Mit Rizin ins Jenseits befördert

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REGION
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Mit Rizin ins
Jenseits befördert
Mit «Samenspende» hat der in
Solothurn praktizierende Berner Arzt und Autor Peter Hänni
einen durch geschickt verknotete Handlungsstränge zum
Täter führenden Kriminalroman geschrieben.
VON ROLAND ERNE
Die Liftfahrt gerät zur Grenzerfahrung.
Im Praxis-Gebäude trifft die Gynäkologin Charlotte Berger nach spätem Arbeitsschluss abends auf einen jungen
Mann, der sie umgehend gezielt drangsaliert. Seine Absicht wie auch seine
Identität bleiben vorerst im Dunkeln. Es
ist Freitag, 11. November 2005, und die
bald gegen Panikattacken ankämpfende
Ärztin sieht kein Entrinnen, muss vielmehr mit dem Schlimmsten rechnen.
Vier Monate zuvor endete ein Konzertauftritt des Klarinettisten Robert
Kramer an den Jazz Tagen Lenk mit einem unerklärlichen Schwächeanfall, der
sich sehr rasch zur lebensbedrohenden
Erkrankung auswuchs. Zwei Tage später
war der 52-jährige Musiker und Mitinhaber eines florierenden Immobilienunternehmens tot, ohne nach seinem Zusammenbruch noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben. Die Diagnose der
Rechtsmediziner: ein so genanntes Multiorganversagen, das keinen Rückschlus
auf Behandlungsfehler der Spezialisten
im Berner Inselspital zulässt.
Knapp drei Wochen vor Charlotte
Bergers traumatischer Begegnung im
manipulierten Lift wiederum traf es die
Medizinstudentin Kristina Brand. Nach
einem Tag im Seziersaal des Berner Instituts für Anatomie und einer Geburtstagsfeier im Restaurant Azzurro brach
die in angeheiterter Stimmung plötzlich
stiller und bleicher gewordene Asthmatikerin keuchend zusammen und wurde
in die Intensivstation des nahen Inselspitals überführt, wo sie tags darauf mit 22
Jahren starb. Die frappanten Parallelen
der ungeklärten Todesfälle bleiben der
BILD: OLIVER MENGE
Krimi «Samenspende» des Berners Peter Hänni
Er ist in erster Linie Arzt, nicht Autor: Peter Hänni schreibt ausschliesslich in seiner Freizeit.
Rechtsmedizin-Institutsleitung
nicht
verborgen. Beide vor ihrem schnellen Tod
gesunden Opfer zeigten dieselben Symptome: schwerste Entzündungen der
Schleimhäute, die zu verheerenden Organschädigungen führten. Als einzig
denkbare Ursache zu eruieren ist Rizin,
ein hochwirksames biologisches Gift, das
bereits in kleinsten Mengen tödlich ist –
Das Echo aus dem Lesepublikum als eine «schöne Zugabe»
Literaturgeschichte und Gegenwartsliteratur zeigen: Es gab und gibt nicht wenige
Schriftsteller mit medizinischem Rüstzeug. Ebenfalls Arzt, genauer Hals-,
Nasen-, Ohrenspezialist sowie Facharzt
für Hals- und Gesichtschirurgie und Autor
ist Peter Hänni. Mit «Mord in Montella»
hat er vor drei Jahren in einem OnDemand-Verlag – eine «schräge» Erfahrung – sein später unter dem Titel «Rosas
Blut» in überarbeiteter Version erschienenes Krimidebüt vorgelegt. Sein zweiter
Kriminalroman «Samenspende» nun
gehört zum Herbstprogramm des Berner
Cosmos Verlags. Seine Vorliebe für Krimis
erklärt Hänni mit seiner bevorzugten Lektüre – Entspannung inbegriffen.
Natürlich hat er vor Jahren auch «die
Schweden» und die «leicht subdepressi-
ven» Bücher etwa eines Henning Mankell
für sich entdeckt. Ebenfalls mag er Peter
Falk als «Columbo» mit seinem Flair für
«retrospektiv aufgerollte Fälle» – und für
Selbstironie. Machte Hänni den Schritt
zum Autor mit einer «Geschichte für den
Hausgebrauch», weiss er inzwischen ein
professionelles Lektorat und die Unterstützung eines Verlags zu schätzen. Und
er hat gelernt, pointierter und präziser zu
schreiben – nicht zuletzt im Vertrauen
auf Reduktion. Für die «nicht alltägliche
Mordwaffe» Rizin in «Samenspende» hat
sich Hänni aufgrund von Recherchen
bewusst entschieden. Keineswegs zufällig ist auch die für seinen jüngsten Krimi
nicht nur zwischen den Zeilen aufscheinende Beklommenheit im Seziersaal, die
Hänni aus eigener Erfahrung kennt:
«Man muss sich distanzieren.» Dazu
gehört auch schwarzer Humor.
Hänni schreibt ausschliesslich in seiner
Freizeit. Dabei soll es vorerst auch bleiben, nicht zuletzt mit Blick auf ein geregeltes Einkommen. Mit seinen Worten:
«Die Abwechslung machts aus.» Erste
öffentliche Auftritte haben ihn eingestandenermassen «viel Überwindung» gekostet. Mittlerweile freut er sich auf Lesungen und auf das Echo aus dem Lesepublikum – eine «schöne Zugabe». Selbst
wenn er diesen «Lohn» gerne annimmt
und bereits einige «gedankliche Module»
für ein einen nächsten Krimi im Kopf hat,
hat sich seine Lebenssituation kaum
geändert. In seiner eigenen Wahrnehmung ist Hänni weiterhin primär Arzt,
nicht Autor! (RER)
tausendmal stärker als Zyankali. Also
muss die Berner Mordkommission ran.
Wer hatte es auf die beiden Opfer abgesehen? Zumal sie zeitlebens nichts miteinander zu tun hatten. Nach und nach
lässt sich puzzleartig zusammenfügen,
dass sich Kristina Brand im Oktober 2005
am Seziertisch des Körpers von Dieter
Sommer annahm. Der Kreisoberingenieur im Tiefbauamt und Trinker war einem Herzinfarkt erlegen und hatte eine
Giftkapsel im Hintern, deren Inhalt zufällig der Medizinstudentin zum Verhängnis wurde. Und in Robert Kramers
Hinterlassenschaft findet sich eine Vorladung des Eidgenössischen Amtes für Zivilstandswesen, die der Vater zweier Söhne offensichtlich zu verstecken suchte.
DER HINTERGRUND: Kramer war aktenkundiger Samenspender und aufgrund
des später in Kraft getretenen Fortpflanzungsmedizingesetzes mit einer ehedem
nicht absehbaren Situation konfrontiert.
Jahre nach seinem finanziell motivierten
Einsatz musste sich Kramer dem für ihn
folgenschweren Artikel 119 beugen, der
jeder Person ein «Recht auf Zugang zu
den Daten über ihre Abstammung» einräumt. Mit anderen Worten: Kramer sah
sich möglicherweise gezwungen, dem
nach vollendetem 18. Lebensjahr geltenden Auskunftsrecht eines durch künstli-
che Befruchtung gezeugten Kindes nachzukommen und sich als biologischer Vater zu outen. Womit auch Charlotte Berger als Anlaufstelle kinderloser Ehepaare
ins Spiel kommt und sich – bis hin zu einem buchstäblich finalen Kuss – auch so
manches mehr enthüllt.
Dieses abenteuerliche Szenario entfaltet Peter Hänni in seinem lapidar mit
«Samenspende» betitelten Kriminalroman mittels geschickt verknoteter
Handlungsstränge, die nicht zuletzt anhaltende Spannung gewährleisten. Zudem versteht sich der 1958 in Bern geborene Arzt und Autor mit eigener Praxis in Solothurn und Wohnsitz in Lommiswil auf eine gewitzte Figurenzeichnung, namentlich seiner involvierten
Polizisten. Kommissar Engel, diensthabender Einsatzleiter des Berner Dezernats Leib und Leben, zeigt sich tüchtig –
auch als Besitzer eines Jack Russel Terriers namens Kojak, der überall dabei
ist. Und Fahnder Andreas Teuscher
übersteht eine dem Eishockey zu verdankende Phase ohne alle seine Zähne
mit sportlichem Berufsverständnis: «Ich
bin Kriminalbeamter, kein Dreffman.»
Peter Hänni: «Samenspende». Kriminalroman. Cosmos Verlag, Muri bei Bern 2009.
192 S., Fr. 34.–. Buchtaufe: 4. November,
Buchhaus Lüthy, Solothurn, 20 Uhr.
Ein Fall für das Berner «Gräuel-Dezernat»
Mit «Todesstrich» legt die in Burgdorf und Zürich lebende Autorin und Journalistin Christine Brand ihren ersten Kriminalroman vor
VON ROLAND ERNE
Es fehlt ihr nicht an Selbstbewusstsein
und Strebsamkeit. Vor allem aber hat sie
ein «untrügliches Bauchgefühl». Gerade
41 geworden, ist Lisa Kunz zur Chefin des
Dezernats Leib und Leben der Kantonspolizei Bern aufgestiegen. 23 Dossiers zu
hängigen Fällen warten auf sie, darunter
der 5 Jahre zurückliegende Mord an der
erdrosselten und danach geschändeten
Prostituierten Karin Wälti. Nicht von ungefähr spricht Lisa Kunz’ Mann Marc
vom «Gräuel-Dezernat». Sie wiederum
kann den ihr vertrauten Ärger beim
nächtlichen Aktenstudium einmal mehr
nicht unterdrücken: «Der Mord an einer
Hure blieb in dieser Polizeiwelt der Männer ein Mord zweiter Klasse.»
Vier Monate später ist Lisa Kunz
gleichwohl «angekommen in ihrem
neuen Job», der sich keineswegs im Aufarbeiten ungeklärter Verbrechen erschöpft. Zu denken gibt ihr eine Vermisstmeldung vorerst ausserhalb ihres
Zuständigkeitsbereichs. Es geht um eine 35-jährige Drogenprostituierte und
Mutter zweier Kinder namens Renate
Berger aus Bümpliz, die den Ausstieg
beinahe geschafft hatte, zuletzt auf
dem Strassenstrich an der Berner
Bundesgasse aber wieder anschaffen
ging. Ihr Verschwinden nährt den Verdacht eines weiteren Prostituiertenmords, den ein gewalttätiger Freier zu
verantworten haben dürfte.
INS VISIER VON LISA KUNZ gerät Bruno
Bärtschi, ein mit seiner über 80-jährigen Mutter unter einem Dach lebender
Bauer in Heimiswil und Mitglied der
Freiwilligen Feuerwehr. Vor allem aber
verkehrt der ohne Lebenspartnerin gebliebene Landwirt, auch Kassier des örtlichen Kegelvereins, als schon mal eines
Übergriffs beschuldigter Kunde bevorzugt auf dem Berner Drogenstrich. Weil
die Mädchen «alles mit sich anstellen
liessen». Bärtschi sah sich damals ins
Unrecht gesetzt. «Er hatte eine Nacht in
Untersuchungshaft verbracht wegen
dieses verlogenen Luders.» Ein früherer
Freispruch mangels Beweisen bewahrt
ihn indes nicht vor dem Zugriff von Lisa
Kunz, die Bärtschi nach langwierigen
Ermittlungen und zähen Verhören des
Mordes an Renate Berger überführt.
BÄRTSCHI MUSS SEINE 12-jährige Zucht-
hausstrafe in der Vollzugsanstalt Thorberg oberhalb von Krauchthal absitzen.
Am vergitterten Zellenfenster hat er das
beschauliche Emmentaler Dorf im
Blickfeld, wo Lisa Kunz mit ihrem patenten Mann ein umgebautes Bauernhaus bewohnt; von ihm bekocht, auch
wenn sie keine Zeit zum gemeinsamen
Essen findet. «Was würde sie bloss machen, wenn es ihn nicht gäbe.» Nicht aus
dem Kopf bringt sie freilich das Leichenfoto von Karin Wälti und das Passfoto
der vermissten Dirne Corina Liechti, deren Überreste unauffindbar blieben –
zwei belastende Delikte, die Lisa Kunz illusionslos einstuft: «Sie hatte die Morde
nicht verhindern und würde sie womöglich nie klären können.»
Nach ihrem ersten Buch «Schattentaten» mit 20 authentischen Kriminalge-
schichten und dem fiktiven Kurzkrimi
«Späte Rache» für die Anthologie «Mordsgeschichten aus dem Emmental» (2008)
legt Christine Brand mit «Todesstrich»
nun ein von einem wahren Verbrechen
inspiriertes Kriminalromandebüt vor,
das sich weitgehend an real existierenden Schauplätzen abspielt; für die frühere «Bund»-Reporterin aus Burgdorf
auch Gelegenheit, ihre Erfahrungen als
mit der Polizeiarbeit und Gerichtsfällen
vertraute Journalistin einzubringen.
DAS ZWISCHEN DEM BERNER Drogenstrich und Emmentaler Dörfern evozierte Geschehen ist dabei von jener Realitätsnähe erfüllt, die Echtheit bis hin
zu (finanz)politischen und medialen
Gegebenheiten des Gegenwartsalltags
vermittelt. So ist dem mutmasslichen
Täter Bruno Bärtschi ohne Verzug auch
der «Blitz»-Reporter Lorenz Bergmann
auf den Fersen. Mit unzimperlicher,
aber nicht reisserischer Genauigkeit
beschreibt Brand überdies heikle Szenen wie etwa die Obduktion Renate
Bergers im Institut für Rechtsmedizin
oder aber das Ableben der weiblichen
Opfer. Prägend für ihren Kriminalroman im Zeichen gesellschaftlicher Relevanz ist ein Erzählverfahren, das auf
strikte Linearität verzichtet. Geduldig
switcht die 1973 geborene Autorin und
«NZZ am Sonntag»-Journalistin vielmehr zwischen den Parallelwelten ihrer Hauptfiguren Renate Berger, Bruno
Bärtschi und Lisa Kunz, deren aufrechtes Wirken keine auffälligen Macken
trüben.
Ohne hinlänglich bekanntes Sonderlingsprofil fiktiver (TV-)Konkurrenz
agiert in Christine Brands Kurzkrimi
«Lochbach-Geist» im ebenfalls jüngst erschienenen
Anthologie-Fortsetzungsband «Neue Mordsgeschichten aus dem
Emmental» auch ihr weniger hochrangiger Protagonist Ferdinand Käsermann:
seit 30 Jahren Dorfpolizist in Oberburg
zuvorderst im Emmental – in Erwartung
seiner wohlverdienten Pensionierung.
INSERAT
Christine Brand: «Todesstrich». Kriminalroman. Landverlag, Trubschachen 2009.
296 S., Fr. 38.-. Lesung: 28. November,
Gertsch-Museum Burgdorf.
«Neue Mordsgeschichten aus dem
Emmental», 20 Kurzkrimis (u.a. von Marina Bolzli, Christine Brand, Hans Herrmann), herausgegeben von Verena Zürcher. Landverlag, Trubschachen 2009.
360 S., Fr. 29.50. Buchvernissage: 6.
November, Heimstätte Bärau.
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