Die Mondlandung der Teilchenphysik: ein Hintergrund

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11. Juli 2012 Elementarteilchenphysik Physik Quantenphysik
Die Mondlandung der Teilchenphysik: ein
Hintergrund
Von Dirk Eidemüller
Wie das Higgs-Teilchen die Welt im Innersten zusammenhält und warum die jetzige Entdeckung für die Zukunft
der Physik so wichtig ist
Mögliches Higgs-Ereignis am ATLASDetektor. Das Higgs zerfällt in vier Myonen
und hinterlässt damit eine klare Signatur.
© ATLAS / CERN
Es muss ja einen Grund geben, warum gestandenen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Augen
feucht werden, wenn sie das magische Symbol „5 Sigma“
sehen. Es muss einen Grund geben, warum weltweit viele
tausend höchstqualifizierte Idealistinnen und Idealisten
Jahrzehnte ihrer Lebenszeit und ihrer Hoffnungen in diesen
einen Augenblick gesteckt haben, in dem die Statistik
endlich ausreicht, um sagen zu dürfen: „Da ist etwas!“ Und
es muss auch einen Grund geben, warum Staaten in
internationaler Zusammenarbeit einige Milliarden Euro
ausgeben, um abstrakten Theorien und Modellen von der
Entwicklung des Kosmos auf den Grund zu gehen - bis zu
jenem Punkt, an dem das Größte mit dem Kleinsten
zusammenhängt.
Die Augenblicke, in denen Jahrzehnte harter Arbeit sich schließlich zu einem stimmigen Ganzen
zusammenfügen, sind selten im Leben eines Wissenschaftlers. Dennoch sind sie es, die seiner Tätigkeit Sinn
und Tiefe geben. Die Entdeckung des Higgs-Bosons wäre solcher Augenblick. Und dieses „wäre“ ist sehr
vorsichtig gehalten: Denn alle Anzeichen deuten darauf hin, dass die Ankündigung des europäischen
Teilchenforschungszentrums CERN vom Mittwoch, ein neues Teilchen gefunden zu haben, in der Tat auf das
von der Standardtheorie geforderte Higgs-Teilchen hinweist.
Damit wäre der verzweifelt gesuchte und verzwickt schwierig zu findende Eckstein der heute bekannten
Elementarteilchentheorie endlich gesichert. Das Teilchen wäre identifiziert, das allen anderen ihre Trägheit
und Masse verleiht. Der letzte noch ausstehende Partikel im Baukasten der Elementarteilchen wäre gefunden.
Und selbst wenn sich überraschenderweise herausstellen sollte, dass es ein anderes, unbekanntes Teilchen ist,
wäre dies keine geringere Sensation. Im Gegenteil: Einige Theoretiker wünschen sich das geradezu; denn dann
könnten sie neue Modelle unterbreiten, die über den Rahmen der heute akzeptierten Physik hinausweisen.
Unsere Vorstellungen von der Entwicklung des Kosmos und von der Struktur der Materie müssten dann
grundlegend revidiert werden.
Was also hat es mit diesem Higgs-Teilchen auf sich, dass alle Welt plötzlich von seiner mutmaßlichen
Entdeckung informiert wird? Manch einer denkt sich, es werde halt kräftig die Werbetrommel gerührt, weil
mal wieder eine Entdeckung zu brauchbarer Zeit verkündet werden musste. Auch Wissenschaftler sind
schließlich nur Menschen, die hin und wieder ein bisschen Reklame brauchen, um Forschungsgelder und
Drittmittel einzutreiben, weil sie zunehmend unter ökonomischem Rechtfertigungsdruck stehen. In der Tat
sind in den letzten Jahren – und dies liegt auch an den politischen Rahmenbedingungen sowie unsauberer
Pressearbeit – etliche sensationsheischende Verkündigungen an die Öffentlichkeit gebracht worden, deren
Bedeutung höchst umstritten war.
Doch das jetzt entdeckte Teilchen gehört auf keinen Fall in diese Kategorie. Diese Entdeckung ist mehr als ein
Meilenstein: Sie ist schlicht die Meisterleistung der weltweiten Elite der Teilchenphysiker und der sie
unterstützenden Techniker der letzten 30 Jahre. Man kann sie aufgrund ihres Umfangs, ihrer Dauer, ihrer
Komplexität und ihrer Bedeutung ruhigen Gewissens die „Mondlandung der Teilchenphysik“ nennen – dann
spart man sich auch solche religiös aufgeladenen Begriffe wie den „heiligen Gral der Teilchenphysik“ oder
das „Gottesteilchen“. Physiker, selbst religiös eingestellte, mögen diese schlagzeilentauglichen Begriffe
überhaupt nicht, weil sie die nüchternen Fakten und ihre Deutung durcheinander würfeln. Zudem stammen
viele der involvierten Physiker aus Kulturkreisen, die mit diesen Begriffen wenig verbinden. Auch wird sich
die Bedeutung dieser Entdeckung für Physik, Technik und Philosophie wohl erst künftigen Generationen
erschließen.
Die jetzt präsentierten Ergebnisse weisen genau darauf hin, wo man zu suchen hat, um die Physik
voranzubringen: Nämlich bei einer Energie von rund 126 Gigaelektronenvolt. Nach Einsteins berühmter
Gleichung, dass Masse und Energie äquivalent sind, entspricht diese Energie einer Masse des winzigen HiggsTeilchens von immerhin 133 Wasserstoffkernen. 126 Gigaelektronenvolt entsprechen auch derjenigen
Energie, die ein Elektron erhält, wenn es im Vakuum eine elektrische Spannung von 126 Milliarden Volt
durchläuft. Zum Vergleich: Die mittlerweile selten gewordenen Röhrenfernseher beschleunigen die Elektronen
in ihrer Bildröhre mit immerhin rund 20.000 Volt, Röntgenröhren mit gut 100.000 Volt, rund ein Millionstel
der nötigen Beschleunigungsspannung.
Der Beschleuniger in Genf erreicht aber nochmals rund 60-fach höhere Teilchenenergien. Dies ist auch nötig,
da er sozusagen mit dem Schrot-Prinzip Teilchen aufeinander schießt und nur ein Teil der Energie in neue
14.09.2012 17:57
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Teilchen verwandelt werden kann. Im Speicherring des Beschleunigers erreichen die Protonen 99.999998
Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Etliche Pakete dieser winzigen Protonen kreisen in gegenläufiger Richtung
im 27 Kilometer langen Tunnel hundert Meter unter der Erde. Die supraleitenden Magnete, die sie auf der
Bahn halten, sind sehr stromsparend und zugleich äußerst leistungsfähig, müssen aber auf weniger als zwei
Grad über dem absoluten Nullpunkt gekühlt werden.
Die Teilchenpakete werden an bestimmten Punkten des Rings zur Kollision gebracht. Dort stehen in riesigen
unterirdischen Kavernen haushohe Detektoren, die bis in den kleinsten Winkel mit Messgeräten und
Ausleseelektronik vollgestopft sind. In jeder Sekunde sind eine Milliarde Kollisionen zu verzeichnen. Aber pro
Jahr entstehen nur bei rund hunderttausend von diesen die gesuchten Higgs-Teilchen. Die unglaublichen
Datenmengen, die es hierbei zu verwalten und zu durchforsten gilt, entsprechen der Aufgabe, zu untersuchen,
was alle Menschen auf der Welt gleichzeitig sagen - während jeder zwanzig Telefongespräche parallel führen
würde.
Was aber hat dieser gigantische Aufwand mit dem nun wahrscheinlich gefundenen Higgs-Teilchen auf sich?
Benannt wurde es nach dem schottischen Physiker Peter Higgs, der 1964 eine Arbeit einreichte, in der er ein
entscheidendes Manko der damaligen Quantentheorie auszuräumen suchte. Unabhängig von ihm lieferten
auch zwei andere Forschergruppen ähnliche Arbeiten, sodass ihnen gleicher Ruhm wie Higgs gebührt:
Francois Englert und Robert Brout von der Université Libre in Brüssel sowie Tom Kibble, Carl Hagen und
Gerald Guralnik vom Imperial College London.
Das unter Physiker kurz Higgs genannte Teilchen ist so bedeutend, weil es erklären kann, warum in der
Teilchenphysik überhaupt so etwas wie Masse auftaucht. Die Gleichungen der Quantentheorie, mit denen
Physiker die Elementarteilchen beschreiben, funktionieren zwar hervorragend. Sie geben die fundamentalen
Wechselwirkungen der verschiedenen Teilchenklassen wieder und erklären so mit Hilfe von wenigen
mathematisch-physikalischen Symmetrieprinzipien die Struktur der uns bekannten Materie. Sie hatten bis zum
Einfall von Higgs und seinen Kollegen aber einen entscheidenden Schönheitsfehler: Kein Teilchen durfte eine
eigene Masse haben, sonst hätte die Theorie nicht funktioniert. Da aber alle Materie, wie wir sie kennen,
Masse besitzt, wunderten sich die Physiker damals, wie ihre wunderbare Theorie zu reparieren sei oder ob sie
trotz ihrer Vorzüge nicht vielleicht doch ein Fall für den Mülleimer wäre.
Es war eine gewagte Spekulation von Higgs und den anderen, anstelle der Tatsache, dass jedes Teilchen seine
Masse selbst mitbringt, ein neuartiges Kraftfeld zu postulieren, das den Teilchen ihre Masse und Trägheit erst
verleiht. Nur wer Masse hat, wirkt einer Beschleunigung mit Widerstand entgegen. Masselose Teilchen wie
das Licht können nicht in Ruhe verharren, sondern sind stets mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. Das HiggsKraftfeld ist also eine Art kosmischer Sirup, der sich zwar mit allen Teilchen mitbewegt, aber dafür sorgt, dass
sie ihre Geschwindigkeit nicht zu schnell ändern. Ohne dieses Higgs-Feld würden alle Teilchen stets mit
Lichtgeschwindigkeit durchs Universum sausen. Es gäbe keine Planeten und keine Beschleuniger und keine
Zeitungsleser.
Dieser mathematische Kniff ist nur einer von vielen in der Quantentheorie, aber einer, auf dem letztlich die
ganze Theorie ruht. Aus dem Mechanismus, den Higgs und seine Kollegen in die Quantentheorie einführten,
folgt auch, dass zu diesem Kraftfeld ein Teilchen existieren sollte. Dieses Teilchen kann sich zeigen, wenn
man ungeheuer viel Energie auf einen Punkt im Raum konzentriert. Wenn das Higgs-Teilchen aber doch nicht
gefunden werden sollte, bricht die gesamte heutige Elementarteilchentheorie zusammen – zumindest bis ein
Theoretiker ein anderes Modell aus der Schublade zieht, das erklärt, warum erst bei höheren als den heute
erreichbaren Energien ein solches Teilchen zu finden sein sollte.
Es gibt die lustige Parabel von der Cocktailgesellschaft, um die Wirkweise des Higgs-Teilchens zu illustrieren.
So kann ein Unbekannter schnell durch einen Raum voller Gäste und Reporter gehen. Der Unbekannte wäre
ein masseloses Teilchen wie etwa das Licht, das sich ungehindert mit Lichtgeschwindigkeit bewegt. Ein
massereiches Teilchen wird hingegen mit einem Prominenten identifiziert, je massereicher, desto prominenter.
Diesen Prominenten also umrunden blitzschnell die Leute und Reporter, wodurch er langsamer wird und eine
viel größere Trägheit erhält. In diesem Bild wäre das All also ein unendlicher Raum, erfüllt von Paparazzi,
durch den hier und da Zusammenballungen von Prominenten huschen.
Das Ärgerliche am Higgs liegt jedoch daran, dass man aus der Theorie nicht vorhersagen kann, wie schwer es
ist. Nur über schwierige Messungen und Abschätzungen konnten die Physiker über Jahrzehnte den
Energiebereich immer weiter einengen, in dem das Higgs nun hoffentlich gefunden wurde. Hinzu kamen die
enormen Nachweisschwierigkeiten. Nicht genug, dass man die komplexeste je von Menschen ersonnene
Technik und die modernsten Methoden der Datenverarbeitung entwickeln musste, um aus insgesamt
Billiarden von Ereignissen – selbst Bankenretter werden bei solchen Ziffern hellhörig – die entscheidenden
paar Dutzend herauszufiltern. Das ist ungefähr so, als wollte man aus einem Olympia-Schwimmbad voller
Sand die hundert Sandkörner mit der richtigen Größe herausfischen.
Denn das Higgs versteckt sich gut im riesigen Wust aus anderen Ereignissen. Es wird selten erzeugt und ist
noch dazu äußerst kurzlebig. Es zerfällt praktisch an Ort und Stelle seiner Erzeugung wieder in eine mögliche
Palette anderer Teilchen, von denen viele wieder selbst instabil sind und weiter in andere Teilchen zerfallen.
Die Teilchenphysiker müssen also Spuren rekonstruieren, ähnlich wie Fährtenleser, die im Sand um ein
Felsplateau herum die Spuren von Küken sehen und daraus den Rückschluss ziehen müssen, welches
Vogelpaar auf dem Felsen gebrütet hat. Nur dass die Eierschalen sich bereits in Luft aufgelöst haben. Das
Higgs zerfällt auch auf verschiedene Arten. Nur wenige eignen sich zur Identifikation, einige sind von NichtHiggs-Ereignissen kaum zu unterscheiden.
Dass jetzt gleich zwei Großdetektoren unabhängig voneinander verkünden, ihre Daten hätten die Schwelle
zum Nachweis überschritten oder zumindest an der Marke von fünf Sigma gekratzt, gilt als sichere
Bestätigung. Denn ein Experiment allein kann immer methodische oder bauliche Mängel aufweisen, die
irgendwo zu überzogenen Daten führen. Mit dem Nachweiswert von fünf Sigma ist die
Irrtumswahrscheinlichkeit nun kleiner als eins zu einer Million. Für Kniffelspieler: Ein Irrtum ist damit
14.09.2012 17:57
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ungefähr so unwahrscheinlich, wie neunmal hintereinander auf einem Würfel die selbe Zahl zu würfeln.
Nun gilt es zunächst, das neu entdeckte Teilchen auf Herz und Nieren, d.h. auf seine Quanteneigenschaften
und Zerfallsarten zu untersuchen. Viele hoffen, dass es zwar das gesuchte Higgs ist, dass es aber auch einige
unerwartete Eigenschaften zeigt, die den Rahmen der heutigen Theorie sprengen. Am meisten ist die
Wissenschaft schließlich immer vorangekommen, wenn etwas Unerwartetes passiert ist. Und von der heutigen
Theorie wissen wir, dass sie zwar vieles ganz hervorragend erklärt, dass es aber auch eine Reihe von
Phänomenen gibt, auf die sie noch keine Antworten hat. Hierzu gehören die seit einiger Zeit bekannten
Neutrinooszillationen, die Existenz von unsichtbarer Dunkler Materie und Dunkler Energie im Weltraum
sowie die Verknüpfung mit der Gravitation, um nur einige wichtige Punkte zu nennen.
Der Beschleuniger in Genf wird dank seiner hervorragenden Ergebnisse zunächst einige Monate länger laufen
als geplant, um dann nach knapp zweijähriger Umbaupause mit noch deutlich gesteigerter Energie neue
Projekte in Angriff zu nehmen. Er ist von seinem Bauprinzip her allerdings eher eine Entdeckungsmaschine
und weniger eine Präzisionsmaschine. Die Physiker hoffen sich von künftigen Beschleunigern die
Möglichkeit, das jetzt entdeckte Teilchen – und hoffentlich noch weitere – hochgenau untersuchen zu können.
Dies wird entscheidend sein für die künftigen Entwicklungen in der physikalischen Grundlagenforschung. Die
nächsten Monate und Jahre werden jedenfalls erst noch einmal harte Arbeit für alle Beteiligten, bis der
Nachweis des Higgs-Teilchens gesichert ist. Die Physik des 21. Jahrhunderts hat am 4. Juli 2012 begonnen.
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