Alte und neue Herausforderungen für die beruflichen Schulen und

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Prof. Dr. Rolf Dobischat
Universität Duisburg-Essen
Fachbereich Bildungswissenschaften
Mai 2006
Alte und neue Herausforderungen für die beruflichen Schulen
und Überlegungen zu ihrer Weiterentwicklung
(Referat zur Tagung „Neue Wege in den Beruf“ am 5.5.2006 in Berlin, veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
in Kooperation mit dem Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB), dem Berliner Landesinstitut für Schule und
Medien (LISUM) und der Fraktion der Linkspartei/ PSD im Abgeordnetenhaus von Berlin)
Vorbemerkungen
Ich möchte einleitend an den „geistigen Vater der Berufsschule“, Georg
Kerschensteiner, erinnern, der vor 100 Jahren als „Schulreformer“ in seinem
regionalen Wirkungskreis München begann, für die Umwandlung der allgemeinen
Fortbildungsschule in eine fachliche Fortbildungsschule nicht nur das theoretische
Gerüst zu formulieren, sondern auch den Wandlungsprozess praktisch
voranzutreiben. Mit diesen Aktivitäten wurde das Fundament für die seit etwa 1920
bezeichnete Berufsschule gelegt und eine eigenständige Lehrerbildung für diesen
Schultyp etabliert. Durch die Einführung des 8. Schuljahrs wollte Kerschensteiner
den Übergang Jugendlicher ins Berufsleben erleichtern, um ihnen in der Arbeitswelt
individuelle Entfaltung und Charakterbildung zu ermöglichen, so seine Begründung.
Aus heutiger Sicht beschäftigte sich also der Nestor der Berufsbildungstheorie und
praktizierender Schulreformer bereits schon vor 100 Jahren mit Fragen der
institutionell-organisatorischen, curricularen und didaktisch-methodischen Gestaltung
der „Übergangspassage Jugendlicher“ vom „Bildungs- ins Beschäftigungssystem“,
wenngleich uns die Motive heute seltsam anmuten, denn seine im Jahre 1901 durch
die Königliche Akademie der Wissenschaften zu Erfurt preisgekrönte Schrift, in der er
die Notwendigkeit der staatsbürgerlichen Erziehung auch als Verantwortung der
fachlichen Fortbildungsschule begründete, lautete: „Wie ist die männliche Jugend
von der Entlassung aus der Volksschule bis zum Eintritt in den Heeresdienst am
zweckmäßigsten für die bürgerliche Gesellschaft zu erziehen?“
Die Berufsschule hat sich in der hundertjährigen Entwicklungszeit als ein Element
einer mittlerweilen komplexen Berufsbildung sukzessiv etablieren und
ausdifferenzieren können, wobei wir heute vom Oberbegriff der „Berufsbildende
Schulen“ angesichts ihres Ausdifferenzierungsgrades mit einem facettenreichen
Spektrum an Bildungsgängen sprechen müssen.
Die klassische Teilzeitberufsschule ist Teilelement dieses komplexen Spektrums und
sie ist Partner im „Dualen System“, dessen Begriff der Deutsche Ausschuss für das
Erziehungs- und Bildungswesen im Jahre 1964 prägte. Nach wie vor wird durch
diesen Begriff suggeriert, dass es sich bei der Ausbildung im Betrieb und in der
Berufsschule um ein „System gleichzeitiger Ausbildung“ handelt, für das ein
„gemeinsamer Bildungsauftrag“ besteht, wie ihn die Kultusministerkonferenz (KMK)
in ihrer Rahmenvereinbarung aus dem Jahr 1991 formulierte.
Das „Duale System“ im Spannungsfeld von Krise und Reform
Das Duale Systems der Berufsausbildung steht seit den 60er Jahren hinsichtlich
seiner Leistungsfähigkeit bekanntlich immer wieder in der Kritik und es gab und gibt
immer wieder ausreichend Anlass, nachhaltige Reformen einzufordern. Erinnert sei
an die Ergebnisse der Sachverständigenkommission Kosten und Finanzierung der
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beruflichen Bildung (Edding-Kommission 1974), die bei der betrieblichen Ausbildung
erhebliche Funktionsschwächen diagnostizierte, die zu massiven
Qualitätsunterschieden, Konjunkturanfälligkeiten und Wettbewerbsverzerrungen
führten. Die seinerzeit formulierten Reformvorschläge wiesen in eine Richtung, die
mehr staatliche Verantwortung für die Berufsausbildung vorsah, die eine
Finanzierungsbasis durch ein Umlageverfahren sicherstellen sollte und in der die
Notwendigkeit vollzeitschulischer Elemente (wie z.B. das Berufsgrundbildungsjahr)
herausgestellt wurde. Der arbeitgeberseitige Verdacht einer damit intendierten
Transformation des Dualen Systems in ein staatlich reguliertes System führte damals
sehr schnell zur Rücknahme aller Reformbestrebungen und zur weiteren
Konservierung bestehender Strukturschwächen, wie zum Beispiel die der
Marktsteuerung des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots.
Ein Blick auf die Themen in der Modernisierungsdebatte der letzten zwanzig Jahren
verweist auf vielfältig diskutierte und zum Teil umgesetzte Reformen wie z.B. die
Schaffung neuer und die Revision bestehender betrieblicher Ausbildungsordnungen
und schulischer Rahmenlehrpläne (einschließlich der Umsetzung des
Lernfeldkonzeptes), die unter den Stichworten von Flexibilisierung, Modularisierung
und Differenzierung (von Schulorganisation und Unterricht)
erfolgreich vorangetrieben und zur inhaltlichen und funktionalen Stabilisierung des
Dualen Systems mit seiner vollzogenen Pluralisierung der Lernorte beitragen
konnten.
Die berufsbildungspolitische Debatte um Reformansätze war aber immer von
Konflikten und „ideologischen Positionskämpfen“ zwischen den beteiligten Akteuren
flankiert. Neben der Auseinandersetzung um die Ausbildungsplatzabgabe als
Gegensteuerungsversuch zur Problematik fehlender Ausbildungsplätze kann
stellvertretend die intensiv geführte Diskussion um das „Für und Wider“ des
„Berufskonzeptes“ angesehen werden, das als konstitutives Fundament das Dualen
Systems trägt und dies zwischen den politischen Akteuren durch einen Konsens
abgesichert ist.
Unübersehbar ist, dass es gegenwärtig massive qualitative und quantitative
Mängelzuspitzungen im System der Berufsausbildung gibt, die es fraglich erscheinen
lassen, ob durch das bekannte Reaktionsmuster dosierter und partiell wirkender
Modernisierungs- und Innovationsschübe die grundsätzliche Frage einer
notwendigen „Systemkorrektur“ zur langfristigen Zukunftssicherung ausgeklammert
werden kann. Diese Frage besitzt wegen der vielschichtigen Konfliktebenen
zwischen den Akteuren eine hohe berufsbildungspolitische Brisanz, da damit die
Fundamente des Systems auf den Prüfstand gestellt würden. Angesichts des
Problemdrucks ist jedoch berechtigterweise zu fragen, ob die seit Jahren praktizierte
politische Handlungsmaxime des „Durchwurstelns„ mit ritualisierten Appellen,
finanziellen Anreizen und rechtlichen Androhungen ausreichend ist. Zwar hat dies
immer wieder zur öffentlichen Aufmerksamkeit und politischen Entrüstung bei den
politischen Akteuren geführt, im Ergebnis sind jedoch wenig substanzielle Effekte
erkennbar, wie es die enttäuschenden Ergebnisse des Nationalen
Ausbildungspaktes belegen. Andererseits wurden durch dosierte
Modernisierungsschübe und politische Aktivitäten immer wieder sichergestellt, dass
es zu einer temporären „Systemstabilisierung“ mit verändertem Niveau kam. Aber
selbst die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes zum 1.4.2005
(Berufsbildungsreformgesetz) hat nur „kosmetische“ Änderungen vorgenommen, so
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dass von einer den realen Problemen angemessenen Reform der Berufsausbildung
nicht gesprochen werden kann. So bleibt zu fragen, ob dieses Politikmuster
langfristig Ziel führend und erfolgreich sein kann, denn mit seiner auf kurzfristigen
Erfolg abstellende Handlungslogik versperrt es womöglich den Horizont für die
Umsetzung perspektivenreicher und nachhaltiger Reformen zur Lösung der
„Strukturkrise“ des Dualen Systems.
Die berufsbildenden Schulen – Standort und Problemlagen
Bereits mit der Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) im Jahre 1969
wurde eine ordnungspolitische Erblast festgeschrieben, die sich als schwere
Hypothek für Reformen erwies. Die konsequente rechtliche Isolierung der
betrieblichen Berufsausbildung (Bundesrecht) von der Berufsschule (Landesrecht)
hat die Berufsschule in eine Randständigkeit als „verlängerter Lernort“ machtvoller
und dominanter Partner (Betriebe und Zuständige Stellen) hineinmanövriert, so dass
sich die Frage der Gleichheit zwischen beiden Partnern im System nie ernsthaft
stellte. Auch das novellierte Berufsbildungsreformgesetz von 2005 hat an dieser
Situation nichts geändert. Die Berufsschule ist als gleichberechtigter Partner nicht in
das Gesetz aufgenommen worden, so dass weiterhin Regelungen und
Mindeststandards für diesen Ausbildungsbereich fehlen und es zudem auch
weiterhin keine institutionalisierte Abstimmung zwischen betrieblichen
Ausbildungsordnungen und schulischen Rahmenlehrplänen gibt. Zwar kann jetzt die
Abschlussnote der Berufsschule auf Antrag in das Kammerzeugnis aufgenommen
werden; eine faktisch stärkere Gleichwertigkeit ist durch das formale Prozedere einer
Beantragung jedoch nicht ausreichend realisiert. Indikator hierfür war und ist der
rechtlich zugestandene marginale Einfluss von Vertretern der Berufsschulen auf
Fragen der Organisation und Kontrolle von Berufsausbildung. Die
Gesamtverantwortung der Betriebe für die praktische Berufsausbildung als Ausdruck
einer prioritären Verankerung im Geltungsbereich des „Wirtschaftsrechts“ und der
damit korrespondierenden „Gestaltungshoheit“ durch die Privatwirtschaft hat die
Berufsschule nicht nur faktisch diesem Primat untergeordnet, sondern deren
periphere Lage auch rechtlich legitimiert. Diese Trennung hat sich auch als Barriere
für die Lernortkooperation zwischen Schule und Betrieb erwiesen, denn sie ist nicht
explizit vorgeschrieben, sondern der Koordination vor Ort - in Abhängigkeit der
jeweils vorfindbaren Bedingungen - überlassen.
Das klassische Bild der Berufsschule als einer Jugendschule mit Pflichtcharakter und
einer klar definierten Klientel gehört schon lange der Vergangenheit an. Diese
Diagnose wurde von W.-D. Greinert bereits im Jahr 1998 vor dem Hintergrund der
Erosionstendenzen im Dualen System gestellt. Richtig ist, dass es ist nicht mehr der
klassische Hauptschüler unter 18 Jahren ist, der die Mehrheit der Berufsschüler
repräsentiert, wie es noch in den 60er Jahren der Fall war. Charakteristisch für die
heutige Berufsschule ist vielmehr eine Vielfalt von Schulformen und Bildungsgängen,
die eine Heterogenität in der Schülerpopulation hervorbringt. Das Spektrum reicht
von Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss, über Abiturienten bis hin zu
berufserfahrenen Erwachsenen. Aber auch Schüler mit besonderen sozialen,
familiären oder ethnischen Problemhintergründen gehören heute zu den Besuchern
der berufsbildenden Schulen, so dass man durchaus feststellen kann, dass in den
berufsbildenden Schulen also diejenigen wieder zusammenkommen, die durch unser
Schulsystem bereits frühzeitig selektiert wurden. Für viele Absolventen der
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Hauptschule führt das immer knapper werdende Gut eines betrieblichen
Ausbildungsplatzes wie auch die gestiegenen Anforderungen in den modernisierten
Berufen zu einer mehrschichtigen Ungleichheitsfalle, die die bekannten
Markierungslinien der sozialen Schließung beim Zugang zur einer Ausbildung immer
enger ziehen wie auch neue Zugangsbarrieren aufbauen.
Der Ausbau des vollzeitschulischen Angebots an Ausbildungsgängen in den letzten
Jahren ist daher konsequenterweise u. a. auch Ausdehnungsraum für die Absorption
des Nachfrageüberhangs nach betrieblichen Ausbildungsplätzen gewesen. Die
berufsbildenden Schulen haben hier eine Lückenbüßer-Rolle übernommen bzw. für
ein drückendes gesellschaftliches Problem übernehmen müssen.
Mittlerweile hat sich an den beruflichen Schulen ein beträchtliches Potenzial von
„Auffangbecken“ und „Ausweichpfaden“ für diejenigen etabliert, die ihre Nachfrage
nach einem Ausbildungsplatz gezwungenermaßen um mindestens ein Jahr, wenn
nicht sogar ganz und gar verschieben müssen, zumal dann, wenn auch der Besuch
eines vollzeitschulischen Bildungsganges auf Grund der unzureichenden Kapazitäten
bzw. der fehlenden individuellen Leistungen verwehrt wird (Einrichtung von
verwahrenden und nicht qualifizierenden „Klassen ohne Beruf“ vergleichbar den
„Jungarbeiterklassen“ in den 60er Jahren wegen der formalen Erfüllung der
Schulpflicht).
Durch die Erweiterung der vollzeitschulischen Bildungsgänge hat sich neben dem
klassischen Segment der dualen Teilzeitberufsschule mittlerweile ein ausgeprägter
Bereich vollschulischer Berufsausbildung etabliert - und dies gilt für die neuen
Bundesländer noch deutlicher -, der nicht mehr als temporärer, „Krisen“ lösender
Übergang auf dem Weg zu einer „Einrichtung„ der Dualen Ausbildung“ gesehen
werden kann. Vielmehr kann von einer dauerhaften Normalität ausgegangen werden,
so dass unser System der Berufsausbildung längst durch die Kombination von
einerseits dualen und andererseits vollzeitschulischen Bildungsgängen zu
charakterisieren ist.
Die Ausweitung der vollzeitschulischen Ausbildung wird aus unterschiedlichen
Gründen kritisch bewertet, denn hierdurch entstehen erhebliche finanzielle
Belastungen für die öffentlichen Haushalte, die als bildungsökonomische
Fehlinvestitionen angesehen werden. Die berufsbildenden Schulen und die an ihnen
unterrichtenden Lehrkräfte sind durch diese Entwicklung zugleich mit
organisatorischen, pädagogischen, psychologischen, beratenden und didaktischmethodischen Aufgaben konfrontiert, auf die sie nicht ausreichend vorbereitet sind.
Hier sind zusätzliche Ressourcen einzufordern, soll nicht die Gefahr wachsen, dass
der notwendige Ressourceneinsatz im Vollzeitbereich zu Lasten der Aufgaben in der
dualen Ausbildung geht und es dort zu Qualitätsverlusten führt. Unter dem Stichwort
„Belastung“ sind letztlich auch jene Prozesse zu erwähnen, die unter dem
Oberbegriff von organisatorischer Schulentwicklung und Qualitätsverbesserung –
auch für den Unterricht - neue Herausforderungen und Aufgabenbewältigungen
bedeuten, die einen entsprechenden personellen Ressourceneinsatz einfordern.
Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang u. a. auf die Umsetzung der neuen
curricularen Struktur durch das „Lernfeldkonzept“, das in vielen Bereichen didaktischmethodische und mediale Innovationen freigesetzt und die Berufsschule verändert
hat, aber zu erheblichen Belastungen auf Seiten des Lehrpersonals geführt hat.
So lange die Betriebe der Engpass der dualen Berufsausbildung sind, müssen die
berufsbildenden Schulen vorrangig auf die gesellschaftliche Situation der
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Berufslosigkeit vieler Jugendlicher reagieren und ein anspruchsvolles, flexibles und
qualitativ hochwertiges Angebot an Bildungsgängen für die unterschiedlichen
Adressatengruppen bereitstellen. Dies heißt aber, dass den berufsbildenden Schulen
die erforderlichen finanziellen Mehraufwendungen für Personal und Ausstattung zur
Verfügung gestellt werden müssen.
Durch die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes ist die Option eröffnet,
nichtbetriebliche vollzeitschulische Ausbildungen mit BBIG-Abschlüssen im Dualen
System gleichzustellen. Vorrangig und eingehend zu prüfen ist, welche
Ausbildungsgänge sich besonders hierzu eignen und wie die beruflichen
Praxisanteile z.B. durch erweiterte Möglichkeiten der betrieblichen
Verbundausbildung oder eine verbreiterte Umsetzung von „Produktionsschulen“ zu
realisieren sind. Vermieden werden sollte auf jeden Fall die Initiierung von
konkurrierenden Parallelausbildungen, denn dies würde dazu führen, dass für
Absolventen schulischer Berufsbildungsgänge die Arbeitsmarktakzeptanz nicht
verbessert würde und die berufsbildenden Schulen womöglich einen weiteren
Imageschaden in Kauf nehmen müssten. Auszuschließen ist auch nicht, dass eine
„unkontrollierte“ Expansion schulischer Berufsabschlüsse negative Auswirkungen auf
das Angebot dualer Ausbildungsplätze nimmt. Die vielstimmig hörbaren Warnungen
einer drohenden weiteren Verschulung der Berufsausbildung sind daher ernst
zunehmen, sie erinnern aber zugleich an die vehement vorgetragenen Warnungen in
den 70er Jahren vor der zunehmenden Pädagogisierung der Betriebe.
Letztlich, den Betrieb aber mit dem uneingeschränkten Alleinstellungsmerkmal einer
kompetenten und qualitativ hochwertigen Realisierung von berufspraktischen
Ausbildungsleistungen gegenüber schulischen Lernkonstellationen a priori zu
etikettieren, bleibt vor dem Hintergrund vorliegender wissenschaftlicher Ergebnisse
aus der umfangreich dokumentierten Lernortkooperationsforschung aber ein Mythos.
Zukunftsperspektiven: auf alte und neue Herausforderungen reagieren
Die Teilzeitberufsschule als Kern der berufsbildenden Schulen hat sich bislang aus
der Peripherie des Dualen System nicht herausentwickeln können. Die Zukunft des
Dualen Systems wie auch die Zukunft der Berufsschule sind jedoch untrennbar
miteinander verbunden.
Im berufsbildungspolitischen Diskurs wird u. a. von Kritikern die Position vertreten,
eine grundsätzliche Systemkorrektur in der dualen Berufsausbildung anzusteuern,
wobei auf die vielschichtigen Erosionstatbestände im Vollzug des Wandels der
Arbeitsgesellschaft zu einer Dienstleistungsökonomie und der damit verknüpften
Veränderungen individueller Kompetenzanforderungen wie auch die neuer Formen
der Wissensaneignung hingewiesen wird. Gegenüber den neuen Anforderungen, so
die Argumentation, erweist sich die bestehende Struktur, Organisation und die
Steuerung unserer dualen Berufsausbildung als zu starr und zu rigide, so dass sich
hieraus ein grundsätzlicher Revisionsbedarf ergibt. Die damit verquickten Vorschläge
präferieren einen Systemwechsel, der u. a. eine finale Abkoppelung und
Autonomisierung der Berufsschule gegenüber der betrieblich verantworteten und
finanzierten Ausbildung anstrebt, was im Ergebnis höchstwahrscheinlich zum
schnellen Exitus des Dualen Systems führen würde.
Da eine solche Position politisch nicht durchsetzbar ist und auch nicht gewollt sein
kann, bleibt letztlich nur die bekannte Variante, die dosierte Modernisierung der
Berufsschule in den gegeben Strukturen und unter Inkaufnahme der
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berufsbildungspolitischen Interessenkonflikte bei der Zielbestimmung und den
einzuschlagenden Strategien der Umsetzung zukunftsorientiert voranzutreiben.
Doch wie könnte in einem solchen Prozess dem Risiko einer weiteren
Marginalisierung der Berufsschule innerhalb des Dualen Systems entgegen gewirkt
und vermieden werden, dass die ohnehin nicht sehr hohe öffentliche Akzeptanz und
das Image der Institution berufsbildende Schule noch weiter absinkt. Die Antwort
lautet: sie muss in die Lage versetzt werden, aus der Systemperipherie
herauszutreten, ihr Profil zu schärfen, um sich gegen weitere Diffamierungen zu
immunisieren und ihre Angebotspalette gegenüber veränderten Nachfragestrukturen
neu arrondieren. Daraus folgt die Konsequenz: sie muss innerhalb des Dualen
Systems wie auch innerhalb des Bildungssystems insgesamt ihren Bildungsauftrag
verändert definieren, sie muss in Bereichen von Curriculumentwicklung, DidaktikMethodik wie auch der neuen Medien Innovationen vorantreiben, sie muss neue
Formen der institutionell-organisatorisch Kooperation eingehen, das traditionell schon
bestehende Zusammenwirken mit der regionalen Wirtschaft intensivieren und sich
über ihren bisherigen Auftrag hinausgehende neue Betätigungsfelder suchen.
Folgende Entwicklungspfade zu Profilierung lassen sich skizzieren:
• Die veränderte Klientel der Berufsschule ist u. a. das Ergebnis von
Auszehrungsprozessen und Attraktivitätsverlusten im Dualen System selbst.
So verlieren die Berufsschulen z. B. durch die wachsende Zahl „dualer
Studiengänge“ außerhalb des rechtlichen Ordnungsrahmens des
Berufsbildungsreformgesetzes leistungsfähige Adressaten für traditionelle
duale Ausbildungsgänge. Die Einführung von Bachelor-Studiengängen könnte
beispielsweise als weiteres Konkurrenzmodell diesen Prozess beschleunigen.
Durch das Wegbrechen qualifizierender Ausbildungssegmente im oberen
Bereich des Qualifikationsspektrums und die Zunahme leistungsschwächerer
und marktbenachteiligter Jugendlicher ohne Ausbildungsvertrag ist erkennbar,
dass die Berufsschule bereits jetzt schon der Resonanzboden einer
„systemfremden“ Entwicklung ist. Die daraus entstehenden
Herausforderungen im Umgang mit einer veränderten Klientel (24 % „nicht
ausbildungsreife Jugendliche“) müssen die öffentlich verantworteten
Berufsschulen allein schon aus gesellschaftspolitischen und rechtlichen
Gründen (Schulpflicht) aufnehmen und anschlussfähige Bildungsgänge
entwickeln, die den Teilnehmern zumindest die Option auf eine spätere
Berufschance im Beschäftigungssystem bieten. Die notwendigen Ressourcen
und Rahmenbedingungen hierfür sind bereitzustellen. Besonderes Augenmerk
ist auf die kompetenzvermittelnde Inhalte in allgemein bildenden und
berufsübergreifenden Fächern zu legen.
• Die berufsbildenden Schulen müssen aus ihrer reaktiven Rolle bei der
Krisenbewältigung der Berufsnot deutlicher herausgehen und einen aktiveren
Part beim regionalen „Übergangsmanagement“ zwischen Schulabschluss und
Berufseinmündung übernehmen. Hierzu gibt es bereits vielfältige und sehr
gute best-practice Beispiele. Dazu gehört auch die Entwicklung attraktiver
vollzeitschulischer Ausbildungsgänge mit integrierten betrieblichen
Praxisanteilen. Die letzten Jahre haben deutlich gezeigt, dass derartige
Bildungsangebote nicht nur temporärer Lückenbüßer für fehlende
Ausbildungsplätze sind, sondern notwendige Gegenmaßnahme für das breite
Marktversagen beim Angebot an Ausbildungsplätzen darstellen. Der mit der
Etablierung eines vollzeitschulischen Segments befürchtete Verschulung oder
sogar Verstaatlichung der Berufsausbildung ist dadurch entgegen zutreten,
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das die Betriebe und deren Verbände wie auch die Kammern bei deren
Entwicklung und Organisation einzubinden sind, so dass sichergestellt werden
kann, dass die duale Ausbildung als weiterhin zentrales Standbein durch
Konkurrenzen und Vermischungen mit vollzeitschulischen Angeboten keinen
Schaden nimmt. Weiterreichende Pluralisierung, Flexibilisierung,
Modularisierung und Kooperation in den Ausbildungsformen und
Bildungsgängen wäre der paradigmatische Ansatz für eine zukunftsorientierte
Reform der beruflichen Bildung, in denen die Berufsschulen eine wichtige
Aufgabe übernehmen kann.
Die Forderung, die Berufsschulen stärker in die Weiterbildung einzubinden ist
alt, zumal sie bestimmte Felder der Weiterbildung wie z.B. die Fachschulen
traditionell bereits bedient. Ohne Zweifel besitzen die Berufsschulen und ihr
Personal Ressourcen und Kompetenzen, die ein noch stärkeres Engagement
in der Weiterbildung rechtfertigen und auch mit der bildungspolitischen
Forderung einer stärkeren Verbindung zwischen Aus- und
Weiterbildungsprozessen in Einklang stehen würde. Die Erschließung neuer
Aufgabengebiete und Betätigungsfelder in der Weiterbildung und speziell auch
in der beruflich-betrieblichen Weiterbildung ist jedoch an spezifische
Voraussetzungen gebunden. Dazu zählt u. a. auch ein veränderter rechtlicher
Status wie auch ein erweiterter Autonomiespielraum der Berufsschulen, um
als konkurrenzfähiger Anbieter am Weiterbildungsmarkt agieren zu können.
Sichergestellt werden muss aber, dass ein Weiterbildungsengagement nicht
zu Belastungen in der beruflichen Ausbildung führt. Leider hat das neue
Berufsbildungsreformgesetz hinsichtlich einer stärkeren Verzahnung zur
Ausbildung und einer Qualitätssicherung auch keinen substanziellen
Fortschritt gebracht.
Im Kontext mit der Forderung nach einem stärkerem
Weiterbildungsengagement der berufsbildenden Schulen steht die neue
Aufgabenzuschreibung, die beruflichen Schulen zu regionale Zentren für
berufliche Aus- und Weiterbildung bzw. regionalen Kompetenzzentren zu
entwickeln. Diese Perspektive steht in Übereinstimmung mit der Durchsetzung
veränderter politischer Handlungs- und Gestaltungsaktivitäten, in denen die
Region als Bezugsarena, die Lernende Region als politische Leitfigur,
Netzwerke als bildungspolitisches Innovationsmanagement und
verhandlungsdemokratische Prozesse zum Interessenausgleich zwischen den
involvierten Akteuren bei der Zielbestimmung und deren Umsetzung im
Vordergrund stehen. Diese Konfiguration von Politikgestaltung birgt eine
Menge von Reformelementen und kann den berufsbildenden Schulen
innovative Impulse geben und Aktivitätsspielräume öffnen, da neue
Grenzziehungen zwischen Betrieben und Berufsschulen, zwischen Schulen
und Trägern der Weiterbildung ausbalanciert werden müssen, wobei sich dies
z.B. auf die Bildungsbeteiligung positiv auswirken könnte. Eine Mitwirken der
berufsbildenden Schulen in einem Konzert veränderter Politikformulierung,
stärkerer Marktdynamik, neuer Kooperationsbeziehungen und veränderter
Anforderungsprofile (z.B. Qualität, Professionalität) setzt jedoch voraus, dass
die berufsbildenden Schulen organisatorisch, rechtlich und finanziell in die
Lage versetzt werden, auf Augenhöhe mit anderen Akteure gleichberechtigt
kommunizieren zu können.
Im Zusammenhang mit der Forderung nach einer stärkeren
Rollenwahrnehmung in der regionalen Berufsbildungspolitik wird reflexartig auf
die Beispiele in Dänemark und den Niederlanden verwiesen. Das
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niederländische Beispiel der regionalen Bildungszentren (Regionaal
Opleidings Centra/ROCs), das verschiedene berufliche Bildungsmaßnahmen
(Vollzeit-, Teilzeit, Weiterbildung in berufsbegleitender und berufsausbildender
Form) zusammenfasst, basiert auf einer Gesetzgebung, die die
Modernisierungsbestrebungen in der Berufsausbildung bereits vor 10 Jahren
in Angriff genommen hat, wobei das Kernstück der Berufsbildungspolitik auf
die Basis einer landesweiten Qualifikationsstruktur orientiert ist und durch
regionale Steuerung unter Partizipation der Sozialpartner einvernehmlich
erfolgt. Von einem derartigen Modell, das die beruflichen Schulen als Partner
erheblich aufwerten würde, sind wir noch weit entfernt, wenngleich es
beispielhaft ist und zum Lernen anregt. Letztlich besteht die Gefahr, dass
unter dem Deckmantel des reformrhetorischen Diskurses um die
Modernisierung der Berufsschulen mit den Begriffen von Deregulierung und
Entbürokratisierung Interessen die Oberhand gewinnen, die eine stärkere
Privatisierung bzw. Kommerzialisierung der Berufsschulen bei gleichzeitiger
Zurückdrängung öffentlicher Verantwortung anstreben, was zu verhindern ist.
Letztlich erwachsen mit der Etablierung des Europäischen
Qualifikationsrahmens (European Qualification Framework) und dem
europäischen Leistungspunktsystem ECVET (European Credit Transfer
System für Vocational Education und Training) durch die EU-Kommission
neue Herausforderungen an die Berufsbildung. Die Orientierung dieser
Konzepte liegen auf der messbaren „out-come“ Perspektive mit der
Zielrichtung der arbeitsmarktlichen individuellen Beschäftigungsfähigkeit. Dies
birgt die Gefahr einer stärkeren Individualisierung der Ausbildungswege durch
intensive Modularisierung der Inhalte (Beispiel Großbritannien), was nichts
anderes als die Ablösung von normierten Qualifikationen (Berufsbilder), wie
sie bislang die duale Ausbildung charakterisieren, heißen könnte. Die
Gefahrenpunkte liegen auf der Hand, denn für die berufsbildenden Schulen
könnte dies zur weiteren Erosion ihres traditionellen Fundaments beitragen.
Weiterführende Literatur:
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Dobischat, R./Düsseldorff, K. u.a. (2003): Leistungsangebote beruflicher Schulzentren. Eine
Bestandsaufnahme des Potenzials von berufsbildender Schulen für ein Engagement in neuen
Tätigkeitsfeldern, hg. vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bonn
Dobischat, R. (2005): Neue Aufgaben der berufsbildenden Schulen? In: Zeitschrift für Berufsund Wirtschaftspädagogik, Heft 1, S. 10 – 18.
Drexel, I. (2006): Europa als einheitlicher Bildungsraum – begrenzte Chancen, große Risiken.
In: Vorstand Ver.di/Vorstand IG Metall (Hg.): Bildung ist keine Ware. Wie wir morgen arbeiten,
leben und lernen wollen. Eine Streitschrift zur beruflichen Bildung. Berlin/Frankfurt/Main.
Euler, D. (1998): Modernisierung des dualen Systems. Problembereiche, Reformvorschläge,
Konsens- und Dissenslinien (BLK-Materialien zur Bildungsplanung, Heft 62). Bonn.
Greinert, W.-D. (1998): Die traditionelle Pflichtberufsschule ist am Ende. In: Berufsbildung
(Schwerpunktheft „Berufsschule neu denken“), Heft 49, S. 34 – 37.
Kutscha, G. (1997): Das Duale System - noch ein Modell mit Zukunftschancen? Thesen zur
Reformfähigkeit im Verbund von beruflicher Aus- und Weiterbildung. In: Arnold, R./Dobischat,
R./Ott, B. (Hg.): Weiterungen der Berufspädagogik. Von der Berufsbildungstheorie zur
internationalen Berufsbildung, Stuttgart, S. 140-152.
Vorstand Ver.di/Vorstand IG Metall (Hg.) (2006): Bildung ist keine Ware. Wie wir morgen
arbeiten, leben und lernen wollen. Eine Streitschrift zur beruflichen Bildung. Berlin
/Frankfurt/M.
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