SWR2 Wissen

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Am Anfang des Lebens (3/4)
Technisches Wissen und Hebammenkunst
Von Eva Schindele
Sendung: Montag, 18. Januar 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Detlef Clas
Regie: Claudia Kattanek
Produktion: WDR 2015 (Übernahme SWR)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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MANUSKRIPT
Musik: Robert Lippok – close – Open Close open
Atmo: Klinik, Babygeschrei
O-Ton Ensel:
Wenn wir sagen: Gebären ist vor allem ein Prozess, dann heißt das auch, dass wir
uns auf dieses Gebären in seiner eigenen Zeit einlassen müssen, d.h. Kairos – also
die schicksalhafte Zeit, gegenüber Chronos – der Zeit nach der Uhr.
Musik: Robert Lippok – close – Open Close open
O-Ton Lehmann:
Wir haben ja im Schnitt mehr als 10 Geburten am Tag.
O-Ton Ensel:
Die Werte aber, nach denen so eine Klinik arbeiten muss, da geht es ja nach
Wirtschaftlichkeit, nach Effizienz, nach Zeit ist Geld. Eine Geburt, die 24 Stunden
dauert, braucht ja unendlich viel Investition an Zeit, an Begleitung und Betreuung. Da
schneidet das Gebären sozusagen völlig schlecht ab, wenn man das nach Effizienz
und Effektivität misst.
Musik: Robert Lippok – close – Open Close open
O-Ton Lehmann:
Das ist unser Geburtenbuch, da wird das alles dokumentiert.
O-Ton Duden:
Zwischen den 60er- und den 70er-Jahren haben die Gebärenden ein Drittel der Zeit
verloren, die sie bisher für die Geburtsarbeit gebraucht hatten. Also es ist eine
enorme Beschleunigung gewesen, eine Vertaktung.
Musik: Robert Lippok – close – Open Close open
O-Ton Lehmann:
Aber heute Nacht da war 3:19 Uhr, 3:20 Uhr, 3:27 Uhr – so kann das eben auch
gehen dann die Geburten – dann 0:47 Uhr, 23:10 Uhr und dann 7:30 Uhr. Also die
Kollegen in der Nacht hatten gut zu tun.
Musik: John Zorn – Prelude 7: Sign and Signal – The Gnostic Peludes
Atmo: Herztöne im Mutterleib
Ansage:
Am Anfang des Lebens – Technisches Wissen und Hebammenkunst
Ein Feature von Eva Schindele
Atmo: Rundgang durchs Geburtshaus
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O-Ton Wallheinke:
So, das ist unser Gruppenraum, wo Geburtsvorbereitung stattfindet. Rückbildung, die
Wochenendkurse, Yoga für Schwangere und gerade im Moment auch die
Osteopathie.
Sprecherin:
Anne Wallheinke gründete 2002 gemeinsam mit anderen Hebammen das Bremer
Geburtshaus.
O-Ton Wallheinke:
Der eigentliche Geburtsraum ist hier – unser Heiligtum. Ich find ihn sehr schön, weil
er einfach warme Farben hat und kuschelig ist. Die meisten Frauen, die gehen hier
rum in dem Raum oder nutzen sozusagen hier das Tuch, um sich daran festzuhalten
während der Wehen. Viele hocken vor dem Bett auch, viele knien davor. Und das ist
auch nach meiner Erfahrung die hauptsächliche Geburtsstellung, in der die Babys
dann wirklich auch geboren werden. Die meisten Frauen hocken vorm Bett.
O-Ton Ina:
Natürlich möchte ich mich sicher fühlen und das Kind soll gut aufgehoben sein und
auch medizinisch gut versorgt, möchte ich auch nicht, dass da was passiert.
Sprecherin:
Ina, 34, hat vor gut zwei Jahren ihr erstes Kind im Geburtshaus geboren. Jetzt soll
auch ihr zweites dort auf die Welt kommen. Anfangs musste sie sich deshalb
Vorwürfe aus ihrer Umgebung anhören: Mittelalterlich sei dies, verantwortungslos
und gefährlich für Mutter und Kind.
O-Ton Ina:
Aber für mich hat es sich da richtig angefühlt, also weil ich einfach dann doch
gemerkt habe, auch in den Vorsorgen und auch in dem Geburtsvorbereitungskurs,
dass mich das einfach sehr beruhigt, wenn ich die Menschen kenne, was manchmal
abgetan wird als so ein bisschen Psycho-Bepuschelung, sag ich mal so salopp. Aber
dass das eben auch wie ein starkes Schmerzmittel ist, wenn jemand wirklich für
einen da ist und einen da wirklich eins zu eins durchbegleitet und die Atmosphäre
stimmt.
Sprecherin:
Schwangere mit besonderen Risiken wie Diabetes, einem Kind in Beckenendlage
oder Zwillingen, werden im Geburtshaus nicht angenommen.
O-Ton Wallheinke:
Wir wissen ja noch so wenig über was passiert genau beim Gebären. Also das ist ja
weit davon entfernt nur so ein mechanistisches Geschehen zu sein.
Sprecherin:
Anne Wallheinke arbeitet seit 30 Jahren in der außerklinischen Geburtshilfe und hat
rund 1.200 Geburten begleitet.
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O-Ton Wallheinke:
Je wohler sich Frauen fühlen beim Gebären, umso besser sind die Voraussetzungen.
Das kann genauso in der Klinik sein, wenn eine Frau sich in der Klinik richtig, richtig
gut aufgehoben fühlt und sich gestützt fühlt und gut begleitet fühlt, kann´s in der
Klinik genau der richtige Ort sein. Das Ruhe da ist, eine Eins-zu-eins-Betreuung. Es
muss die Möglichkeit sein, ein vertrauensvolles und respektvolles Verhältnis
miteinander zu haben.
Sprecher:
1950 wurden noch die meisten Kinder zu Hause geboren. Heute kommen 98 Prozent
im Krankenhaus auf die Welt.
Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki
Atmo: Im Kreißsaal, Gespräche
Sprecherin:
Kreißsaal des St.-Joseph-Krankenhaus in Berlin-Tempelhof. Ein ruhiger
Montagvormittag nach einer turbulenten Nacht. Mit knapp 4.000 Geburten im Jahr ist
es die größte Geburtsklinik Deutschlands.
O-Ton Jakubek:
Wir können ja vielleicht von vorne so eine Runde machen, es ist alles im Kreis hier.
Wenn die Frauen ankommen, dann werden sie erst mal, das ist unsere magische
Tür, so wie ich sie immer nenne. Dann klingeln sie erst mal da vorne und werden von
einer unserer Hebammen hereingelassen. Dann wird gefragt was sie haben –
Wehen, Blasensprung, Blutung. Hier ist ein Untersuchungsraum hinter ihnen von den
Hebammen, da werden die Frauen untersucht um zu gucken, wie weit der
Muttermund ist, ob er weit genug ist, weil wir eben versuchen, die Frauen so spät wie
möglich in den Kreissaal zu legen, damit sie das Gefühl haben, dass die Geburt eben
viel schneller vorangeht, als wenn sie ganz früh in den Kreißsaal gelegt werden,
haben sie das Gefühl sie haben 20 Stunden Wehen gehabt. Und deswegen die
magische Tür, weil, ich sag immer, wenn die Frauen hier einmal durch die Tür
kommen, dann haben sie es geschafft.
O-Ton Abou-Dakn:
Wir Ärzte werden in unserer Ausbildung darauf trainiert, pathologisch zu denken. Wir
gucken immer auf das Kranke, vermuten, dass was Böses passiert, überlegen vorher
„wie kann man das vermeiden“. Also die Pathologie steht im Vordergrund.
Sprecherin:
Das St.-Joseph-Krankenhaus wurde von der WHO als besonders baby- und
familienfreundlich ausgezeichnet. Darauf ist Chefarzt Michael Abou-Dakn besonders
stolz.
O-Ton Abou-Dakn:
Hebammen haben in ihrer Ausbildung tradiert eher eine salutogenetische
Denkweise. Sie gucken primär auf die Ressourcen, die da sind und schauen, was ist
an positiven Effekten gesundheitsfördernd? Das macht natürlich allein aufgrund der
verschiedenen Ausbildung primär schon mal einen Konflikt, weil der Eine sagt dann
immer „das ist aber doch schon“, die andere sagt „nein, das ist noch nicht“.
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Sprecherin:
Der Konflikt zwischen Hebammen und Ärzten ist der Konflikt zwischen
verschiedenen Wissensformen und Jahrhunderte alt: der Natur vertrauen und
abwarten oder den Geburtsverlauf standardisieren und vorbeugend eingreifen, um
mögliche Komplikationen zu verhindern. Den Geburtsprozess medizinisch
„optimieren“ zu wollen, wurde erst mit der Technisierung der Geburtshilfe in den
1960er-Jahren modern.
O-Ton Ensel:
Wir sehen, dass diese Normierungen immer enger werden. Wie lange darf eine Frau
Wehen haben? Wie lang darf sie eine Pause haben? Während früher vielleicht eine
Geburt durchaus über 24 Stunden sich abspielen durfte, gibt es heute sehr oft die
Situation, dass man denkt, man muss eingreifen, auch wenn es keinen Grund dafür
gibt.
Atmo: Im Kreißsaal, Flur
Sprecherin:
Angelica Ensel ist Hebamme und Ethnologin. Wer definiert, wann eine Geburt nicht
mehr normal verläuft? Wann Wehen fördernde Mittel gegeben, ein Dammschnitt
gesetzt oder das Kind mit der Zange oder Saugglocke geholt wird und wann ein
Kaiserschnitt gemacht werden muss?
O-Ton Abou-Dakn:
Die andere Situation ist natürlich die Machtstruktur im Kreißsaal, weil wir ja klar
definiert haben, dass unsere Hebammen die physiologische Geburt primär leiten und
wir die pathologische als Ärztinnen und Ärzte. Und das sozusagen sich abzulösen
und zu sagen: „Entschuldige bitte, das ist jetzt aber nicht mehr normal“, kann
durchaus zu Konflikten führen.
O-Ton Hellmers:
In der Klinikgeburtshilfe ist es sehr häufig so, dass die Ärzte dann in regelmäßigen
Abständen dazu kommen, aber nur einen Ausschnitt der Geburt sehen. Die sind
dann für bestimmte Zeiten dabei, für ein paar Minuten vielleicht auch im Kreißsaal
aber die Hebamme betreut diese Frau in größerer Kontinuität und sie ist viel näher
dran, weil das ihr Aufgabenbereich ist.
Sprecherin:
Claudia Hellmers lehrt Hebammenwissenschaften an der Hochschule Osnabrück.
O-Ton Hellmers:
Und ich glaube, dass sie damit eben besonders gut gerüstet ist, auch kleine
Abweichungen mitzukriegen. Und das gelingt einem weniger gut, wenn man immer
mal nur reinkommt. Vielleicht ist das auch einer der Gründe, warum so viele
Interventionen durch die Medizin stattfinden, weil dieser Verlauf im Ganzen kaum
noch betrachtet wird.
Sprecher:
2013 wurden in Deutschland 680.000 Kinder geboren. Bei den meisten wurde
medikamentös oder technisch eingegriffen. 22 von 100 Geburten werden eingeleitet,
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etwa 2 von 3 Frauen bekommen eine Narkose, häufig eine Regionalanästhesie, auch
PDA genannt, jede vierte Frau hat einen Dammschnitt. Bei 7 von 100 Frauen wird
das Kind mit Zange oder Saugglocke geholt. Fast jede dritte Geburt endet mit
Kaiserschnitt.
O-Ton Ensel:
Die Gefahr ist eben, wenn wir eingreifen, dass ein Eingriff den nächsten befördert.
Das heißt, wenn wir die Wehen fördern, weil wir sagen: Die Wehen reichen nicht und
das Kind soll jetzt mal endlich kommen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass diese
Wehen dann vielleicht so stark sind, dass die Frau dann das nicht mehr aus eigener
Kraft ertragen kann und eine Rückenmarksanästhesie – eine PDA – bekommen
muss. Und das wiederum aber die Wehen jetzt hemmt. Weshalb wir noch mehr die
Wehen befördern müssen und das insgesamt die Chance auf eine Spontangeburt
reduziert.
Sprecherin:
In den 1950er-Jahren kam die Klinikgeburt in Mode. Sie galt als hygienischer,
sicherer, rationeller. Damit änderte sich auch der Umgang mit den Gebärenden und
mit den Neugeborenen.
O-Ton Schwarz:
Dazu gehört zum Beispiel eine generelle Rasur, Einlauf, Dammschnitt.
Sprecherin:
Christiane Schwarz ist Gesundheitswissenschaftlerin und Hebamme.
O-Ton Schwarz:
Dazu gehört auch das Wegnehmen von Kindern, das schnelle Durchtrennen von
Nabelschnüren, das Füttern von Kindern mit Kunstmilch und damit die
Unterdrückung der Muttermilch und verschiedene andere Interventionen.
Sprecherin:
Die Geburt wurde standardisiert. Der amerikanische Gynäkologe Friedman erfand
1955 die nach ihm benannte Friedman-Kurve, die festlegt, in welchem Tempo die
Geburt voranschreiten muss.
Sprecher:
Muttermundöffnung im Stundentakt. Jede Stunde ein Zentimeter, sonst gilt die
Geburt als pathologisch.
Sprecherin:
Bis heute gilt das Modell weltweit als Richtschnur.
O-Ton Duden:
Das Entwickeln eines Modells, in dem die Geburt geplant werden kann wie die
Produktion von Automobilen.
Sprecherin:
Barbara Duden ist Medizinhistorikerin und Pionierin der Geschichte des Körpers.
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O-Ton Duden:
Durchgetaktet, Beschleunigung, Eingriffe, Interventionen und dann wissen wir ja,
dass diese weitere Interventionen nach sich zieht, weil die arme Natur ganz
durcheinanderkommt und die Frauen ihre Kinder nicht mehr in Ruhe auf die Welt
bringen können.
Musik: John Zorn - The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
Atmo: Geburtshaus – Rundgang: Wallheinke: Jetzt sind wir im Badezimmer …
O-Ton Wallheinke:
Das ist so ein Kriterium was so die Frauen ein Stück weit an uns herangetragen
haben. So, ich möchte gerne ins Geburtshaus, weil, das hier ist der Ort, hier kann ich
gelassen mein Baby kriegen. Das kann ja eine enorme innere Sicherheit geben, weil
wir wissen ja selber: Es läuft so viel über die Psyche.
Sprecherin:
Als Anne Wallheinke Anfang der 1980er-Jahre von der Klinik in die Freiberuflichkeit
wechselte, wussten in Deutschland nur noch wenige Hebammen, wie man Geburten
zu Hause begleitet. Anders in den Niederlanden, dort wurde zur gleichen Zeit noch
die Hälfte aller Kinder zu Hause geboren.
O-Ton Wallheinke:
Ja, ich war auch noch für sieben Monate in Holland, um einfach so ein Gefühl auch
für die außerklinische Geburtshilfe zu kriegen, weil in Holland damals die
Hausgeburtshilfe einfach an der Tagesordnung stand.
Sprecherin:
Die Schwangerenvorsorge liegt dort bis heute in Hebammenhänden. In Deutschland
dagegen attackierten vor allem Gynäkologen die Hausgeburtshilfe als zu gefährlich.
Ein Streit, der bis heute anhält.
Sprecher:
Studien zeigen, dass Gebären zu Hause oder im Geburtshaus bei risikolosen
Schwangerschaften eine gute Alternative sein kann. Das wurde 2014 auch vom
renommierten britischen „National Institute for Health and Care Excellence“, kurz
NICE, bestätigt.
O-Ton Schwarz:
Hier wird weltweit erstmals ganz klar ausgesprochen, die Evidenzlage weist darauf
hin, dass Hausgeburten sicher sind. Und sie haben so viele Vorteile gegenüber der
Klinikgeburt, dass man mindestens den Frauen, die schon mal geboren haben,
wirklich empfehlen kann, zu Hause zu bleiben.
Musik: John Zorn – The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
O-Ton Ina:
Ich habe alle Vorsorgen auch bei den Hebammen machen lassen und das waren
auch einfach tolle Erfahrungen mit Hörrohr und mit Tasten und dem Kind Hallo
sagen.
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Sprecherin:
Nur zum Ultraschall ging Ina in die gynäkologische Praxis. Jetzt ist sie in der 37.
Woche schwanger und hatte die letzten zwei Wochen immer wieder Wehen.
O-Ton Wallheinke:
Liegst du okay? So, dann taste ich erst mal, wo fühle ich denn hier den Popo? Der
Bauch ist aber schön weich, Ina, schön entspannt.
O-Ton Hellmers:
Wir haben Hebammen-Handgriffe zum Beispiel, die Leopoldschen Handgriffe, wo
man genau schaut wie liegt eigentlich das Kind, wo liegt der Rücken des Babys, hat
das Kind schon Beziehung zum Becken aufgenommen?
O-Ton Wallheinke:
Taste mal gerade, wobei Ina jetzt ist es so, Köpfchen liegt, hat Beziehung zum
Becken, so wie es sich gehört, aber jetzt nicht wo man sagt, oh, ist das schon tief.
Ich denke mal, du hast einfach eine frühzeitige Senkattacke gehabt, aber das
Köpfchen ist jetzt wieder ein kleines bisschen höher gerutscht.
O-Ton Hellmers:
Äußere Handgriffe, die ich auch benutzen kann, um die Bindung zwischen Mutter
und Kind zu fördern.
O-Ton Wallheinke:
Und von daher macht es jetzt überhaupt nicht den Eindruck als wenn es sich zu früh
auf die Socken machen würde.
Sprecherin:
Handgriffe, die Hebammen über Jahrhunderte angewandt haben, übernahmen
akademisch gebildete Ärzte und entwickelten sie weiter.
Die Leopoldschen Handgriffe gehörten früher zur Ausbildung der ärztlichen
Geburtshelfer und Geburtshelferinnen. Heute können viele nur noch den Ultraschall
bedienen und Kaiserschnitte durchführen. Wie man ein Kind aus Beckenendlage
entbindet – ein Kind, das also statt mit dem Köpfchen mit dem Po nach unten liegt –
wissen die meisten Gynäkologen und Gynäkologinnen nicht mehr.
O-Ton Abou-Dakn:
Klassisch haben wir es eben so gelernt, dass man, wenn das Kind geboren wird, ein
paar Handgriffe anwenden musste, um eben den Kopf schonend zu entwickeln, das
Kind schonend aus dem Geburtskanal zu bekommen. Das Handwerkszeug ist heute
weg, weil durch unsinnige weltweite Studien die normale Geburt bei Beckenendlage
in Verruf geraten ist, es sei viel zu gefährlich.
Sprecher:
Aktuelle Studien belegen, dass es nicht riskanter ist, wenn ein Kind aus
Beckenendlage natürlich entbunden wird. Vorausgesetzt, die Geburtshelfer können
die Handgriffe. Doch dieses praktische geburtshilfliche Wissen ist bereits innerhalb
weniger Jahre verloren gegangen.
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O-Ton Abou-Dakn:
Das muss jetzt erst wieder aufgebaut werden. Wir tun das hier in der Klinik, also
meine Oberärztinnen haben alle die Fähigkeit, Beckenendlagengeburten zu
begleiten, wieder trainiert. Wir bieten das an, wir freuen uns über jede
Beckenendlage, die normal geboren wird.
Musik: Gustavo Santaolalla – Alma – Camino
Sprecherin:
Gebärräume waren bis Mitte des 18. Jahrhunderts Frauenräume. Neben den
Hebammen wurden bei Geburten auch die Nachbarinnen und Mägde eingespannt.
Ihre Kenntnisse erwarben Hebammen in der Praxis und gaben sie weiter – auf dem
Land von Mutter zur Tochter, in den Städten, wo Hebammen in einer Zunft
organisiert waren, von Hebamme zur Lehrtochter. Aus den wenigen von Hebammen
verfassten Schriften ist bekannt, dass es kaum Möglichkeiten gab, bei schwierig
verlaufenden Geburten einzugreifen.
O-Ton Duden:
Wenn die Natur der Frau, das Kind nicht auf die Welt bringen konnte, war es eine
äußerste Katastrophe, weil sie gar nichts machen konnten, und die Frau und das
Kind sterben – selten – aber es kam vor.
Sprecherin:
Im äußersten Notfall holten Hebammen die Wundärzte, ebenso damals ein
Handwerksberuf. Im 18. Jahrhundert begann ein Machtkampf zwischen den
Berufsgruppen, den die Wundärzte und später die akademisch gebildeten Ärzte für
sich entschieden. Sie übernahmen nach und nach die Aufsicht über das
Hebammenwesen, gründeten Hebammenschulen und bestimmten deren
Ausbildungsinhalte. Sie eröffneten Entbindungsanstalten, in denen verzweifelte
ledige Schwangere kostenlos Kost und Logie bekamen, wenn sie den Medizinern
und Studenten als Versuchsobjekte zur Verfügung standen.
O-Ton Loytfed:
Mit der Entbindungslehranstalt war ein Testfeld eröffnet, an dem medizinisch
geburtshilfliches Wissen weiterentwickelt werden konnte. Sei es die Gebärhaltung,
sei es der Geburtsmechanismus. So wurden die Frauen, die da in der Anstalt waren,
die sogenannten Hausschwangeren, zu Testzwecken verwendet.
Sprecherin:
Christine Loytfed ist Hebamme und Medizinhistorikerin und lehrt in Winterthur.
Eine der ersten Entbindungsanstalten wurde 1751 in Göttingen eröffnet und ab etwa
1800 an die Universität angegliedert. Langjähriger Direktor war Friedrich Benjamin
Osiander:
O-Ton Loytfed:
Wenn wir uns jetzt mal die Entbindungssituation in Göttingen anschauen. Dann war
es so, dass die Hebamme die Frau zum Gebärstuhl führen sollte. Die Hebamme war
am Kopfende der Frau positioniert. Die Medizinstudenten am anderen Ende. Und
zwischen Hebamme und Frau hing ein grüner Vorhang und Osiander dozierte vor
dem Vorhang, was mit der Frau passieren sollte.
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Sprecherin:
Die männlichen Geburtshelfer erfanden Instrumente, wie die Geburtszange oder
entwickelten den Kaiserschnitt. Diese Techniken helfen bei schwierigen Geburten bis
heute. Damals allerdings starben prozentual mehr Frauen in den
Entbindungsanstalten als zu Hause – oft am Kindbettfieber. Ein Grund: die häufigen
vaginalen Untersuchungen ohne sterile Handschuhe.
O-Ton Loytfed:
Eine Zangengeburt – Osiander hat 40 Prozent seiner Patientinnen mit der Zange
entbunden – konnte natürlich viel besser demonstriert werden, wenn die Frau
waagerecht war, als wenn sie senkrecht saß. Sie können sich das vorstellen, dass
wenn Sie auf dem Stuhl sitzen und ich hier unter ihnen knien muss, um unter ihren
Röcken Sie zu untersuchen, dass das für die Medizinstudenten nicht so anschaulich
war, als wenn Sie sich auf den Rücken legen, der Rock hochgeschlagen war und
man das Arbeitsfeld sehen konnte.
Sprecherin:
Eine Geburtsposition, die bis heute noch in vielen Kliniken erwünscht ist. Dabei
befördert eine aufrechte Haltung die Wehentätigkeit und hilft, die Schmerzen besser
zu bewältigen.
O-Ton Schwarz:
In Kliniken vorherrschend ist die Rückenlage, weil‘s bequemer ist. Auf
Küchenarbeitsflächen-Höhe sich quasi breitbeinig vor Geburtshelfer zu legen und
sich das Kind extrahieren zu lassen. Eine sehr demütigende und entwürdigende und
auch schwächende Erfahrung für Frauen, die eigentlich aus eigener Kraft aufrecht in
ihrer Stärke problemlos gebären könnten.
Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki
O-Ton Jakubek:
Das sind unsere Kreißsäle, die sind fast alle gleich aufgebaut, das ist ein Kreißbett,
dann sind hier unser medizinisches Equipment …
Sprecher:
Um 1900 starben in Deutschland 3 von 1.000 Frauen bei oder nach der Geburt. Die
Zahl stieg im und nach dem Ersten Weltkrieg auf 5 von 1.000 Frauen und sank
rapide ab den 1930er-Jahren. Heute sterben kaum mehr Frauen bei der Geburt.
O-Ton Schwarz:
Der Trend, dass weniger Frauen und weniger Kinder bei der Geburt sterben, der ist
nicht ursächlich der Klinikgeburtshilfe zuzuordnen, sondern die deutlich sinkende
Sterblichkeit bei Müttern und Kindern hat schon lange, lange vor der
Klinikgeburtshilfe angefangen.
Sprecherin:
Gründe waren vor allem die besseren Lebensbedingungen. Frauen bekamen nicht
mehr zehn Kinder oder mehr, die Ernährung wurde besser, ebenso die Hygiene. Es
gab eine Krankenversicherung und das Penicillin wurde erfunden.
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Sprecher:
1900 hat jedes fünfte Kind nicht das erste Lebensjahr erreicht. 1938 starben noch
sechs, 1955 vier von 100 Kindern. Heute liegt die Zahl im Promillebereich, das heißt
es sterben 3 von 1.000 Kindern im ersten Lebensjahr.
Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki
Atmo: Kreißsaal
O-Ton Jakubek:
Wie Sie sehen haben wir immer die CTGs im Blick von den ganzen Räumen. Hier ist
die Tafel mit den ganzen Räumen, die wir haben, wo drauf steht, welche Frau wir
haben, wie alt sie ist, das wievielte Kind sie kriegt und alles was wichtig ist.
Sprecherin:
Die Ärztin Farnaz Jakubek deutet auf große Monitore, die zentral die Ergebnisse der
Herztonwehenschreiber – auch CTG genannt – in den Kreißsälen aufzeichnen: Eine
Kurve für die Frequenz der kindlichen Herztöne, die andere zeigt Wehenstärke und
Puls der Gebärenden.
O-Ton Jakubek:
Und so einen Monitor haben wir in jedem Raum, das heißt, wenn ich im Kreißsaal 5
beschäftigt bin, dann sehe ich trotzdem den Monitor und habe alle Frauen im Blick.
Sprecherin:
Um ein CTG schreiben zu können, bekommen Frauen einen Gurt um den Bauch
geschnallt. In vielen Kliniken ab Geburtsbeginn. Dieses Dauer-CTG hindert Frauen
am Herumlaufen. Studien zeigen, dass es bei normal verlaufenden Geburten mehr
schadet als nutzt.
O-Ton Schwarz:
Es erhöht die Raten an operativen Geburten, an Kaiserschnitten und verhindert aber
keine Hirnschäden. Also das, was wir eigentlich machen wollen mit dem CTG, Babys
retten, das funktioniert nicht, das wissen wir auch.
In Deutschland wird bei jeder Geburt ein CTG geschrieben, die Begründung, wir
haben zu wenig Personal. Denn wenn wir kein CTG schreiben würden, dann
müssten wir für jede Frau eine Hebamme haben und das haben wir nicht, eine
sogenannte Eins-zu-eins-Betreuung. Das heißt, es ist preisgünstiger sich eine CTG
Maschine hinzustellen, als drei Hebammen anzustellen.
O-Ton Abou-Dakn:
Also die Eins-zu-eins-Betreuung in der Geburtshilfe ist der Schlüssel, bin ich ganz
überzeugt. Es lässt sich momentan nicht finanzieren. Auch in unserer Klinik nicht.
Sprecher:
Fundierte internationale Studien mit 12.000 Frauen zeigen: Wenn Frauen während
der Geburt kontinuierlich begleitet werden, ist die Geburt kürzer, die Frauen
brauchen weniger Schmerzmittel und die Geburt wird seltener operativ beendet.
Außerdem sind die Frauen zufriedener mit dem Geburtsverlauf und fühlen sich
wohler im Wochenbett und mit ihrem Baby.
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O-Ton Abou-Dakn:
Mit vielen Geburten kann man eher noch mehr Personal zur Verfügung stellen, als
mit wenig Geburten, weil das kalkuliert sich ja immer nur nach den Fällen, die man
letztendlich abrechnen kann.
Sprecherin:
Viele kleinere geburtshilfliche Abteilungen, vor allem auf dem Land, mussten in den
letzten Jahren schließen, weil sie pleitegingen.
Sprecher:
Jede zehnte freiberufliche Hebamme hat in den letzten fünf Jahren die Geburtshilfe
an den Nagel gehängt: Der Grund: Sie konnten die teuren Haftpflichtprämien von
dem geringen Verdienst nicht mehr bezahlen.
O-Ton Abou-Dakn:
Eine Eins-zu-eins-Betreuung ist heutzutage eigentlich nur zu finanzieren, wenn eine
Frau dazu zahlt und sich eine Beleghebamme mit ins Krankenhaus nimmt.
Sprecherin:
Beleghebammen, die Frauen in die Klinik begleiten, haben lange Wartelisten und in
vielen Großstädten finden Frauen keine Hebammen mehr, die sie und ihr Baby im
Wochenbett betreuen. Und in den Kliniken kündigen viele Hebammen, weil sie den
Arbeitsstress nicht mehr aushalten.
O-Ton Schwarz:
Die Konsequenzen für die Geburtshilfe, wenn ich es mal überspitzt ausdrücken soll
ist, dass wir Maschinen benutzen, um Menschen zu ersetzen. Und das ist in jedem
Bereich der Medizin schlecht, aber ganz besonders schlecht ist es beim Sterben und
beim Geborenwerden.
Musik: Tosca – Suzuki – Suzuki
Atmo: Kreißsaal, Flur
O-Ton Massek:
Heute zum Beispiel haben Sie gerade erwischt einen sehr netten Tag, wo man Zeit
hat für persönliche Betreuung. Aber ist leider nicht immer so. Bei 3.600 Geburten ist
oft viel Action, viel Trallala, viel Hektik und oft auch Pathologie deswegen.
Sprecherin:
Die Hebamme Irene Massek arbeitet seit 20 Jahren auf der Geburtsstation im
Berliner St.-Joseph-Krankenhaus.
O-Ton Massek:
Man unterstützt ständig jemanden, und das geht nicht so an uns vorbei.
O-Ton Ensel:
Da gibt es also eine Art von Wissen, die entsteht in diesem Erfahrungsraum. In
dieser dichten Begleitung. Es ist die Kombination aus Wissen, aus langer Erfahrung
und aus diesem spezifischen Setting, die sich nicht ergeben kann, wenn ich fünf
Frauen gleichzeitig begleite und von einer zur anderen springen muss.
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O-Ton Massek:
Diese Herzarbeiten und immer jemanden dabeistehen der Schmerzen hat. Position
ändern, dass die sich ein bisschen wohler fühlen und dass die sich vor allem sicher
fühlen. Dass die keine Angst haben vor der nächsten Wehe, vor der nächsten
Zukunft, die nächste Zukunft ist auch wieder die Wehe.
O-Ton Ensel:
Woher weiß denn die Hebamme, lange bevor medizinische Parameter das sichtbar
machen, woher weiß sie, dass jetzt doch irgendwie was nicht in Ordnung ist? Und
woher weiß sie denn in der außerklinischen Geburtshilfe, dass es jetzt doch gut ist in
die Klinik zu gehen? Auch wenn immer noch alles in Ordnung ist.
O-Ton Massek:
Und in diesem Moment einfach immer wieder das Gefühl geben, du bist gut
aufgehoben, dir passiert nichts, du hast zwar Schmerzen, aber du schaffst das und
du machst das gut, und noch ein Stückchen weiter.
O-Ton Ensel:
Und ich glaube, dass Ärzte, Geburtshelfer und Geburtshelferinnen dieses in ihrer
Ausbildung auch lernen müssen, gemeinsam mit den Hebammen.
Sprecherin:
Es gibt inzwischen Initiativen des gemeinsamen Lernens. Dazu trägt auch die
Hebammenwissenschaft bei, die sich an einigen Hochschulen etabliert hat. In
manchen Städten schließen sich Professionelle zu „Bündnissen für natürliche
Geburt“ zusammen. Auch in der Wissenschaft gibt es ein vorsichtiges Umdenken:
Der amerikanische Gynäkologenverband empfiehlt, den Frauen wieder mehr Zeit
beim Gebären zuzugestehen. Und eine neue ärztliche Leitlinie will zukünftig mehr
Wert auf Information und Begleitung der Schwangeren legen.
O-Ton Abou-Dakn:
Wir müssen die Frauen stark machen, auch ihre Wünsche zu nennen, weil nur dann
in der Natürlichkeit der Abläufe auch die Hormone annähernd so funktionieren
können, wie die Natur sich das gedacht hat.
Sprecherin:
Michael Abou-Dakn ist im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie.
O-Ton Abou-Dakn:
Wir brauchen Geduld, wir brauchen eine Stärkung der Autonomie der Frauen. Das ist
extrem wichtig geworden, finde ich, das haben wir völlig übersehen im Lauf der
letzten Jahrzehnte, dass wir die Frauen entmündigen, wenn sie in den Kreißsaal
hineinkommen, das sage ich bewusst als Mann und Arzt.
Musik: John Zorn – The Book of Pleasure – The Gnostic Preludes
Atmo: Ina zu Hause, Baby Mathilda
Sprecherin:
Vor zwei Wochen hat Ina ihr zweites Kind im Geburtshaus geboren.
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O-Ton Ina:
Auf jeden Fall ist es sehr existenziell oder auch sehr archaisch vielleicht könnte man
auch sagen, die Kräfte die da so walten. Das fällt aus der Realität, aus dem was wir
sonst so erleben. Bei uns war es jetzt bei beiden Geburten so, dass das Kind erst
mal auf den Bauch kam sofort und das war sehr schön. Also sehr viel Ruhe und sehr
viel Zeit.
*****
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