Konzept zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen (geistige Behinderung und psychische Erkrankung) in der Steiermark Graz, im August 2004 Inhaltsverzeichnis 1 2 3 Vorwort ................................................................................................................. 4 Einführung............................................................................................................. 4 Pilotprojekt zum Aufbau einer außerstationären Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen............................................................................................... 7 3.1 Erste Schritte ................................................................................................ 7 3.2 Zielgruppe .................................................................................................... 8 3.3 Verbundkonzept ........................................................................................... 8 3.4 Bausteine des Verbundkonzeptes ................................................................. 9 3.5 Aufgaben der Koordinierungsstelle ........................................................... 10 3.5.1 Care Management............................................................................... 12 3.5.2 Case Management .............................................................................. 12 3.5.3 Fort- und Weiterbildungsangebote ..................................................... 13 3.5.4 Diagnostik – Bewertungskommission – IHB..................................... 15 3.5.5 Beratung ............................................................................................. 17 3.5.6 Öffentlichkeitsarbeit ........................................................................... 17 3.5.7 Transitional Services (Enthospitalisierung) ....................................... 17 3.5.8 Präventive Dienste .............................................................................. 18 3.6 Vollzeitbetreutes Wohnen und Beschäftigung in einer Tageseinrichtung für Menschen mit Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltensund Entwicklungsstörungen....................................................................... 18 3.7 Mobile Krisenintervention ......................................................................... 19 3.7.1 Ambulante Krisenintervention ........................................................... 20 3.7.1.1 Aufgaben der Krisenintervention....................................................... 21 3.7.1.2 Methoden............................................................................................ 21 3.8 Projektplanung ........................................................................................... 22 4 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen nach LEVO ...................................... 23 4.1 Vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen. ................................................................................................................... 23 4.2 Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltensund Entwicklungsstörungen....................................................................... 29 5 Anhang ................................................................................................................ 38 5.1 Begriffe/Definitionen................................................................................. 38 5.1.1 Geistige Gesundheit............................................................................ 39 5.1.2 Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Krisen.................... 40 5.1.3 Mehrfachdiagnosen bei Menschen mit geistiger Behinderung .......... 41 5.2 Theoretische Grundlagen ........................................................................... 44 5.2.1 Epidemiologie ..................................................................................... 45 5.2.2 Ätiologie ............................................................................................. 47 5.2.2.1 Ursachen und Modelle von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung . 47 5.2.2.2 Das Vulnerabilitäts-Streßmodell von Roder et al............................... 50 5.2.2.3 Das 4 - Variantenmodell von Schmidt ............................................... 51 5.2.2.4 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit von Seligman........................ 52 5.2.2.5 Das Morbiditätsmodell von Baumeister ............................................. 52 5.2.2.6 Das Modell von Murrell & Norris ...................................................... 53 5.2.2.7 Verhaltensphänotypen bei bestimmten Formen geistiger Behinderung ................................................................................... 53 2 5.2.2.7.1 Pränatal bedingte Formen......................................................... 54 5.2.2.7.2 3.7.2 Perinatal bedingte Formen .............................................. 55 5.2.2.7.3 Postnatal bedingte Formen....................................................... 56 5.2.2.8 Verhaltensstörungen und psychische Störungen im Alter und ihre Einwirkungen auf die soziale Integration........................................... 57 5.2.3 Pädagogische, therapeutische und diagnostische Konzepte ............... 59 5.2.3.1 Pädagogische Konzepte ...................................................................... 59 5.2.3.2 Biopsychosozialer Ansatz – Biopsychologisches Assessment ........... 60 5.2.3.3 Klassifizierung von geistiger Behinderung nach ICD-10 und DSM-IV.......................................................................................... 62 5.2.3.4 Das Klassifikationssystem der WHO für Funktionalität, Behinderung und Gesundheit (ICF) ......................................................................... 68 5.2.3.5 Klinisches Assessment ....................................................................... 72 5.2.3.6 Therapeutische Ansätze ...................................................................... 72 5.3 Literatur ...................................................................................................... 74 3 1 Vorwort In mehreren Arbeitsreffen von Vertretern der Landesregierung, Sachwalterschaft, psychiatrischen Landesklinik, und Anbietern der Behindertenhilfe zum Thema Menschen mit Mehrfachdiagnosen wird seit 1999 bemängelt, dass es kein Konzept zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen, keine Unterstützung bei Krisensituationen und keinen Ressourcenpool bzw. ein Kompetenznetzwerk gibt, dass eine Abschiebung und Fehlunterbringung von Menschen mit Mehrfachd iagnosen in psychiatrische und Pflegeanstalten verhindert. Dies führt 2003 zur Bildung einer Expertenrunde in der Fachabteilung 11B des Sozialressort der Landesregierung Steiermark Paralell dazu initiiert alpha nova ein Arbeits- und Informationstreffen, da die Bela nge und Vorschläge der Behindertenhilfe in der Expertenrunde der Landesregierung keine Beachtung finden. Dort wird der Versuch unternommen, ein Wohnhauskonzeptes für Menschen mit Mehrfachdiagnosen zu entwickeln. Gleichzeitig erstellt alpha nova ein Verbundkonzept zur sozialpsychiatrischen Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen. Im Februar 2004 beauftragt die Fachabteilung 8B (Gesundheitsressort) alpha nova mit der Erstellung eines Umsetzungskonzeptes für ein Pilotprojekt auf Grundlage des Verbundkonzeptes, angepasst an die neuen Regelungen des seit Juli 2004 in Kraft getretenen neuen Behindertengesetz und der dazugehörigen Leistungsverordnung, das im folgenden beschrieben werden soll. 2 Einführung Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder psychische Erkrankung durchleben, haben in der Steiermark keinen adäquaten Zugang zu ambulanter, extramuraler psychiatrischer Versorgung. Psychische Störungen äußern sic h bei Menschen mit geistiger Behinderung oft in extremen Verhaltensauffälligkeiten, wodurch ihre Bezugspersonen und ihr Betreuungsumfeld meist überfo rdert werden. Noch immer wird oft fälschlicherweise ein herausforderndes Verhalten (challenging behavior) der bestehenden geistigen Behinderung zugeschrieben, und nicht erkannt, dass ursächlich eine psychische Störung vorliegt, die behandlungsbedütftig ist. Nicht selten werden diese Personen mit einer sogenannten Mehrfachdiagnose von Einrichtung zu Einrichtung gereicht und verlieren dabei ihre sozialen Stützungssysteme, was die Problematik verschlimmert. Als letzter Ausweg bleibt oft nur 4 noch die Einweisung in die psychiatrische Landesklinik, die für Menschen mit Mehrfachdiagnosen derzeit ebensowenig eine Station mit entsprechendem Konzept vo rweisen kann. Manche leiden aufgrund lang andauernder Fehlunterbringung in Heimen bzw. psychiatrischen Anstalten an schweren Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen bzw. Hospitalisierungssymptomen. Nach Wiederherstellung einer adäquaten Lebensumwelt, Aktivierung von Ressourcen und Aufbau sozialer Kompetenzen wird häufig eine Reduzierung der Verhaltensauffälligkeiten erzielt. Dem hat eine entsprechend der untypischen Störungsbilder bei Menschen mit geistiger Behinderung (diagnostic overshadowing) aufwändige Diagnostik in Form eines bio-psycho-sozialen Assessments voranzugehen, um Veränderungen in der Lebenswelt zur Unterstützung vorzunehmen und spezielle Hilfsangebote wahrzunehmen. Dies ist jedoch nur möglich, wenn auf therapeutischer, psychiatrischer und pädagogischer Seite ein entsprechendes Angebot mit zugehöriger Infrastruktur vorhanden ist bzw. aufgebaut wurde. Das hier vorgestellte Konzept soll einen Beitrag dazu leisten, diesem Personenkreis die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglichen und stationäre Unterbringung zu vermeiden oder zeitlich zu begrenzen. Kurzfristig soll eine derzeit fehluntergebrachte Gruppe von ca. 40 Menschen enthospitalisiert werden, um sie rechtmäßig Unterzubringen und angemessen zu betreuen. Mittelfristig soll durch die Einrichtung einer neuen Dienstleistung, die u.a. den Aufbau eines Einrichtungsverbundes vorantreibt, um die entsprechenden Leistungen und Angebote verfügbar zu machen, eine derartige Fehlunterbringung zukünftig vermieden werden. Nach Angaben in der ICD-10 der WHO (vgl. Dilling, Mombour & Schmidt, 1993) liegt die Prävalenzrate für psychiatrische Störungen bei geistig Behinderten mindestens drei- bis viermal so hoch wie bei der Normalbevölkerung. Dies bezieht sich auch auf Verhaltensstörungen und emotionale Störungen. Hennike (2002) weist darauf hin, dass aggressives und impulsives Verhalten bei Menschen mit geistiger Behinderung Ausdruck einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Anpassungsstörung aufgrund erlebter Gewalt oder sexuellen Übergriffen sein können, jedoch nicht als solche erkannt werden. In einer deutschen Studie (Zemp, 2002) gaben nahezu alle befragten in Wohnhäusern lebende Frauen und Männer mit geistiger Behinderung an, sexuelle Belästigung erfahren zu haben, sexu5 elle Ausbeutung fand bei einem Drittel der Frauen und der Hälfte der Männer statt, etwa ein Viertel der Frauen wurde einmal oder mehrmals vergewaltigt, bei den Männern 7%. Die Häufigkeit von Gewalttätigkeiten ohne sexuellen Hintergrund wird ebenso hoch eingeschätzt (s. Kapitel 5 im Anhang). Gewalttätige Übergriffe auf das Betreuungspersonal sind ebenfalls keine Seltenheit, wie eine kürzlich in den Einrichtugnen von alpha nova durchgeführte Befragung ergab. Diese emotional belastend en Erfahrungen aufgrund der oft schwer verstehbaren Handlungsweisen überfordern oft Betreuungspersonal aber auch Angehörige. Burnout-Syndrom und hohe Fluktuation in dern Einrichtungen sind die Folge. Angehörigenschulung, Beratung, Fortbildungen und Fallsupervision für das Betreuungspersonal sind notwendig. Je nach Untersuchung ergibt sich eine Prävalenzrate für eine geistige Behinderung von 0,5% bis 1%. Im Psychiatriebericht 2002 wird davon ausgegangen, dass 260.000 StererInnen an einer psychischen Beeinträchtigung leiden. Insgesamt wurden an allen derzeitigen psychosozialen Einrichtungen 11.877 Klienten extramural versorgt. In stationären Einrichtungen wurden 2001 in der Steiermark 12838 Patienten gezählt. Eine flächendeckende sozialpsychiatrische Versorgung, wie sie vom Bundesministerium vorgegeben wurde, ist damit aber noch nicht lange nicht erreicht, der Bedarf entsprechend höher. Aus den Zahlen lässt sich errechen, dass es in der Steiermark noch deutlich mehr Menschen mit geistiger Behinderung als die derzeit fehluntergebrachten ca. 40 Personen gibt, die trotz zusätzlicher psychische Beeinträchtigung keine angeme ssene sozialpsychiatrische Betreuung erfahren. Die lebensweltnahe Betreuung und Hilfestellung bedeutet langfristig eine finanzielle Entlastung für den Sozialleistungsträger. Ein zur Realisierung kommendes Projekt muss folgende Mindeststandards einhalten: • Keine Ghettoisierung/Abschiebung • Fehlunterbringung müssen auch zukünftig vermieden werden • Mittelfristiger Aufbau einer Koordinierungsstelle/Ressourcenmanagement für Menschen mit Mehrfachdiagnosen 6 • Kurzfristig Enthospitalisierung in einem Wohnheim, welches auch Kurzzeitunterbringung und Notunterbringung anbietet und als Ausgangspunkt für die Koordinierungsstelle und den Krisendienst dient • 3 3.1 Entwicklung standardisierter Diagnostik bzw. Assesmentinstrumente Pilotprojekt zum Aufbau einer außerstationären Versorgung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen Erste Schritte Zunächst soll in einem Pilotprojekt eine ganztägige Wohnbtreuung für diesen Personenkreis aufgebaut werden, in dem fehluntergebrachte Menschen mit Mehrfachdia gnosen nach besonderen Betreuungskonzepten betreut werden sollen. Dafür notwendige spezifische Dienstleistungen sollen auch für Menschen mit Mehrfachdiagnosen in anderen Einrichtung angeboten werden. Die Aufgaben der Koordinierungsstelle werden zunächst von der Wohneinrichtung mit übernommen. Dabei wird auch ve rmieden, dass derzeit fehluntergebrachte Menschen mit Mehrfachdiagnosen im LSF lediglich in eine neue stationäre Versorgung umhospitalisiert werden. Vielmehr soll eine Verteilung auf mehrere Träger und Wohnhäuser angestrebt werden. Für Menschen mit Mehrfachdiagnosen außerhalb der Psychiatrie und Pflegeanstalten soll ein Verbleib in ihrer derzeitigen Umgebung möglich gemacht werden. Durch Phasenweise Aufnahme von Menschen mit Mehrfachdiagnosen soll die Belastung (Ghettoisierung) für Klienten und Personal niedrig gehalten werden. Eine Finanzierung des Dienstes ist durch folgende Quellen möglich: Tagsatz mit höchster Beeinträchtigung, 50% Dienstposten-Regelung nach der Leistungsverordnung (LEVO), Stundensatz, Startfinanzierung SKAFF, weitere Finanzierung. Außerhalb des Steiermärkischen Behindertengesetzes (BehG). Ausgehend von diesen Erfahrungen soll ein Verbundkonzept für Menschen mit Mehrfachdiagnosen aufgebaut werden, um zukünftige Hospitalisierung und Psychiatrieaufenthalte zu vermeiden, und eine ambulante sozialpsychiatrische Betreuung für Menschen mit geistiger Behinderungin der Steiermark zu ermöglichen. Dazu gehört auch die Einrichtung eines mobilen Krisendienstes, der sowohl für Menschen mit Mehrfachdiagnosen, als auch für Einrichtungen zur Verfügung steht. 7 Nach ungefähr drei Jahren stellen die Einrichtungen ein „normales“ Wohnhaus und Tagesstruktur mit teilweiser spezieller Ausrichtung auf Mehrfachbeeinträchtigte Personen dar. Die Koordinierungsstelle und der Krisendienst verselbständigen sich. Ebenso muss auf Grundlage der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der WHO ein standardisiertes Diagnoseund Assessmentinstrument entwickelt werden. Für die schnelle und pragmatische Anwendung kann vorläufig aus den Klassisfikationsraster des ICF ein Kriterienkatalog zur Einstufung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen zusammengestellt werden. Die Skalierung muss in Hinblick auf die Erfasung des Betreuungsaufwandes angepasst werden. Dazu ist ein Dokumentations- und Evaluationssystem zu erarbeiten, die eine Verhaltensbeobachtung über einen längeren Zeitraum einschließt. Für einen ressourcenorientierten Ansatz ist es unbedingt notwendig über die aggressiven oder fremd- und selbstgefährdenden Verhaltensweisen die positiven Botschaften und Stärken des Klienten zu Erfassen. Dies soll durch Hinzunahme eines Erhebungsinstruments auf Grundlage von Theunissen (1997) geschehen. 3.2 Zielgruppe Menschen mit Mehrfachdiagnosen stellen eine sehr heterogene Gruppe dar. Extreme Verhaltensauffälligkeiten können ihre Ursachen in kontextuellen Faktoren, psychischen Erkrankungen oder Komplikationen aufgrund der die geistige Be hinderung verursachenden Erkrankung sein (näheres zur Ätiologie im Anhang). Oft wird die Symptomatik durch eine einhergehende körperliche Behinderung oder Beeinträchtigung auf kognitiver Ebene wie fehlender lautsprachlicher Verständigung überformt. Zusätzlich können Verhaltensauffälligkeiten in Zusammenhang mit intellektueller Beeinträchtigung Teil eines nicht angeborenen Hirnorganischen Syndroms sein. Deswegen ist eine möglichst genaue Diagnostik unerlässlich, um angemessene Formen der Betreuung diesen Menschen zuzuordnen. 3.3 Verbundkonzept Langfristig sollen folgende Ziele erreicht werden: Für Menschen mit geistiger Behinderung soll in der Steiermark eine adäquate, extramurale psychiatrische Versorgung sichergestellt und zugänglich gemacht werden. Eine neuerliche Hospitalisierung (Drehtüreffekt) wird dadurch vermieden, ge8 nauso wie zukünftige drohende Fehlunterbringung. Dafür notwendige neue Leistungen und Dienstleistungen müssen in das schon bestehende Angebot sozialpsychiatrischer Versorgung eingebettet werden, um eine hohe Vernetzung der Dienste zu erreichen. In einem Verbund verschiedener Träger werden deren komplementären Angebote durch eine Koordinierungsstelle in Form von Case Management auf die Klienten abgstimmt (funktionsbereichsbezogene Trägerverbundverknüpfung). Zu einer optimalen Versorgung gehört auch ein passgenaue Verbindung zur stationären Psychiatrieversorgung, die für diesen Personenkreis ein entsprechendes Spezialangebot mit Therapiemöglichkeiten einrichten sollte. Die Zusammenarbeit kann auf die Erfahrung zurückgreifen, die mit dem Pilotprojekt „Sozialpsychiatrischer Übergangsdienst“ gemacht wurden. Um eine Ghettoisierung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen zu vermeiden muss bei den Trägern der Behindertenhilfe darauf hingewirkt werden, dass möglichst verteilt Plätze für Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichem psychiatrischen Krankheitsbild zur Verfügung gestellt werden. Dafür ist eine Inklusion dieses Klientels in allen Lebensbereichen anzustreben. Unterbringung in traditionellen Anstalten muss durch gemeindenahe Unterstützungssysteme ersetzt werden, so dass so weit wie möglich normale Lebenswelten gescha ffen werden können. Träger und Anbieter von Betreuungs- oder Pflegediensten, die Aufgaben in einem Verbundkonzept übernehmen, versuchen optimale gesellschaftliche Bedingungen für die geistige Gesundheit dieser Menschen herzustellen. Durch Informationsvermittlung und Beratung von Betreuungsteams in Wohnheimen und Werkstätten wird eine Eskalation vermieden und Betreuungs- und Bezugspersonen entlastet. Dabei muss eine qualitative Verbesserung mit einer quantitative Verbesserung in der Betreuung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen einhergehen. Das Streben nach geistiger Gesundheit ist ein Ziel aller Menschen. Geistige Gesundheit ist ein wesentlicher Bestandteil der zur Lebensqualität beisteuert. Geistige Gesundheit muss für jeden Menschen erreichbar sein! 3.4 Bausteine des Verbundkonzeptes 9 • Wohnungsangebote für Singles, Paare und Wohngruppen aber auch kurzfristige Unterbringung bei Krisenintervention müssen in ausreichender Zahl bereitgestellt werden. • Mobile Pflegedienste und Hilfen müssen die Kapazitäten und Expertise erhalten, um Menschen mit Mehrfachdiagnosen betreuen zu können. • Genügend Arbeit, Freizeit und Bildungsangebote müssen einer Verarmung der Lebenswelt von Menschen mit geistiger Behinderung vorbeugen. • Angebote zur Frühförderung machen auf die Gefahr einer psychischer Erkrankung durch inadäquate Lebensumstände aufmerksam und weisen auf Lösungsmöglichkeiten hin. • Auch schulische und vorschulische Integration leisten einen wichtigen Be itrag zur Normalisierung der Lebensumstände für Menschen mit geistiger Behinderung und sind Grundlage für geistige Gesundheit. • Therapeutische Fachdienste bieten für die Behandlung spezielle Programme an. • Das psychiatrische Landeskrankenhaus bietet ein zeitliche begrenztes Konzept für die Behandlung von akuten psychischen Krisen an. • Angehörige, Betreuungs- und Pflegepersonal, Hausärzte und andere Kontaktpersonen werden durch ein Beratungs- und Fortbildungsprogramm im Umgang bei psychischen Krisen unterstützt. • Eine Kooordinierungsstelle sorgt als Anlaufstelle und sichert die Verfügbarkeit und Qualität der o.g. Angebote. • Ein Krisendienst steht Hilfesuchenden rund um die Uhr zur Verfügung. 3.5 Aufgaben der Koordinierungsstelle 10 Im folgenden soll die Struktur des Einrichtungsverbundes und die Aufgaben der Koordinierungsstelle dargestellt werden. Die Aufgaben der Koordienierungsstelle bestehen zu einem großen Teil auch aus indirekter Betreuungsleistung, also Dienstleistungen, die die direkte Betreuung erst ermöglicht, und deren Qualität sicherstellt. Laut dem steirischen Psychiatriebericht 2002 besteht im internationalen Vergleich eine Relation von direkter versus indirekter Betreuung von 60:40 bei psychosozialen Beratungszentren. Für Wohn- und Tagesstrukturangebote ergibt sich ein Verhältnis, das meht zugunsten der direkten Betreuungsleistung liegt. Nachdem ein Verbundsystem von klientenspezifischen Leistungen möglichst von verschiedenen Trägern in der Region aufgebaut wurde, kann sich die Koordinierungsstelle ähnlich dem höllandischen Konsulentenmodell auf die indirekte Betreuungsarbeit konzentrieren. Die Aufgabe der dortogen sogenannten Konsulententeams ist, das geeignetste Betreuungsangebot für den Klienten ausfindig zu machen und über einen Hilfeplan bis zum Abschluss zu begleiten und zu evaluieren. Sie verstehen sich dabei nicht als Bewertungs- oder Zulassungsinstanz zwischen Ratsuche ndem und Berater. Andererseits sind finanzielle Mittel an den Einsatz der Berater des Teams gekoppelt. Zur Anzeige wird der QuickTime™ Dekompressor „Grafiken“ benötigt. 11 Grafik 3: In der Grafik soll verdeutlicht werden, wie das Ressourcenmanagement an er Lebenswelt des Menschen mit geistiger Behinderung orientiert ist. Exemplarisch sind die einzelnen Lebensbereiche in den Kästen angedeutet. Die Aufgaben, die ringförmig angeordnet sind, entsprechen den folgenden Kapiteln. 3.5.1 Care Management Unter Care Management soll hier der Aufbau und die Vernetzung der regionalen Versorgungsstrukturen für Menschen mit Mehrfachbelastungen verstanden. Nach Griffith et al. (2002) soll das Betreuungssystem von der Ebene der Sozialplanung und allgemeinen Gesundheitsversorgung über einzelne Maßnahmen und Angebote der institutionalisierten Einrichtungen bis zum Individuum in seinen informellen und formellen Netzwerken als Einheit aufgebaut werden. Bisherige Fehl- und Unterversorgung muss erhoben werden und eine bedarfsgerechte Alternative vorgeschlagen werden. Welche ambulanten Dienste gibt es bereits und wie können diese koordiniert werden? Welche zusätzlichen Angebote müssen in der Gemeinde bzw. Region noch geschaffen werden? In bereichsbezogenen Regionalkonferenzen wird ein einheitlicher Standard und eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Unterschiedlichen Anbietern in den jeweiligen o.g. Bausteinen geschaffen (z.B.: Regionalkonferenz „Wohnen“, „Freizeit“ etc.) Care Management trägt auch für den Aufbau und Organisation der Kooperation der Beteiligten bei der Krisenintervention Sorge und hilft z.B. durch die zur Verfügungsstellung von Interventionsplänen. 3.5.2 Case Management Weiterer zentraler Schwerpunkt der Koordinierungsstelle ist die Koordination von psychosozialen und medizinisch-pflegerischen Dienstleistungen für Menschen mit Mehrfach-/Doppeldiagnosen durch Case Management. Damit wird ein Prozess bezeichnet, der Zusammenarbeit, in dem es um das Einschä tzen, Planen, Umsetzen, Koordinieren und Überwachen der Aktivitäten aller Betroffenen geht. Dies bedeutet: Kontaktaufnahme mit Betreuungs-, Bezugspersonen und Sachwalterschaft. Anbahnung der notwendigen Intervention, Therapien, Fortbildun12 gen, Beratungen und Kontakte zu weiteren ambulanten Dienstleistern sowie Koordination der einzelnen Dienstleistungen und Sicherstellung der Finanzierung. Erstellen eines individuellen Förderplans bzw. Krisen- und Notfallplans. Abschließende Bewertung der Entwicklung des Kunden/Hilfesuchenden. Dadurch wird eine qualitativ hochwertige und Kosten sparende Erbringung von Dienstleistungen erreicht. 3.5.3 Fort- und Weiterbildungsangebote Das Fördern von Verständnis und Erkennen bzw. Unterscheiden von psychischen Störungen bzw. Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung ist nach wie vor eine bisher unerledigte Aufgabe. Für die verschiedenen Helferprofessionen werden verschiedene Curricula entwickelt, um Informationen zu vermitteln, die eine bessere Vorhersagbarkeit, Früherkennung einer Krise ermöglichen und für die anstehende Bewältigung der Krise eine Vorbereitung anbieten. Betreuungspersonal und Angehörige verfügen oft nicht über ge nügend Wissen bzw. personelle oder zeitliche Ressourcen um eine psychiatrische Auffälligkeit zweifelsfrei festzustellen oder sie von einer psychosozialen Krise zu unterscheiden. Trotzdem ist gerade ihr enger Kontakt zu den Klienten der Schlüssel für eine bessere Einschä tzung für die Situation des Klienten. Daher ist es notwendig bei den unmittelbaren Kontaktpersonen ein theoretisch fundiertes Verständnis für die Problematik bei Menschen mit Mehrfach-/Doppeldiagnosen zu vermitteln. Folgende Punkte sollten in einem 1 bis 2-tägigen Seminar bearbeitet werden: • Selbsterkenntnis der professionellen Helfer: à Realistisches Einschätzen der Kompetenzen und Grenzen; à Kenntnisse über die Wirkungsweise verschiedener Interventionen. • Selbstkontrolle der professionellen Helfer: à Eigenes Temperament kennen und beherrschen lernen. • Kenntnisse über den Betroffenen: à In welchen Situationen reagiert der Betroffene kritisch; à Wie lässt sich die Situation beruhigen, wie kann man präventiv eingreifen. 13 • Blick für Stärken und Ressourcen: à Konzentration auf Stärken, Talente, Fähigkeiten und nicht auf die Symptome. • Geplantes Vorgehen und reflektiertes Handeln: à Zufälliges, beliebiges oder willkürliches Handeln erkennen und abstellen. • Vertrautsein mit präventiven Methoden: à Gute Kenntnisse erhöhen die Chance diese Möglichkeiten auch zu nutzen. • Vertrautsein mit symptomzentrierten pädagogischen Interventionsmethoden: à Im Krisenfall muss man kreativ und passend intervenieren können. • Antiseptisches Grundprinzip: Interventionen dürfen keine Nebenwirkungen auf die langfristigen pädagogischen Ziele haben. • Krisenplan: à Verbindliches Vorgehen im Krisenfall wird vorher festgelegt (z.B Ansprechpartner). • Vor-Ort-Lösungen: à Eigene Fähigkeiten der Betroffenen und die des Umfeld es werden zuerst benützt. • Kontinuierlicher Erfahrungsaustausch mit anderen: à Fördert die bessere Einschätzung der eigenen Handlungen im Krisenfall. • Praxisberatung und Supervision: à Helfer sind oft selbst in die Problematik verstrickt, und müssen Wege kennen um emotionale Unterstützung zu erhalten. 14 Die Koordinierungsstelle sorgt für das Angebot und Vermittlung von entsprechenden Fortbildungs-/Weiterbildungsangeboten, vertreibt Fortbildungsmaterialien und bietet fachliche Supervision an. Ein soziales Kompetenztraining für Menschen mit geistiger Behinderung zum Erwerb von Bewältigungsstrategien und verbesserter Konfliktfähigkeit kann psychosoziale Krisen vermeiden oder zumindest abfedern. Ein entsprechendes Training kann auch individualisiert für den Arbeitsplatz erfolgen. 3.5.4 Diagnostik – Bewertungskommission – IHB Gemäß dem Ansatz der WHO im ICF (International Classification of functioning, disability and health) soll durch ein interdisziplinäres biopsychosoziales Assessment eine Diagnose bei Menschen mit Mehrfachdiagnosen erstellt werden. Ein eindeutige Bestimmung der Ursachen des vom Klienten gezeigten problematischen Verhaltens bzw. dessen Empfindens vermeidet, dass eine unangemessene Begegnung der Situation bzw. Behandlung der Störung zu weiterer Traumatisierung führt. Dabei wird nach dem biopsychosozialen Ansatz vorgegangen, der das komplexe Zusammenspiel von biomedizinischen, psychologischen und sozialen Einflüssen auf geäußertes herausforderndes Verhalten beachtet. Persönliche Erfahrungen des Ind ividuums werden exploriert, und die Behandlung auf den Einzelfall angepasst/abgestimmt. Durchzuführen sind: • Ein biomedizinisches Assessment, • Systematische Verhaltensanalyse, • Überprüfung/Einschätzung von psychologischen und anderen Fähigkeiten, • Untersuchung der sozialen und realen Umwelt. => Dadurch bekommt man Einsicht in den Gesamtkontext, auf den der Klient reagiert. Dieses Assessment geht über eine Einstufung wie sie nach ICF vorgenommen wird hinaus, da schon Daten für ein entsprechendes therapeutisches bzw. Betreuungsan15 gebot gesammelt werden. Für die Erfolgskontrolle im Hinblick auf größtmöglicher Integration und Teilhabe sowie der Einbeziehung von Kontextfaktoren (Lebenshintergrund) ist die ICF auch für die Sozialplanung ein geeignetes Instrument. Eine Zusammenarbeit mit den Sachverständigenteam zur Ermittlung des Individuellen Hilfebedarfs (IHB), die nach der Leistungsverordnung des neuen steirischen Behindertengestezes ebenfalls einige Items der ICF verwenden, wäre daher äußerst sinnvoll. Eine Bewertungskommission, die einen zusätzlichen Betreuungsbedarf aufgrund von Mehrfachdiagnosen feststellt , wird dadurch überflüssig. Die ICF eignet sich auch deshalb gut für die sozialmedizinisache Begutachtung, da sie ein gemeinsame Sprache zwischen den verschiedenen Disziplinen herstellt, die an der Betreuung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen beteiligt sind. Die ICF basiert ebenfalls auf dem bio.psycho-sozialen Modell (s. Anhang) und ist kein Krankheitsfolgemodell, also nicht defizitär orientiert. Die ICF erstellt jedoch keine funktionale Diagnose. Hierfür ist die ICD notwendig. Die ICF ist auch kein Assessmentintstrument. Auf ihrer Grundlage können jedoch standardisierte Methoden und Instrumente zur Beschreibung und Beurteilung der Körperfunktionen sowie –strukturen, der Aktivitäten des Menschen mit geistiger Behinderung und dessen Teilhabe entwickelt werden. Standardisierte Instrumente zum Assessment für Menschen mit Mehrfachdiagnosen existieren drzeit nur im angelsächsischen Raum. Im Rahmen eines Pilotprojektes zur Einführung dieses Verbundkonzeptes könnte jedoch ein methodisch abgesichertes Assessment-Instrument entwickelt werden, auch unter Einbeziehung der ICF. Für die schnelle und pragmatische Anwendung kann vorläufig aus den Klassisfikationsraster des ICF ein Kriterienkatalog zur Einstufung von Menschen mit Mehrfachdiagnosen zusammengestellt werden. Die Skalierung muss in Hinblick auf die Erfasung des Betreuungsaufwandes angepasst werden. Dazu ist ein Dokumentations- und Evaluationssystem zu erarbeiten, die eine Verhaltensbeobachtung über einen längeren Zeitraum einschließt. Für einen ressourcenorientierten Ansatz ist es unbedingt notwendig über die aggressiven oder fremd- und selbstgefährdenden Verhaltensweisen die positiven Botschaften und Stärken des Klienten zu Erfassen. Dies soll durch Hinzunahme eines Erhebungsinstruments auf Grundlage von Theunissen (1997) geschehen. 16 3.5.5 Beratung Informationen für Angehörige und Betroffene, aber auch Beteiligungsangebot und Mitsprachemöglichkeiten gehören ebenfalls zur Palette der Angebote der Koordinierungsstelle. Durch ein möglichst niederschwelliges Angebot – also nicht nur telefonisch sondern auch entsprechend den Möglichkeiten unserer Klienten in aufsuchender Art und Weise – soll für alle beteiligten eine Gesprächsmöglichkeit geschaffen werden. Maßnahmen bzw. Verhaltensweisen der Betreuungs- und Bezugspersonen sollen dem Klienten verständlich gemacht werden. Unangemessene Lebensbedingungen oder gar Übergriffe sollen aufgedeckt werden. Familienkonferenzen können bei der Aufarbeitung der problematischen Situation hilfreich sein. Betreuungs- und Bezugspersonen erhalten auch eine situative Beratung in Bezug auf kurz- und langfristige Interventionen, sowie Hinweise zur objektiven Verhaltensbeobachtung. Darüber hinaus informiert die Koordinierungsstelle Therapeuten, Hausärzte, Behördenmitarbeiter, Nachbarschaftsnetzwerke und andere involvierte Personen und Organisationen zum Thema Mehrfachdiagnosen. 3.5.6 Öffentlichkeitsarbeit Nicht nur das Verständnis in der Allgemeinheit über Menschen mit Mehrfachdiagnosen soll durch Öffentlichkeitsarbeit erreicht werden. Sondern nur durch ein gezieltes Werben für und Erzeugung von Unterstützungsnetzwerken in Nachbarschaften, Politik, Behörden, Medien usw. kann verwirklicht werden, was als Care Management als Ergebnis erreicht werden soll. Dies soll vor allem am Anfang der Umsetzungsphase durch internationalen, fachlichen Austausch in Konferenzen geschehen. 3.5.7 Transitional Services (Enthospitalisierung) Menschen, die durch jahrelange Fehlunterbringung in Kliniken und stationären, meist geschlossenen Anstalten schwere Verhaltensauffälligkeiten zeigen, bedürfen einer besonderen Herangehensweise von Seiten der Zieleinrichtung als auch von der bisher unterbringenden Institution. In enger Absprache mit beiden Einrichtungen wird ein individueller Plan zur mittelfristigen Integration des Klienten in normale Lebenszusammenhänge aufgestellt. Dasselbe gilt, falls durch Überforderung eines familiären Betreuungsnetzerkes eine Unterbringung bei den Angehörige n nicht mehr 17 aufrecht erhalten werden kann. Die Transition wird bis zum Abschluss durch die Koordinierungsstelle begleitet und anschließend bewertet. 3.5.8 Präventive Dienste Prävention soll dergestalt sein, so dass „enabling niches“ (Taylor) entstehen. Es soll zum einen eine Anreicherung der Lebenswelt zum anderen aber auch ein Hilfsnetzwerk geschaffen werden. Das kann der Aufbau und Pflege eines Freundeskreise sein, oder regelmäßiger Kontakt zu Nachbarn ermöglichen. Um dies zu erwirken schlägt Theunissen (2002) Maßnahmen wie Nachbarschaftshilfen, Stadtteilfeste, gemeinsame Nutzung von kulturellen Orten in Begleitung durch Selbsthilfeorganisation oder einer freiwilligen Unterstutzungshilfe mit individuellen Patenschaften von Nichtbehinderten für Menschen mit geistiger Behinderung. 3.6 Vollzeitbetreutes Wohnen und Beschäftigung in einer Tageseinrichtung für Menschen mit Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verha ltens - und Entwicklungsstörungen Der Dienst muss multi-professionell geplant werden: Psychiatrisch, psychologischpsychotherapeutisch, sozialarbeiterisch, sozialpädagogisch. Dies gilt vor allem in der Anfangsphase, in der die Leistungen der Koordinierungsstelle von der Wohneinrichtung zunächst mit übernommen werden. Personal Aufgaben Psychologe/in Diagnose, Beratung, Verhaltensanalyse Sozialarbeiter/in Case Management Sozialpädagoge Beratung, Intervention, Fortbildung Psychiatrischer Pfleger/in Beratung, Intervention, Medikamente, häusliche Pflege Management/Sekretariat Leitung Verbundaufbau, Care Management Psychiater/in (konsultativ) Diagnose, Informationen zusammenfügen Therapeuten (konsultativ) spezielle Therapien Bei einer Vollbelegung der Einrichtung von 12 Personen soll der Dienst mit 12 Dienstposten für das Wohnhaus, 12 Dienstposten für die Tagesstruktur, 1,6 Diens tposten für die Koordinierungsstelle und erweitertes Case-Management sowie mit 18 weiteren 0,5 Dienstposten für den Aufbau des Krisendienstes und der Entwicklung des Assessment-Instruments betrieben werden. Bei einer Erweiterung der Betreuung auf insgesamt 8 extern untergegrachte Personen ergeben sich zusätzliche 0,4 Diens tposten für die Koordinierungsstelle. Zunächst wird der Dienst regional in Graz bzw. auf Landesebene für fehluntergebrachte tätig, später kann eine Erweiterung mit Außenstellen in den Sozialplanungsregionen in der ganzen Steie rmark erfolgen. Die Unterbringung der Klienten/Klientinnen soll dezentral erfolgen, um eine Ghettoisierung zu vermeiden. D.h. Menschen mit Mehrfachdiagnosen in externen Wohnhäusern werden ebenso betreut, wie eine Vorbereitung und Begleitung bei der Enthospitalisierung in externe Wohnhäuser möglich ist. Die betreffenden Betreuungspersonen in den einzelnen bestehenden Wohnhäusern, die sich mit Menschen mit Mehrfachdiagnosen beschäftigen, werden entsprechend geschult, und nehmen an den Besprechungen teil. Bei der Tagesbetreuung bleibt es bei der 1:1 Betreuung beim höchsten Grad der Beeinträchtigung Beide Leistungen werden inhaltlich als Einheit geführt. Unter Maßgabe des Normalisierungsprinzips sollen sie jedoch praktisch getrennt sein. (siehe auch Kapitel 3 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen) 3.7 Mobile Krisenintervention Hilfe und Beratung möglichst vor Ort bei akuten Krisen wünscht sich jede Einric htung. Dabei soll zur Entlastung des Personals die Einleitung aller notwendigen Schritte zur weiteren Krisenbewältigung vorgenommen werden. Wie Nichtbehinderte können auch Menschen mit geistiger Behinderung jederzeit in eine psychosoziale oder suizidale Krise geraten bzw. andere Mitbewohner oder Betreuungspersonal gefährden. Bei diesem Personenkreis besteht sogar eine höhere Wahrscheinlichkeit psychischer Erkrankungen als bei nicht behinderten Menschen. Der Krisendienst trägt mit seinem speziellen Angebot diesem Umstand Rechnung. Menschen mit geistiger Behinderung aller Altersgruppen – ob in speziellen Einrichtungen oder zu Hause –, ihre Angehörigen, Mitbewohner und Freunde sowie ihre Betreuer in Wohneinrichtungen und Arbeitsstätten haben durch den Krisendienst im Notfall Ansprechpartner. Durch telefonische Beratung, Hausbesuche und Gespräche 19 in der Koordinierungsstelle wird Menschen mit geistigen Behinderungen und ihrem persönlichen Umfeld in Krisensituationen, bei Überforderung und Eskalation eine individuelle Entlastung geboten. Bei Konflikten mit Angehörigen und Freunden, bei Trennungsschmerz und Suizid-Gedanken aggressiven Tendenzen sowie bei psychiatrischen Notfällen kann frühzeitig eine Unterstützung erfolgen. Die Position als Außenstehender kann hier vorteilhaft wirken. Der gleichzeitig sehr persönliche, vertrauensvolle Kontakt zum Klienten ist die Basis einer erfolgreichen Arbeit in einer besonderen Beziehung zum Hilfesuche nden. Da die gewohnte verbale Kommunikation häufig beschränkt bleiben muss, werden neue Kommunikationswege gesucht und in die Interaktion einbezogen. Angehörige und Betreuer von Menschen mit geistiger Behinderung haben Verha ltensweisen entwickelt, um Krisensituationen im Umgang mit ihnen zu bewältigen. Und doch brauchen auch sie manchmal die Hilfe Dritter. Allen Betroffenen in diesem speziellen Umfeld gilt das Bestreben des Krisendienst und seiner Mitarbeiter, immer wieder gemeinsam Wege aus der Krise zu finden. 3.7.1 Ambulante Krisenintervention In Abgrenzung zu einer längerfristigen Behandlung (wenn nötig) soll der Krisendienst eine möglichst schnelle Wiederherstellung des bisherigen Gleichgewichtes erzielen. Sinnvollerweise soll der Krisendienst für Menschen mit Mehrfachdiagnosen organisatorisch in bereits bestehende oder im Aufbau befindlichen Angebotsstrukturen der psychosozialen Versorgung in der Steiermark eingebettet werden. Eine flächendeckende Versorgung kann nur dann erreicht werden, wenn die Organisation und Infr astruktur eines allgemeinen sozialpsychiatrischen Krisendienst mitgenutzt werden kann. Im Krisenfall wird einem Krisen- und Interventionsteam das Know-How im Umgang mit Menschen mit Mehrfachdiagnosen durch eine speziell ausgebildete Fachkraft zur Verfügung gestellt, die sich beim Einsatz vor Ort beteiligt. Übergangslösungen werden auch hier notwendig sein. In der Koordinierungsstelle könnte zunächst ein mobiler sozialpsychiatrischer Dienst entstehen, der sowohl für Organisationen der Behindertenbetreuung als auch Bezirkspsychiatrischen Diensten zur Verfügung steht. Dies wäre eine gute Möglichkeit, den notwend igen Austausch der Konzepte zwischen der Behindertenpädagogik und der Psychiatrie voranzubringen. 20 3.7.1.1 Aufgaben der Krisenintervention Wüllenweber (2001) fasst Grundelemente der Krisenintervention für Menschen mit geistiger Behinderung wie folgt zusammen: • Bewältigung psychosozialer Belastungen und Notlagen, • Beeinflussung eskalierender Symptome bei psychischen Störungen und psychiatrischen Erkrankungen, • Beherrschung von Verhaltensstörungen, • Prävention bei psychischen Erkrankung, • Vermeidung einer stationären Einweisung • Vorbereitung auf Psychotherapie • Suizidprävention 3.7.1.2 Methoden Entsprechend den Professionen kommen folgende Methoden zur Anwendung psychosoziale Beratung, Case Management, sozialpädagogische Erziehung, Krisenunterkünfte, Psychotherapie, Psychopharmaka. Dabei wird nach folgenden Schritten vorgegangen: - intellektuelles Verständnis der Krise beim Klienten herstellen, - Beteiligte sollen sich ihrer Gefühle klar werden, - Bewältigungsvermögen seitens des Klienten herstellen, - Wiedereingliederung in soziale Welt bzw. Aufrechterhaltung des sozialen Bezugs - Bereitstellen/Aktivieren eines Ressourcenpools für den Notfall - Vorbereitung für von Angehörigen und Hinzuziehen von Angehörigen bei der Krise 21 3.8 Projektplanung Der zeitliche Ablauf für eine Übergangsphase hin zum „Normalen“ Wohnhausbetrieb stellt sich folgendermaßen dar: 3 Monate 6 Monate 6 Monate Vorbereitungsphase Adaptationsphase Rüstphase Aus Anfragen Adaptationsphase Rüstphase Akzeptanzphase Vorbereitungsphase Adaptationsphase Extern Adaptationsphase Rüstphase Akzeptanzphase Adaptationsphase AufLSF bau/Organisation LSF LSF Vorbereitungsphase 6 Monate = intern belegte Gruppe mit 4 Personen. = extern belegte Gruppe mit 4 Personen. = nicht belegte Gruppe. LSF = betreute Personen mit Aufenthalt im LSF. Vorbereitungsphase: Adaptationsphase: Rüstphase: Diagnostik und klinisches Assessment noch im LSF, Vorbereitung auf Enthospitalisierung auch für externe Wohnhäuser. Biopsychosoziales Assessment. Kompetenzförderung, therapeutische Angebote. Stabilisierung und Normalisierung, langfristig Vorbereitung auf andeAkzeptanzphase: re Wohnform. Der Verbleib oder Wechsel in einzelnen Phasen ist abhängig vom individuellen Entwicklungsstand. 22 4 Vorschläge von Leistungsbeschreibungen nach LEVO 4.1 Vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens - und Entwicklungsstörungen. 1. Funktion und Ziele 1.1 D EFINITIO N Kurzbeschreibung: Vollzeitbetreutes Wohnen hat sich an Jugendliche nach Beend igung der Schulpflicht, Erwachsene mit geistiger, körperlicher -, Sinnes- oder mehrfacher Behinderung zu richten. Vollzeitbetreutes Wohnen hat Menschen mit Behinderung, die auf eine permanente Betreuung und Hilfestellung durch professionelles Fachpersonal angewiesen sind, eine bedarfs- und bedürfnisorientierte Form der Begleitung und Unterstützung in allen Bereichen der privaten Lebensgestaltung anzubieten. Die Intensität der Unterstützungsleistung hat sich von der Assistenz und Hilfestellung über die Anle itung und Übung bis hin zum stellvertretenden Handeln zu erstrecken. In der Regel stehen diese Klientinnen/Klienten tagsüber in Beschäftigung bzw. nehmen eine Tagesstruktur in Anspruch. Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder psychische Erkrankung durchleben oder aufgrund ihres derzeitigen Lebenshintergrundes schwere Verhaltensstörungen zeigen, erhalten eine individuell zugeschnittene Betreuung zusätzlich zu den Leistungen des vollzeitbetreuten Wohnens. Ziel: Den betreuten Klientinnen/Klienten muss mit dem vollzeitbetreuten Wohnen die Möglichkeit eröffnet werden, Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Wünsche und Bedürfnisse sowie adäquate Hilfestellung bei der Führung eines möglichst normalisierten und selbstbestimmten Lebens, zu erhalten. Dazu zählen insbesondere: • die erfolgreiche Bewältigung der alltäglichen Lebensführung und Beziehungsgestaltung • die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben • Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Gesundheitsfürsorge- und vorsorge Damit wird die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglicht und eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt vermieden. Eine genaue Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Person ermöglicht eine genaue Diagnose als Grundlage für weitere therapeutische Angebote. Die soziale Kompetenz der betreuten Person soll soweit gesteigert werden, damit sie weitergehende Integrationsleistungen in Anspruch nehmen kann und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann 23 1.2 ZI E L G R U P P E Vollzeitbetreutes Wohnen hat sich an Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht und Erwachsene, mit geistiger, körperlicher, Sinnes- oder mehrfacher Behinderung zu richten. Die Klientinnen/Klienten müssen aufgrund ihrer eingeschränkten Fähigkeiten und Beeinträchtigungen einen Bedarf an einer vollzeitbetreuten Wohnform haben. Darüberhinaus handelt es sich um Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten, durch die die Sicherstellung einer angemessenen Lebensqualität gefährdet wird 1.2.1 Indikationen Klientinnen/Klienten, die diese Leistung in Anspruch nehmen, müssen mit einer höchsten Beeinträchtigung leben, die es für sie notwendig macht, beim Wohnen und in der Freizeit in hohem Ausmaß betreut zu werden. Allgemein gilt, dass sich die Klientinnen/Klienten aus freiem Willen für diese Leistungsart entscheiden müssen. Das sind insbesondere: Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung oder extremen Verhaltensauffälligkeiten in ihrem derzeitigen Lebensumfeld keine ausreichende Betreuung erfahren können. Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung ihrer Körperfunktionen oder Körperstruktur zu extremen Verhaltensweisen neigen oder als Folge unangemessener Betreuung dieses zeigen. Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund von Fehlunterbringung starke Verhaltensauffälligkeiten zeigen und keine angemessene Betreuung erhalten. 1.2.2 Kontraindikationen Die Leistungsart darf von Klientinnen/Klienten nicht in Anspruch genommen werden, die in einer geringer betreuten Wohnform leben könnten. 1.3 Stellung des Dienstes in der Angebotskette Bei Fähigkeit der Klientinnen/Klienten zu einer selbständigeren Lebensführung in Form einer Trainingswohnung oder alternativen Leistungsart mit geringerer Betreuungsintensität, wie beispielsweise das teilzeitbetreute Wohnen bzw. Wohnassistenz (mobil betreutes Wohnen), ist bei der Leistungszuerkennung zu berücksichtigen. Durch eine Stabilisierung der geistigen Gesundheit und eine Erweiterung des Verha ltensrepertoires kann die derzeitige Unterbringung aufrechterhalten bzw. wiederhergestellt werden und eine Unterbringung im LSF vermieden werden. 24 Bei Fehlunterbringung wird ein individueller Plan zur mittelfristigen Integration des Klienten in normale Lebenszusammenhänge aufgestellt. Schrittweise Enthospitalisierung durch Angebot des vollzeitbetreuten Wohnens für Menschen mit Behinderung mit schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen. 2. Leistungsangebot 2.1 G RUNDSÄTZE UND M ETHODISCHE G RUNDLAGEN Das Leistungsangebot hat sich an folgenden Grundsätzen insbesondere zu orientieren: • Integration (physisch, funktional und sozial) • Normalisierung der Lebensbedingungen (die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung entsprechen weitgehend denen von Menschen ohne Behinderung) • Selbstbestimmung und Emanzipation (Menschen mit Behinderung treffen Entscheidungen, die ihre Person betreffen selbst beziehungsweise sind zumindest maßgeblich an den Entscheidungsprozessen beteiligt) • Selbstständigkeit (Förderung und Stärkung des persönlichen Handlungsspielraums und der Eigenverantwortung – Hilfe zur Selbsthilfe) 2.2 G RUNDSÄTZE DER PÄDAGOGISCHEN B ETREUUNGSARBEIT : Die pädagogische Betreuungsarbeit soll insbesondere durch Betreuung, Begleitung und Assistenz folgendes fördern: • • • • • • • • • • • • stellvertretendes Handeln Gestaltung des persönlichen Tages-, Wochen und Jahresablaufs Haushaltsführung Gestaltung des persönlichen Lebensraumes Aufbau und Gestaltung sozialer Beziehungen Außenkontakte bzw. Außenbeziehungen Krisenbewältigung Umgang mit Aggressionen Individualversorgung (Ernährung, Bekleidung, Hygiene, Gesundheit) Umgang mit finanziellen Angelegenheiten Freizeitgestaltung Teilnahme am gesellschaftlichen Leben Förderung und Unterstützung der Klientinnen/Klienten bei • der altersgemäßen Entwicklung • der alltäglichen Lebensführung und Lebensgestaltung • der Fähigkeit eigene Wünsche und Bedürfnisse zu erkennen und zum Ausdruck zu bringen • bei der Erweiterung des persönlichen Handlungsspie lraumes 25 • Sicherstellung therapeutischer Zusatzangebote und fachärztlicher Betreuung bei Bedarf • Soziale Kompetenzförderung • Hilfe bei der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse 2.3 L EISTUNGSUMFANG Die Leistung ist wie folgt zu erbringen: Stationäre Betreuung: bis zu 24 Stunden täglich Hauptdienstzeit: 6:00 Uhr bis 22:00 Uhr Betriebstage: 365 Tage/Jahr Tagbereitschaft: Mo. bis Fr. Tagesbetreuung: Mo. bis Fr. zwischen 8:00 Uhr –16:00 Uhr (nur für Klientinnen/Klienten, die keiner Beschäftigung nachgehen bzw. keine Tagesstruktur in Anspruch nehmen können; für Klientinnen/Klienten während der Urlaubszeiten) Nachtbereitschaft: an allen Betriebstagen Nachtdienst: aktive Nachtdienste nach Bedarf Verpflegung: • Werktags: Frühstück / Abendessen; • Sa/So/Fei sowie bei Krankheit /Urlaub: Vollverpflegung • Klientinnen/Klienten, die keiner Beschäftigung nachgehen beziehungsweise keine Tagesstruktur in Anspruch nehmen können: Vollverpflegung 3. Qualitätssicherung 3.1 S TRUKTUR -S TANDARDS 3.1.1 Wohneinrichtung Einrichtungsgröße: Richtwert: 12 Klientinnen/Klienten (exklusive angeschlossene Wohngruppen). Die Klientinnen können auf mehrere Wohnheime verteilt sein und dezentral betreut werden (Vermeidung von Ghettoisierung). Standort und Umgebung: Folgende infrastrukturelle Mindestanforderungen sollen erfüllt werden: • Es ist sicherzustellen, dass den Klientinnen/den Klienten die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglicht wird. • Es ist sicherzustellen, dass eine entsprechende Infrastruktur (Geschäfte, Ärzte, Institutionen etc.) vorhanden ist. • Eine Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz soll vorhanden sein. Raumbedarf : Die Einrichtung soll nach folgenden Grundsätzen errichtet sein (Richtwert : maximal 45 m² Gesamtraumbedarf je Klientin/Klient): 26 • • • • • 12 Einbettzimmer rund 14m² je Klientinnen/Klient Sanitärbereiche Küche, Wohn-, Ess- und Freizeitbereiche Nebenräume in Form von Gängen, Abstell- Wirtschaftsräumen Personalräume (Büro, Schlafmöglichkeit, Sanitär) Die Einrichtung ist jeweils nach dem baulichen und technischen Stand der Technik zu errichten. 3.1.2 Fachpersonal Pädagogische Le itung: • Das Leitungspersonal richtet sich nach der Anzahl des Betreuungspersonals. Maximalwert: 6,7 % Dienstposten pro 100 % Betreuerdienstposten Gesamtpersonalbedarf: Der Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträcht igung der betreuten Klient innen/Klienten, der jeweiligen betrieblichen Ablauforganisation und den Leistungsschwerpunkten definiert. Die Anzahl des einzusetzenden fachlich qualifizierten Personals richtet sich nach der Anzahl der betreuten Klientinnen/Klienten und deren Grad der Beeinträchtigung. Grad der Beeinträchtigung: Der konkrete, tatsächliche Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträchtigung der betreuten Klientinnen/Klienten (Anlage 4) und die jeweilige betriebliche Ablauforganisation (Besetzungszeiten, Einzelbetreuung, Team, Supervision, Fortbildung bzw. Personalentwicklung sowie Planung und Dokument ation) definiert. Das Personal für zusätzliche Leistungen erhöht sich entsprechend nach dem Betreuungszuschlag gemäß LEVO. Dabei ist von einem hö chsten Grad der Beeinträchtigung auszugehen. Dies entspricht 0,80 + 0,50 Dienstposten/Klient/Klientin. Zielwerte: Höchster Grad der Beeinträchtigung: maximal 0,80 Dienstposten/Klientin/Klient + 50% Dienstposten nach fachpsychiatrischem Gutachten Mindestpersonalbedarf : Die Zielwerte können im Einzelfall seitens der Leistungserbringer nach tatsächlichen Betreuungserfordernissen im Rahmen eigener pädagogischer Verantwortung kurzfristig unterschritten werden, sofern eine ordnungsge- mäße Betreuung mit dem Mindestpersonal noch gewährleistet ist. (Mindestwert: pro Einrichtung für 12 Klientinnen/Klienten : 550% Dienstposten) Qualifikation: • Die Qualifikation des Personals hat den Anforderungen der Leistungsart bzw. der Funktion und der Ziele der Einrichtung (Punkt 1.) und den dafür formulierten Stellenbeschreibung zu entsprechen. • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen eine abgeschlossene Ausbildung im psychosozialen, 27 heil/sonderpädagogischen bzw. handwerklichen Bereich (Heil- und Sonderpädagoginnen-/pädagogen, Behindertenpädagoginnen-/pädagogen, Behindertenfachbetreuerinnen-/betreuer, Psychologinnen/Psychologen, Dipl. Soziala rbeiterinnen/Sozialarbeiter, Sonderschullehrerinnen-/lehrer, diplomierte Pflegehelferinnen-/helfer, Therapeutinnen/Therapeuten) haben. Die primäre Qualifikation hat sich nach der konkreten Stellenbeschreibung zu richten. Je nach Anforderung des konkreten Arbeitsfeldes können (komplementäre) Zusatzqualifikationen erforderlich sein. Bei erforderlichen, pflegerischen Tätigkeiten ist eine Ausbildung, Zusatzausbildung oder entsprechende Nachschulung des Personals für diesen Pflegebereich jedenfalls erforderlich. 3.2 P ROZESS -S TANDARDS 3.2.1 Organisation • Aufbau und Ablauforganisation müssen in einem Organisationshandbuch dargestellt werden (Funktionsbeschreibungen, Stellenbeschreibungen). • Im Betreuungskonzept hat eine Darstellung und Beschreibung der Ziele und Methoden anhand dieser Verordnung zu erfolgen. 3.2.2 Dokumentation Die klientenspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu enthalten: • Vorgeschichte/Erstkontakt beispielsweise(Klientinnen-/Klientenanfrage, bei Bedarf Wartezeit, Ersterhebung, Anamnesebogen, Zuweisungsdiagnose, Interessensabklärung und dergle i- chen) • Einstufung in Zusammenarbeit mit dem IHB-Team auf Grundlage der ICF. • Aufnahme in Form einer Stammdatenerhebung (allgemein, medizinisch) des Unterstützungsbedarfes, des Pflegebedarfes, weitere therapeutische – psychologische Maßnahmen, zusätzliche Betreuungs-vereinbarungen, Erfassen von Klientinnen/Klientenwünschen und Zielen, zusätzliche Vereinbarungen mit Personen aus dem Herkunftssystem (Eltern, Angehörigen) und Sachwalterinnen/Sachwaltern), Notfallsblatt, Gesundheitsblatt (Medikamente und Befunde)und dergleichen. • Verlaufsdokumentation (Aktualisierung persönlicher Stammdaten, Zielund Entwicklungsplanung auf Basis des konkreten Leistungszuerkennungsbescheides, Betreuungsprotokolle, und dergleichen.) • Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, Erfassen von Stärken und positiven Botschaften, Beobachtungsbögen • Abschlussdokumentation der Betreuungsleistung (Abschlussbericht) Die einrichtungsspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu entha lten: 28 • Leistungsdokumentation • Verlaufs- und Entwicklungsdokumentation (Jahresentwicklungsberichte) • Dienstpläne • Fortbildungspläne des Fachpersonals • Anwesenheitslisten von Klientinnen/Klienten • Dokumentation von Teambesprechungen, Teamsupervisionen und Fortbildungen des Fachpersonals • Sonstige trägerspezifische Dokumente (Protokolle und dergleichen) 3.2.3 Fachpersonal/Personalentwicklung Regelmäßige Teambesprechungen sind abzuhalten. Teamsupervisionen sind verpflichtend und regelmäßig abzuhalten. Fortbildungen sind verpflichtend und regelmäßig auf allen Ebenen durchzuführen. Personalentwicklung ist insbesondere sicherzustellen durch: • Personalentwicklungskonzept • Einschulung neuer Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter • Jährliches Mitarbeiterinnen-/Mitarbeitergespräch 3.3 ERGEBNIS -S TANDARDS • Jahresentwicklungsberichte sind zu erstellen. • Die Prüfung des individuellen Maßnahmenerfo lgs erfolgt über die leistungszuerkennenden Behörden nach Einholung eines Sachverständigengutachtens je nach Bedarf und Erfordernis. 4. Controlling Die Leistungserbringer sind verpflichtet, über Ersuchen der Landesregierung rege lmäßig automationsunterstützt Daten bekannt zu geben. Daten sind insbesondere: • • • • Einrichtungsbezogene Daten Klientenbezogene Daten Personalbezogene Daten Kostenbezogene Daten 4.2 Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verha ltens - und Entwicklungsstörungen 29 1. Funktion und Ziele 1.1 D EFINITION Kurzbeschreibung: Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur hat sich an Jugendliche (nach Beendigung der Schulpflicht) und Erwachsene mit intensiver geistig-, körperlich-, sinnes- und/oder mehrfacher Behinderung zu richten. Der Grad der Beeinträchtigung der begleiteten Personen ist als hoch bis höchst einzustufen. Die Unterstützungsleistung muss umfassend sein und hat sich von kontinuierlicher Anleitung und Aufsicht bis hin zur stellvertretenden Ausführung von Handlungen zu erstrecken (im besonderen in den Bereichen Kommunikation, Mobilität, Ernä hrung, Hygiene und Pflege). Die hohe Personaldichte, die Raumgestaltung und die Ausstattung der Einrichtung muss auf die speziellen Anforderungen / Bedürfnisse der begleiteten Personen abgestimmt werden. Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychosoziale Krise oder psychische Erkrankung durchleben oder aufgrund ihres derzeitigen Lebenshintergrundes schwere Verhaltensstörungen zeigen, erhalten eine individuell zugeschnittene Betreuung in enger Verknüpfung zu den Leistungen des vollzeitbetreuten Wohnens. Ziel: Die Tagesstätte muss Klientinnen/Klienten mit höchstem Grad der Beeinträchtigung getrennt von Wohnen und Freizeit eine bedürfnisorientierte und sinnvolle Form der Aktivität und Beschäftigung bieten und die Teilnahme an einem möglichst normalisierten, selbstbestimmten und integrativen Tagesablauf gewährleisten. Die inhaltliche Ausgestaltung der Betreuung muss auf einem ganzheitlich, integrativen Ansatz basieren. Die begleiteten Klientinnen/Klienten müssen in ihrer Gesamtheit erfasst werden. Förderung hat ausschließlich abgestimmt auf die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der Personen stattzufinden. Entwicklungspotentiale auf physischer, psychischer und sozialer Ebene sollen sichtbar werden. Mit angemessener Unterstützung müssen sich die begleiteten Klientinnen/Klienten neue Fähigkeiten und Kenntnisse aneignen. Damit wird die Erhaltung bzw. die Wiederherstellung der geistigen Gesundheit zu ermöglicht und eine stationäre Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt vermieden. Eine genaue Beobachtung und Dokumentation des Verhaltens der Person ermöglicht eine genaue Diagnose als Grundlage für weitere therapeutische Angebote. Die soziale Kompetenz der betreuten Person soll soweit gesteigert werden, damit sie weitergehende Integrationsleistungen in Anspruch nehmen kann und am gesellschaftlichen Leben teilhaben kann. 1.2 ZI E L G R U P P E 30 Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur hat sich an Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht und Erwachsene (beiderlei Geschlechts) mit geistiger, körperlicher-, sinnes- und/oder mehrfacher Behinderung zu richten. Der Grad der Beeinträchtigung muss als höchst eingeschätzt werden. Die Art und Schwere der Behinderung der Klientinnen/Klienten darf zum aktuellen Zeitpunkt eine Teilnahme an weiterführenden Angeboten nicht zulassen. Maßna hmen der beruflichen Integration sowie Arbeits- und Beschäftigungsangebote der Tageswerkstätten für Menschen mit Behinderung (Hilfe zur beruflichen Eingliederung, produktive / kreative Beschäftigung) müssen für sie eine deutliche Überforderung bedeuten. Darüberhinaus handelt es sich um Menschen mit geistiger Behinderung und zusätzlichen psychischen Beeinträchtigungen oder Verhaltensauffälligkeiten, durch die die Sicherstellung einer angemessenen Lebensqualität gefährdet wird Die Klientinnen/Klienten, die diese Leistung in Anspruch nehmen brauchen: • intensive Unterstützung bei der Planung und Ausführung aller alltäglichen Verrichtungen • umfangreiche Unterstützung bei der Körperpflege und beim Essen • intensive Zuwendung einer Betreuungsperson bei allen Verrichtungen • geeignete Hilfsmittel zur La gerung, Pflege, Mobilität und Kommunikation. • Unterstützung bei der räumlichen und zeitlichen Orie ntierung • umfassende Hilfestellung bei der Lebensplanung, -gestaltung und Perspektivenentwicklung Kommunikation auch ohne Sprache (unterstützte Kommunikation) 1.2.1 Indikationen In der Tagesstätte begleitete Klientinnen/Klienten müssen einen Bedarf an persone ller Unterstützung in allen Lebensbereichen haben. Darüber hinaus haben fast alle dieser Klientinnen/Klienten einen hohen Bedarf an Pflege. Vielfach bewirkt die Schwere der Beeinträchtigung auch das Auftreten psychischer Störungen und schwerer Verhaltensauffälligkeiten. Das sind insbesondere: Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund einer psychiatrischen Erkrankung oder extremen Verhaltensauffälligkeiten in ihrem derzeitigen Lebensumfeld keine ausreichende Betreuung erfahren können. Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung ihrer Körperfunktionen oder Körperstruktur zu extremen Verhaltensweisen neigen oder als Folge unangemessener Betreuung dieses zeigen. Menschen mit geistiger Behinderung, die aufgrund von Fehlunterbringung starke Verhaltensauffälligkeiten zeigen und keine angemessene Betreuung erhalten. 1.2.2 Kontraindikationen 31 Die Leistung darf von Klientinnen/Klienten nicht in Anspruch genommen werden, die einen • geringeren oder mittleren Grad der Beeinträchtigung • Arbeits- bzw. Beschäftigungsfähigkeit • altersbedingte permanente Bettlägerigkeit aufweisen. 1.3 S TELLUNG DES D IENSTES IN DER ANGEBOTSKETTE Die Beschäftigung in Tageseinrichtungen mit Tagesstruktur für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltens- und Entwicklungsstörungen ist die betreuungsintensivste Form der Beschäftigung. Sie wird unter Maßgabe des Normalisierungsprinzips praktisch getrennt, aus pädagogischer Notwendigkeit jedoch inhaltlich als Einheit mit dem Vollzeitbetreuten Wohnen für Menschen mit Behinderung Behinderung und schwersten Persönlichkeits-, Verhaltensund Entwicklungsstörungen geführt. 2. Leistungsangebot 2.1 G RUNDSÄTZE UND M ETHODISCHE G RUNDLAGEN Das Leistungsangebot hat sich an folgenden Grundsätzen insbesondere zu orientieren: • Integration (physisch, funktional und sozial) • Normalisierung der Lebensbedingungen (die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung entsprechen weitgehend denen von Menschen ohne Behinderung) • Selbstbestimmung und Emanzipation (Menschen mit Behinderung treffen Entscheidungen, die ihre Person betreffen selbst bzw. sind zumindest maßgeblich an den Entscheidungsprozessen beteiligt) • Selbstständigkeit (Förderung und Stärkung des persönlichen Handlungsspielraums und der Eigenverantwortung – Hilfe zur Selbsthilfe) 2.2 G RUNDSÄTZE DER PÄDAGOGISCHEN B ETREUUNGSARBEIT : Die pädagogische Betreuungsarbeit soll insbesondere durch Betreuung, Begleitung und Assistenz folgendes fördern: • Trennung von Aktivität/Beschäftigung – Wohnen/Freizeit • Schaffung einer individuell abgestimmten und bedürfnisorientierten Tagesstruktur • Sicherstellung der Teilnahme an Aktivitäten mit unterschiedliche m Schwierigkeitsgrad • Begleitung und Förderung auf Individual- und Gruppenebene • regelmäßiger Wechsel von Beschäftigung, Förderung und Therapie • Teilnahme an gesellschaftlichen Veranstaltungen • Bereitstellung fachlich kompetenter und verlässlicher Bezugspersonen 32 • gemeinschaftliche Planung und Gestaltung des Alltages • bedarfsorientierte Unterstützung bei Planung, Durchführung und Reflexion von Aufgaben und Vorhaben • Hilfestellung bei der Fortbewegung • Unterstützung bei der Kommunikation und dem Aufbau bzw. Erhalt sozialer Kontakte (in und außerhalb der Tagesstätte) • Hilfestellung bei der Nahrungsaufnahme, Hygiene und Körperpflege • medizinische und pflegerische Grundversorgung • Bedürfnisentwicklung- und Bedürfnisdifferenzierung • Förderung der Kommunikationsfähigkeit • Verstärkung der Eigenaktivität • Unterstützung der Identitätsentwicklung • Erhaltung und Verbesserung des körperlichen Gesundheitszustandes • Basale Aktivierung, Basale Kommunikation (Basale Stimulation) • fachärztliche Betreuung (Neurologie, Psychia trie, …) • Beratung von Eltern, Angehörigen und Sachwalterinnen/Sachwalter • Umgang mit Aggressionen • Soziale Kompetenzförderung • Hilfe bei der Aufarbeitung traumatischer Erlebnisse 2.3 L EISTUNGSUMFANG Die Leistung ist wie folgt zu erbringen: Stationär-Teilzeit: Betriebstage: Betreuungszeiten: Journaldienste: bis zu 8 Stunden täglich durchschnittlich 248 Tage/Jahr an Werktagen; 38 Stunden/Woche keine Verpflegung: während des Tages: Jause und Mittagessen 3. Qualitätssicherung 3.1 S TRUKTUR -S TANDARDS 3.1.1 Einrichtung Einrichtungsgröße: Richtwert: 12 Klientinnen/Klienten Standort und Umgebung: Folgende infrastrukturelle Mindestanforderungen sollen erfüllt werden: • Es ist sicherzustellen, dass den Klientinnen/den Klienten die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben ermöglicht wird. 33 • Es ist sicherzustellen, dass eine entsprechende Infrastruktur (Geschäfte, Ärzte, Institutionen etc.) vorhanden ist. • Eine Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz soll vorhanden sein. Raumbedarf : Die Einrichtung soll nach folgenden Grundsätzen errichtet sein (Richtwert : maximal 28 m² Gesamtraumbedarf je Klientin/Klient): Grundsätzlich gilt die rollstuhlgerechte Planung und Gestaltung, je nach Bedarf, bei • Gruppenräumen • Projekträumen • Werkstätten-, Therapie- und Entspannungsräumen, Lehrküchen (in allen Gruppen und Projekträumen sind Waschbecken zu installieren) • Küchen • Gemeinschaftsräumen • Sanitärbereichen • geschlechtergetrennte WC Anlagen, in der Betreuung von Klientinnen/Klienten mit Pflegebedarf sind zusätzliche WC Anlage n vorzusehen • in der Betreuung von Klientinnen/Klienten mit Pflegebedarf ist ein entsprechend ausgestatteter Pflegebereich (WC, Pflegebadewanne, Sitzdusche, Wickelliege, technische Hebehilfen, Halte- und Stützgriffe, Notsignalanlage und dergleichen) zur Verfügung zu stellen. Die konkreten Ausstattungsmerkmale sind individuell zu bestimmen, wie insbesondere: • Garderoben und Nebenräume, sonstige Räumlichkeiten Die Einrichtung ist jeweils nach dem baulichen und technischen Stand der Technik zu errichten. 3.1.2 Fachpersonal Pädagogische Le itung: • Das Leitungspersonal richtet sich nach der Anzahl des Betreuungspersonals. Maximalwert: 6,7 % Dienstposten pro 100 % Betreuerdienstposten Gesamtpersonalbedarf: Der Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträcht igung der betreuten Klientinnen/Klienten, der jeweiligen betrieblichen Ablauforganisation und den Leistungsschwerpunkten definiert. Die Anzahl des einzusetzenden fachlich qualifizierten Personals richtet sich nach der Anzahl der betreuten Klientinnen/Klienten und deren Grad der Beeinträchtigung. 34 Grad der Beeinträchtigung: Der konkrete, tatsächliche Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wird über den Grad der Beeinträchtigung der betreuten Klientinnen/Klienten (Anlage 4) und die jeweilige betriebliche Ablauforganisation (Besetzungszeiten, Einzelbetreuung, Team, Supervision, Fortbildung bzw. Personalentwicklung sowie Planung und Dokument ation) definiert. Zielwerte: Höchster Grad der Beeinträchtigung: 1:1 maximal 1,00 DP/Klientin/Klient Mindestpersonalbedarf : Die Zielwerte können im Einzelfall seitens der Leistungserbringer nach tatsächlichen Betreuungserfordernissen im Rahmen eigener pädagogischen Verantwortung kur zfristig unterschritten werden, sofern eine ordnungs-gemäße Betreuung mit dem Mindestpersonal noch gewährleistet ist. (Mindestwert: pro Einrichtung für 12 Klientinnen/Klienten : 700% Dienstposten) Qualifikation: • Die Qualifikation des Personals hat den Anforderungen der Leistungsart bzw. der Funktion und der Ziele der Einrichtung (Punkt 1.) und der dafür formulierten Stellenbeschreibung zu entsprechen. • Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen eine abgeschlossene Ausbildung im psychosozialen, heil/sonderpädagogischen bzw. handwerklichen Bereich (Heil- und Sonderpädagoginnen-/pädagogen, Behindertenpädagoginnen-/pädagogen, Behindertenfachbetreuerinnen-/betreuer, Psychologinnen/Psychologen, Dipl. Soziala rbeiterinnen/Sozialarbeiter, Sonderschullehrerinnen-/lehrer, diplomierte Pflegehelferinnen-/helfer, Therapeutinnen/Therapeuten) haben. Die primäre Qualifikation hat sich nach der konkreten Stellenbeschreibung zu richten. Je nach Anforderung des konkreten Arbeitsfeldes können (komplementäre) Zusatzqualifikationen erforderlich sein. Bei erforderlichen, pflegerischen Tätigkeiten ist eine Ausbildung, Zusatzausbildung oder entsprechende Nachschulung des Personals für diesen Pflegebereich jedenfalls erforderlich. 3.2 P ROZESS -S TANDARDS 3.2.1 Organisation • Aufbau und Ablauforganisation müssen in einem Orga nisationshandbuch dargestellt werden (Funktionsbeschreibungen, Stellenbeschreibungen). • Im Betreuungskonzept hat eine Darstellung und Beschreibung der Ziele und Methoden anhand dieser Verordnung zu erfolgen. 3.2.2 Dokumentation Die klientenspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu enthalten: 35 • Vorgeschichte/Erstkontakt (z.B. Klientinnen-/Klientenanfrage, bei Bedarf Wartezeit, Ersterhebung, Anamnesebogen, Zuweisungsdiagnose, Interessensabklärung und dergle ichen) • Einstufung in Zusammenarbeit mit dem IHB-Team auf Grundlage der ICF. • Aufnahme in Form einer Stammdatenerhebung (allgemein, medizinisch) des Unterstützungsbedarfes, des Pflegebedarfes, weitere therapeutische – psychologische Maßnahmen, zusätzliche Betreuungs-vereinbarungen, Erfassen vo n Klientinnen/Klientenwünschen und Zielen, zusätzliche Vereinbarungen mit Personen aus dem Herkunftssystem (Eltern, Angehörigen) und Sachwalterinnen/Sachwaltern), Notfallsblatt, Gesundheitsblatt (Medikamente und Befunde)und dergleichen. • Erfassung von Verhaltensauffälligkeiten, Erfassen von Stärken und positiven Botschaften, Beobachtungsbögen • Verlaufsdokumentation (Aktualisierung persönlicher Stammdaten, Zielund Entwicklungsplanung auf Basis des konkreten Leistungszuerkennungsbescheides, Betreuungsprotokolle, Berichte und dergleichen.) • Abschlussdokumentation der Betreuungsleistung (Abschlussbericht) Die einrichtungsspezifische Dokumentation hat insbesondere folgendes zu entha lten: • Leistungsdokumentation • Verlaufs- und Entwicklungsdokumentation (Jahresentwicklungsberichte) • Dienstpläne • Fortbildungspläne des Fachpersonals • Anwesenheitslisten von Klientinnen/Klienten • Dokumentation von Teambesprechungen, Teamsupervisionen und Fortbildungen des Fachpersonals • Sonstige trägerspezifische Dokumente (Protokolle und dergleichen) 3.2.3 Fachpersonal/Personalentwicklung Regelmäßige Teambesprechungen sind abzuhalten. Teamsupervisionen sind verpflichtend und regelmäßig abzuhalten. Fortbildungen sind verpflichtend und regelmäßig auf allen Ebenen durchzuführen. Personalentwicklung ist insbesondere sicherzustellen durch: • Personalentwicklungskonzept • Einschulung neuer Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter • Jährliches Mitarbeiterinnen-/Mitarbeitergespräch 3.3 ERGEBNIS -S TANDARDS • Jahresentwicklungsberichte sind zu erstellen. 36 • Die Prüfung des individuellen Maßnahmenerfolgs erfolgt über die leistungszuerkennenden Behörden nach Einholung eines Sachverständigengutachtens je nach Bedarf und Erfordernis. 4. Controlling Die Leistungserbringer sind verpflichtet, über Ersuchen der Landesregierung rege lmäßig automationsunterstützt Daten bekannt zu geben. Daten sind insbesondere: • • • • Einrichtungsbezogene Daten Klientenbezogene Daten Personalbezogene Daten Kostenbezogene Daten 37 5 5.1 Anhang Begriffe/Definitionen Den Menschen, die im Blickpunkt dieser Konzeption stehen, werden verschiedene, teils umstrittene Bezeichnungen gegeben. Das Selbstvertretungsnetzwerk People First Steiermark1 möchte ihr Mitglieder Menschen mit Lernschwierigkeiten genannt wissen. Im weiteren soll jedoch nach einer Diskussion der vielen, synonym verwendeten Begriffe einheitlich der in der Fachliteratur weit verbreitete Begriff Menschen mit geistiger Behinderung verwendet werden. Die hier fokussierte Gruppe von Menschen mit Mehrfach- oder Doppeldiagnosen wird hierbei eher eingeschlossen, als durch die Bezeichnung des Selbsthilfenetzwerks. Dieser Begriff ist jedoch zu unterscheiden von Lernschwierigkeiten bei schulischen Teilleistungsschwächen, die im ICD-10 unter F 81 als Entwicklungsstörungen beschrieben werden (Le gasthenie, Dyskalkulie), obwohl für beide Personengruppen eine strukturell ähnlich behindernde Mensch-Umwelt-Beziehung besteht. Der vor allem bei Laien am weitesten verbreitete Begriff geistige Behinderung führt in diesem Zusammenhang zu sprachlichem und inhaltlichem Widerspruch. So soll doch das hier vorgestellte Einrichtungsverbundkonzept der Erhaltung bzw. Wiederherstellung von geistiger Gesundheit dienen. Eine generelle oder auf eine angeborene, physische Konstitution zurückzuführende Behinderung des Geistes eines Menschen würde dies unmöglich machen. Dieser Einwand ist auch dem in der Psychiatrie verwendeten Begriff seelische Behinderung für chronifizierte Klienten entgegenzuhalten. Die o.g. Einwände bzw. Verwechslungsgefahren gelten entsprechend für die synonym verwendeten Begriffe Lernbehinderung, intellektuelle Behinderung, mental retardation, developmental disability und learning disability. Um ihre Dienstleistung verantwortlich durchzuführen, bauen heilberuflich tätige Personen eine vertrauensvolle Beziehung zu den Menschen auf, denen sie sich widmen. Wenn im Text diese Beziehung im Vordergrund steht, soll dies durch die Verwendung des Begriffes Klient für die Bezeichnung von Menschen mit geistiger Behinderung verwendet werden. Dieser Bezeichnung soll gegenüber dem im Deutschen 1 Aus http://www.peoplefirst.at/uns.php#wollen : Was wollen wir? Wir wollen, dass alle Leute "Menschen mit Lernschwierigkeiten" zu uns sagen, weil wir dazu stehen! 38 problematischen Begriff Konsument aus dem Englischen Begriff consumer übersetzt, bevorzugt werden, da es sich bei der oben dargestellten Beziehung um mehr als ein ökonomischer Austauschprozess handelt. Darüber hinaus gibt es Unterstützungsdienstleistungen, in denen Menschen mit geistiger Behinderung sehr wohl die Rolle des Konsumenten einnehmen. Dieser Sachverhalt soll dann auch so bezeichnet werden. Für Menschen mit geistiger Behinderung, die zusätzlich eine psychische oder Verhaltensstörung aufweisen, ist der Begriff Doppeldiagnosen (Dualdiagnose, dual diagnosis, dual disability) leider nicht sehr trennscharf. In der Fachwelt wird er meistens für psychisch kranke Menschen mit Suchtproblematik verwendet. Zudem kann eine Doppel- oder Mehrfachdiagnose das Zusammentreffen jeder beliebigen medizinischen Diagnosen bedeuten, ohne eine spezielle Abgrenzung auf Menschen mit geistiger Behinderung. Auch die klassische Definition der geistigen Behinderung anhand niedriger psychometrische r IQ-Werte, die noch vor dem Erwachsenenalter auftreten müssen, führt nicht sehr weit. So kann eine Intelligenzminderung nach ICD-10 F7 durch Demenz, Hirnverletzung oder Residual nach einer psychotischen Phase entstehen. Ebenso kann Autismus ohne Intelligenzminderung aber mit Verhaltensstörungen auftreten. Ähnliche Schwierigkeiten treten auch bei Menschen mit organischem Psychosyndrom auf. Im Hinblick auf die angestrebte Anbindung des Einrichtungsverbundes an ambulante psychosoziale Versorgungsstrukturen soll daher in diesem Bericht der Begriff Mehrfachdiagnosen verwendet werden. Im ICD-10 wird Oligophrenie als Klassifikation nicht verwendet, taucht als Begriff jedoch noch auf. Auch wird er nach wie vor im psychiatrischen Alltag verwendet. Da bei dem m.E. ungeeigneten Begriff Oligophrenie von einem angeborenen Intelligenzdefizit ausgegangen wird, soll er nicht verwendet werden. 5.1.1 Geistige Gesundheit Die zwei Hauptmerkmale von geistiger Gesundheit sind einerseits emotionales Wohlbefinden und andererseits wertvolle soziale und zwischenmenschliche Beziehungen. Emotionale Stabilität und Wohlbefinden ist ein wichtiger Teil unseres 39 menschlichen Lebens. Gute soziale und zwischen menschliche Beziehungen sind wichtig für ein reiches erfülltes Leben. Menschen mit geistiger Behinderung sind nicht im Hinblick auf diese menschliches Qualitäten eingeschränkt. Sie sind sehr wohl in der Lage ein wertvolles emotionales Leben zu genießen. Leider gibt es immer noch weit verbreitete Missverständnisse bzgl. geistige Gesundheit bei Menschen mit geistiger Behinderung: 1. Es wird oft angenommen, dass Menschen mit geistiger Behinderung keine psychischen Störungen aufweisen, sondern dass diese zu dem Gesamtbild der geistigen Behinderung zählen. 2. Sehr häufig sieht man, dass Menschen mit ge istiger Behinderung so behandelt werden als ob sie über keine richtigen Gefühle und Emotionen verfügen würden. Genauso wie alle anderen können Menschen mit geistiger Behinderung über die gesamte Bandbreite von Gefühlen und Emotionen verfügen. Sie können verletzlich und sensibel sein und auch sie können sich fürchten. 3. Manchmal wird angenommen dass die geistig behinderte Person Veränderungen in ihrer Umwelt nicht wahrnimmt, oder unbeeinflusst von ihnen bleibt. In der tat ist es jedoch so, dass die eingeschränkte Fähigkeit zu verstehen was um sie herum passiert die Reaktionen der Menschen mit geistiger Behinderung verstärkt. So kann zum Beispiel die Umstellung des Betreuungspersonals, allgemeine Veränderungen in der Unterkunft des Patienten, neue Mitbewohner oder Krankheiten und Todesfälle im Familien- und Freundeskreis zu einem schwerwiegenden Ungleichgewicht in Verhalten führen. 5.1.2 Verhaltensstörungen, Verhaltensauffälligkeiten, Krisen Bevor eine Beschreibung von Mehrfachdiagnosen mit ihren zugehörigen Krankheitsbildern bzw. Verhaltensstörungen erfolgt, sollten Störungen, Auffälligkeiten und allfällig auftretende Krisen generell unterschieden werden in: psychosozial vs. psychiatrisch (normal) (pathologisch) Lebenskrise Erkrankung Als Fachbegriff erscheint Krisen zunächst unscharf , da er keine eindeutige Beschreibung der Problematik oder der Methoden (z.B bei der Krisenintervention) wie- 40 dergibt. Der Krisenbegriff hilft jedoch, die komplexe Wirklichkeit der Person erkennbar und beschreibbar zu machen. Krise soll hier im engeren Sinn benutzt werden, nach dem universalistischer Ansatz von Ulich (1987) und Krystek (1987) folgend. Dabei sollen in dieser Arbeit zwei verschiedene individuumszentrierte Krisenkonzepte gebraucht werden: 1. Entwicklungskonzept 2. Coping (Belastungs- Bewältigungskonzept). 5.1.3 Mehrfachdiagnosen bei Menschen mit geistiger Behinderung Menschen mit geistiger Behinderung die gleichzeitig psychosoziale Auffälligkeiten bzw. psychische Störungen oder Verhaltensstörungen 2 aufweisen, sollten weiters dahingehend unterschieden werden, inwieweit die Störung tatsächlich behandlungsbedürftig im klinischen Sinne ist. So kann 1. eine Kompensation mit lebensweltbezogen, therapeutisch-pädagogischen Konzepten ausreichen, oder 2. eine psychiatrisch, psychotherapeutische Behandlung notwendig sein. Verhaltensstörungen sind normabweichende Verhaltensweisen, die welche die Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen oder das jeweilige soziale Umfeld längerfristig beeinträchtigen, unter unterschiedlichen Bedingungen und Situationen auftreten, von den Betroffenen nicht kontrolliert werden können und besondere pädagogische Maßnahmen erfordern. Bei Menschen mit geistiger Behinderung kann man u.a. folgende Verhaltensauffälligkeiten beobachten: § Aggressives Verhalten gegen Gegenstände und Personen in Wort und Tat. § Selbstverletzendes Verhalten (z .B. Kopfschlagen, Sich-Beißen) § Stereotypien (z. B. Körperjaktationen, Handwedeln, stereotypes Hantieren mit Gegenständen, exzessives Finger- oder Handlutschen). § 2 Plötzliche Wutausbrüche. Im angelsächsischen Sprachraum wird für Verhaltensstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung der Begriff Challenging Behaviour (herausforderndes Verhalten) verwendet. 41 § Stimmungsschwankungen ohne ersichtlichen Grund. § Lang anhaltendes Schreien oder Weinen. § Aufdringliches und vereinnahmendes Verhalten gegenüber dem Personal. § Starkes Rückzugsverhalten und soziale Isolierung. § Depressive Verstimmungen. § Hyperaktivität. § Extreme Langsamkeit. § (Selektiver) Mutismus. § Sexuelle Auffälligkeiten (z. B. öffentliches Masturbieren, Sich- Entkleiden). § Essstörungen (z. B. Nahrungsverweigerung, selbstinduziertes Erbrechen, Essen und Trinken im Übermaß). § Kotschmieren, Spielen mit Speichel oder Erbrochenem. § Selbstinduzierte epileptische Anfälle. § Scheinbares Desinteresse am Geschehen in der Umwelt und an Gruppenaktivitäten. § Enuresis (Einnässen), Enkopresis (Einkoten) (s. auch Mühl, Neukäter, Schulz 1996, 18f; vgl. auch Lingg, Theunissen 1993, 19ff) Die Forschung der vergangenen Jahre die sich mit den psychopathologischen Erscheinungsbildern bei erwachsenen Menschen mit geistiger Behinderung gewidmet hat, konnte vielfach feststellen, dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten deutlich vermehrt bei Menschen mit geistiger Behinderung auftreten als bei der Allgemeinbevölkerung. Hierbei gilt zu beachten, dass nicht alle Erscheinungsformen als psychiatrische Störungen im ICD 10 F.5. aufgezählt sind. Es handelt sich hierbei um Verhaltensauffälligkeiten die als bizarr, störend und herausfordernd umschrieben werden bzw. um Verhaltensweisen mit direkt schädlichen Konsequenzen wie zum Beispiel automutitatives Verhalten (Weber, 1997). 42 Unter Verhaltensstörungen wiederum fallen verschiedene Erscheinungsbilder wie Aggression, wobei es sich sowohl um verbale als auch um körperliche Aggression gegen andere und Gegenstände handeln kann. Dazu zählen auch die Selbstverletzenden Tendenzen (Automutilationen). Diese oft lebensgefährlichen Tendenzen reichen vom rhythmischen Schlagen des Kopfes gegen eine Wand, über sich ins Gesicht schlagen, sich die Augen eindrücken, bis hin zu Selbstverstümmelungen von Gliedmaßen. Eine andere Gruppe von Verhaltensstörungen sind die sogenannten Stereotypien, ritualisierende, repetitive Verhaltensweisen, rhythmische Schaukelbewegungen . Störungsformen wie Hyperaktivität und lmpulsivität findet man eher bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung als bei Erwachsenen In letzter Zeit hat sich der Begriff "herausforderndes Verhalten" ( challenging behaviour) weitgehend durchgesetzt. Qureshi & Alborz (1992) geben folgende Definition dafür an, die vor allem im praxisbezogenen Umgang mit Betroffenen von großer Bedeutung ist: "..ein Verhalten, welches (a) zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der Person selbst oder bei Drittpersonen zu mehr als geringfügigen Verletzungen geführt hat, (b) zu einem bestimmten Zeitpunkt zu Zerstörungen in der direkten Wohn- oder Arbeitsumwelt geführt hat, (c) welches die Person in extreme Gefahr bringt, bzw. welches die Intervention von mehr als einer Betreuungsperson benötigt und mehr als einmal im Monat vorkommt und (d), weiches Unterbrechungen in den Aktivitäten der umgebenden Personen von mehreren Minuten hervorruft und täglich mehrmals vorkommt." Es ist eine Tatsache, dass über die Menschen mit Dualdiagnose und ihre charakteristischen Merkmale sehr wenig bekannt ist, und noch weniger weiß man über den Einfluss des Alters auf die Verhaltensauffälligkeiten und die psychischen Störungen. Man hat jedoch herausgefunden, dass bei Menschen mit geistiger Behinderung ursprüngliche Verhaltensstörungen (solche wie sie im Kindes- und Jugendalter aufgetreten sind) im Erwachsenenalter wesentlich abgeschwächter auftreten (Rollett, 1997). Bei Angststörungen, Depressionen und Psychosen kann es auch zu einer Verlagerung der Symptomatik bei gleichbleibendem Schweregrad kommen. Bei Erwachsenen mit geistiger Behinderung können alle psychiatrischen Störungen vorkommen, wie sie uns aus der Allgemeinbevölkerung bekannt sind. Die wichtigsten seien hier nur kurz aufgezählt: 43 Persönlichkeitsstörungen: Störungen, die über ganze Lebensabschnitte anhalten. Es gibt verschiedenen Subtypen wie zum Beispiel emotional anhänglich, aufmerksamkeitserregend, aufbrausend, unbeständig- sprunghaft. Affektive Störungen: Störungen der Grundstimmung die sich meist durch eine tiefe Traurigkeit ankünd igen, häufig verbunden mit auffallenden Veränderungen der Eß- und Schlafgewohnheit und des Antriebes. Es kann auch zu plötzlichen euphorischen Ausbrüchen kommen. Angst: Extreme Angstzustände, häufige Beschwerden über körperliche Leiden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Schwindelgefühl. Hinzu kommt oft eine extreme Nervosität die Wochen andauert. Hierunter fallen Panikstörungen und posttraumatische Stressstörung. Psychotische Störungen: Können sich in plötzlichen Verhaltensänderungen zeigen. Oft mit extremer Desorientierung und Verwirrtheit, Stimmenhören, exzessive Ärgerausbrüche und geringer Kontrolle der Impulsivität. Vermeidungsverhalten (auch Zwänge): Der Betroffenen ist ein Einzelgänger der seine Mitmenschen meidet aus Angst vor Kritik, Scham und dem Nicht-Akzeptiert werden. Rituelle, zwanghafte Handlungen Paranoide Persönlichkeitsstörung: Betroffene verhalten sich anderen gegenüber als äußerst misstrauisch und fühlen sich schnell hintergangen und angegriffen. Sie neigen zu Überreaktionen und Sturheit. 5.2 Theoretische Grundlagen 44 5.2.1 Epidemiologie Jacobson (1990) wertete die Daten einer großen Population (n= 42479) geistig Behinderter im Hinblick auf das Vorkommen von psychischen Störungen aus. 8496 Personen (20%) erhielten die Doppeldiagnose psychische Störung und Entwicklungsstörung. 33983 Personen (80%) wurden nur als entwicklungsgestört eingestuft. Es muss allerdings angemerkt werden, dass in der Untersuchung ein Anteil von ca. 30,3% der Einstufung ‘mild mental retardation’ zugeordnet war. Diese Einstufung entspricht, wie bereits mehrfach erwähnt, nicht unbedingt dem deutschen Terminus der geistigen Behinderung. Jacobson differenzierte die Gesamtgruppe in zwei Teilgruppen. In der ersten Gruppe wurden die geistig Behinderten bis 22 Jahre zusammengefasst, in der zweiten die über 22jährigen. Tabelle 1: Häufigkeit des Vorkommens psychischer Störungen bei geistig Behinderten ( vgl. Jacobson, 1990, S. 588) bis 22 Jahre über 22 Jahre männl. weibl. Gesamt männl. weibl. Gesamt Nichtpsychotisches organi- 2,3% 1,16% 1,83% 2,02% 1,9% 1,97% sches Hirnsyndrom Psychosen 7,78% 5,1% 6,68% 5,93% 5,4% 5,69% Neurosen 1,39% 1,21% 1,32% 1,3% 1,71% 1,49% Persönlichkeitsstörungen 5,96% 3,77% 5,06% 4,22% 3,72% 3,99% Verhaltensstörungen des 13,14% 7,4% 10,78% 1,21% 1,02% 1,12% Kinder- und Jugendalters Gesamt 30,57% 18,6% 25,67% 14,68% 13,7% 14,26% Anhand von Tabelle 1 wird deutlich, dass Verhaltensstörungen im Kinder- und Jugendalter, genau wie bei nicht geistig behinderten Personen, bei Jungen gehäufter auftreten als bei Mädchen. Nach Angaben des DSM-III-R kann bei 9% der Jungen und bei zwei Prozent der Mädchen eine Störung des Sozialverhaltens diagnostiziert werden (Wittchen, Saß, Zaudig & Köhler, 1991). Ansonsten gibt es ein deutlich geringes Auftreten von psychischen Störungen bei geistig Behinderten im Alter von über 22 Jahren. Die niedrigen Raten dieser Gruppe erklärt Jacobson (1990) mit dem Ausschluss eines Teils der Fälle aufgrund unspezifizierter Diagnosen. Anhand der dargestellten Untersuchungen ergibt sich, dass psychische Störungen bei geistig behinderten Kindern und Jugendlichen erheblich öfter auftreten, als bei nicht Behinderten. Dem von Jacobson ermittelten Anteil von 25.67 % psychisch gestörter 45 Kinder und Jugendlicher, steht ein Anteil von 5% bei der Normalbevölkerung entgegen. Es muss allerdings einschränkend angemerkt werden, dass beide Untersuchungen aufgrund der unterschiedlichen Stichproben nicht direkt miteinander vergleichbar sind. Matson , Gardner, Coe und Sovner (1991) beschreiben die psychischen Störungen einer Gruppe von 506 amerikanischen erwachsenen geistig Behinderten, die nach dem Diagnoseschema der AAMR (vgl. Kapitel 1.1) als severely mental retarded (32.3%) und profoundly mental retarded (62.7%) eingestuft wurden. Es zeigten 45.8% der Stichprobe selbstverletzendes Verhalten. 37.7% zeigten Stereotypen. Probleme der Impulskontrolle wurden bei 72.9% der Stichprobe diagnostiziert. Psychiatrische Störungen der Gruppen eins und zwei des triadischen Systems der Psychiatrie (vgl. Huber, 1994) wurden erheblich weniger diagnostiziert. Beispielsweise wurden schizophrene Störungen nur bei 0.6% der Stichprobe festgestellt. Lotz und Koch (1994) geben einen Überblick über 75 durchgeführte Studien zur Fragestellung des Auftretens von psychischen Störungen bei geistig Behinderten. Sie zeigen, dass in Deutschland bislang drei Studien zu dieser Fragestellung durchgeführt worden sind. Drei viertel der Studien insgesamt sind in den USA und in Großbritannien erstellt worden. Die beiden Autoren attestieren eine Zunahme der Forschungstätigkeit auf diesem Gebiet, da 68% der von ihnen gesichteten Untersuchungen in den Jahren nach 1981 durchgeführt worden sind. Sie gehen nach Sichtung der Studien von einem Anteil von 30-40% psychisch gestörter geistig behinderter Menschen aus. Die am häufigsten gestellten Diagnosen sind Verhaltensstörungen und psychotisches Verhalten. Sie stellen weiterhin fest, dass bei Menschen mit leichter geistiger Behinderung häufiger neurotische Störungen und Persönlichkeitsstörungen, sowie affektive und schizophrene Psychosen festgestellt werden. Verhaltensstörungen werden dagegen häufiger bei schwerer geistig behinderten Menschen diagnostiziert. Verhaltens- und Persönlichkeitsstörungen wurden häufiger bei männlichen Probanden festgestellt. Im Gegensatz dazu wurden affektive und insbesondere depressive Störungen vermehrt bei weiblichen geistig Behinderten beobachtet. Dieses deckt sich mit dem Vorkommen dieser Störungen in der Normalbevölkerung. Ein Großteil dieser Studien griff allerdings auf ‘Gelegenheitsstichproben’ von jeweils gerade innerhalb großer Einrichtungen leicht verfügbaren geistig Behinderten zurück. Die Mehrzahl der Studien untersuchte eine heterogene Stichprobe, heterogen 46 sowohl nach dem Alter, wie nach dem Behinderungsgrad der Probanden. Einige machten keine Angaben hinsichtlich Alter, Geschlecht und Behinderungsgrad der untersuchten Personen. Dieses könnte Auswirkungen auf die Repräsentativität der Ergebnisse haben. Meins (1994) kommt nach Sichtung des Forschungsstandes zu dem Ergebnis, dass bei leicht geistig Behinderten die Prävalenz von psychischen Störungen um etwa 50% über dem Niveau der Normalbevölkerung liegt. Bei schwerer geistiger Behinderung geht er von einer zwei- bis dreifach höheren Prävalenz gegenüber Normalintelligenten aus. Gaerdt, Jäckel und Kischkel (1989) beschreiben eine Studie von Rutter aus dem Jahre 1976. Dieser ermittelte bei der Untersuchung aller Kinder einer Gemeinde auf der Isle of Wight ein um das Vier- bis Fünffache erhöhtes Vorkommen von psychischen Störungen bei geistig behinderten Kindern. Reiss, Goldberg, und Ryan (1993) geben an, dass amerikanische Gesundheitsbehö rden von einer Quote zwischen 10 und 40 % an psychischen Störungen bei geistig Behinderten ausgehen. Im Gegensatz dazu kamen verschiedene amerikanische Studien nur auf eine Quote von 10 bis 20 % (ebd.). Reiss et al. (ebd.) geben weiterhin an, dass bei geistig Behinderten im Bereich psychische Störungen Probleme des Sozialverhaltens am verbreitetsten sind. 5.2.2 Ätiologie 5.2.2.1 Ursachen und Modelle von psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung Seit den 70er Jahren haben Studien immer wieder daraufhin gedeutet, dass vor allem Menschen mit geistiger Behinderung besonders anfällig für psychopathologische Phänomene sind. Die Psychopathologie wird zu einer besonderen Herausforderung wenn es darum geht die persönliche Unabhängigkeit eines Menschen zu fördern. Gleichzeitig ist es aber auch die Psychopathologie die zur Institutionalisierung führt. Es ist wenig verwunderlich, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung und einem Mangel an sozialer Kompetenz größere Schwierigkeiten haben sich in einer komplexen Gesellschaftsstruktur zurückzufinden. 47 Unterdurchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten und die Einengung in den adaptiven Fähigkeiten die untrennbar mit geistiger Behinderung einher gehen ,sind zu einem großen Teil die Ursache für die immer wiederkehrenden Stresserlebnisse, die immer wiederkehrende Angst, der immer wiederkehrende Kontrollverlust und das immer wiederkehrende tiefe Gefühl der Unsicherheit Auffälliges Verhalten kann aber auch physische Ursachen haben. So können Verhaltensweisen wie Schreien und Selbstverletzung oft eindeutig Schmerzen und Unbehagen zugeschrieben werden. Es ist also wichtig die Möglichkeit von Schmerz oder Krankheit für ein abnormes Verhalten in Betracht zu ziehen. Als Veranschaulichung eignet sich zum Beispiel ein sensorischer Defizit, wie eine nicht erkannte Taubheit oder Schwerhörigkeit, die im Laufe der zeit eine schwere Verhaltensstörung mit sich bringen kann. Als andere möglichen Ursachen für Verhaltensauffälligkeiten werden häufig folge nde Themen gena nnt (Bouras, N. 1997) : Verhaltensstörung als Antwort auf ein reizarmes Umfeld Die Wahrscheinlichkeit für erwachsenen und ältere geistig behinderte Menschen in eine psychiatrische Anstalt zu kommen ist recht hoch. Dass diese Krankenhäuser nicht immer die ideale Umgebung für diese Menschen darstellen ist kein Geheimnis. Es werden wenig Aktivitäten und sonstige Beschäftigungen angeboten und auch auf sozialem zwischenmenschlichem Plan zeichnet sich meist ein sehr dürftiges Bild ab. Oft sind die Interaktionen zwischen Betreuer und Betroffenen gekennzeichnet von einer gewissen Härte und Forderung seitens der Betreuer, anstatt unterstützend zu sein. Die Lebensqualität ist für die betroffenen Personen meist sehr eingeschränkt. Dass es in einer solchen Umgebung gehäuft zu auffälligen Verhaltensweisen kommt die nach Zuneigung, Kontakt, Aktivität und Vermeidung unangenehmer Ansprüche streben ist offensichtlicher zu erwarten als es dies in einer unterstützenden, empathischen Umgebung der Fall wäre. Verhaltensstörung als gelerntes Verhalten Verhaltensauffälligkeiten lassen sich eben so erlernen wie jedes andere Verhalten. Wenn auf ein Verhalten, das zunächst nicht in Erwartung einer Belohnung erfolgte, eine Reaktion folgt, die die betreffende Person als angenehm emp findet, so wird die 48 Person in weiterer Folge mit dem Verhalten eine für ihn positive Konsequenz verbinden; eine Belohnung so zu sagen. Diese subjektive positive Bewertung eines Verhaltens, welches von der Umwelt als störend oder unangepasst bezeichnet wird, ist für die Betreuer jedoch oft nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Früher wurde auffälliges Verhalten meist mit dem Label aufmerksamkeitserregend versehen und daher oft unbeachtet gelassen. Mittlerweile wird versucht das Verha lten differenzierter zu betrachten und in direktem Zusammenhang mit den Bedürfnissen der jeweiligen Person zu sehen. So konnte man 4 verschiedene Belohnungstypen heraus filtern. 1. Der soziale Typus : Interaktion mit einem anderen wird als Belohnung empfunden. 2. Der primär greifbare Typus : Die Belohnung liegt in der Nahrungsaufna hme oder dem Rauchen; in Dingen die konsumiert und berührt werden können. 3. Der sensorische Typus : Sensorische Stimulation ist die Belohnung. 4. Der Anforderungsvermeidungstypus Man geht unangenehmem aus dem Weg und empfindet dies als Belohnung. Verhaltensstörung als Kommunikation Dies steht in engem Kontakt zu dem vorher erwähnten Punkt, da man solchen Verhaltensweisen die eine Reaktion aus der Umwelt des Betroffenen erzeugt, einen kommunikativen Charakter zuspricht. Verhaltensstörung als Antwort Erwachsene geistig Behinderte können sich ihrer Behinderung sehr wohl bewusst sein. Alle sind aber alleine nicht immer in der Lage ihre Lebenssituation zu bewältigen, was oft starke Gefühle des Zorns, der Hilflosigkeit und des Schmerzes hervorruft. Leider sind die geistig Behinderten den Reaktionen ihrer Umgebung meistens hilflos ausgesetzt und leider ist diese Umwelt nicht immer stützend und hilfsbereit. Es kommt immer wieder vor dass Menschen mit geistiger Behinderung sowohl emotional wie physisch, sexuell und psychisch missbraucht werden So hat sich gezeigt, 49 dass bei verschiedenen Verhaltensstörungen ein konkreter Missbrauch zurückve rfolgt werden konnte. Hennike (2002) weist darauf hin, das die Reaktionen auf eine postraumatische Belastungsstörung oder Anpassungsstörung (ICD-10, F43) oft fälschlicherweise der Behinderung zugeschrieben werden. Das Risiko, daß Menschen mit geistiger Behinderung Opfer von Gewalt werden, ist ungleich höher als bei nichtbehinderten. Die Häufigkeitsangaben sind erschreckend und deuten darauf hin, daß fast alle Menschen mit geistiger Behinderung, die im Laufe ihres Lebens sexuelle Übergriffe erlebt haben, ein wesentlicher Teil davon auch schwere Mißhandlungen. Auch bei Menschen mit geistiger Behinderung werden die Ursachen von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen in psychologisch begründeten Modellen zusammengefasst. Hier sollen nur ein paar von den wichtigsten vorgestellt werden. 5.2.2.2 Das Vulnerabilitäts-Streßmodell von Roder et al. Das 1977 im Rahmen der Schizophrenieforschung entwickelte Modell ( Roder, Brenner, Kienzie & Hodel, 1991).von Zubin und Spring wurde in den letzten Jahren gehäuft zur Erklärung des Auftretens von psychischen Störungen bei geistigen Behinderten verwendet (David & Neukäter,1995; Fiedler, 1994; Steiger, 1994 ). Die Hauptaussage des Vulnerabilitäts-Streßmodells besagt, dass Menschen mit Einschränkungen im biologischen, psychischen und/oder sozialen Bereich Limitierungen erleiden, die das Risiko für sie erhöhen, bei akuten Belastungen psychische zu erkranken. Es werden 2 verschiedene Formen der Vulnerabilität beschrieben, die genetisch bedingte und die erworbene Form. Es wird angenommen dass die Vulnerabilität allein schon ausreicht, um eine psychische Störung auszulösen. Kommen zusätzlich noch akute oder chronische Stressfaktoren hinzu, wird das Erkrankungsrisiko dementsprechend erhöht. Gegen die Stressoren können Copingfähigkeiten des Individuums wirken. Sowohl durch die Vulnerabilität als auch durch die Stressoren, denen die geistig Behinderten Menschen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind und die wiederum Auswirkungen auf die Vulnerabilität besitzen, ist davon auszugehen, dass geistig behinderte Menschen ein erhöhtes Risiko haben, psychisch zu erkranken bzw. Verha ltensauffälligkeiten zu entwickeln ( Bradl, 1994). Verschärft wird das Ganze durch die begrenzte Verfügbarkeit von sogenannten Bewältigungsstrategien (Coping Skills) (David & Neukäter, 1995). 50 Vor allem älter werdende Menschen mit geistiger Behinderung werden aufgrund des Abbaus ihrer Copingmöglichkeiten psychisch verletzlicher. Nicht selten werden sie sehr anfällig für umweltbedingten Stress, der wiederum zu einer negativen psychischen Veränderung führen kann (Moss 1997). 5.2.2.3 Das 4 - Variantenmodell von Schmidt In diesem Modell beschreibt Schmidt (1994) vier verschiedene Varianten für das Auftreten psychischer Störungen bei geistig Behinderten. In der ersten Variante wird davon ausgegangen, dass die Grunderkrankung die Intelligenzminderung aus löst, aus der wiederum die psychische Störung entsteht. Dieser Ansatz basiert auf der defektorientierten Psychopathologie und der monokausalen Ursachenbeschreibung. Bradl (1994) nennt diese Variante "das traditionelle psychiatrische Erklärungsmodell". Dieser psychologische Nihilismus hatte fast immer die Nicht-Therapie der psychischen Störung als Folge: Da die lntelligenzminderung die die psychische Störung als Folge haben soll, irreversibel ist, wurde auch die psychische Störung als zur Intelligenzminderung gehörig betrachtet und gleichfalls als irreversibel eingestuft. In der zweiten Variante wird davon ausgegangen, dass die psychische Störung und die Intelligenzminderung von einer gemeinsamen Grundstörung ausgelöst werden. Die dritte Variante geht davo n aus, dass die Beeinträchtigung der Intelligenz von der Grundstörung ausgelöst wird. Die psychische Störung hingegen entsteht aufgrund eines anderen Risikofaktors. Allerdings beeinflusst die lntelligenzminderung die Entwicklung und den Verlauf der Psychischen Störung. Dieser Ansatz steht in der Forschung erst seit kurzer Zeit im Mittelpunkt der Betrachtung. So betonen Lotz & Koch (1994), die Notwendigkeit, zwischen der lntelligenzminderung selbst und den sie eventuell begleitenden Verhaltensauffälligkeiten zu differenzieren und die Fähigkeit "dieser Personen anerkennen, unabhängig von ihrer geistigen Behinderung psychisch zu erkranken"( S. 13). Die vierte Variante zeigt, dass aufgrund der durch die Grunderkrankung ausgelösten Intelligenzminderung das Ris iko ansteigt, dass weitere Faktoren entstehen, die eine psychische Störung auslösen, auf die in Entwicklung und verlauf wiederum die Intelligenzminderung Einfluss nimmt. Ob nun diese Risikofaktoren stärkeren Einfluss auf die Entwicklung und den Verlauf der psychischen Störung nehmen als die Intelligenzminderung, kann freilich nicht genau festgestellt werden. 51 Viele Fähigkeiten werden von geistig Behinderten aufgrund nicht vorhandener Handlungskompetenzen oder Abwehrmechanismen nicht oder nur unzureichend erworben (Schmidt, 1994). Allerdings kann Intelligenzminderung nach Schmidt (1994) auch umgekehrt als Schutzfaktor wirken, wenn durch sie verhindert wird, dass Wahrnehmungen kognitiv adäquat verarbeitet werden, deren Verarbeitung pathogene Auswirkungen haben könnte. 5.2.2.4 Das Modell der erlernten Hilflosigkeit von Seligman Nezu et al. (1992) schlug als Erklärungsmodell die Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Seligman (1975) vor, um die größere Anfälligkeit von Menschen mit geistiger Behinderung für psychopathologische Phänomene zu erklären. Wird ein Lebewesen einen Ereignis ausgesetzt das sich als unkontrollierbar erweist, ist es hilflos. Das Phänomen der Wahrnehmung und Generalisation der Unbeeinflussbarkeit nennt man erlernte Hilflosigkeit. Man hat gelernt, dass man keine Kontrolle hat und überträgt diese Wahrnehmung fälschlicherweise auch auf spätere Situationen, obwohl man diese vielleicht kontrollieren könnte. Die erlernte Hilflosigkeit von Seligman hat 3 Folgen: 1. Einfluss auf die Motivation - Wenn man merkt dass die eigenen Handlungen keinen Einfluss auf die Umweltereignisse haben, ist kein Anreiz vorhanden sich weiterhin anzustrengen etwas zu tun. In anderen Worten, es führt zur Passivität. 2. Einfluss auf Lernprozesse: Die erlernte Hilflosigkeit beeinträchtigt spätere Lernprozesse, da man gelernt hat, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem eigenen Verhalten und den Antworten der Umwelt darauf (Verstärker oder Strafreize) gibt. Dies macht es schwer zu erkennen, dass in nachfolgenden Lernprozessen dennoch ein Zusammenhang bestehen kann. 3. Einfluss auf Gefühle -. Der Beweis, dass man nichts ändern kann und der Umwelt hilflos ausgesetzt ist macht einen traurig und ängstlich. Die erlernte Hilflosigkeit führt zur Traurigkeit und Depressivität. 5.2.2.5 Das Morbiditätsmodell von Baumeister Baumeisters neues Morbiditätsmodell der geistigen Behinderung (1988) dagegen, nimmt an, dass unangemessene kognitive Fähigkeiten und ein Repertoire an adaptivem Verhalten im Zusammenhang mit biomedizinischen, sozialen und Umwelt- 52 Faktoren die Menschen mit geistiger Behinderung anfälliger machen für chronische emotionale Störungen. 5.2.2.6 Das Modell von Murrell & Norris Murrel & Norris schlagen ein Erklärungsmodell hinsichtlich der Funktion psychosozialer Faktoren bei der Entstehung vo n Krankheiten vor. Dieses Modell beruht auf Beiträgen von Cassel (1975). Es sind vor allem zwei Faktoren die die Hauptrolle in diesem Modell spielen. Einerseits gibt es die Ursachen der sogenannten Stressoren für eine Person und andererseits gibt es die Prozesse, die sogenannten Puffer die den Menschen vor den Stressoren schützen. Unter Stressoren wird eine große Vielfalt an Ereignissen verstanden, wie zum Beispiel Scheidung Ruhestand Tod einer nahe stehenden Person, Krankheit, Armut, Lärmbelastung. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang die Stressoren die vor allem für geistig Behinderte eine Gefahr darstellen. Dies sind zum Beispiel unangemessene Unterstützung durch Freunde, soziale Stigmatisierung, Dominanz durch andere geistig Behinderte sowohl am Arbeitsplatz als auch am Wohnplatz und Konflikte zwischen den betroffenen und den Betreuern. Dieser letztgenannte Punkt ist der am häufigsten genannte Grund für allgemeine Unzufriedenheit bei geistig behinderten Menschen wie in einer Studie von Moss et al 1992 festgestellt werden konnte. Reichhaltige Angebote, Schutz und persönlicher Beistand unterstützen die psychische Entwicklung und Gesundheit und werden daher als sogenannte Puffer gegen umweltbedingte Stressoren angesehen. Psychische Gesundheit wird in diesem Modell als abhängig vom Ausmaß jener verfügbaren Ressourcen gesehen, die einem helfen Stressoren erfolgreich zu begegnen. Wichtig ist auch noch anzumerken, dass nicht nur die Überbelastung zu psychischen Störungen führen kann sondern auch die konsequente Unterforderung. 5.2.2.7 Verhaltensphänotypen bei bestimmten Formen geistiger Behinderung Menschen mit geistiger Behinderung weisen eine große Bandbreite an den verschiedensten Verhaltensauffälligkeiten auf. Man hat jedoch herausgefunden, dass es zu einer auffallenden Homogenität für bestimmte Verhaltensweisen bei einer Reihe von 53 Syndromen kommt. Obwohl man natürlich innerhalb der Syndrome unterschiedliche Ausprägungsformen der verschiedenen Verhaltensauffälligkeiten vorfindet, so sticht es trotzdem ins Auge dass es für bestimmte Syndrome bestimmte Verhaltensweisen gibt die sich wie ein roter Faden durch das jeweilige Syndrom ziehen. In den letzten Jahren hat die Forschung sich immer mehr von der Idee distanziert, dass psychische Störungen und Verhaltensauffälligkeiten per se miteinander in Verbindung stehen. Es hat sich lediglich gezeigt, dass es sogenannte Verhaltensphänotypen gibt, die gehäuft mit einer geistigen Behinderung einher gehen. Der Phänotypus ist die Summe aller an einem Einzelwesen vorhandenen Merkmale, sein äußeres Bild, seine äußere Erscheinungsform und seine funktionalen Eige nschaften die durch den Genotypus im Zusammenwirken mit Umwelteinflüssen ve rschiedener Art geprägt werden. Dagegen ist der Genotypus die Gesamtheit aller Erbanlagen eines Organismus dominante und rezessive Gene) die den Phänotypus bestimmen. Im Folgenden werden verschieden Formen von geistiger Behinderung vorgestellt, bei denen sich die Vermutung erhärtet hat, dass es einen Zusammenhang zwischen genetischen Abweichungen und den daraus resultierenden Verhaltensweisen gibt. Kritisch zu betrachten ist jedoch, dass die Forschung auf diesem Gebiet noch sehr jung ist und, dass es nach wie vor zu prüfen bleibt in wie weit Umwelteinflüsse hierbei eine Rolle spielen und auf bestimmte prädisponierende Faktoren wirken und somit erst Verhaltensauffälligkeiten hervorgerufen werden. 5.2.2.7.1 P RÄNATAL BEDINGTE F ORMEN Ursachen für das Lesch-Nyhan Syndrom liegen in einer Enzymstörung des Purinmetabolismus, die zu einer Überproduktion der Harnsäure führt, der sogenannten Hyperurikämie. Weiters konnten vor allem im dopamingesteuerten Neurotransmittersystem der Basalganglien Auffälligkeiten gezeigt werden. Dieses Syndrom tritt ausschließlich beim männlichen Geschlecht auf. Es geht mit schwerer bis schwerster Form von geistiger Behinderung einher, wobei es bis zu einem IQ von 60 Punkten kommen kann. Das Lesch-Nyhan-Syndrom nimmt aufgrund der dabei auftretenden schweren Verhaltensstörungen eine Sonderstellung ein, 54 da es vor allem für die Theorie- und Therapieentwicklung von Selbstverletzungsverhalten eine große Bedeutung erhält. Diese Selbstverletzungstendenzen treten meistens ab dem zweiten Lebensjahr auf. Bei diesen Verhaltensweisen, die nach aussagen der betroffenen meistens unter einem großen Zwang ausgeführt werden, handelt es sich um schwerste Verstümmelungen der Lippen, der Mundschleimhäuten der Wangen der Finger und Hände. Es kann aber auch zu einer Fremdaggression kommen die sich zum Beispiel gegen das Betreuungspersonal richtet. Das fragile X-Syndrom, das seinen Namen wegen der brüchigen Stelle am langen Arm des X-Chromosoms erhalten hat, tritt vorwiegend bei Männern auf. Es lassen sich aber auch Frauen mit leichterer Ausprägung des Syndroms finden. Bei diesem Syndrom findet man eine große Variabilität des Intelligenzquotienten, der teilweise sogar Durchschnittswerte annehmen kann. Gekennzeichnet wird das fragile X-Syndrom durch eine gravierende Störung in der Sprachentwicklung. Hinzu kommt dass Personen mit diesem Syndrom einen Hang zu Bewegungsstereotypien haben, hyperaktives Verhalten aufzeigen, zu mangelndem Blickkontakt und zu Selbstverletzungstendenzen neigen. Oft werden Person mit fragilem X-Syndrom fälschlicherweise dem Autismus zugeordnet. Dykens et al. (1994) ist es vor kurzer Zeit gelungen einen Zusammenhang zwischen den Gensequenzen an der brüchigen stelle des X-Chromosoms zu finden und dem Schweregrad von den Verhaltensauffälligkeiten, die für dieses Syndrom so typisch sind. Zu den pränatal bedingten Formen gehören freilich noch viele andere Syndrome auf die ich hier aber nicht weiter eingehen will. Folgende Syndrome wären hier noch zu erwähnen:(polygenetisch) Cornelia-de-Lange-Syndrom, Moebius-Syndrom, PraderWilii-Syndrom, Williams-Beuren-Syndrom, (chromosomale Abberation) Downsyndrom, Angelmannsyndrom, Cri-duchatsyndrom, Klinefeltersyndrom. 5.2.2.7.2 3.7.2 P ERINATAL BEDINGTE F ORMEN Geistige Behinderung, die durch perinatal bedingte Ursachen hervorgerufen wurde, geht in der Regel mit schweren Verhaltensauffälligkeiten einher, wobei man in den meisten Fällen von einer Symptomatik sprechen kann die einen psychoorganischen Syndrom zugeordnet werden kann. 55 Ein wesentlicher perinataler Faktor kann zum Beispiel die Anoxia weitgehendes Fehlen von Sauerstoff) sein. Die Perinatalperiode ist der Zeitraum zwischen der 28. Schwangerschaftswoche und dem 7. Lebenstag nach der Geburt (Psychrembel, 1994). 5.2.2.7.3 P OSTNATAL BEDINGTE F ORMEN Prinzipiell gibt es keinen Zusammenhang zwischen postnatal entstandener geistiger Behinderung und bestimmten Verhalt ensauffälligkeiten. Ausnahmen hierzu bilden Formen bei denen ein hirntraumatisches Ereignis während der Entwicklungsphase stattgefunden hat oder bei denen es zu einer Vergiftung (zum Beispiel Bleivergiftung) in diesem Abschnitt gekommen ist, und Formen bei denen die Entwicklung des ZNS durch einen degenerativen Prozess gestört wurde. Letztere Form von geistiger Behinderung lässt sich am Rett-Syndrom aufweisen. Das Rett-Syndrom wurde 1966 zum ersten mal beschrieben, fand aber erst viel später in den 80er Jahren weltweit Anerkennung. Bis jetzt wurde das Rett-Syndrom ausschließlich bei Personen weiblichen Geschlechts vorgefunden, was den Verdacht erhärtet dass es sich um eine X-chromosomal rezessive Störung handelt. Es liegen Ergebnisse vor die darauf schließen lassen dass es sich beim Rett-Syndrom um eine Störung in den Neurotransmittersystemen von Dopamin und Adrenalin ha ndeln könnte. Das Rett-Syndrom geht mit einer schweren lntelligenzminderung einher, wobei der IQ Werte von 35 erreichen kann. Zu beobachten ist eine schwerwiegende Entwicklungsretardierung vor allem auf dem Gebiet der Sprache und Motorik. Ganz besonders charakteristisch für dieses Syndrom sind die Handstereotypien die man als hand-washingmovement bezeichnet. Durch diese Stereotypie ist die Entwicklung der gezielten Greiffähigkeit fast zur Gänze gestört und nicht ausgeprägt. Außer dieser Verhaltensauffälligkeit sind vor allem Schaukelbewegungen, Grimassieren, Hyperventilationen und Zähneknirschen zu beobachten. Dadurch dass die Patientinne n eine Reihe von autistischen Merkmalen aufweisen werden sie oft fälschlicherweise mit Autismus diagnostiziert. 56 5.2.2.8 Verhaltensstörungen und psychische Störungen im Alter und ihre Einwirkungen auf die soziale Integration Das Interesse an der psychischen Gesundheit älterer Menschen mit geistiger Behinderung hat in den letzten Jahren in den Forscherkreisen merkbar zugenommen. Außerdem stieg die Lebenserwartung geistig behinderter signifikant an. In logischer Konsequenz gibt es vermehrt ältere Menschen mit psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten ( Dosen, A. 1997). Der geistig behinderte Mensch hat auch in fortgeschrittenem Alter ein Recht in seiner Person, in seiner Würde in seinen Befindlichkeiten und Bedürfnissen , in seiner Autonomie als aktives und kompetentes Wesen Ernst genommen zu werden und nach einem sinnerfüllten Leben zu streben. Es ist nicht mehr angebracht den alternden psychisch Kranken nur noch als belastenden psychiatrisch-geriatrischen Fall anzusehen. Vielmehr sollen auf die Wechselwirkungen und Zusammenhängen von schweren genetisch-organisch bedingten Entwicklungsstörungen und der Umwelt, in dem der Betroffene lebt, eingegangen werden. Demnach ist von einem gestörten Individuum-Umwelt- Interaktionsverhältnis auszugehen, um die aufkommenden Verhaltensauffälligkeiten zu erklären. Das Individuum mit seinen speziellen Bedürfnissen in seiner Lebenswelt soll im Mittelpunkt stehen. Das Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung, auf Selbstbestimmung und das Recht auf Integration in die Gesellschaft, sollen handlungsbestimmend sein. Es soll klar werden dass die Grundbedürfnisse von älteren Menschen mit geistiger Behinderung sich nicht von den Bedürfnissen nichtbehinderter alter Menschen unterscheiden. Sie haben ein Recht, nicht isoliert zu werden, in vertrauter Umgebung unter Beibehaltung erwachsener sozialer Beziehungen zu leben, Hilfen bei der Tagesstrukturierung und der Gestaltung der Freizeit zu erfahren, im Krankheits- oder Pflegefall von anvertrauten Mitmenschen betreut zu werden, gegebenenfalls bis zum Sterbebeistand, eine ausreichende wirtschaftliche Grundlage im Alter zu haben. Es gibt auch im Alter Lebensereignisse die schwer zu verarbeiten sind, sowohl für Nichtbehinderte als auch für geistig behinderte Menschen. So löst der Eintritt in den Ruhestand oft eine große Leere aus. Die Leute fühlen sich Nutzlos und nicht mehr als Teil der Gesellschaft. Menschen mit geistiger Behinderung trifft das noch härter, da sie Veränderungen im Alter schwerer verarbeiten und außerdem über wenig Mög- 57 lichkeiten verfügen, sich aktiv auf den Ruhestand vorzubereiten um ihm Gestaltung zu geben. Ein anderes Lebensereignis, mit dem immer mehr ältere Menschen mit geistiger Behinderung konfrontiert sind, ist der Tod von Angehörigen. Durch eine Verbesserung der medizinischen Versorgung werden die geistig Behinderten heutzutage viel älter und sehr viel von ihnen überleben ihre Eltern. Es ist deshalb sehr wichtig, dass sie vorhandene Kontakte zu Freunden und anderen Familienmitgliedern pflegen und ausbauen lernen. Gerade zur Bewältigung der eigenen Lebensgeschichte und auch zur Bewältigung von Todesfällen ist es hilfreich, wenn Betreuungspersonen ihren geistig behinderten Familienmitglieder die eigene Biographie und auch ihren eigenen Tod nahe bringen und ihnen helfen, sich damit auseinander zu setzten, um mit Trauer und Angst fertig zu werden. Allgemein wird der Einfluss der Umwelt oft nicht in dem Ausmaße zur Kenntnis genommen, der ihm wirklich zusteht. Das Verhalten einer einzelnen Person in einer bestimmten Umgebung ist direkt abhängig von der Gestaltung dieser Umgebung. Daher kann die Umwelt nicht getrennt vom Verhalten studiert werden (Davidson, P. W., 1997). Ein wichtiger Aspekt im Leben des älteren geistig behinderten Menschen scheint der Druck der Umwelt zu sein. In der Tat wirken verschiedene Umgebungen auch jeweils verschieden auf ältere Menschen und stellen andere Anforderungen an ihn. Menschen mit höherem Kompetenzgrad zeigen ein Verhalten, das eine bessere Anpassung darstellt, als Menschen mit niedrigerem Kompetenzgrad, wobei aber die Abhängigkeit von dieser Umgebung mit der Einschränkung der Funktion des älteren Menschen einher geht. Verliert eine Person mit geistiger Behinderung die Fähigkeit, eine bestimmte, für sie eigentlich einfache Aufgabe zu erledigen, können dadurch stereotype Verhaltensweisen, Aggressionen oder andere unangepasste Handlungen hervorgerufen werden. Dies wird um so akzentuierter, wenn die betreffende Person bereits Schwierigkeiten hat, mit einer veränderten Umgebung umzugehen. Hierbei hilft schon, unnötige Stimulationsquellen, wie etwa übermäßiger Straßenlärm, Hintergrundgeräusche von Fernseher oder Radio und ähnliches, weitgehendst zu reduzieren. Andererseits kann zu wenig Stimulation wiederum zu intellektuell und emotional auffälligen Verhalten führen. Es muss eine Art Mittelmaß an sogenannt redundanten 58 Erfahrungsmöglichkeiten gefunden werden, die, miteinander in Verbindung gebracht, dem älteren Menschen einen Fortschritt im Anpassungsverhalten ermöglicht. 5.2.3 Pädagogische, therapeutische und diagnostische Konzepte 5.2.3.1 Pädagogische Konzepte Die schon bestehenden Konzepte für vollzeitbetreutes Wohnen für Menschen mit geistiger Behinderung bleiben selbstverständlich erhalten. Darauf aufbauend soll für Menschen mit Mehrfachdiagnosen ein pädagogisches und therapeutisches Zusatzangebot bereitgestellt werden. Die Betreuungsziele, die Klienten nach dem Normalisierungsprinzip in allen Lebensbereichen hin zu mehr Selbständigkeit, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung zu begleiten, bleiben bestehe n. Die Methoden dafür bedürfen für Menschen mit Mehrfachdiagnosen jedoch nicht nur einer quantitativen sondern auch qualitativer Erweiterung, wie sie im Folgenden beschrieben werden. Der Förderplan stellt die wichtigste Handlungsanleitung für die BetreuerInnen dar. Bei der Entwicklung eines individuellen Förderplans ist folgendes zu beachten: • Feststellung der sozialen Validität: Soll das auffällige Verhalten überhaupt reduziert werden? • Teilnahme aller Personen, die unmittelbar mit den Betroffenen zu tun haben, an regelmäßigen Treffen und Absprachen. Festlegung einer verantwortlichen Person. • Diagnostik: o Analyse der förderlichen und hemmenden Lebensweltbedingungen o Beobachtung der Problemverhaltensweisen, der Begleitumstände und der vorliegenden Handlungskompetenzen o Ausfüllen standardisierter diagnostischer Verfahren o Einschätzung bisheriger Maßnahmen • Analyse der Daten unter bestimmten Fragestellungen: z.B. o Welche Funktionen erfüllt das Problemverhalten (Funktionsanalyse)? o Welches Verhalten soll aufgebaut werden und warum? 59 o Gibt es ein zum Verhaltensproblem inkompatibles Verhalten? o Wann tritt dieses Verhalten auf und wie kann es verstärkt werden? o Was kann am Verhalten der Betreuungspersonen geändert werden? • Festlegung der Ziele und der Maßnahmen unter Bezugnahmen auf die Lebenswelt, das Verhaltensproblem und die Kompetenzerweiterung. • Nicht bei jedem Verhaltensproblem kommen die gleichen Vorgehensweisen in Frage; je nach Entstehungszusammenhang und aufrechterhaltenden Bedingungen muss zwischen verschiedenen Methoden ausgewählt werden. Die fortlaufende Kontrolle der Wirksamkeit einer Maßnahme lässt rasch erkennen, ob eine Maßnahme angemessen ist und durch andere ersetzt oder erweitert werden muss. Bei der Auswahl von Maßnahmen sollte auch bedacht werden, welche Maßnahmen die Betreuungspersonen schon kennen und was auch aus ihrer Sicht realisierbar und vertretbar ist. • Fortlaufende Prozessdiagnostik während der Durchführung der Maßnahmen zur kontinuierlichen Dokumentation, um die Maßnahmen den Gegebenheiten und dem Befinden der Person anzupassen und weiterzuentwickeln. • Fortsetzung der Aufzeichnungen in längeren Abständen nach Beendigung der eigentlichen Maßnahmen, damit sofort Veränderungen des Verhaltens wahrgenommen und rechtzeitig reagiert werden kann, bevor sich ein Verhaltensproblem abermals verfestigt. (Nachfolgeuntersuchung). • Gegebenenfalls erneute Durchführung bestimmter Maßnahmen. 5.2.3.2 Biopsychosozialer Ansatz – Biopsychologisches Assessment Bei diesem Ansatz, wird das komplexe Zusammenspiel von biomedizinischen, psychologischen und sozialen Einflüssen auf herausforderndes Verhalten beachtet. Er eignet sich in besonderem Maße für die ganzheitliche Diagnose der komplex erscheinenden Störungen von Menschen mit Mehrfachdiagnosen. In einem Prozess, der biopsychosoziales Assessment genannt wird, werden persönliche Erfahrungen des Individuums exploriert, und die Behandlung auf den Einzelfall angepasst bzw. abgestimmt. Dabei sind durchzuführen: • ein biomedizinisches Assessment, 60 • Überprüfung/Einschätzung von psychologischen und anderen Fähigkeiten, • Untersuchung der sozialen und realen Umwelt. Ziel ist es, Einsicht in den Gesamtkontext zu bekommen, auf den der Klient reagiert. Aus den Ergebnissen der biomedizinischen, psychologischen und sozialökologischen Analyse soll sich die biologische im Sinne von pharmazeutischer, psychologische und soziale bzw. umweltbezogene Intervention ableiten. Zu betonen ist, dass sich alle drei Bereiche gegenseitig beeinflussen, also keine Intervention für sich allein steht oder nur einseitig begründet wird. Ein gründliches biopsychosoziales Assessment ist nötig, um eine aussagekräftigen Differentialdiagnose zu erhalten, in welcher man die Faktoren erkennen kann, die möglicherweise dem (herausforderndem) Verhalten zugrunde liegen. Für die weitere Behandlung und Betreuung kann davon eine vorläufige Hypothese abgeleitet werden. Dafür werden Informationen von allen beteiligten Professionen, Angehörigen, Betreuer und natürlich dem Klienten selbst eingeholt. Eine Wissensdatenbank über spezifische oder genetisch bedingte Krankheiten und Ihren Einfluss auf die geistige Gesundheit wird benötigt, um die Symptome und Informationen richtig einordnen zu können. Innerhalb der oben genannten drei Bereiche kommen folgende Erhebungsmethoden zur Anwendung: A. - Testung auf biomedizinische Auslöser (z.B. Kopfweh, Menstruationsbeschwerden), die bisher undiagnostiziert sind. - Erhebung vom Schlafverhalten durch Betreuer - Durchführung spezieller Screenings bei bekannten zuordenbaren Symptomen (z.B. bei Down-Syndrom) B. - Erstellung einer psychologischen Entwicklungshistorie - Durchführung psychologischer Tests (IQ-Tests, adaptives Verhalten, Sprachtests, schulische Fertigkeiten, spezielle Tests zur Psychopathologie (Aberrant Behavior Checklist, Aman & Singh, 1994; Assessment for 61 Dual Diagnosis, Matson, 1997; Developmental Behavior Checklist, Einfeld & Tonge, 1994; Diagnostic Assessment for the Severly Handicapped – II, Matson, 1995; Emotional Problem Scales, Prout & Stromer, 1991; Psychopathology Instrument for Mentally Retarded Adults, Matson 1988; Reiss Scales for Children’s Dual Diagnosis (Reiss & Valenti-Hein, 1990; Reiss Screen for Maladaptive Behavior, Reiss 1988). Eine nähere Beschreibung dieser Tests befindet sich bei Griffiths et al. (2002, S171f.) C. Bestimmung der sozialökologischen Faktoren mittels: - Verhaltensanalyse (Häufigkeit, Intensität, Dauer, Umstände), - funktionelle Verhaltensanalyse (indirekt / direkt), - experimentelle Manipulationen zur Analyse, - spezielle Tests (z.B. zu sozisexuellem Verhalten, Gewaltrisiko), - nonverbales Assessment 5.2.3.3 Klassifizierung von geistiger Behinderung nach ICD-10 und DSM-IV Nach Eggert (1979) besitzt das Klassifikationssystem der WeltgesundheitsOrganisation (WHO) in der Beschreibung von geistiger Behinderung die größte Bedeutung. In der aktuellen ICD-10 wird anstatt des Begriffes ‘Geistige Behinderung’ der Terminus ‘Intelligenzminderung’ benutzt. Nach der ICD-10 ist eine Intelligenzminderung „...eine sich in der Entwicklung manifestierende, stehen gebliebene oder unvollständige Entwicklung der geistigen Fähigkeiten, mit besonderer Beeinträchtigung von Fertigkeiten, die zum Intelligenzniveau beitragen, wie z.B. Kognition, Sprache, motorische und soziale Fertigkeiten. (....) Das Anpassungsverhalten ist stets beeinträchtigt, eine solche Anpassungsstörung muß aber bei Personen mit leichter Intelligenzminderung in geschützter Umgebung mit Unterstützungsmöglichkeiten nicht auffallen" (Dilling, Mombour & Schmidt, 1993, S. 254). Im Folgenden wird die Einteilung der Grade der Intelligenzminderung nach der ICD10 der WHO dargestellt (vgl. Dilling et al., 1993). F 70 Leichte Intelligenzminderung 62 Unter leichter Intelligenzminderung wird der Intelligenzbereich zwischen 50 und 69 verstanden. Folgende Bezeichnungen sind für diesen Bereich gebräuchlich: Schwachs inn, leichte geistige Behinderung, leichte Oligophrenie und Debilität. F71 Mittelgradige Intelligenzminderung Diese Diagnose beschreibt den Intelligenzbereich zwischen 35 und 49. Es werden folgende weitere Begrifflichkeiten synonym benutzt: Mittelgradige geistige Behinderung, mittelgradige Oligophrenie und Imbezillität. F 72 Schwere Intelligenzminderung Es wird von einem Intelligenzbereich zwischen 20 und 34 ausgegangen. Zusätzlich verwendet werden hierfür die Begriffe: Schwere geistige Behinderung, schwere Oligophrenie. F 73 Schwerste Intelligenzminderung Mit dieser Diagnose werden Menschen mit einem geschätzten IQ von weniger als 20 versehen. Andere Bezeichnungen hierfür sind: Schwerste geistige Behinderung, Idiotie, schwerste Oligophrenie. F 78 Sonstige Intelligenzminderung Hierunter werden Intelligenzminderungen verstanden, deren Einstufung mit den klassischen Verfahren (Intelligenztests) aufgrund zusätzlich bestehender Behinderungen ,wie z.B. Taubheit, Blindheit, Stummheit, sowie eventuell zusätzlich bestehender Verhaltensstörungen nicht möglich sind. F 79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung Klienten werden in diese Kategorie eingestuft, wenn nicht ausreichend genug Informationen vorliegen, um sie in eine der zuvor dargestellten Gruppe einzustufen. Andere Begrifflichkeiten für die Kategorie F 79 sind: Nicht näher bezeichneter Schwachsinn, nicht näher bezeichnete geistige Behinderung, nicht näher bezeichnete 63 Oligophrenie. Die Kategorien F 71, F 72 und F 73 sind in etwa deckungsgle ich mit den deutschen Graden der geistigen Behinderung (vgl. Tabelle 3). F 71 ist annähernd identisch mit der deutschen Einstufung Lernbehinderung. Nach Bach (1974) werden Menschen mit einem IQ zwischen 60±5 und 80±5 in die Kategorie Lernbehinderung eingestuft. In der ICD-10 werden an der vierten Stelle Störungen der Anpassung an die Anfo rderungen des täglichen Lebens beschrieben. Dieses sind: F7x.0 Keine oder geringfügige Verhaltensstörungen F7x.1 Deutliche Verhaltensstörungen, die Beobachtung oder Beha ndlung erfordern F7x.2 Sonstige Verhaltensstörungen F7x.9 Nicht näher bezeichnete Verhaltensstörungen Die Klassifizierung von psychischen Störungen nach dem DSM-IV der American Psychiatric Association (APA) wird anhand von fünf verschiedenen Achsen vorgenommen (Saß et al., 1996). Die Achsen sind in Tabelle 3 dargestellt. Geistige Behinderung wird nicht, wie zu erwarten wäre, in Achse I, sondern in Achse II klassifiziert. Dieses geschieht aus folgendem Grunde: „Die Auflistung von Persönlichkeitsstörungen und Geistiger Behinderung auf einer separaten Achse stellt sicher, daß das mögliche Vorliegen von Persönlichkeitsstörungen und Geistiger Behinderung auch dann nicht übersehen wird, wenn sich die Aufmerksamkeit auf die normalerweise auffälligeren Achse I Störungen konzentriert" (Saß et al., 1996, S. 18). Tabelle 3: Klassifikationsachsen des DSM-IV (nach Sass, Wittchen, & Zaudig, 1996, S. 17) Achse I Klinische Störungen Andere klinisch relevante Probleme Achse II Persönlichkeitsstörungen Geistige Behinderung 64 Achse III Medizinische Krankheitsfaktoren Achse IV Psychosoziale und umgebungsbedingte Probleme Achse V Globale Beurteilung des Funktionsniveaus Die Kodierung von Störungen auf Achse II bedeutet nicht, dass diese sich grundsätzlich von den auf Achse I festgehaltenen Störungen unterscheiden. Geistige Behinderung wird im DSM-IV zusammen mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen unter dem Oberbegriff Entwicklungsstörungen zusammengefasst (Petermann & Lehmkuhl, 1996). Im DSM-IV wird geistige Behinderung anhand von drei Kriterien diagnostiziert (nach Saß et al., 1996): A) Unterdurchschnittliche allgemeine intellektuelle Leistungsfähigkeit. B) Starke Einschränkung der Anpassungsfähigkeit in mindestens zwei der folgenden Bereiche: Kommunikation, eigenständige Versorgung, häusliches Leben, soziale zwischenmenschliche Fertigkeiten, Nutzung öffentlicher Einrichtungen, Selbstbestimmtheit, funktionale Schulleistungen, Arbeit, Freizeit, Gesundheit und Sicherheit. C) Der Beginn der Störung muss vor dem Alter von 18 Jahren liegen. Die drei Kriterien zur Diagnosenstellung einer geistigen Behinderung sind identisch mit den Kriterien der AAMR aus dem Jahre 1992 (vgl. Kapitel 1.1). Im DSM-IV werden fünf verschiedene Abstufungen von geistiger Behinderung unterschieden (vgl. Tabelle 4) . Tabelle 4: Vergleich von DSM-IV Kategorien und ICD-10 Kategorien (nach Sass, Wittchen, & Zaudig, 1996, S. 75) DSM-IV ICD-10 Kategorie Kategorie 317 F70.9 DSM-IV Bezeichnung Intelligenzbereich Leicht geistige Behin- 50-55 bis ca. 70 derung 65 318.0 F71.9 Mittelschwere geistige 35-40 bis 50-55 Behinderung 318.1 F72.9 Schwere geistige Be- 20-25 bis 35-40 hinderung 318.2 F73.9 Schwerste geistige Unter 20 oder 25 Behinderung 319 F79.9 Geistige Behinderung Geistige Behinderung wird mit unspezifischen angenommen, IQ ist aber Schweregrad nicht bestimmbar (X.9 steht für schwere der Verhaltensstörung!) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Unterschiede in den Klassifikationssystemen der WHO, der APA und der AAMR gering sind. Gemeinsam haben alle drei Klassifikationssysteme die drei Faktoren: a) Unterdurchschnittliche Intelligenz b) Probleme im adaptiven Verhalten c) Beginn der geistigen Behinderung in der Entwicklungsphase Nach Rojahn, Borthwick-Duffy & Jacobson (1993) geht hervor, dass Verhaltensstörungen weit häufiger als psychische Störungen auch als solche wahrgenommen werden. Das Verhalten wird der geistigen Behinderung zugeschrieben und nicht als Ausdruck einer psychischen Störung gesehen. Dies wird auch als so genanntes diagnostic overshadowing bezeichnet. Es kann schwerwiegende Folgen für den Betroffenen haben, da den wahren Problemen nicht die angebrachte Relevanz zugesprochen wird. Nach Schroeder, Rojahn & Oldenquist (1991) ist es wichtig zu bedenken, dass psychische Störungen mit zunehmender Verschlechterung der Intelligenz immer schwerer diagnostizierbar sind und aus diesem Grund oft nicht erkannt werde. Das hat viel mit der Tatsache zu tun, dass es immer noch keine adäquaten diagnostischen Verfa hren für Menschen mit geistiger Behinderung gibt. So haben bereits Ovner & Hurley 66 1983 darauf hingewiesen, dass es fraglich ist in wieweit die gängigen Kriterien und Richtlinien für die Erfassung und Bestimmung psychopathologischer Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung anwendbar sind. Ein anderes Problem das damit verbunden ist, ist dass man bei der Exploration eines Menschen mit geistiger Behinderung zu einem Großteil an Aussagen von dritten gebunden ist, da der Betroffenen selbst oft nicht über ausreichende Sprachentwicklung und Ausdrucksfähigkeit verfügt. Neben der Miteinbeziehung von Drittpersonen bleibt der Diagnostik nur noch die Verhaltensbeobachtung der Betroffenen Person. Auch hier stößt man schnell an seine Grenzen. So kann zum Beispiel aggressives verhalten als erhöhte Erregbarkeit gedeutet werden, es kann sich aber auch als Ausdruck von Depression entpuppen, als Ursache einer schlechten pharmakologischen Versorgung oder sich um eine hirnorganische Beeinträchtigung handeln. Aufgrund der Vulnerabilitätshypothese ist es besonders wichtig, die Umstände 3 zu betrachten, die zu einer psychischen Störungen beitragen können (aber nicht müssen). Widerstand oder Abwehrfähigkeit gegen diese Bedingungen können Störungen ve rhindern und/oder Störungen/Symptome schwäche n/erleichtern. Ein Assessment muss diese Bedingungen aufgreifen/berücksichtigen und daraus eine entsprechende Behandlung/Förderplan entwickeln. Die Anwendung und Beschreibung von psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung durch DSM IV oder ICD 10 F funktioniert bei leichter und mittlerer Intelligenzminderung/geistiger Behinderung relativ gut – sonst aber nicht. Beobachtung und weitere Tests sind deshalb bei schwererer Behinderung sehr wic htig. Ein weiteres Erfassungsinstrument, welches soziale und reale Umwelt sowie Fähigkeiten und Adaptionsfähigkeit an die Umgebung mit abfragt ist die ICF. Es ist derzeit jedoch noch nicht in deutscher Fassung erhältlich. Es ist jedoch ein sehr ausführliches und umfangreiches Instrument. 3 soziale, biologische, psychologische, kulturelle, politische, betreuungs-, therapie- ideologische 67 5.2.3.4 Das Klassifikations system der WHO für Funktionalität, Behinderung und Gesundheit (ICF) Das ICF besteht prinzipiell aus zwei Bereichen. Sie dient zum einen zur Beschreibung von Gesundheit und andererseits von gesundheitsrelevanten Zuständen. Was hier gesundheitsrelevanter Zus tand bedeutet lässt sich am besten an einer Analogie verdeutlichen. Bei dem Begriffspaar Lernen und Bildung wäre hier die Bildung der lernrelevante Zustand, also was entsprechend den gegebenen Umständen aus dem Lernen entsteht. Während die ICD ausschließlich für den Einsatz für medizinische Zwecke konzipiert wurde, kann die ICF darüber hinaus für sozialplanerische Zwecke benutzt werden, für die sie hauptsächlich auch konzipiert wurde. Die beiden Klassifikationssysteme der WHO ICD und ICF stehen sich komplementär gegenüber. Während die ICD Gesundheitsprobleme beschreibt, also Krankheitsdiagnosen erstellt, will die ICF die Art und das Ausmaß von Auswirkungen von Krankheiten darstellen. Hierbei werden keine Aussagen über die Gesundheit gemacht, bzw. es wird nicht pathologisiert. Die Auswirkungen selber, also die Konsequenzen der Krankheit werden nicht beschrieben, sondern die Bestandteile der Gesundheit, die bei jedem Individuum in gegebener Umgebung zu Recht unterschiedlichen Resultaten führen können. Es werden auch keine Bestimmende Faktoren oder Risikofaktoren der Gesundheit beschrieben. In der ICF wurde das medizinische Modell mit dem sozialen Modell der Gesundheitsbetrachtung mit einer erweiterten sozial-ökologischen Sichtweise verbunden. Es gründet also auf dem sogenannten biopsychosozialen Modell. Die dazu verwendeten Begrifflichkeiten und ihre Beziehung zueina nder geht aus Grafik 1 hervor: 68 Interaction of Concepts ICF 2001 Health Condition (disorder/disease) Body function&structure (Impairment) Activities (Limitation) Environmental Factors Factors Participation (Restriction) Personal Factors Grafik 1: Zusammenhang der Konzepte der ICF. Folgende Ziele werden mit der Entwicklung der ICF verfolgt: - Das Verstehen von Gesundheit als Forschungszweck zu etablieren. - Einen einheitlichen Sprachgebrauch bei der Erforschung der Gesundheit innerhalb der verschiedenen Disziplinen zu schaffen. - Einen Vergleich von Daten zu ermöglichen, der sowohl Länder übergreifend, als auch Disziplin- und Dienst übergreifend ist. - Ein Kodierungsschema für Gesundheitsinformationssysteme anzubieten. Die ICF kann für Statistik, Forschung, Sozialpolitik und Weiterbildung als Werkzeug gebraucht werden. Er kann aber auch im klinischen Setting beim Hilfebedarf, Angebotsauswahl bzw. –passung, Berufsberatung, Rehabilitation und Evaluation zur Anwendung kommen. Dabei werden die Richtlinien zur Gleichstellung von Möglichkeiten für Menschen mit Behinderung verfolgt. Ein methodisch-standardisiertes Assessment-Instrument muss jedoch erst entwickelt werden. Wie aus Grafik 2 ersichtlich ist die Klassifikation in 4 Ebenen gegliedert. Zunächst werden die zwei Teile Funktionen und Behinderung – also nicht-problematische und problematische Aspekte – und die Kontextfaktoren unterschieden. Der erste Teil 69 wird in die Komponenten Körpersysteme und –strukturen sowie Aktivitäten und Teilhabe aus sozialer und individueller Sicht gegliedert Die Kontextfaktoren bestehen einerseits aus den Umweltfaktoren die individuelle Umwelt und die allgemeine Umwelt betreffend andererseits aus den persönlichen Faktoren. Unter letzterem ist m. E. der psychologische Zustand einer Person gemeint, welcher das Verhalten mit bestimmt. Diese Faktoren werden in der ICF leider nicht mehr näher beschrieben. Gerade aber hier werden viele pädagogische und therapeutische Interventionen ansetzen, so dass es überlegenswert erscheint, bei einer Anamnese diesen Bereich trotzdem zu erfassen und einem zum Einsatz kommenden Diagnoseschema hinzufügt. Als Ausgangspunkt soll hier auf das sehr brauchbare Instruments zur Erfassung von Stärken und positiven Botschaften von Theunissen (1997) hingewiesen werden. Diese Komponenten der Kontextfaktoren interagieren mit allen anderen Kompone nten im Sinne eines Prozesses. Daraus ergeben sich die Konstrukte Erleichterung oder Barriere, die in physikalischer wie in sozialer Hinsicht etwas ermöglichen oder behindern. Sie haben auch Einfluss auf die Gesellschaftsstellung als auch auf die Einstellung der Gesellschaft zu Behinderung. Die Konstrukte der Aktivitäten und Teilhabe werden als Fähigkeiten, Kapazitäten sowie Ausführung und Leistung beschrieben. Bei den Körperkomponenten sind Veränderungen von physiologischen Systemen oder anatomischen Strukturen von Bedeutung. Die untersten Einheiten der ICF sind letztlich Kategorien von Beschreibungen. Hier werden nicht Personen sondern Situationen einer Person innerhalb bestimmter Umgebungsfaktoren beschrieben. Das Ausmaß und die Stärke der beschriebenen Kategorie wird durch ein Beurteilungsmerkmal (qualifier) angegeben.. Die Kategorien können in vier (full version) oder zwei (short version der ICF) Ebenen beschrieben werden. Weitere Informationen finden sich in einem Artikel zur ICF von Seidel (2003). 70 Structure ICF Classification Part 1: Functioning and Disability Disability Body Functions Functions and and Structures Structures Change in Body Body Functions Functions Item Item levels: 1stst nd 2nd 3rd 4th Part 2: Contextual Factors Activities and and Participation Participation Change in in Capacity Body Capacity Performance Structures Item levels: levels: 11st 22nd rd 3rd th 4 th Item levels: levels: 11st 22nd 3 rd 44th Item Item levels: 1 st 2 nd 3rd th 4th Environmental Factors Parts Personal Factors Factors Constructs/ qualifiers Facilitator/ Facilitator/ Barrier Barrier Item Item levels: 1stst nd 2 nd 3rd 4th Components Domains and categories at different levels Grafik 2: Ebenen der ICF Funktional gesund ist nach Kriterien der ICF folglich derjenige, dessen • Körperfunktionen und –Strukturen, • Aktivitäten und die • Teilhabe an den Lebensbereichen • der Norm entsprechen. è Funktionsfähigkeit ist gegeben. Von Behinderung wird also in der ICF dann gesprochen, wenn Beeinträchtigungen aus mindestens einem der vorgenannten Bereiche vorliegen. Also bei • Funktionsstörung (auch mentale), • Strukturschaden, • Aktivitätseinschränkung oder • Beeinträchtigung der Teilhabe in einem Lebensbereich 71 5.2.3.5 Klinisches Assessment Klinisches Assessment unterscheidet sich von einer herkömmlichen Diagnoseerstellung dahingehend, dass zu den aktuellen Symptomen auch die Ernsthaftigkeit der psychischen Störung, die aktuell zur Anwendung kommenden Behandlungen, der Grad der Beeinträchtigung durch die Behandlungen und andere wichtige Stressoren im Alltag des Klienten. Dabei sind vier Techniken zur Informationsbeschaffung anzuwenden: 1. Befragung der Person selbst. 2. Befragung eines die Person gut kennenden Dritten. 3. Beobachtung des Verhaltens der Person in ihrer alltäglichen Umgebung. 4. Beobachtung der Person in standardisierten Testsituationen 5.2.3.6 Therapeutische Ansätze Gemeinschaftliche Behandlungsansätze: Psychiatrische Diagnose und funktionale Verhaltensanalyse werden kombiniert. Z.B: • Multimodales, umgebungsabhängiges, verhaltensanalytisches Modell nach Gardner • Positiver, systemischer Ansatz nach Carey => Beide dienen der Einbindung und Kontrolle psychotroper Medikamente. Psychopharmaka sollten nur nach eindeutiger psychiatrischer Diagnose eingesetzt werden, wenn eine langfristige Therapieplanung vorliegt – nicht nur Akutmedikation! Beachtung ernsthafter/schädlicher Nebenwirkungen. Vorgehen beim Einsatz von Psychopharmaka: 1. Kann das Problemverhalten Ausdruck einer psychischen Störung sein? 2. Genaue Erfassung und Beschreibung des Verhaltens 3. Formale Diagnose einer psychischen Störung 72 4. Angemessene Behandlung mit Psychopharmaka 5. Nachuntersuchung um: • Wirksamkeit der Medikamente festzustellen, • auf mögliche Nebenwirkungen zu untersuchen, • Nebenwirkungen zu behandeln, • medizinische Untersuchungen durchzuführen bzgl. Anderer physiologischer Funktionen, die durch langfristige Einnahme von Psychopharmaka beeinflusst werden können. Zusätzlich sollen individuelle Trainings zur Erhöhung der Sozialen Kompetenz erfolgen (siehe detailiertes eigenständiges Konzept). 73 5.3 Literatur 74