/-innen
aus anderen Kulturen können vielfach nicht adäquat eingeschätzt
werden, das Erleben und Verhalten ist anders als gewohnt und die
Erwartungen an Hilfe und Unterstützung können erheblich differieren.
Die Effektivität beraterischer Leistung für den Personenkreis der Aussiedler/-innen hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, Verständigung herzustellen.
Zu den Themen, die Konflikte in psychosozialen Einrichtungen fördern,
zählen:
-
unterschiedliche Vorstellungen und Bewältigungsstrategien von Krankheit,
familiäre und soziale Probleme oder Krisen,
migrationsbedingte Faktoren oder diesbezügliche Biografien,
136
-
der Grad der Akzeptanz von Migrant/-innen durch die Mehrheitsbevölkerung sowie
unterschiedliche Sichtweisen über Sinn und Zweck z. B. einer Suchtberatungsstelle und die Aufgaben und Rollen der darin Tätigen.
Die Suchtmittelgefährdung unter Spätaussiedler/-innen ist zwar ein seit
längerem bekanntes Phänomen, in letzter Zeit wird jedoch aus dem Arbeitsbereich vermehrt gemeldet, dass die quantitative Zahl der Gefährdeten
ansteige, die Schwierigkeiten mit der Integration angesichts derzeitiger
gesellschaftlicher Krisen größer werde und das Hilfesystem in diesem Falle
nicht die adäquaten Möglichkeiten bereithalten könne.
Nach Deutschland sind in den letzten 12 Jahren etwa 2,8 Millionen Aussiedler/-innen aus den Ländern der GUS eingewandert. Überträgt man
die Zahlen für behandlungsbedürftig Abhängigkeitskranke in der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung – etwa 3 bis 5 % – auf diese Bevölkerungsgruppe, so ergibt sich eine Zahl zwischen 84.000 bis 140.000 für
behandlungsbedürftig suchtkranke Aussiedler/-innen.
In der letzten Zeit richtet sich das öffentliche Interesse zunehmend auf die
Problematik junger drogenkonsumierender Aussiedler.
Es gibt noch keine Forschungsergebnisse, die einen direkten Zusammenhang zwischen Umsiedlung und Suchtgefährdung nachweisen. Eines allerdings lässt sich dazu sagen: Während bei Erwachsenen eine Auffälligkeit
in Bezug auf Alkoholismus festzustellen ist, sind Kinder und Jugendliche durch Drogen, Spielsucht und auch Alkohol gefährdet. Vielleicht
deswegen wurde bisher den migrationsspezifischen Faktoren in ambulanten und stationären Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe eine sehr geringe Beachtung geschenkt. Es gibt nur ganz wenige Einrichtungen, die sich
mit Aus- und Übersiedler/-innen beschäftigen.
Viele junge Aussiedler/innen sind oft gegen ihren Willen mit ihren
Eltern von Russland nach Deutschland gekommen und grenzen sich
hier bewusst als "Russen/Russinnen" ab, da sie in Deutschland wenig
Akzeptanz erfahren.
137
In den letzten zwei Jahren nahmen verstärkt jugendliche Aussiedler/innen
Kontakt zu unserer Beratungsstelle auf. Jugendliche Aussiedler/-innen sind
eine Zuwanderungsgruppe, der es in den letzten Jahren schwer fällt, sich in
der Bundesrepublik zu integrieren. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen,
welche ich thesenartig darstellen möchte:
-
Die jugendlichen Aussiedler/-innen kommen über 90 % aus den von
schweren wirtschaftlichen und sozialen Krisen betroffenen Nachfolgestaaten der UdSSR; ihre deutschen Sprachkenntnisse sind gering; die
Eingliederungshilfen in der Bundesrepublik wurden während der letzten Jahre stark gekürzt; die Ausbildungs- und Arbeitsplatzsituation
erschwerte sich generell in Deutschland, und die Akzeptanz der Zuwanderer durch die einheimische Bevölkerung nahm ab.
-
Die Aussiedler/-innen haben mit der Ausreise die Hoffnung verbunden, ihren Minderheitsstatus abzulegen, in Freiheit als Deutsche unter
Deutschen zu leben und die Annehmlichkeiten einer Konsumgesellschaft in Anspruch nehmen zu können. Die Begegnung und Kommunikation zwischen Einheimischen und Aussiedler/innen generell ist
zunehmend geprägt von Missverständnissen, die zu Unverständnis,
Ignoranz und Ablehnung führen können.
-
Dies trifft auch die Jugendlichen, die es meistens von sich aus nicht schaffen, zu den einheimischen Jugendlichen Kontakt aufzunehmen, obwohl
sie gerade dies wünschen. Die fehlenden Kontakte werden mit der eigenen Gruppe kompensiert, die Zusammenhalt und Orientierung geben
soll.
-
Die Einreise in die Bundesrepublik bedeutet für jugendliche Aussiedler/-innen einen gravierenden Sozialisationsbruch, d. h. sie müssen sich
neu orientieren und in einer fremden Umgebung lernen, wieder zurecht
zu kommen, und zwar ohne Rückgriff auf vertraute soziale Handlungsmuster bzw. –fähigkeiten. Die Unterschiede zwischen Herkunftsund Aufnahmeland bergen Konflikte in sich, vor allem in der Hinsicht,
dass die Aussiedler von den Einheimischen in eine Minderheitenposition gedrängt werden und ihr kulturelles Selbstbild nicht anerkannt
wird.
138
-
Besonders schmerzhaft wird von den Kindern und Jugendlichen der
Verlust vertrauter Bezugspersonen empfunden, vor allem wenn der
Familienverband seine orientierende Unterstützung verliert und nicht
durch andere soziale Kontakte bzw. Freundschaften mit Gleichaltrigen
ausgeglichen werden kann.
-
Die Einreise in eine andere Gesellschaft bringt auch Sprach- und
Kulturwechsel mit sich. Die fehlenden Deutschsprachkenntnisse
erschweren nicht nur den Integrationsprozess, sondern tragen auch
einen Identitätsverlust in sich. Dies bedeutet, dass in der Phase der
Adoleszenz und Pubertät zusätzliche Belastungen hinzukommen.
Unvorbereitet auf Werte und Normen in der Gesellschaft hier
und durch den Verlust bisheriger Erfahrungsräume entstehen
erhebliche Orientierungs- und Verhaltensunsicherheiten, die die langsame Ablösung von der Kernfamilie, die Suche nach Orientierung und
stabilen eigenen Gruppenbeziehungen und Suche bzw. das Experimentieren nach/mit dem eigenen Platz in der Gesellschaft erschweren.
-
Die Familie kann den schützenden Raum oft nicht mehr bieten, da sie
sich selber mit den veränderten Lebensverhältnissen und ihren eigenen
Brüchen auseinander setzen muss. Die bisher patriarchalisch autoritäre Struktur löst sich auf, das Vertrauen in die Eltern verringert sich. Die
Jugendlichen sitzen "zwischen allen Stühlen".
-
Diese Entwicklung führt insbesondere bei den nicht mehr Schulpflichtigen dazu, dass sie sich in Cliquen zurückziehen, lieber unter sich bleiben und die deutsche Sprache vernachlässigen. So entwickelt sich auch
eine spezifische Freizeit-Infrastruktur mit Treffpunkten, die ausschließlich von jugendlichen Aussiedler/-innen genutzt wird.
-
Viele Jugendliche versuchen Versagensängste und Ausgrenzungserfahrungen mit Aggression und Verweigerung zu kompensieren. Neben
dem Gefühl der Isolation und Ausgrenzung nehmen auch gesundheitliche Einschränkungen wie psychosomatische Beschwerden zu,
wobei sich hier deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen.
Während Mädchen und junge Frauen eher mit körperlichen
Beschwerden reagieren, steigt bei den (jungen) Männern der Missbrauch
139
-
von Alkohol und Drogen in Verbindung mit Kriminalität und Gewalt
an.
Hier wird deutlich, dass mehr denn je jugendliche Aussiedler/-innen
rechtzeitige und bedarfsgerechte Förderangebote brauchen.
Aussiedler/-innen, die in den vergangenen zwei bis drei Jahren nach
Deutschland gekommen sind, verfügen über sehr geringe deutsche Sprachkenntnisse. Sprachlosigkeit ist nicht selten eine Begleiterscheinung der Aussiedlung. Wegen fehlender oder unzureichender Deutschkenntnisse werden
Aussiedler/-innen in Deutschland als Fremde wahrgenommen.
Diese Punkte führen zu einem Verlust der psychischen Ganzheit. Die
Betroffenen stehen der Anforderung gegenüber, diese Ganzheit in
einem neuen Sozialisations- und Integrationsprozess wieder herzustellen. Trennungsschmerz, Verständigungsschwierigkeiten, Enttäuschung und Erwartungen, Ablehnung durch die neue Umgebung,
Beziehungskrisen in den eigenen Familien, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit – alle denkbaren Integrationsprobleme stellen Belastungen dar,
die sich in verschiedenen Erkrankungen ausdrücken können.
Alkoholabhängigkeit oder Abhängigkeit von anderen Drogen ist in diesem
Zusammenhang eine besonders nahe liegende Symptombildung, weil die
Wirkung der Rauschmittel Scheinlösungen für solche Probleme bietet
(Scheinbeziehung, Scheinsicherheit, Scheingeborgenheit usw.) – allerdings
eben Scheinlösungen mit dem Effekt, die Probleme nur noch drastisch zu
verstärken.
Zusammenfassend zu diesem Abschnitt möchte ich folgende Folie darstellen:
Begriff Spätaussiedler/-innen:
Aussiedler/-innen, die ab den 70er Jahren, bedingt durch die Ostverträge,
in die BRD umgesiedelt sind.
Sie leben nicht nur zwischen zwei, sondern oft zwischen drei Kulturen:
der sozialistischen-osteuropäischen, der jeweils spezifischen deutlichen
Enklave-Kultur (z. B. sowjetisches Mittelasien) und der westeuropäischen
bundesrepublikanischen Kultur.
140
➞ Daraus ergibt sich ein zentraler Problempool:
ihre fehlende Erfahrung in einem demokratischen Staat,
ihre eigenen Vorurteile,
ihre eigenen Einstellungen
auf der anderen Seite:
Vorurteile der Bevölkerung über Aussiedler/-innen.
Dieser Problempool wirkt sich ebenfalls auf die Therapie von Aussiedler/innen aus.
Unsere Suchtberatungsstelle hat, wie schon erwähnt, in den letzten Jahren
in steigendem Maße mit jungen Aussiedler/-innen zu tun, welche ein riskantes Konsumverhalten praktizieren.
Hierbei handelt es sich um einen schnellen Einstieg in den Heroingebrauch
und einen rasanten Umstieg (nach ca. 1/2 Jahr) auf intravenösen Konsum.
Ein großer Teil dieser Jugendlichen befindet sich zurzeit im Polamidonprogramm und wird von der Beratungsstelle psychosozial betreut.
Da die Kassenärztliche Vereinigung Koblenz die Substitution nur im
Zusammenhang mit einer Therapievermittlung genehmigt, befinden sich
demzufolge die meisten dieser Jugendlichen gleichzeitig im Prozess der Vorbereitung einer stationären Therapie.
Neben regelmäßigen Einzelgesprächen wird von unserer Beratungsstelle
einmal im Monat eine Polamidongruppe angeboten. In der Polamidongruppe werden z. B. folgende Probleme thematisiert:
- Sinn und Zweck einer Substitutionsbehandlung,
- Risiken des Beigebrauchs anderer Drogen,
- Motivation auf eine Langzeittherapie und
- Informationen über die Krankheit Sucht.
Die jugendlichen Aussiedler/-innen können in dieser Gruppe auch in der
russischen Sprache kommunizieren, was sich als sehr vorteilhaft erwiesen
141
hat. Häufig haben die Jugendlichen Sprachprobleme und bringen aus den
Herkunftsländern ein anderes Bild der Suchtkrankheit mit.
Zwischen der Beratungsstelle und den substituierenden Ärzten in IdarOberstein besteht ein reger Informationsaustausch. Jede/-r Klient/-in verfügt über ein Substitutionsheft, in dem die Beratungsstelle die
Beratungstermine und der Arzt die Polamidonmenge einträgt. Bei Beigebrauch wird die Beratungsstelle automatisch von den Ärzten informiert.
Vor der stationären Therapie werden die Klienten in der Psychiatrie des Klinikums Idar-Oberstein entgiftet. Auch hier besteht ein enger Informationsaustausch zwischen dem Klinikum und der Beratungsstelle. Diese
Zusammenarbeit äußert sich z. B. durch:
-
langfristiges Abdosieren des Polamidons bis zum Entgiftungstermin,
langfristige Planung der Entgiftung und
gemeinsame Betreuung der Klienten während der Entgiftung.
Bisherige Erfahrungen zeigen, dass eine gute und enge Zusammenarbeit
zwischen der Beratungsstelle und stationären Therapieeinrichtungen gerade bei Aussiedler/-innen sehr wichtig ist (Übergabe, Nachsorge, persönliche Aussprache und Vertrauensverhältnis).
In unserer Beratungsstelle wird weiterhin einmal im Monat eine spezielle
Gruppe für alkohol- und drogenauffällige Kraftfahrer/-innen aus der ehemaligen Sowjetunion angeboten. Die Teilnehmer/-innen der Gruppe setzen sich aus Klient/-innen aus Russland, Kasachstan, Kirgisien und anderen
Ländern der ehemaligen Sowjetunion zusammen. Diese spezielle Gruppe
wurde von uns organisiert, da bei diesen Klient/-innen ein anderer soziokultureller Hintergrund vorhanden ist und es eine andere Trinkkultur und
andere Trinkmotive gibt.
Ziel dieser Gruppe ist, die Klient/-innen dort abzuholen, wo sie zurzeit stehen. Da ein Teil der Klient/-innen schlecht oder gar nicht Deutsch spricht,
wird die Gruppenarbeit zum Teil in russischer Sprache durchgeführt, um
den Klient/-innen die Gelegenheit zu geben, ihre Probleme in der Muttersprache auszudrücken. Ein Teil der Klient/-innen dieser Gruppe konsumiert
sowohl Alkohol als auch Heroin. Im Verlaufe der Arbeit in der Gruppe
142
erkannten einige Klient/-innen ihre schwer wiegenden Suchtprobleme und
entschlossen sich daraufhin, eine Langzeitentwöhnungsbehandlung anzutreten. Mittels dieser Gruppe gelang es uns, Zugangsbarrieren zur Suchtberatungsstelle niedrig zu halten.
Im Jahr 1995 wurde im Kreis Birkenfeld ein Arbeitskreis "Soziale Integration der Aussiedler" gegründet, in dem verschiedene Institutionen wie:
-
Kreisverwaltung
Rotes Kreuz
Suchtberatungsstellen
Aussiedlerheime
Bildungsträger und
die Aussiedlerberatungsstelle
zusammenarbeiten und verschiedene Projekte zur Verbesserung der Integration planten und realisierten.
Der Arbeitskreis entwickelte z. B. einen Beratungsstellenführer für Aussiedler/-innen, Informationsmaterialien in russischer Sprache über die
Suchtkrankheit und organisierte mehrere Präventionsprojekte für jugendliche Aussiedler/-innen.
Die bisherigen Erfahrungen des Arbeitskreises zeigen, dass bei der Integration der Aussiedler/-innen in die deutsche Gesellschaft sich Hilfe nicht
vordergründig auf die Leistung materieller Unterstützung beschränken sollte. Hilfe bedeutet vielmehr, sich den schwierigen Eingliederungsproblemen
sozialer und psychischer Art dieser Menschen anzunehmen.
143
IV Anhang
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Bach, Dr. Uwe, CJD Jugenddorf Wolfstein, Außenstelle Niedermühle Therapeutische Einrichtung für suchtgefährdete Jugendliche,
Am Disibodenberg, 55571 Odernheim, Email: [email protected]
Bätz, Bernhard, Westfälische Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
Franz-Hegemann-Straße 23, 59581 Warstein,
Email: [email protected]
Bringewat, Prof. Dr. Peter, Fachhochschule Nordostniedersachsen,
Rotenbleicher Weg 67, 21335 Lüneburg, Email: [email protected]
Kirsch, Dr. med. Ursula, Rheinische Kliniken Viersen,
Fachbereich Psychiatrie und Psychotherapie
des Kindes- und Jugendalters,
Horionstraße 14, 41749 Viersen,
Email: [email protected]
Klein, Prof. Dr. Michael,
Katholische Fachhochschule Nordrhein-Westfalen,
Forschungsschwerpunkt Sucht, Wörthstraße 10, 50668 Köln,
Email: [email protected]
Müller, Karin, Fachklinik Pfälzerwald,
Ortsstraße 4, 76848 Wilgartswiesen, Email: [email protected]
Schlieckau, Traudel, Landesstelle Jugendschutz Niedersachsen,
Leisewitzstraße 26, 30175 Hannover
Schnöd, Robert, Therapeutische Einrichtung für junge Abhängige
‚Eppenhain‘,
Schlossborner Straße 27 – 31, 65779 Kelkheim,
Email: [email protected]
144
Schwehm, Helmut, Therapiezentrum Ludwigsmühle Fachklinik Villa Maria, Vogesenstraße 18, 76831 Billigheim-Ingenheim,
Email: [email protected]
Weber, Siegfried, Evangelische Beratungsstelle, Help Center,
Tiefensteiner Str. 27, 55743 Idar-Oberstein
Zobel, Dr. Martin, Rheinisches Institut für angewandte Suchtforschung,
Bienengarten 22, 56072 Koblenz, Email: [email protected]
145
Tagungsprogramm Drogenkonferenz 2002
9.30 Uhr
Eintreffen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
10.00 Uhr
Eröffnung
Malu Dreyer
Ministerin für Arbeit, Soziales,
Familie und Gesundheit
10.15 Uhr
Kinder Suchtkranker – suchtkranke Kinder
Prof. Dr. Michael Klein
Katholische Fachhochschule
Nordrhein-Westfalen, Köln
11.00 Uhr
Pause
11.15 Uhr
Strafrechtliche Risiken im Umgang mit Kindern
suchtkranker Familien
Prof. Dr. Peter Bringewat
Fachhochschule
Nordostniedersachsen, Lüneburg
12.15 Uhr
Mittagspause
14.00 Uhr
Foren I bis III
Forum I
Kinder in suchtkranken Familien
Moderation: Dr. Martin Zobel
Die Notwendigkeit differenzierter Handlungsstrategien
Dr. Martin Zobel
Rheinisches Institut
für angewandte
Suchtforschung, Mayen
Präventive Arbeit mit Kindern suchtkranker Eltern
Traudel Schlieckau
Landesstelle Jugendschutz
Niedersachsen,
Fachreferat der
Landesarbeitsgemeinschaft
der Freien Wohlfahrtpflege
in Niedersachsen,
Hannover
Kinder Suchtkranker in therapeutischen Einrichtungen
Helmut Schwehm
Therapiezentrum Villa Maria,
Ingenheim
146
Forum II
Beratungs- und Behandlungskonzepte
für Jugendliche mit einer Suchtproblematik
Moderation: Sabine Collet
Soziale und berufliche Eingliederung
junger Menschen mit Suchtproblemen
im Rahmen der Jugendhilfe
Dr. Uwe Bach
CJD Jugenddorf Wolfstein
Niedermühle, Odernheim
Szenewechsel – ein Behandlungsangebot
für junge Suchtkranke bis 18 Jahre
Dr. Ursula Kirsch
Rheinische Kliniken, Viersen
Behandlungskonzept für jugendliche Drogenabhängige
Robert Schnöd
Therapeutische Einrichtung
Eppenhain, Kelkheim
Forum III
Offene Grenzen –
gemeinsame Probleme / junge suchtkranke Migrantinnen
und Migranten
Moderation: Karin Müller
Sucht und Migration
Bernhard Bätz
Westf. Klinik für Psychiatrie und
Psychotherapie, Warstein
Rehabilitationskonzept für suchtkranke
Aussiedlerinnen und Aussiedler
Karin Müller
Evangelische Heimstiftung Pfalz,
Speyer
Soziokultureller Hintergrund und Vernetzung der Hilfeangebote
für suchtkranke Migrantinnen und Migranten
Siegfried Weber
Jugend- und Drogenberatungsstelle
Help-Center, Idar-Oberstein
16.00 Uhr
Kurzberichte aus den Foren
16.20 Uhr
Schlusswort
Tagungsort
Sparkassenakademie Schloss Waldthausen,
Im Wald 1, 55257 Budenheim
147
Notizen
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