Fließband der Erinnerung

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tv diskurs 60
TITEL
Fließband der Erinnerung
Leif Kramp
Das Fernsehen hatte lange den Ruf eines vergesslichen Gegenwartsmediums. Heute zeigen
sich seine Qualitäten als Gedächtnismaschine
umso deutlicher.
Dass die Juristin Karola Wille nach ihrem Amts-
on von Wirklichkeit, insbesondere bei der
blika und der Diversifizierung individueller
antritt als neue Intendantin des MDR aufgrund
raum- und zeitübergreifenden Weltwahrneh-
Medienrepertoires nehmen Fernsehangebote
der hohen Publikumsnachfrage die nuancierte
mung, und prägt damit ebenso Erinnerungen
weiterhin eine zentrale Stellung bei der Medi-
Betrachtung der DDR-Geschichte zu einem
wie gesamtgesellschaftlich geteilte Ge-
ennutzung ein: Fernsehen ist nicht Programm-
zentralen Programmschwerpunkt erklärte,
schichtsbilder. Das Fernsehen ist hierbei zwar
medium allein, nicht nur das technische Arran-
dass die Schauspielerin Veronika Ferres dem
nur ein, aber ein wesentlicher Faktor der ge-
gement von Sender- und Empfangsgeräten
ZDF mit dem Fernsehfilm Tsunami – Das Le-
sellschaftlichen Erinnerung: In unserer heuti-
oder die etablierte institutionelle Infrastruktur,
ben danach nach wahren Begebenheiten zum
gen alltäglichen Lebenswelt bedienen wir uns
sondern letztlich und ganz grundsätzlich die
Quotenerfolg verhalf und dass zum Tode des
des Fernsehens allerdings nicht nur, um uns
Idee eines elektronischen Mediums, das per
Apple-Gründers Steve Jobs und des Schau-
mittels seiner Programmangebote zu erinnern,
Audiovision Inhalte vermittelt, was weit mehr
spielveteranen Johannes Heesters gleich
sondern die Erinnerungen selbst sind bereits
einschließt als klassische Fernsehgeräte und
mehrfach ausführliche TV-Rückblicke auf das
zu einem hohen Grad von Medien und medi-
Programmkanäle. Fernsehen ist überall –
Leben und Wirken der so gegensätzlichen Iko-
envermittelter Kommunikation durchdrungen.
längst auch im Internet.
Unterschätztes Medium der Extreme
deutung des Fernsehens lange unterschätzt.
Dabei wurde die gedächtniskulturelle Be-
nen gesendet wurden: So sehr sich diese Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit auch
Obwohl sich mittlerweile die Ansicht durchge-
unterscheiden mögen, geben sie zumindest
einen Hinweis darauf, wie stark sich das Fern-
Seit Angedenken setzt der Mensch einiges
setzt hat, „Gedächtnistheorie als Medientheo-
sehen selbst in einer zunehmend digitalen und
daran, sich an die Welt, in der er lebt, und da-
rie“ zu verstehen (Erll 2007), blieb das Fern-
mobilen Medienumgebung als gesamtgesell-
durch letzten Endes an sich selbst zu erinnern.
sehen mit seinen gedächtnisrelevanten Quali-
schaftliches Erinnerungsmedium präsentiert.
Ob mit Steintafeln, Papyrusrollen, Druckschrif-
täten in der Forschung unterbelichtet. Umso
Die pausenlos und rund um die Uhr Bilder
ten, Fotografien oder letztlich elektronischen
mehr ist verwunderlich, dass sich zahlreiche
speiende Apparatur bleibt im Zeitalter von
Aufzeichnungen: Das „kulturelle Gedächtnis“
wissenschaftliche Sammelbände zwar dem
Facebook, Twitter und Google die mediale
fußt auf einer Fülle von Gedächtnismedien
Theoriefeld „Medien und kulturelle Erinne-
Gedächtnismaschine Nummer eins und damit
(vgl. Assmann/Weinberg/Windisch 1998; Erll/
rung“ widmen, das Fernsehen dabei jedoch
nicht mehr allein das metaphorische „Fenster
Nünning 2004). Die Mediatisierung der All-
sträflich vernachlässigt oder ganz ausgespart
zur Welt“, wozu das Fernsehen schon zur In-
tagswelt hat über die Jahrhunderte und zuletzt
wird. Schon bzw. erst im Jahr 2005 war es der
ternationalen Funkausstellung im Jahr 1953
unter dem Eindruck massenmedialer und
Medienphilosoph Lorenz Engell, der kritisch
ausgerufen wurde, sondern auch ein Fenster
schließlich digitaler Kommunikation sowohl in
anmerkte, das Fernsehen sei bei der program-
zur Vergangenheit (vgl. Kramp 2011). Als
quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht
matischen Auseinandersetzung mit Gedächt-
meistgenutztes Bildschirmmedium ist es auch
deutlich zugenommen (vgl. Krotz 2001, 2007;
nismedien deutlich unterrepräsentiert (Engell
aktuell das wichtigste Medium zur Konstrukti-
Hepp 2011). Trotz der Zersplitterung von Pu-
2005, S. 63). Engell, der sich schon in seiner
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»So vereint das Fernsehen gleich mehrere
Gedächtnisfunktionen in sich: Es sorgt für
die Tradierung und Verbreitung von Wissen,
es erhält die Vielstimmigkeit von Erinnerungskonstruktionen und schafft kollektive
Erlebnisse durch die Gleichzeitigkeit der
Vermittlung des Weltgeschehens.«
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Mauerfall (1989), 9/11 (2001), Tsunami (2004)
(v. l. n. r.)
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Dissertation im Jahr 1989 mit den starken Vor-
bleibt in jeder Kultur ein integraler Teil der le-
Die Gedächtnisrelevanz des Fernsehens
behalten in der Wissenschaftsgemeinde ge-
bensnotwendigen identitätsbildenden und
lässt sich anhand der folgenden Dimensionen
genüber dem Fernsehen auseinandergesetzt
-aufrechterhaltenden Maßnahmen, die das
untersuchen:
hatte (Engell 1989), mutmaßte hier, dass dies
soziale Miteinander prägen und der kulturellen
möglicherweise aus einem traditionellen intel-
Gemeinschaft eine Perspektive geben, ohne
— Die gesellschaftlich-integrative Dimensi-
lektuellen Hochmut gegenüber dem Fern-
sie von der Vergangenheit oder ihrer systemi-
on: Von den (normativen) Funktionen des
sehen resultiere.
schen Umwelt abzutrennen. Nichtsdestotrotz
Fernsehens als „kulturelles Forum“ (New-
Mit Blick auf die Tradition des kulturkriti-
zeitigt das Fernsehen zweifellos sozialsystemi-
comb/Hirsch 1986) und „Barde“ der Ge-
schen Diskurses erscheint das Fernsehen auch
sche Konsequenzen: Nie war ein Massenme-
sellschaft (Fiske/Hartley 2003) gehen zu
heute noch als Medium der Extreme, stets os-
dium intellektuell voraussetzungsfreier und
einem maßgeblichen Teil kulturschöpfen-
zillierend zwischen vehementer Ablehnung
gleichzeitig von so anschaulicher Suggestiv-
de und kulturformende Impulse aus, wel-
und enthusiastischer Affirmation (vgl. Holds-
kraft, ja, von solch immensem Seduktions-
che die Voraussetzungen schaffen für die
worth 2011). Fernsehen polarisiert wie eh und
potenzial.
(sub-) kulturelle und gesellschaftliche Identitätsstiftung sowie die Pflege derselben.
je: Entledigten sich kulturelle Spielformen wie
Fernsehen ist nicht nur überall emp-
Comics oder der Kinofilm verblüffend schnell
fangbar, sondern greift gar längst in alle Le-
— Die Objekt-Dimension: Fernsehen ist zur
ihrer Stigmata von Trivialität und Infantilität,
bensbereiche ein, bestimmt Zeitempfinden
Gewohnheit geworden, was dazu geführt
halten sich die von der Kulturkritik gebets-
und wandelt(e) selbst Wertenormen in einer
hat, dass sich die Rezipienten oftmals nicht
mühlenartig vorgetragenen Vorbehalte dem
buchstäblichen Tabula rasa. Der ehemalige
der lebensgeschichtlichen Relevanz be-
„Flimmerkasten“ gegenüber außerordentlich
ZDF-Intendant Dieter Stolte schreibt daher
wusst sind, die sie dem Fernsehen alltäg-
hartnäckig (vgl. Horkheimer/Adorno 1968;
vollkommen zu Recht: „Es geht nicht um einen
lich zumessen und zugemessen haben
Postman 1988; Kissler 2009). Zur Binsenweis-
Teilbereich der Medien, sondern es geht ums
(vgl. Hickethier 2007). Erinnert wird also
heit avancierte die Rede von der gesundheit-
Ganze“ (Stolte 2008, S. 61). Es nimmt also
selten das Fernsehen an sich in seiner all-
lichen Gefährdung des Kindes, das – anstatt
kaum wunder, dass der kulturelle Faktor Fern-
täglichen Ausübung, sondern allenfalls
sich mit Spielkameraden an der frischen Luft
sehen einen latent schweren Stand hat, gera-
Fixpunkte der persönlichen Lebensge-
zu betätigen – lieber am Bildschirm klebe und
de weil seine historisch gewachsene Stellung
schichte, die der Zuschauer mit dem Fern-
zudem sozial und nicht zuletzt intellektuell ver-
in den Medienrepertoires der Bevölkerung
kümmere.
alles Übrige zu dominieren droht.
bedienung über den Videorekorder bis zu
Mit Blick auf die Tatsache, dass sich das
Fernsehen als nicht nur Akzente setzende,
sehen verbindet.
— Die technische Dimension: Von der Fern-
Zwischen Erinnern und Vergessen
den Onlinemediatheken wurden dem
Fernsehen im Verlauf seiner Entwicklungs-
sondern Grundlagen schaffende elektronische
Medientechnologie zum dominanten „Para-
Bei der Auseinandersetzung mit der Gedächt-
geschichte Instrumente anheimgestellt,
digma der Welterklärung“ (vgl. Hickethier
nisrelevanz des Fernsehens entpuppt sich das
welche die Nutzung erleichtern. So setzte
1999, S. 146) aufgeschwungen hat, entstehen
Medium schnell als hochambivalent: Es stört
einerseits eine Beschleunigung und Ver-
immer wieder Krisendiskurse, durch die in der
die Erinnerung allein schon mit der schieren
dichtung ein, andererseits auch eine Los-
Regel entweder inhaltliche, ökonomische oder
Masse an Inhalten, die sich in unbändiger
lösung vom linearen Programmfluss, in-
technologische Gesichtspunkte ins Kreuzfeuer
Schnelligkeit abwechseln, andererseits fördert
dem Aufzeichnungstechniken das Festhal-
geraten. Schlussendlich sei das Fernsehen mit
das Fernsehen Erinnerung, bewusst und unter-
ten des Flüchtigen ermöglichen und damit
seinem pathologischen Aktualitätsfokus auch
bewusst. Wird Fernsehen übergreifend als
eine Erinnerungsfunktion erfüllen (vgl.
erheblich mitverantwortlich für eine Krise des
Technologie und kulturelle Form begriffen
kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann
(Williams 2003), ergibt sich eine Vielzahl von
— Die Gemeinschaftsdimension: Die ge-
1996). Dabei hat sich das Fernsehen in seiner
Ansatzpunkten, um das elektronische Massen-
meinsame Fernsehrezeption dient vieler-
gesamten organisatorischen und produktions-
medium auf seine Gedächtnisrelevanz hin zu
orts zur Aufrechterhaltung eines Zusam-
orientierten sowie nutzungsabhängigen Breite
untersuchen. Für die Auseinandersetzung mit
mengehörigkeitsgefühls. Fernsehen stiftet
zu einem solch wesentlichen Bestandteil im
seinen sozialen Funktionen und kulturellen Di-
dadurch Gemeinschaft, ob beispielsweise
Gefüge zeitgenössischer Gesellschaften und
mensionen im individualpsychologischen und
im Familienzusammenhang (vgl. Halb-
Kulturen entwickelt, dass es schwerfällt zu
gesellschaftlich-normativen Kontext von Erin-
wachs 1985), im Rahmen von Fangruppen
glauben, fernzusehen habe allgemein de-
nern und Vergessen können die inhaltlichen
(vgl. Hitzler 1998) oder durch Public
teriorative, gar kulturzersetzende Effekte zur
Aspekte des medialen Produkts als zentral
Viewing im öffentlichen Raum (vgl. Krotz/
Folge.
Zielinski 1989; Latour 2000).
gelten. Für das Verständnis der Gedächtnisre-
Eastman 1999; Gerhard 2006), und schafft
Es wird weiterhin fleißig erinnert, nur an-
levanz des Fernsehens sind aber zweifellos
oder weckt dadurch kollektive Erinne-
ders und unter verstärktem Einfluss und der
alle am Produktionsprozess beteiligten Deter-
Zuhilfenahme von Medien. Dabei gibt es z. T.
minanten sowie die Rezeptionsweisen mit ein-
gewichtige Störfaktoren, doch auch neue For-
zubeziehen.
men des Erinnerns. Erinnerungsarbeit ist und
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rungsanlässe.
— Die Glaubwürdigkeitsdimension: Die
Glaubwürdigkeit bei der Wirklichkeitswahrnehmung steht am Anfang allen Erin-
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nerns. Daher sind für das Fernsehen nicht
on eines Hinweisreizes für den kulturellen
konstruktionen und schafft kollektive Erlebnis-
erst als Informationsmedium, sondern
Diskurs, sondern hat vielmehr auch die
se durch die Gleichzeitigkeit der Vermittlung
auch als Unterhaltungsinstrument die Au-
gesellschaftliche Perspektive auf Ge-
des Weltgeschehens. Als multidimensionales
thentizität und Nachvollziehbarkeit seiner
schichte transformiert, indem es eine
Gedächtnismedium sorgt es idealtypisch nicht
inhaltlichen Angebote von Bedeutung.
„breite und vor allem mediengestützte
allein für die generationenübergreifende Wei-
Dies kann im Alltag selbst bei erfahrenen
Rethematisierung“ (vgl. Brockmann 2006,
tergabe von kulturell relevantem Wissen und
Rezipienten dazu führen, dass die Fernseh-
S. 315) angestoßen hat. Fernsehen widmet
dies durch seine Barrierefreiheit in einer nie
wirklichkeit als referenzielles Abbild einer
sich historischen Ereignissen, häufig gelei-
zuvor da gewesenen Interpretationsvielfalt,
allgemein verbindlichen „Realität“ ange-
tet von der Gedenktage-Agenda, in einer
sondern es gelingt ihm darüber hinaus durch
nommen wird (vgl. Spangenberg 1994).
Vielfalt von Sendungstypen: In Nachrich-
seine audiovisuelle Ästhetik eine medial zuvor
Seine herausragenden Qualitäten als Erin-
tensendungen, Kinofilmen, Fernsehspie-
ungekannte Belebung der Gedächtnisinhalte.
nerungsgenerator stellt das Fernsehen
len, Shows oder Dokumentationen wird an
Zudem schafft es z. B. durch die scheinbar un-
u. a. immer dann unter Beweis, wenn es
die Vergangenheit erinnert oder Geschich-
vermittelte Teilhabe an Ereignissen, ohne dass
Ereignisse zu genuinen Fernsehereignis-
te re-inszeniert. Dabei bedient sich das
die Zuschauer am Ort des Geschehens zu sein
sen von nationaler, internationaler oder
Fernsehen einer Vielzahl von Quellen und
brauchen, die Grundlage für die Konstruktion
gar globaler Bedeutung transformiert, in-
Hilfsmitteln: von digitalen Animationstech-
kollektiver Erinnerungen. Fernsehen fungiert
dem es das Geschehen in seine Bildspra-
niken über Experten aus der Wissenschaft
demnach nicht nur als Quell für gegenwärtige
che übersetzt und mit Vehemenz in das
bis hin zu Zeitzeugeninterviews. Dadurch
Erinnerungen an die Vergangenheit, sondern
Bewusstsein seiner Zuschauer drängt (vgl.
sorgt es für eine anschlussfähige Zirkulati-
auch für zukünftige Erinnerungen an die Ge-
Viehoff 2003).
on von Geschichtswissen und -deutungen,
genwart. Die Pluridimensionalität des Fernse-
— Die Bildungsdimension: Bildung durch
fördert die Debattenkultur und entwirft
hens greift also ein in die Konditionierung des
Fernsehen verläuft im Regelfall unerkannt
sich als Mittlerinstanz zwischen öffentli-
Erinnerns, indem es das individuelle Erleben
und unterbewusst: Jegliche Informations-
chem Gedenken und privater Erinnerung.
an einen gesellschaftlichen und sogar globalen Rahmen koppelt.
und Unterhaltungsformate können die
Weltbilder ihrer Zuschauer zwar nicht in
Gleichsam erregen Personalisierung, Emotio-
Dass das Fernsehen nach Jahrzehnten un-
der Weise formen, dass alles Wissen aus
nalisierung und Zuspitzung bei der Vergan-
unterbrochenen Sendebetriebs weit mehr
den Massenmedien gespeist werden wür-
genheitsrepräsentation im Fernsehen auch
prägt als die Gegenwart, sondern auch die
de (vgl. Luhmann 2004, S. 9), doch ergänzt
Kritik, weil Markt und Quote Geschichts- und
Vergangenheit in der Erinnerung der Zuschau-
das Fernsehen mit seinen Inhalten signifi-
Erinnerungsbilder mit einem Hang zum Fiktio-
er umzudeuten weiß, liegt auf der Hand. Wer
kant und oft identitätsstiftend formale Bil-
nalen verzerren können (vgl. Wirtz 2008). In-
also das Fernsehen nicht versteht, kann auch
dungsanstrengungen.
szenatorische Kunstgriffe haben sich demnach
das 20. Jahrhundert nicht begreifen. Um es mit
— Die künstlerische Dimension: Aus der äs-
mit der Zeit so nachhaltig zu Konventionen
einer abgewandelten These der „Zeit“-Auto-
thetischen Emanzipation des Fernsehens
verhärtet, dass eine differenzierte Behandlung
rin Christiane Grefe zu fassen: Die Gesellschaft
von Vorgängermedien wie dem Theater,
historischer Themen außerhalb des Event-
sitzt ratlos vor dem Fernsehen, das sie ange-
Film oder Radio entwickelte sich ein krea-
Fokus kaum noch möglich erscheint. Doch ob
richtet hat (vgl. Grefe 1992) – ratlos, aber nicht
tives Feld fernsehkünstlerischer Aktivitä-
effektvolles Doku-Drama, fantasiereiches
unwillig und auch der Vergangenheit gegen-
ten, das zur Anerkennung von Fernsehpro-
Historien spektakel oder in der Gegenwart
über nicht abgewendet, wie am Publikums-
duktionen als populäre Kunstwerke ge-
nachgespieltes Geschichtsszenario („Living
erfolg von Bemühungen der Fernsehbranche
führt hat wie im Falle von Fernsehspielen/
History“): Solche Variationsformen sind häufig
nachvollzogen werden kann, die Fernseh-
-filmen oder aufwendigen Serienformaten,
nur ein erster Augen- oder Türöffner zur Histo-
vergangenheit in Rückblickshows, Wiederho-
die „Fernsehgeschichte schreiben“. Diese
rie, unverbindliche und gerade durch ihre Un-
lungen von Erfolgsserien oder in Form von
erfahren durch ihren künstlerischen und
gezwungenheit und Inszenierung attraktive
DVD-Veröffentlichungen usw. zu feiern. Dieser
häufig auch zeitkritischen Anspruch bis-
Einstiegshilfen für eine breite allgemeine
Zuspruch zeigt das Interesse, das der Ge-
weilen hohen Zuschauerzuspruch oder
Öffentlichkeit, deren Geschichtsinteresse erst
schichte des Fernsehens selbst gilt, durch die
heftige Kritik und sorgen damit für nach-
geweckt werden muss (vgl. Finney 2005; Hunt
intuitive Lust am Nacherleben der eigenen
haltige Anschlusskommunikation. Auch
2006).
Fernsehvergangenheit, an der Wiederbegegnung mit den Fernsehhelden der Kindheit
lösen manche Produktionen intensive parasoziale (Fan-) Beziehungen aus.
— Dimensionen der Vergangenheitsreprä-
Intuitives Erinnerungsmedium und
oder an der Erinnerung an all jene persönli-
Kulturerbe
chen Erlebnisse, die mit dem Fernsehen verbunden waren. All dies sind wichtige Bestand-
sentation: Geschichtsfernsehen bietet al-
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lerhand Rahmungen, Vergangenheit zu
So vereint das Fernsehen gleich mehrere Ge-
teile des autobiografischen Gedächtnisses von
thematisieren. Die Darstellung von Ge-
dächtnisfunktionen in sich: Es sorgt für die
Millionen von Zuschauern und stellen Schnitt-
schichte und Erinnerung im Fernsehen
Tradierung und Verbreitung von Wissen, es
mengen dar zwischen dem individuellen Ge-
beschränkt sich nicht allein auf die Funkti-
erhält die Vielstimmigkeit von Erinnerungs-
dächtnis und dem kollektiven Erfahrungs-
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Literatur:
schatz. Hieran lässt sich anschließen, um über
das Fernsehschauen hinaus auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Fernsehen
zu normalisieren und es angemessen in den
kulturellen Kanon einzuordnen.
Fernsehen ist nicht nur Teil der Medienkultur, sondern der Kultur und ihrer Geschichte
insgesamt – aller ausdifferenzierten Teilkulturen von mediatisierten Gesellschaften, um
genau zu sein. Das vermeintlich vergessliche,
unstete, unfassbare und formenwandlerische
Medium, das analog und digital in Wohn- und
Schlafzimmern, Schaufenstern und Wartezonen, durch Bildröhren und leuchtende Transistoren, gar über Mobilfunkgeräte und den
Computer seinen Weg zu den Nutzern findet,
muss als Kulturerbe und Herausforderung angenommen werden, um dadurch erst die bleibende Relevanz des Fernsehens und seiner
Inhalte ins Bewusstsein rufen zu können.
Gleichwohl ist es kein prädestiniertes Gedächtnismedium im vorwiegend bewahrenden
Sinne, sondern ist angewiesen auf Begleitmaßnahmen, um seine residualen Qualitäten
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