SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Wissen Am Anfang des Lebens (3/4) Technisches Wissen und Hebammenkunst Von Eva Schindele Sendung: Montag, 18. Januar 2016, 8.30 Uhr Redaktion: Detlef Clas Regie: Claudia Kattanek Produktion: WDR 2015 (Übernahme SWR) Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Wissen können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Die Manuskripte von SWR2 Wissen gibt es auch als E-Books für mobile Endgeräte im sogenannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende „App“ oder Software zum Lesen der Dokumente. 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O-Ton Duden: Zwischen den 60er- und den 70er-Jahren haben die Gebärenden ein Drittel der Zeit verloren, die sie bisher für die Geburtsarbeit gebraucht hatten. Also es ist eine enorme Beschleunigung gewesen, eine Vertaktung. Musik: Robert Lippok – close – Open Close open O-Ton Lehmann: Aber heute Nacht da war 3:19 Uhr, 3:20 Uhr, 3:27 Uhr – so kann das eben auch gehen dann die Geburten – dann 0:47 Uhr, 23:10 Uhr und dann 7:30 Uhr. Also die Kollegen in der Nacht hatten gut zu tun. Musik: John Zorn – Prelude 7: Sign and Signal – The Gnostic Peludes Atmo: Herztöne im Mutterleib Ansage: Am Anfang des Lebens – Technisches Wissen und Hebammenkunst Ein Feature von Eva Schindele Atmo: Rundgang durchs Geburtshaus 2 O-Ton Wallheinke: So, das ist unser Gruppenraum, wo Geburtsvorbereitung stattfindet. Rückbildung, die Wochenendkurse, Yoga für Schwangere und gerade im Moment auch die Osteopathie. Sprecherin: Anne Wallheinke gründete 2002 gemeinsam mit anderen Hebammen das Bremer Geburtshaus. O-Ton Wallheinke: Der eigentliche Geburtsraum ist hier – unser Heiligtum. Ich find ihn sehr schön, weil er einfach warme Farben hat und kuschelig ist. Die meisten Frauen, die gehen hier rum in dem Raum oder nutzen sozusagen hier das Tuch, um sich daran festzuhalten während der Wehen. Viele hocken vor dem Bett auch, viele knien davor. Und das ist auch nach meiner Erfahrung die hauptsächliche Geburtsstellung, in der die Babys dann wirklich auch geboren werden. Die meisten Frauen hocken vorm Bett. O-Ton Ina: Natürlich möchte ich mich sicher fühlen und das Kind soll gut aufgehoben sein und auch medizinisch gut versorgt, möchte ich auch nicht, dass da was passiert. Sprecherin: Ina, 34, hat vor gut zwei Jahren ihr erstes Kind im Geburtshaus geboren. Jetzt soll auch ihr zweites dort auf die Welt kommen. Anfangs musste sie sich deshalb Vorwürfe aus ihrer Umgebung anhören: Mittelalterlich sei dies, verantwortungslos und gefährlich für Mutter und Kind. O-Ton Ina: Aber für mich hat es sich da richtig angefühlt, also weil ich einfach dann doch gemerkt habe, auch in den Vorsorgen und auch in dem Geburtsvorbereitungskurs, dass mich das einfach sehr beruhigt, wenn ich die Menschen kenne, was manchmal abgetan wird als so ein bisschen Psycho-Bepuschelung, sag ich mal so salopp. Aber dass das eben auch wie ein starkes Schmerzmittel ist, wenn jemand wirklich für einen da ist und einen da wirklich eins zu eins durchbegleitet und die Atmosphäre stimmt. Sprecherin: Schwangere mit besonderen Risiken wie Diabetes, einem Kind in Beckenendlage oder Zwillingen, werden im Geburtshaus nicht angenommen. O-Ton Wallheinke: Wir wissen ja noch so wenig über was passiert genau beim Gebären. Also das ist ja weit davon entfernt nur so ein mechanistisches Geschehen zu sein. Sprecherin: Anne Wallheinke arbeitet seit 30 Jahren in der außerklinischen Geburtshilfe und hat rund 1.200 Geburten begleitet. 3 O-Ton Wallheinke: Je wohler sich Frauen fühlen beim Gebären, umso besser sind die Voraussetzungen. Das kann genauso in der Klinik sein, wenn eine Frau sich in der Klinik richtig, richtig gut aufgehoben fühlt und sich gestützt fühlt und gut begleitet fühlt, kann´s in der Klinik genau der richtige Ort sein. Das Ruhe da ist, eine Eins-zu-eins-Betreuung. Es muss die Möglichkeit sein, ein vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis miteinander zu haben. Sprecher: 1950 wurden noch die meisten Kinder zu Hause geboren. Heute kommen 98 Prozent im Krankenhaus auf die Welt. Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki Atmo: Im Kreißsaal, Gespräche Sprecherin: Kreißsaal des St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Ein ruhiger Montagvormittag nach einer turbulenten Nacht. Mit knapp 4.000 Geburten im Jahr ist es die größte Geburtsklinik Deutschlands. O-Ton Jakubek: Wir können ja vielleicht von vorne so eine Runde machen, es ist alles im Kreis hier. Wenn die Frauen ankommen, dann werden sie erst mal, das ist unsere magische Tür, so wie ich sie immer nenne. Dann klingeln sie erst mal da vorne und werden von einer unserer Hebammen hereingelassen. Dann wird gefragt was sie haben – Wehen, Blasensprung, Blutung. Hier ist ein Untersuchungsraum hinter ihnen von den Hebammen, da werden die Frauen untersucht um zu gucken, wie weit der Muttermund ist, ob er weit genug ist, weil wir eben versuchen, die Frauen so spät wie möglich in den Kreissaal zu legen, damit sie das Gefühl haben, dass die Geburt eben viel schneller vorangeht, als wenn sie ganz früh in den Kreißsaal gelegt werden, haben sie das Gefühl sie haben 20 Stunden Wehen gehabt. Und deswegen die magische Tür, weil, ich sag immer, wenn die Frauen hier einmal durch die Tür kommen, dann haben sie es geschafft. O-Ton Abou-Dakn: Wir Ärzte werden in unserer Ausbildung darauf trainiert, pathologisch zu denken. Wir gucken immer auf das Kranke, vermuten, dass was Böses passiert, überlegen vorher „wie kann man das vermeiden“. Also die Pathologie steht im Vordergrund. Sprecherin: Das St.-Joseph-Krankenhaus wurde von der WHO als besonders baby- und familienfreundlich ausgezeichnet. Darauf ist Chefarzt Michael Abou-Dakn besonders stolz. O-Ton Abou-Dakn: Hebammen haben in ihrer Ausbildung tradiert eher eine salutogenetische Denkweise. Sie gucken primär auf die Ressourcen, die da sind und schauen, was ist an positiven Effekten gesundheitsfördernd? Das macht natürlich allein aufgrund der verschiedenen Ausbildung primär schon mal einen Konflikt, weil der Eine sagt dann immer „das ist aber doch schon“, die andere sagt „nein, das ist noch nicht“. 4 Sprecherin: Der Konflikt zwischen Hebammen und Ärzten ist der Konflikt zwischen verschiedenen Wissensformen und Jahrhunderte alt: der Natur vertrauen und abwarten oder den Geburtsverlauf standardisieren und vorbeugend eingreifen, um mögliche Komplikationen zu verhindern. Den Geburtsprozess medizinisch „optimieren“ zu wollen, wurde erst mit der Technisierung der Geburtshilfe in den 1960er-Jahren modern. O-Ton Ensel: Wir sehen, dass diese Normierungen immer enger werden. Wie lange darf eine Frau Wehen haben? Wie lang darf sie eine Pause haben? Während früher vielleicht eine Geburt durchaus über 24 Stunden sich abspielen durfte, gibt es heute sehr oft die Situation, dass man denkt, man muss eingreifen, auch wenn es keinen Grund dafür gibt. Atmo: Im Kreißsaal, Flur Sprecherin: Angelica Ensel ist Hebamme und Ethnologin. Wer definiert, wann eine Geburt nicht mehr normal verläuft? Wann Wehen fördernde Mittel gegeben, ein Dammschnitt gesetzt oder das Kind mit der Zange oder Saugglocke geholt wird und wann ein Kaiserschnitt gemacht werden muss? O-Ton Abou-Dakn: Die andere Situation ist natürlich die Machtstruktur im Kreißsaal, weil wir ja klar definiert haben, dass unsere Hebammen die physiologische Geburt primär leiten und wir die pathologische als Ärztinnen und Ärzte. Und das sozusagen sich abzulösen und zu sagen: „Entschuldige bitte, das ist jetzt aber nicht mehr normal“, kann durchaus zu Konflikten führen. O-Ton Hellmers: In der Klinikgeburtshilfe ist es sehr häufig so, dass die Ärzte dann in regelmäßigen Abständen dazu kommen, aber nur einen Ausschnitt der Geburt sehen. Die sind dann für bestimmte Zeiten dabei, für ein paar Minuten vielleicht auch im Kreißsaal aber die Hebamme betreut diese Frau in größerer Kontinuität und sie ist viel näher dran, weil das ihr Aufgabenbereich ist. Sprecherin: Claudia Hellmers lehrt Hebammenwissenschaften an der Hochschule Osnabrück. O-Ton Hellmers: Und ich glaube, dass sie damit eben besonders gut gerüstet ist, auch kleine Abweichungen mitzukriegen. Und das gelingt einem weniger gut, wenn man immer mal nur reinkommt. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum so viele Interventionen durch die Medizin stattfinden, weil dieser Verlauf im Ganzen kaum noch betrachtet wird. Sprecher: 2013 wurden in Deutschland 680.000 Kinder geboren. Bei den meisten wurde medikamentös oder technisch eingegriffen. 22 von 100 Geburten werden eingeleitet, 5 etwa 2 von 3 Frauen bekommen eine Narkose, häufig eine Regionalanästhesie, auch PDA genannt, jede vierte Frau hat einen Dammschnitt. Bei 7 von 100 Frauen wird das Kind mit Zange oder Saugglocke geholt. Fast jede dritte Geburt endet mit Kaiserschnitt. O-Ton Ensel: Die Gefahr ist eben, wenn wir eingreifen, dass ein Eingriff den nächsten befördert. Das heißt, wenn wir die Wehen fördern, weil wir sagen: Die Wehen reichen nicht und das Kind soll jetzt mal endlich kommen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese Wehen dann vielleicht so stark sind, dass die Frau dann das nicht mehr aus eigener Kraft ertragen kann und eine Rückenmarksanästhesie – eine PDA – bekommen muss. Und das wiederum aber die Wehen jetzt hemmt. Weshalb wir noch mehr die Wehen befördern müssen und das insgesamt die Chance auf eine Spontangeburt reduziert. Sprecherin: In den 1950er-Jahren kam die Klinikgeburt in Mode. Sie galt als hygienischer, sicherer, rationeller. Damit änderte sich auch der Umgang mit den Gebärenden und mit den Neugeborenen. O-Ton Schwarz: Dazu gehört zum Beispiel eine generelle Rasur, Einlauf, Dammschnitt. Sprecherin: Christiane Schwarz ist Gesundheitswissenschaftlerin und Hebamme. O-Ton Schwarz: Dazu gehört auch das Wegnehmen von Kindern, das schnelle Durchtrennen von Nabelschnüren, das Füttern von Kindern mit Kunstmilch und damit die Unterdrückung der Muttermilch und verschiedene andere Interventionen. Sprecherin: Die Geburt wurde standardisiert. Der amerikanische Gynäkologe Friedman erfand 1955 die nach ihm benannte Friedman-Kurve, die festlegt, in welchem Tempo die Geburt voranschreiten muss. Sprecher: Muttermundöffnung im Stundentakt. Jede Stunde ein Zentimeter, sonst gilt die Geburt als pathologisch. Sprecherin: Bis heute gilt das Modell weltweit als Richtschnur. O-Ton Duden: Das Entwickeln eines Modells, in dem die Geburt geplant werden kann wie die Produktion von Automobilen. Sprecherin: Barbara Duden ist Medizinhistorikerin und Pionierin der Geschichte des Körpers. 6 O-Ton Duden: Durchgetaktet, Beschleunigung, Eingriffe, Interventionen und dann wissen wir ja, dass diese weitere Interventionen nach sich zieht, weil die arme Natur ganz durcheinanderkommt und die Frauen ihre Kinder nicht mehr in Ruhe auf die Welt bringen können. Musik: John Zorn - The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes Atmo: Geburtshaus – Rundgang: Wallheinke: Jetzt sind wir im Badezimmer … O-Ton Wallheinke: Das ist so ein Kriterium was so die Frauen ein Stück weit an uns herangetragen haben. So, ich möchte gerne ins Geburtshaus, weil, das hier ist der Ort, hier kann ich gelassen mein Baby kriegen. Das kann ja eine enorme innere Sicherheit geben, weil wir wissen ja selber: Es läuft so viel über die Psyche. Sprecherin: Als Anne Wallheinke Anfang der 1980er-Jahre von der Klinik in die Freiberuflichkeit wechselte, wussten in Deutschland nur noch wenige Hebammen, wie man Geburten zu Hause begleitet. Anders in den Niederlanden, dort wurde zur gleichen Zeit noch die Hälfte aller Kinder zu Hause geboren. O-Ton Wallheinke: Ja, ich war auch noch für sieben Monate in Holland, um einfach so ein Gefühl auch für die außerklinische Geburtshilfe zu kriegen, weil in Holland damals die Hausgeburtshilfe einfach an der Tagesordnung stand. Sprecherin: Die Schwangerenvorsorge liegt dort bis heute in Hebammenhänden. In Deutschland dagegen attackierten vor allem Gynäkologen die Hausgeburtshilfe als zu gefährlich. Ein Streit, der bis heute anhält. Sprecher: Studien zeigen, dass Gebären zu Hause oder im Geburtshaus bei risikolosen Schwangerschaften eine gute Alternative sein kann. Das wurde 2014 auch vom renommierten britischen „National Institute for Health and Care Excellence“, kurz NICE, bestätigt. O-Ton Schwarz: Hier wird weltweit erstmals ganz klar ausgesprochen, die Evidenzlage weist darauf hin, dass Hausgeburten sicher sind. Und sie haben so viele Vorteile gegenüber der Klinikgeburt, dass man mindestens den Frauen, die schon mal geboren haben, wirklich empfehlen kann, zu Hause zu bleiben. Musik: John Zorn – The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes O-Ton Ina: Ich habe alle Vorsorgen auch bei den Hebammen machen lassen und das waren auch einfach tolle Erfahrungen mit Hörrohr und mit Tasten und dem Kind Hallo sagen. 7 Sprecherin: Nur zum Ultraschall ging Ina in die gynäkologische Praxis. Jetzt ist sie in der 37. Woche schwanger und hatte die letzten zwei Wochen immer wieder Wehen. O-Ton Wallheinke: Liegst du okay? So, dann taste ich erst mal, wo fühle ich denn hier den Popo? Der Bauch ist aber schön weich, Ina, schön entspannt. O-Ton Hellmers: Wir haben Hebammen-Handgriffe zum Beispiel, die Leopoldschen Handgriffe, wo man genau schaut wie liegt eigentlich das Kind, wo liegt der Rücken des Babys, hat das Kind schon Beziehung zum Becken aufgenommen? O-Ton Wallheinke: Taste mal gerade, wobei Ina jetzt ist es so, Köpfchen liegt, hat Beziehung zum Becken, so wie es sich gehört, aber jetzt nicht wo man sagt, oh, ist das schon tief. Ich denke mal, du hast einfach eine frühzeitige Senkattacke gehabt, aber das Köpfchen ist jetzt wieder ein kleines bisschen höher gerutscht. O-Ton Hellmers: Äußere Handgriffe, die ich auch benutzen kann, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu fördern. O-Ton Wallheinke: Und von daher macht es jetzt überhaupt nicht den Eindruck als wenn es sich zu früh auf die Socken machen würde. Sprecherin: Handgriffe, die Hebammen über Jahrhunderte angewandt haben, übernahmen akademisch gebildete Ärzte und entwickelten sie weiter. Die Leopoldschen Handgriffe gehörten früher zur Ausbildung der ärztlichen Geburtshelfer und Geburtshelferinnen. Heute können viele nur noch den Ultraschall bedienen und Kaiserschnitte durchführen. Wie man ein Kind aus Beckenendlage entbindet – ein Kind, das also statt mit dem Köpfchen mit dem Po nach unten liegt – wissen die meisten Gynäkologen und Gynäkologinnen nicht mehr. O-Ton Abou-Dakn: Klassisch haben wir es eben so gelernt, dass man, wenn das Kind geboren wird, ein paar Handgriffe anwenden musste, um eben den Kopf schonend zu entwickeln, das Kind schonend aus dem Geburtskanal zu bekommen. Das Handwerkszeug ist heute weg, weil durch unsinnige weltweite Studien die normale Geburt bei Beckenendlage in Verruf geraten ist, es sei viel zu gefährlich. Sprecher: Aktuelle Studien belegen, dass es nicht riskanter ist, wenn ein Kind aus Beckenendlage natürlich entbunden wird. Vorausgesetzt, die Geburtshelfer können die Handgriffe. Doch dieses praktische geburtshilfliche Wissen ist bereits innerhalb weniger Jahre verloren gegangen. 8 O-Ton Abou-Dakn: Das muss jetzt erst wieder aufgebaut werden. Wir tun das hier in der Klinik, also meine Oberärztinnen haben alle die Fähigkeit, Beckenendlagengeburten zu begleiten, wieder trainiert. Wir bieten das an, wir freuen uns über jede Beckenendlage, die normal geboren wird. Musik: Gustavo Santaolalla – Alma – Camino Sprecherin: Gebärräume waren bis Mitte des 18. Jahrhunderts Frauenräume. Neben den Hebammen wurden bei Geburten auch die Nachbarinnen und Mägde eingespannt. Ihre Kenntnisse erwarben Hebammen in der Praxis und gaben sie weiter – auf dem Land von Mutter zur Tochter, in den Städten, wo Hebammen in einer Zunft organisiert waren, von Hebamme zur Lehrtochter. Aus den wenigen von Hebammen verfassten Schriften ist bekannt, dass es kaum Möglichkeiten gab, bei schwierig verlaufenden Geburten einzugreifen. O-Ton Duden: Wenn die Natur der Frau, das Kind nicht auf die Welt bringen konnte, war es eine äußerste Katastrophe, weil sie gar nichts machen konnten, und die Frau und das Kind sterben – selten – aber es kam vor. Sprecherin: Im äußersten Notfall holten Hebammen die Wundärzte, ebenso damals ein Handwerksberuf. Im 18. Jahrhundert begann ein Machtkampf zwischen den Berufsgruppen, den die Wundärzte und später die akademisch gebildeten Ärzte für sich entschieden. Sie übernahmen nach und nach die Aufsicht über das Hebammenwesen, gründeten Hebammenschulen und bestimmten deren Ausbildungsinhalte. Sie eröffneten Entbindungsanstalten, in denen verzweifelte ledige Schwangere kostenlos Kost und Logie bekamen, wenn sie den Medizinern und Studenten als Versuchsobjekte zur Verfügung standen. O-Ton Loytfed: Mit der Entbindungslehranstalt war ein Testfeld eröffnet, an dem medizinisch geburtshilfliches Wissen weiterentwickelt werden konnte. Sei es die Gebärhaltung, sei es der Geburtsmechanismus. So wurden die Frauen, die da in der Anstalt waren, die sogenannten Hausschwangeren, zu Testzwecken verwendet. Sprecherin: Christine Loytfed ist Hebamme und Medizinhistorikerin und lehrt in Winterthur. Eine der ersten Entbindungsanstalten wurde 1751 in Göttingen eröffnet und ab etwa 1800 an die Universität angegliedert. Langjähriger Direktor war Friedrich Benjamin Osiander: O-Ton Loytfed: Wenn wir uns jetzt mal die Entbindungssituation in Göttingen anschauen. Dann war es so, dass die Hebamme die Frau zum Gebärstuhl führen sollte. Die Hebamme war am Kopfende der Frau positioniert. Die Medizinstudenten am anderen Ende. Und zwischen Hebamme und Frau hing ein grüner Vorhang und Osiander dozierte vor dem Vorhang, was mit der Frau passieren sollte. 9 Sprecherin: Die männlichen Geburtshelfer erfanden Instrumente, wie die Geburtszange oder entwickelten den Kaiserschnitt. Diese Techniken helfen bei schwierigen Geburten bis heute. Damals allerdings starben prozentual mehr Frauen in den Entbindungsanstalten als zu Hause – oft am Kindbettfieber. Ein Grund: die häufigen vaginalen Untersuchungen ohne sterile Handschuhe. O-Ton Loytfed: Eine Zangengeburt – Osiander hat 40 Prozent seiner Patientinnen mit der Zange entbunden – konnte natürlich viel besser demonstriert werden, wenn die Frau waagerecht war, als wenn sie senkrecht saß. Sie können sich das vorstellen, dass wenn Sie auf dem Stuhl sitzen und ich hier unter ihnen knien muss, um unter ihren Röcken Sie zu untersuchen, dass das für die Medizinstudenten nicht so anschaulich war, als wenn Sie sich auf den Rücken legen, der Rock hochgeschlagen war und man das Arbeitsfeld sehen konnte. Sprecherin: Eine Geburtsposition, die bis heute noch in vielen Kliniken erwünscht ist. Dabei befördert eine aufrechte Haltung die Wehentätigkeit und hilft, die Schmerzen besser zu bewältigen. O-Ton Schwarz: In Kliniken vorherrschend ist die Rückenlage, weil‘s bequemer ist. Auf Küchenarbeitsflächen-Höhe sich quasi breitbeinig vor Geburtshelfer zu legen und sich das Kind extrahieren zu lassen. Eine sehr demütigende und entwürdigende und auch schwächende Erfahrung für Frauen, die eigentlich aus eigener Kraft aufrecht in ihrer Stärke problemlos gebären könnten. Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki O-Ton Jakubek: Das sind unsere Kreißsäle, die sind fast alle gleich aufgebaut, das ist ein Kreißbett, dann sind hier unser medizinisches Equipment … Sprecher: Um 1900 starben in Deutschland 3 von 1.000 Frauen bei oder nach der Geburt. Die Zahl stieg im und nach dem Ersten Weltkrieg auf 5 von 1.000 Frauen und sank rapide ab den 1930er-Jahren. Heute sterben kaum mehr Frauen bei der Geburt. O-Ton Schwarz: Der Trend, dass weniger Frauen und weniger Kinder bei der Geburt sterben, der ist nicht ursächlich der Klinikgeburtshilfe zuzuordnen, sondern die deutlich sinkende Sterblichkeit bei Müttern und Kindern hat schon lange, lange vor der Klinikgeburtshilfe angefangen. Sprecherin: Gründe waren vor allem die besseren Lebensbedingungen. Frauen bekamen nicht mehr zehn Kinder oder mehr, die Ernährung wurde besser, ebenso die Hygiene. Es gab eine Krankenversicherung und das Penicillin wurde erfunden. 10 Sprecher: 1900 hat jedes fünfte Kind nicht das erste Lebensjahr erreicht. 1938 starben noch sechs, 1955 vier von 100 Kindern. Heute liegt die Zahl im Promillebereich, das heißt es sterben 3 von 1.000 Kindern im ersten Lebensjahr. Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki Atmo: Kreißsaal O-Ton Jakubek: Wie Sie sehen haben wir immer die CTGs im Blick von den ganzen Räumen. Hier ist die Tafel mit den ganzen Räumen, die wir haben, wo drauf steht, welche Frau wir haben, wie alt sie ist, das wievielte Kind sie kriegt und alles was wichtig ist. Sprecherin: Die Ärztin Farnaz Jakubek deutet auf große Monitore, die zentral die Ergebnisse der Herztonwehenschreiber – auch CTG genannt – in den Kreißsälen aufzeichnen: Eine Kurve für die Frequenz der kindlichen Herztöne, die andere zeigt Wehenstärke und Puls der Gebärenden. O-Ton Jakubek: Und so einen Monitor haben wir in jedem Raum, das heißt, wenn ich im Kreißsaal 5 beschäftigt bin, dann sehe ich trotzdem den Monitor und habe alle Frauen im Blick. Sprecherin: Um ein CTG schreiben zu können, bekommen Frauen einen Gurt um den Bauch geschnallt. In vielen Kliniken ab Geburtsbeginn. Dieses Dauer-CTG hindert Frauen am Herumlaufen. Studien zeigen, dass es bei normal verlaufenden Geburten mehr schadet als nutzt. O-Ton Schwarz: Es erhöht die Raten an operativen Geburten, an Kaiserschnitten und verhindert aber keine Hirnschäden. Also das, was wir eigentlich machen wollen mit dem CTG, Babys retten, das funktioniert nicht, das wissen wir auch. In Deutschland wird bei jeder Geburt ein CTG geschrieben, die Begründung, wir haben zu wenig Personal. Denn wenn wir kein CTG schreiben würden, dann müssten wir für jede Frau eine Hebamme haben und das haben wir nicht, eine sogenannte Eins-zu-eins-Betreuung. Das heißt, es ist preisgünstiger sich eine CTG Maschine hinzustellen, als drei Hebammen anzustellen. O-Ton Abou-Dakn: Also die Eins-zu-eins-Betreuung in der Geburtshilfe ist der Schlüssel, bin ich ganz überzeugt. Es lässt sich momentan nicht finanzieren. Auch in unserer Klinik nicht. Sprecher: Fundierte internationale Studien mit 12.000 Frauen zeigen: Wenn Frauen während der Geburt kontinuierlich begleitet werden, ist die Geburt kürzer, die Frauen brauchen weniger Schmerzmittel und die Geburt wird seltener operativ beendet. Außerdem sind die Frauen zufriedener mit dem Geburtsverlauf und fühlen sich wohler im Wochenbett und mit ihrem Baby. 11 O-Ton Abou-Dakn: Mit vielen Geburten kann man eher noch mehr Personal zur Verfügung stellen, als mit wenig Geburten, weil das kalkuliert sich ja immer nur nach den Fällen, die man letztendlich abrechnen kann. Sprecherin: Viele kleinere geburtshilfliche Abteilungen, vor allem auf dem Land, mussten in den letzten Jahren schließen, weil sie pleitegingen. Sprecher: Jede zehnte freiberufliche Hebamme hat in den letzten fünf Jahren die Geburtshilfe an den Nagel gehängt: Der Grund: Sie konnten die teuren Haftpflichtprämien von dem geringen Verdienst nicht mehr bezahlen. O-Ton Abou-Dakn: Eine Eins-zu-eins-Betreuung ist heutzutage eigentlich nur zu finanzieren, wenn eine Frau dazu zahlt und sich eine Beleghebamme mit ins Krankenhaus nimmt. Sprecherin: Beleghebammen, die Frauen in die Klinik begleiten, haben lange Wartelisten und in vielen Großstädten finden Frauen keine Hebammen mehr, die sie und ihr Baby im Wochenbett betreuen. Und in den Kliniken kündigen viele Hebammen, weil sie den Arbeitsstress nicht mehr aushalten. O-Ton Schwarz: Die Konsequenzen für die Geburtshilfe, wenn ich es mal überspitzt ausdrücken soll ist, dass wir Maschinen benutzen, um Menschen zu ersetzen. Und das ist in jedem Bereich der Medizin schlecht, aber ganz besonders schlecht ist es beim Sterben und beim Geborenwerden. Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki Atmo: Kreißsaal, Flur O-Ton Massek: Heute zum Beispiel haben Sie gerade erwischt einen sehr netten Tag, wo man Zeit hat für persönliche Betreuung. Aber ist leider nicht immer so. Bei 3.600 Geburten ist oft viel Action, viel Trallala, viel Hektik und oft auch Pathologie deswegen. Sprecherin: Die Hebamme Irene Massek arbeitet seit 20 Jahren auf der Geburtsstation im Berliner St.-Joseph-Krankenhaus. O-Ton Massek: Man unterstützt ständig jemanden, und das geht nicht so an uns vorbei. O-Ton Ensel: Da gibt es also eine Art von Wissen, die entsteht in diesem Erfahrungsraum. In dieser dichten Begleitung. Es ist die Kombination aus Wissen, aus langer Erfahrung und aus diesem spezifischen Setting, die sich nicht ergeben kann, wenn ich fünf Frauen gleichzeitig begleite und von einer zur anderen springen muss. 12 O-Ton Massek: Diese Herzarbeiten und immer jemanden dabeistehen der Schmerzen hat. Position ändern, dass die sich ein bisschen wohler fühlen und dass die sich vor allem sicher fühlen. Dass die keine Angst haben vor der nächsten Wehe, vor der nächsten Zukunft, die nächste Zukunft ist auch wieder die Wehe. O-Ton Ensel: Woher weiß denn die Hebamme, lange bevor medizinische Parameter das sichtbar machen, woher weiß sie, dass jetzt doch irgendwie was nicht in Ordnung ist? Und woher weiß sie denn in der außerklinischen Geburtshilfe, dass es jetzt doch gut ist in die Klinik zu gehen? Auch wenn immer noch alles in Ordnung ist. O-Ton Massek: Und in diesem Moment einfach immer wieder das Gefühl geben, du bist gut aufgehoben, dir passiert nichts, du hast zwar Schmerzen, aber du schaffst das und du machst das gut, und noch ein Stückchen weiter. O-Ton Ensel: Und ich glaube, dass Ärzte, Geburtshelfer und Geburtshelferinnen dieses in ihrer Ausbildung auch lernen müssen, gemeinsam mit den Hebammen. Sprecherin: Es gibt inzwischen Initiativen des gemeinsamen Lernens. Dazu trägt auch die Hebammenwissenschaft bei, die sich an einigen Hochschulen etabliert hat. In manchen Städten schließen sich Professionelle zu „Bündnissen für natürliche Geburt“ zusammen. Auch in der Wissenschaft gibt es ein vorsichtiges Umdenken: Der amerikanische Gynäkologenverband empfiehlt, den Frauen wieder mehr Zeit beim Gebären zuzugestehen. Und eine neue ärztliche Leitlinie will zukünftig mehr Wert auf Information und Begleitung der Schwangeren legen. O-Ton Abou-Dakn: Wir müssen die Frauen stark machen, auch ihre Wünsche zu nennen, weil nur dann in der Natürlichkeit der Abläufe auch die Hormone annähernd so funktionieren können, wie die Natur sich das gedacht hat. Sprecherin: Michael Abou-Dakn ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie. O-Ton Abou-Dakn: Wir brauchen Geduld, wir brauchen eine Stärkung der Autonomie der Frauen. Das ist extrem wichtig geworden, finde ich, das haben wir völlig übersehen im Lauf der letzten Jahrzehnte, dass wir die Frauen entmündigen, wenn sie in den Kreißsaal hineinkommen, das sage ich bewusst als Mann und Arzt. Musik: John Zorn – The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes Atmo: Ina zu Hause, Baby Mathilda Sprecherin: Vor zwei Wochen hat Ina ihr zweites Kind im Geburtshaus geboren. 13 O-Ton Ina: Auf jeden Fall ist es sehr existenziell oder auch sehr archaisch vielleicht könnte man auch sagen, die Kräfte die da so walten. Das fällt aus der Realität, aus dem was wir sonst so erleben. Bei uns war es jetzt bei beiden Geburten so, dass das Kind erst mal auf den Bauch kam sofort und das war sehr schön. Also sehr viel Ruhe und sehr viel Zeit. ***** 14