SS 04 VO: Europäisches Bürgertum im 19

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SS 04 VO: Europäisches Bürgertum im 19. Jh. Ewald Frie
4. Sitzung, 10.5.2004 Thema: Deutschland
1. Grundlagen der deutschen Bürgertumsgeschichte
1.1 Kleinräumigkeit
Was die deutsche Geschichte von der der umliegenden Regionen unterscheidet, ist die oft
kleinräumige Herrschaftsbildung auf territorialer Grundlage. Ihr ganzes Ausmaß wird in den
Zahlen deutlich, die Elisabeth Fehrenbach präsentiert. Zwischen 1803 und 1806, zwischen
Reichsdeputationshauptschluss, dem Frieden von Pressburg und der Gründung des Rheinbundes brach die kleinräumige deutsche Staatenwelt zusammen. „Die Zahl der reichsunmittelbaren Territorien sank von über tausend, die Zwergherrschaften der über dreihundert Reichsritter nicht mitgerechnet, auf etwas über dreißig.“1 41 Reichsstädte büßten allein im Zuge des
Reichsdeputationshauptschlusses ihre Selbständigkeit ein. Zahlreiche kleine und mittlere
Städte verloren ihre Funktion als Hauptstadt oder Zentralpunkt höfischer Kultur. Der Wiener
Kongress 1815 bestätigte die napoleonische Flurbereinigung, die vor allem den deutschen
Südwesten völlig neu gestaltet hatte. Dem deutschen Bund, der in Wien aus der Taufe gehoben wurde, gehörten insgesamt 41 souveräne, prinzipiell gleichberechtigte Staaten und Städte
an, die faktisch freilich sehr unterschiedlich waren. Da gab es die Präsidialmacht Österreich
und ihren mächtigen Rivalen Preußen auf der einen Seite, und auf der anderen Seite Reichsstädte wie Lübeck oder Staaten wie Schaumburg-Lippe und Schwarzenburg-Rudolstadt.
Die politischen Entscheidungen der Jahre 1803-1815 zerstörten die Grundlagen der kleinteiligen deutschen Staatenwelt. Deren Folgen aber blieben das ganze 19. Jahrhundert hindurch
spürbar. Im Südwesten Deutschlands behielten die zahlreichen aufgehobenen Reichsstädte
ihre lokalistischen Traditionen bei, gaben Verhaltensweisen weiter, die man positiv als kommunalistisch, negativ als beschränkt und borniert bezeichnen könnte. Im preußischen Nordosten hingegen war die städtische Selbstorganisationstradition nie sehr stark gewesen und
durch den energischen Zugriff der großen preußischen Monarchen des 18. Jahrhunderts zusätzlich geschwächt worden. Hier versuchte der Freiherr vom Stein mit seinen Reformen
kommunale Selbstverwaltung erst zu schaffen, und stieß dabei in den Städten durchaus nicht
nur auf Gegenliebe.
Wer das Bürgertum in Deutschland untersucht, kann daher sehr unterschiedliche Ergebnisse
erzielen, je nach gewähltem Untersuchungsfeld. Zahlreiche Lokalstudien, die in den letzten
1
Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Régime zum Wiener Kongress, 4. Aufl. München 2001, 71.
2
Jahrzehnten angefertigt worden sind, haben gezeigt, wie groß die Unterschiede zwischen den
verschiedenen „Bürgertümern“ innerhalb Deutschlands sein konnten. Oft zeigen sich schon in
kleinen Regionen große Differenzen, und dies hängt nicht nur mit verschiedenen ökonomischen und sozialen Strukturen zusammen, sondern auch mit herrschaftlichen und kommunalen Traditionen, die aus dem Alten Reich überliefert worden sind.
1.2 Das fehlende Zentrum
Anders als in den beiden bisher beobachteten Fällen Russland und Ungarn besaß Deutschland
kein städtisches Zentrum von überragender Strahlkraft. Das hängt erneut mit der territorialen
Vielfalt zusammen, aber auch mit der eigentümlichen Struktur des Alten Reiches und des ihm
folgenden Deutschen Bundes von 1815. Deutschland war ein Passivraum der internationalen
Politik. Der Deutsche Bund eignete sich auch nach 1815 nicht „zum Ausbau als unitarisches
nationales Staatswesen. Er war deutsch und europäisch zugleich.“2 Deshalb gab es keinen Ort,
an dem sich die politischen, ökonomischen und sozialen Eliten zwecks Durchsetzung ihrer
Interessen und zwecks Knüpfung von Netzwerken hätten versammeln müssen. Es gab Berlin
und Wien als Vororte der beiden größten Einzelstaaten (und der beiden großen Konfessionen), die aber beide keine Verfassung hatten und daher politisch unterinstitutionalisiert waren.
Es gab Frankfurt als den Ort, an dem die Bundesversammlung ständig tagte, die aber als
„Kongress weisungsgebundener Gesandter“3 wenig Glanz ausstrahlte. Es gab Dresden, München, Stuttgart und Karlsruhe, Hautstädte der ehemaligen Rheinbundstaaten Sachsen, Bayern,
Württemberg und Baden, die das „Dritte Deutschland“ bildeten. Während Dresden die Zeichen der großen Vergangenheit der sächsischen Kurfürsten und Könige mit großem Selbstbewusstsein trug, wurden die drei süddeutschen Vororte zwecks Legitimation der mit Napoleon gewonnenen Macht weiter herrschaftlich und repräsentativ ausgebaut. Es gab weiter die
verbliebenen Reichstädte wie Hamburg und Bremen, die eigene Wege städtischer Repräsentation gingen. Es gab die Herrschaftsmittelpunkte der kleineren Staaten, von denen einige es
verstanden, durch kulturelle Investitionen unverwechselbare Zeichen von Zentralität zu schaffen (Weimar, Meiningen). Und es gab die vielen ehemaligen „Hauptstädte“, die teilweise provinzialisiert wurden, teilweise über eine beherrschende Adelsfamilie oder über Industrialisierungseffekte eine zentrale Bedeutung behielten.
Während des 19. Jahrhunderts ist die aus dem Alten Reich überkommene polyzentrische Verstädterung zwar gewandelt, nicht aber aufgehoben worden. Der deutsche Nationalstaat kam
2
Anselm Doering-Manteuffel: Die Deutsche Frage und das Europäische Staatensystem 1815-1871 (EDG
15), 2. Aufl. München 2001, 7.
3
Anselm Doering-Manteuffel: Die Deutsche Frage und das Europäische Staatensystem 1815-1871 (EDG
15), 2. Aufl. München 2001, 6.
3
spät (1871). Dass er auf preußischer Grundlage kommen würde, war selbst Anfang der 1860er
Jahre noch nicht absehbar. Als er kam, wurde er offiziell und gemäß deutscher Traditionen als
Bund von Einzelstaaten begründet, damit die regionalen Eigenständigkeiten noch einmal betonend. Neben Berlin, das von der Hauptstadtwerdung sicher stark profitiert hat, blieben daher
die regionalen Zentren bedeutsam. Man bedenke nur, wo die Neuentwicklungen der Malerei
der Jahrhundertwende sich verorten lassen: Die Berliner Sezession (Max Liebermann), die
Dresdener Brücke (Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff), der Blaue
Reiter in München (Franz Marc, August Macke, Wassily Kandinsky), Worpswede usw.
Neben die alten Zentren traten im 19. Jahrhundert neue Metropolen, die nur zum Teil eine
lange Geschichte hatten. Es waren die Industriemetropolen, die sich bemühten, ihre wirtschaftliche Kraft auch kulturell und städtebaulich sichtbar werden zu lassen (Nürnberg, Leipzig, Halle, Ruhrgebiet etc.). Die in ihrer Art sich wandelnde, im Grundsatz aber bleibende
polyzentrische Verstädterung macht das deutsche Bürgertum als ein städtisches Phänomen so
bunt, vielfältig und so schwer beschreibbar.
1.3 Der verspätete Nationalstaat
Wie bereits in den letzten beiden Sitzungen am Beispiel Russlands und Ungarns gezeigt, war
die nationalstaatliche Einigung bei gleichzeitigem Ausbau partizipativer Strukturen eine westeuropäische Besonderheit, die als allgemeineuropäisch (miss)verstanden wurde. In Westeuropa bildeten sich England und Frankreich in einem immer wieder revolutionär vorangetriebenen (Frankreich) bzw. hart am Rande der Revolution evolutionär sich entwickelnden (England) Prozess zu demokratischen Nationalstaaten fort. Osteuropa und Ostmitteleuropa blieben
in der Hand zweier vor- bzw. übernationaler Reiche: Österreich-Ungarn und Russland. Nur in
zwei mitteleuropäischen Regionen gelang während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
die nationalstaatliche Einigung: in Italien und in Deutschland. In beiden Fällen wurden militärische Mittel angewendet. In beiden Fällen war die Einigung gleichzeitig eine Teilung (Italien
verlor im Einigungsprozess Savoyen und Nizza an Frankreich und konnte italienischsprachige
Gebiete im Trentino und um Triest nicht von Österreich gewinnen, was zu andauernden
Spannungen im Verhältnis zu Österreich-Ungarn führte, die bis 1914 nicht ausgeräumt werden konnten; Deutschland wurde um den Preis des Ausschlusses Deutsch-Österreichs geeint).
In beiden Fällen war das Bürgertum in die Einigungsgeschichte verwickelt und wurde durch
sie geprägt.
In Deutschland beruhte der Nationsbildungsprozess auf lang gehegten bürgerlichen Wünschen. Sie waren seit den Befreiungskriegen virulent und hatten während der Revolution von
1848/49 nicht verwirklicht werden können. Danach baute der von Preußen ausgehende wirt
4
schaftliche Vereinheitlichungsprozess (Zollverein) einer politischen Einigung vor. Die repressive Innenpolitik Preußens und seine mit der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten
sich noch zuspitzende antiliberale Stoßrichtung ließen freilich viele Bürger daran zweifeln,
dass dieser Staat die politische Einigung würde bringen können. Mit Abscheu sahen viele den
politischen Winkelzügen Bismarcks 1862-1866 zu, bevor der Sieg über Österreich und die
nationale Unifizierungspolitik danach den bürgerlichen Liberalismus zu großen Teilen auf die
Seite Bismarcks brachte. Die Jahre 1867-1877 können als die goldenen Jahre des bürgerlichen
Liberalismus in Deutschland gelten. In spannungsreicher Zusammenarbeit mit dem preußischen Ministerpräsidenten und ab 1871 auch Reichskanzler Bismarck wurde das Reich äußerlich geeint und die innere Einigung – bis hin zur Vereinheitlichung der Maße und Gewichte
etc. – durchgesetzt.
1.4 Der frühe bürokratische Anstaltsstaat
In Deutschland kam der Nationalstaat spät, die bürokratische Staatlichkeit hingegen früh.
Vielleicht wegen der Kleinräumigkeit der deutschen Territorialität bis ins 19. Jahrhundert
wirkte der Staat früher und tiefer in die Leben der Einzelnen hinein als etwa in England. Die
Bürokratisierung setzte in Deutschland vor, in England nach der Industrialisierung ein. In der
deutschen Philosophie spielte die Staatslehre eine vergleichsweise wichtige Rolle. In die sozialen Verhältnisse intervenierte der Staat früh und entschieden. Die im internationalen Vergleich ausgesprochen zeitige Bismarcksche Sozialgesetzgebung ist Ausdruck, nicht Ursache
davon.
Auf das deutsche Bürgertum hatte die Staatsorientierung der Deutschen einen doppelten und
widersprüchlichen Effekt. Auf der einen Seite produzierte der Ausbau der Staatlichkeit früh
und wirksam eine bürgerliche Schicht der Geheimräte, der Regierungsräte, der Professoren,
der beamteten Ingenieure. Auf der anderen Seite waren diese Bürger eben auch staatsorientiert, konnten dem Staat nicht als selbstbewusste Glieder einer sich selbst organisierenden
Gesellschaft entgegentreten. Die Stärke des deutschen Bürgertums, die aus der frühen und
dauerhaften Verankerung eines großen Teils seiner Glieder im Staatsdienst resultierte, war
auch seine Schwäche.
2.Forschungsgeschichte
2.1 Liberalismus
Die deutsche Geschichtswissenschaft zeichnete sich bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine starke Konzentration auf Politikgeschichte aus. Sie hat daher Bürgertumsgeschichte nicht als Geschichte einer ökonomischen, sozialen oder kulturellen Formation betrie
5
ben (das geschah höchstens im Zusammenhang mit der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadtgeschichtsforschung, die auf die Bürgergemeinde konzentriert war, mit dem absolutistischen Zugriff auf die Zwischengewalten aber ihr Objekt verlor), sondern als eine Art
By-Product der Liberalismusforschung. Der Zusammenhang der Bürgertumsgeschichte mit
der unglücklichen Geschichte des Liberalismus hat aber dafür gesorgt, dass das deutsche Bürgertum lange in dunklen Farben portraitiert worden ist.
Deutsche Liberalismusforschung hatte es nämlich immer mit der „Tragödie des deutschen
Liberalismus“4 zu tun. Dieser Begriff zielte auf die Trennung zwischen Bismarck und den
Liberalen 1876-1878 und deren Folgen. Das glänzende Reichsgründungsjahrzehnt endete mit
einer Niederlage der Liberalen. Sie spalteten sich in den 1880er Jahren mehrfach, gruppierten
sich um. Sie verloren dauerhaft an Wählerzuspruch. Die Demokratisierung des Nationalstaats,
die sie 1871ff auf ihre Fahnen geschrieben hatten, erreichten sie nicht mehr Nach der Jahrhundertwende haben sie sie auch immer weniger gefordert.
Die ältere Forschung hat diese Niederlage mit der Überperson Bismarck erklärt, dem alles
überstrahlenden, aber auch alles vernichtenden Reichseinigungsgenius. Seit den 1960er Jahren wurde dieses Thema sozialgeschichtlich umgeformt: Hatte die politische Schwäche des
deutschen Liberalismus sozialgeschichtliche Ursachen? Verloren die liberalen Parteien Anhänger, weil das Bürgertum als Trägerschicht des Liberalismus an Attraktivität und an Bedeutung einbüßte? Noch zugespitzter und fast in die Richtung eines sozialgeschichtlichen
Determinismus gewendet: War es ein Defizit an Bürgerlichkeit, dass die autoritäre deutsche
Staatsstruktur der späten Bismarckzeit ermöglichte? Und hing damit auch die fehlende Bereitschaft des deutschen Kaiserreiches, sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg in Richtung
Demokratie zu bewegen, mit diesem Defizit an Bürgerlichkeit zusammen? War das deutsche
Bürgertum somit für den „deutschen Sonderweg“ (mit)verantwortlich, der das Reich, anders
als die westlichen Demokratien England und Frankreich, in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges, die instabile Weimarer Republik und letztlich in den Nationalsozialismus trieb?
2.2 Sozialgeschichte des Bürgertums
2.2.1 Bielefelder SFB
Nicht zufällig war es die Universität Bielefeld, die zu diesen Fragestellungen einen größeren
interdisziplinären und internationalen Forschungszusammenhang begründete5. Die „Bielefel
4
Sell, F. C.: Die Tragödie des deutschen Liberalismus, 2. Aufl. Baden-Baden 1982.
Den publizistischen Startschuss des Projektes dokumentiert Jürgen Kocka (Hg.): Bürgertum im 19.
Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988. Der Abschluss des Sonderforschungsbereichs wird dokumentiert in Peter Lundgreen: Soziale- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine
Bilanz des Bielefelder Sonderforschungsbereichs (1986-1997), Göttingen 2000. Zwischen beiden Büchern sind
5
6
der Schule“ mit ihren herausragenden Gründungsfiguren Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka
und – etwas beiseite stehend – Reinhart Koselleck vertrat besonders pointiert die These vom
Deutschen Sonderweg6 in Europa. Dem Bürgertum kam dabei eine Schlüsselrolle zu. „Die
These vom deutschen Sonderweg, wonach ein deutscher Rückstand an Bürgerlichkeit zu einer
Schwäche der political society gegenüber dem Staat und zu einem nur schwachen Ausbau an
modernen politischen Institutionen geführt habe, sollte sozialgeschichtlich überprüft werden.
Das Projekt wollte im europäischen Vergleich Interpretamenten nachgehen, die vom Anfang
des 20. Jahrhunderts stammen und sich durch die Vermittlung Max Weber zu wichtigen Erklärungsansätzen für die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts entwickelt haben:
Dass das deutsche Bürgertum im Unterschied zum westeuropäischen einem Prozess der Feudalisierung unterlegen sei, einer Angleichung an den Adel, die es gewissermaßen entbürgerlicht hätte; dass die Prozesse der Professionalisierung, in denen sich in der westeuropäischen
und amerikanischen Welt die freien Berufe als Stützen der civil society herausgebildet hätten,
verzögert, unvollständig und staatsnäher von sich gegangen seien; dass der politische Einfluss
und die Stabilität der liberalen Parteien deutlich geringer gewesen sei als westlich des Rheins;
dass deutsche Bildungsbürger und Unternehmer unselbständiger und staatsnäher gewesen
seien als dort.“7
Die Bielefelder gingen vom „Bürgertum“ als einer Sozialformation aus, die nicht aus der begrifflichen und sozialen Tradition der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft heraus verstanden
werden konnte, sondern sich als Teil der Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts neu bildete.
Sie wurde verstanden als ein Zusammenhang von drei Hauptgruppen: dem Bildungsbürgertum, dem Wirtschaftsbürgertum und dem Kleinbürgertum. Alle drei Hauptgruppen waren
nicht leicht voneinander und von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen. Das Bürgertum, wie es die Bielefelder zu definierten versuchten, war schwer zu fassen. „Selbst wenn
man … sich auf den wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Kern beschränkt, ist nicht leicht zu
sagen, was denn den gemeinsamen Nenner und zugleich die abgrenzende Besonderheit dieser
Kategorien darstellte, die es rechtfertigten, sie als ‚Bürgertum’ zusammenzufassen und sich
mit ihnen … insgesamt zu beschäftigen. Was ist es denn, das die Kaufleute, Fabrikanten und
Bankdirektoren, die Ärzte und selbständigen Rechtsanwälte, die Richter und Ministerialbeamten,, später auch die Diplom-Ingenieure und Betriebswissenschaftler in sozial relevanter
zahlreiche Einzelveröffentlichungen aus dem Bielefelder SFB heraus erschienen, deren Titel im LundgreenSammelband dokumentiert sind.
6
Zugespitzt in Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 6. Aufl. Göttingen 1989; zum
Deutschen Sonderweg vgl. Helga Grebing u.a.: Der “deutsche Sonderweg” in Europa 1806-1945. Eine Kritik,
Stuttgart u.a. 1986.
7
Thomas Mergel: Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren. Für Hans-Ulrich Wehler zum 70. Geburtstag, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), 515-538, hier 515-516.
7
Weise gemeinsam hatten und zwar so, dass es sie zugleich von Nicht-Bürgern unterschied?
Die gleiche Klassenlage kann es nicht gewesen sein, denn die einen waren selbständig, die
anderen beamtet, und wieder andere zählten zu den Privatangestellten. Sie gehörten verschiedenen Wirtschaftssektoren, Branchen und Berufen an. Auch nach ihrer Bildung unterschieden
sie sich, denn eine, wenn auch abnehmende, Mehrheit der Wirtschaftsbürger verfügte im 19.
Jahrhundert nicht über jene akademische Bildung, die die Bildungsbürger als solche definierte. Auch nach Einkommen und sozialer Herkunft war das Bürgertum äußerst heterogen. Wodurch definierte es sich dann, was hielt es zusammen?“8
2.2.2 Frankfurter SFB
Im Gegensatz zu „Bielefeld“ versuchte ein Frankfurter Forschungsschwerpunkt unter der
Leitung Lothar Galls, das Bürgertum des 19. Jahrhunderts aus dem städtischen Bürgertum des
18. Jahrhunderts heraus zu verstehen. Gall9 schätzte das Wandlungs- und Modernisierungspotential städtischer Führungsschichten hoch ein und hielt es daher für geboten, bürgertumsgeschichtliche Untersuchungen in konkreten Städten des ausgehenden 18. Jahrhunderts anzusiedeln und das 19. Jahrhundert aus dem 18. heraus zu entwickeln. Außerdem betonte Gall,
dass sich die politischen und gesellschaftlichen Zukunftsutopien des Bürgertums bis fast zur
Mitte des 19. Jahrhunderts als Extrapolation städtischer Gegenwartserfahrungen lesen ließen
und erst danach eine Wandlung in Richtung einer stärker nationalen Politik für die besitzenden Klassen durchmachten. Im Mittelpunkt stand bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts “die
Idee der ‚klassenlosen Bürgergesellschaft’ der Zukunft, die sich mit der Verbreitung von Wissen und materiellem Wohlstand auf der Linie der alten, sich selbst regierenden Stadtbürgergesellschaft entwickeln werde mit dem Bürgertum als konstitutivem Kern, als Vorhut jener Gesellschaft und Modell ihres ‚allgemeinen Standes’.“10
Während im Bielefelder Sonderforschungsbereich und seinem Umfeld vor allem Studien zu
bürgerlichen Berufen (Beamte und Beamtentum, Pfarrer, Bankiers, Rechtsanwälte, Ärzte etc.)
und zu Vergesellschaftungsformen (Logen, Vereine) entstanden, die besonderen Wert auf die
zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts legten (somit das Neue des neuzeitlichen Bürgertums und
sein Entstehen außerhalb überkommener Gesellschaftsstrukturen betonend), konzentrierten
sich die Frankfurter stark auf Städte den Vergleich von Städten11, und chronologisch auf die
8
Jürgen Kocka: Bürgertum und bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Europäische Entwicklungen
und deutsche Eigenarten, in: Ders. (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd 1, München 1988, 11-78, hier 14.
9
Vgl. Lothar Gall: Bürgertum, liberale Bewegung und Nation. Ausgewählte Aufsätze, München 1996;
Ders.: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (EDG 25), München 1993.
10
Lothar Gall: Von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft (EDG 25), München 1993, 27.
11
Beispielhaft Lothar Gall (Hg.): Vom alten zum neuen Bürgertum. Die mitteleuropäische Stadt im Umbruch 1780-1820, München 1991.
8
erste Hälfte des 19. Jahrhunderts (damit den Zusammenhang zwischen altem und neuem Bürgertum herausarbeitend). Während hinter den Bielefelder Anstrengungen die Vorstellung eines deutschen Sonderwegs stand, lag in der Logik des Frankfurter Unternehmens eher die
Idee eines Wandels europäischer Stadtstrukturen aus gemeinsamer Wurzel. Damit war ein
schnelles Zugreifen auf einen spezifisch deutschen – und gar preußisch-kleindeutschen – Fall
nicht möglich.
2.3 Kulturgeschichte des Bürgertums
Sowohl das Bielefelder als auch das Frankfurter Forschungsunternehmen stammten, was ihre
leitenden Gedanken anging, aus der ersten Hälfte der 1980er Jahre und verarbeiteten die Auseinandersetzungen um die deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die die Geschichtsschreibung der 1970er Jahre geprägt hatten. Das führte zu einer Schwerpunktsetzung
im Bereich der politischen Sozialgeschichte. Beide Projekte haben in den späten 1980er und
frühen 1990er Jahren eine deutliche Veränderung hin zur Kulturgeschichte durchgemacht, der
auch die deutsche Bürgertumsgeschichte außerhalb der beiden Großprojekte kennzeichnete.
Nicht mehr sozialökonomische Strukturen, sondern die Verarbeitung derselben in den Köpfen
der Bürger stand im Vordergrund. Den theoretischen Hintergrund für die Forschungen lieferte
immer weniger Max Weber. An seine Stelle trat – nach einer nicht sehr langen, aber vor allem
für den Gegenstand Wende um 1800 bedeutsamen Konjunktur Niklas Luhmanns – Pierre
Bourdieu.
In Bielefeld war die kulturalistische Wende eine Folge der Schwierigkeit, den Gegenstand
„Bürgertum“ sozialgeschichtlich zu definieren. Darauf wies das oben angeführte Kocka-Zitat
hin. Wenn also „Wirtschaftsbürger“, „Kleinbürger“ und vor allem „Bildungsbürger“ Begriffe
blieben, die sich mit politischen, ökonomischen oder sozialen Kategorien nur schwer trennscharf definieren ließen, war dann nicht in Lebenshaltung und Lebensweise, in Sinnsuche und
Sinnproduktion das Gemeinsame des Bürgertums im 19. Jahrhundert zu finden? Manfred
Hettling und Stefan Ludwig Hoffmann haben vor wenigen Jahren ein Buch mit dem Titel
„Der bürgerliche Wertehimmel“12 herausgegeben, das diesem Ziel gewidmet ist. Besonders
überzeugend sind derartige Versuche bisher nicht gewesen. „Was im sozialgeschichtlichen
Zugriff zerfaserte, konnte kulturgeschichtlich nicht wieder zusammengefügt werden.“ Dennoch aber waren die kulturgeschichtlichen Anstrengungen nicht vergeblich: „Die kulturgeschichtliche Renaissance hat zwar nicht die verlorene Einheit ‚Bürgertum’ neu erschaffen,
12
Manfred Hettling u. Stefan Ludwig Hoffmann (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des
19. Jahrhunderts, Göttingen 2000.
9
aber sie hat deutlicher als zuvor ausgeleuchtet, was ‚Bürgerlichkeit’ und ‚bürgerliches Leben’
im 19. Jahrhundert konkret hießen.“13
Ausdruck der kulturgeschichtlichen Schwerpunktsetzung sind auch zwei der neueren Gesamtdarstellungen zur deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Wolfgang J. Mommsen räumt
in seiner Darstellung der Kultur einen hohen Stellenwert ein14. Für Thomas Nipperdey war
die Bürgerlichkeit essentieller Bestandteil vor allem des Kaiserreichs. Dabei maß er der
Hochkultur der Jahrhundertwende eine besondere Bedeutung bei, ohne jedoch die Alltagskultur außen vor zu lassen. „Die Bürger bestimmten die Welt der Kultur, der Wissenschaft,
der Bildung; die Welt der Technik und der industriell-kommerziellen Wirtschaft, die Welt der
Städte, ihre Verwaltungen und ihre Aktivitäten und damit die Individualisierungsmöglichkeiten in der Gesellschaft. In der Politik dagegen waren die Bürger weit weniger mächtig. Auch
die große Bourgeoisie herrschte nicht: Adel und Militär hatten einen erheblichen Einfluss, der
Staat war – trotz der individuell bürgerlichen Beamten – unbürgerlich, obrigkeitlich.“15
2.4 Transnationale Bürgertumsgeschichte in einer zusammenwachsenden Welt
Stefan Ludwig Hoffmann hat im letzten Jahr eine kleine, aber imposante Untersuchung über
„Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914“16 vorgelegt. Ihn
interessierten dabei „nicht die zweifellos vorhandenen gravierenden nationalen Unterschiede
…, die schon den Zeitgenossen selbst ins Auge stachen und von ihnen im Zuge der Nationalisierung der europäischen Gesellschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts überscharf betont
wurden. Vielmehr soll das erstaunliche Phänomen einer sozialen Praxis verfolgt werden, die
in verschiedenen Ländern und Regionen entstanden ist, zuweilen gemeinsamen ideellen Einflüssen entsprang, aber auch unterschiedliche politische Wirkungen zeitigen konnte. [Es geht
um den] Versuch, die Geschichte geselliger Vereine in ihrer transnationalen Verflechtung zu
rekonstruieren“17.
Hoffmanns Buch ist Ausdruck eines in den letzten Jahren nicht nur in der Bürgertumsgeschichte feststellbaren Wechsels der Beobachtungsebene. Der Nationalstaat, dessen Produkt
13
Dieter Langewiesche: Frühliberalismus und Bürgertum 1815-1849, in: Lothar Gall (Hg.): Bürgertum
und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert (HZ-Sonderh. 17), München 1997,
63-129, hier 72. Das vorstehende Zitat ebd., 66-67.
14
Mommsen, Wolfgang J.: Das Ringen um den nationalen Staat. Die Gründung und der innere Ausbau
des Deutschen Reiches unter Otto von Bismarck 1850 bis 1890, Berlin 1993; Ders.: Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890-1918, Berlin 1994.
15
Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, 2. Aufl.
München 1991, 394.
16
Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1), Göttingen 2003.
17
Stefan-Ludwig Hoffmann: Geselligkeit und Demokratie. Vereine und zivile Gesellschaft im transnationalen Vergleich 1750-1914 (Synthesen. Probleme europäischer Geschichte 1), Göttingen 2003, 15-16.
10
auch die Geschichtswissenschaft selbst ist, hört auf, die wichtigste Untersuchungseinheit zu
sein. Nicht mehr einzelne Nationalgesellschaften werden untersucht, auch nicht mehr Nationalgesellschaften im Vergleich. Vielmehr wird nach gemeinsamen Lebensformen, Lebensdeutungen Kulturmustern innerhalb größerer kultureller Einheiten gesucht: Die Welt im Extremfall, aber auch Europas, der Mittelmeerwelt, der atlantischen Welt, der pazifischen Welt
o.Ä. Von einem derartigen Beobachtungspunkt aus wird deutlich, wie nationale Gesellschaften sich selbst im 19. Jahrhunderts über Abgrenzung sinnhaft konstruierten, obwohl sie Teil
einer größeren Kulturgemeinschaft waren und blieben (selbst die nationale Abgrenzung war
ein europaweites Phänomen). Geschichtsschreibung darf diesen nationalgeschichtlichen Erzählungen nicht unbesehen Glauben schenken. Ein Wechsel der Beobachtungsebene zeigt
etwa, dass Phänomene wie Industrialisierung, Urbanisierung, Säkularisierung dann besser
verstanden werden, wenn sie als regional unterschiedliche Ausprägungen einer gemeineuropäischen Entwicklung erscheinen.
Diese Vorlesung über Bürgertumsgeschichte steht, was ihre Gliederung angeht, an der Grenze
zur transnationalen Bürgertumsgeschichte. Noch beginnt sie mit einer Aneinanderreihung
kurzer Nationalgeschichten. Schon aber unternimmt sie im zweiten Teil den Versuch, das
Gemeineuropäische des Bürgertums aus den Nationalgeschichten zu extrahieren.
3. Epochen der deutschen Bürgertumsgeschichte
Nehmen wir politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Phänomene zusammen, so lassen sich drei Phasen der deutschen Bürgertumsgeschichte unterscheiden: eine erste reicht bis
in die 1840er Jahre und findet ihr definitives Ende mit der 1848er Revolution. Die zweite umfasst die nachrevolutionäre Zeit und die Reichsgründungsepoche und geht in den 1870er Jahren zu Ende. Der Kern der dritten Phase sind die vor allem kulturell bewegenden Jahre der
Jahrhundertwende. Blicken wir auf die verschiedenen Forschungsansätze, die wir unter Punkt
2. kennen gelernt haben, so können wir bereits vermuten, welche Phase von den verschiedenen Autoren als Kern der bürgerlichen Epoche begriffen wird. Hellmut Seier hat die Wertungen unterschiedlicher Autoren folgendermaßen zusammengefasst:
„Die Periodisierungsansätze von Kocka, Nipperdey und Gall differieren … nicht unerheblich.
Für Kocka ist der Abschnitt von den 1840ern bis in die 1870er Jahre die eigentliche Spitzenzeit der bürgerlichen Strahlung. In dieser Phase vollzog sich der „Durchbruch des Industriekapitalismus", der eine „gewisse bürgertumsinterne Gewichtsverschiebung" zugunsten der
„fabrikindustriell geprägten Bourgeoisie" bewirkte. Diese wurde dem ursprünglich stärkeren
bildungsbürgerlichen Faktor dadurch „ebenbürtiger", während die „Ausgrenzung des Kleinbürgertums" voranschritt und die „Abgrenzung nach unten" ein Hauptanliegen wurde. Eine
11
hochgradig dynamische Phase also, zumal in ihr nach Einschätzung des Autors überdies der
liberale Einfluß am größten war und die Verbürgerlichung von Wirtschaft, Gesellschaft und
Kultur „große Fortschritte" erzielte. Aber der Höhepunkt brachte auch sogleich die Wende. In
die „großen bürgerlichen Erfolge" mischten sich „bittere bürgerliche Niederlagen", und von
da an überwog die Defensive.
Abweichende Akzentuierungen spürt man bei Nipperdey und Gall. Ungeachtet aller ökonomisch-sozialen und sozial-kulturellen „Klassenscheidung" und aller „Schattenlinien" in der
„politischen Kultur" fügt sich das Deutschland des letzten Jahrhundertdrittels bei Nipperdey
insofern in den westeuropäischen Kontext ein, als das Bürgertum in Kultur und Alltag den
Ton angab. ’Man kann von der Hegemonie des Bürgertums sprechen. Zeitalter und Gesellschaft sind auch in Deutschland zuerst einmal bürgerlich.’ Die Defensivposition gegenüber
Adel und Proletariat wirkt demgegenüber sekundär. Der kulturelle Formungseffekt steht in
einer Langzeitkontinuität. Die Periodisierung meidet Verfallshypothesen. Bei Gall wiederum
endet die Aufstiegsphase des Bürgertums schon 1848/49, ihr folgt eine Phase zunehmender
Abschließung, die in den 18 80er/1890er Jahren von einer Phase erneuter Öffnung - Übergang
von der bürgerlichen zur pluralistischen Gesellschaft – abgelöst wird.“18
18
Hellmut Seier: Liberalismus und Bürgertum in Mitteleuropa 1850-1880, in: Lothar Gall (Hg.): Bürgertum und bürgerlich-liberale Bewegung in Mitteleuropa seit dem 18. Jahrhundert (HZ-Sonderh. 17), München
1997, 131-229, hier 201-202.
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