Vom alpinen Osträtien zur Grafschaft Tirol. Die raumpolitische

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Erdwissenschaft
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13614
-SCHRIFTEN
ENTLICHUNGEN
UNDE VON SÜDTIROL
HERAUSGEGEBEN VON R. v. KLEBELSBERG
29.
VOM ALPINEN OSTRÄTIEN
ZUR GRAFSCHAFT TIROL
Die raumpolitische Entwicklung einer mittelalterlichen
deutschen Grenzlandschaft
VON
RICHARD HEUBERGER
19 3 5
U n i v e r s i t ä t s - V e r l a g Wagner/ Innsbruck
29
SCHLERN-SCHRIFTEN
VERÖFFENTLICHUNGEN ZUR LANDESKUNDE VON SÜDTIROL
Herausgegeben von R. v. K l e b e l s b e r g
Institut für Geographie
der Universität Innsbruck
A-6020 Innsbruck, Innrain 52
29.
Vom alpinen Osträtien
zur Grafschaft Tirol
Die raumpolitische Entwicklung einer mittelalterlichen
deutschen Grenzlandschaft
von
Richard Heuberger
19 3 5
Universitäts-Ver1ag Wagner / Innsbruck
Alle Rechte vorbehalten
Druck: Kinderfreund-Anstalt, Innsbruck
Inhalt.
Vorbemerkung
S.
1—2.
1. Tirol im Verband des zweiten Rätien und des agilolfingischen Bayern S. 3—12.
Tirol zu Beginn der Völkerwanderungszeit S. 3 — Alpengebiet und Flachland im rätischen
Raum S. 5 — Beschränkung der Raetia secunda auf den Gebirgsbereich S. 6 — Ansätze zu
einer Sonderentwicklung des alpinen Osträtien und Aussichten für die Zukunft dieses Landes
S. 6 — Aufteilung des Verkehrsgebietes von Brenner und Reschenscheideck unter die Germanen S. 7 — Tirol in der Karolingerzeit S. 9 — Geschichtliche Bedeutung der damaligen
Lage Tirols S. 10 — Aussichten für die weitere Entwicklung dieses Landes S. 11.
2. Fürsten und Herren im hochmittelalterlichen Tirol
S. 12—21.
Völkisch-wirtschaftliche Entwicklung des mittelalterlichen Tirol S. 12 — Dessen Beziehungen
zum nördlichen Alpenvorland S. 13 — Tirol und das hochmittelalterliche Herzogtum Bayern
S. 14 — Macht der Welfen und Maßnahmen der Liudolfinger in Tirol; Begründung der geistlichen Reichsfürstentümer Trient und Brixen S. 15 — Anbahnung eines politischen Zusammenschlusses Tirols S. 17 — Zerfall der Fürstentümer Brixen und Trient S. 18 — Erwerbungen
der Grafen von Eppan und Emporsteigen der Häuser Tirol und Andechs S. 19 — Umwandlung des Fürstentums Trient in einen weltlichen Amtssprengel des Königreiches Italien S. 21.
3. Die Entstehung der Grafschaft Tirol
S. 21—27.
Lage Tirols um 1240 und dadurch gegebene Zukunftsaussichten S. 21 — Wiederherstellung
des deutschen Reichsfürstentums Trient und Bildung einer Grafschaft Tirol S. 22 — Teilung
und beginnende Wiedervereinigung dieses Herrschaftsgebietes S. 22 — Endgültige Begründung
der Grafschaft Tirol S. 23 — Aufrechterhaltung des ungeteilten Bestandes dieses Hoheitsgebietes S. 24 — Einheitliches Gefüge und reichsunmittelbare Stellung der Grafschaft Tirol
S. 25 — Anfänge der Tiroler Landstände S. 26.
4. Die spätmittelalterliche Grafschaft Tirol und die Raetia secunda
der Völkerwanderungszeit
S. 27—35.
Abschluß der politischen Raumbildung im mittelalterlichen Verkehrsgebiet von Brenner und
Reschenscheideck S. 27 — Grafschaft Tirol und alpine Raetia secunda S. 28 — Innere Beziehungen des alpinen Osträtien und des spätmittelalterlichen Tirol zu den ihnen benachbarten Teilen des Alpenraumes S. 29 — Inneres Verhältnis jener Gebiete zur Hochebene
zwischen Donau, Iller und Inn S. 30 — Politische Zusammenhänge zwischen Tirol und dem
nördlichen Alpenvorland während der Völkerwanderungszeit und des späteren Mittelalters
S. 30 — Bedeutung der Erwerbung Tirols durch Rudolf IV. von Österreich S. 32 — Selbständige Stellung des spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Tirol gegenüber der österreichischen
Ländergruppe S. 33 — Die Grafschaft Tirol als zeitbedingte Erneuerung der Raetia secunda
des beginnenden Mittelalters S. 34.
Vorbemerkung.
Ursächliche Verknüpfung und innere Notwendigkeit beherrschen den Gang der
Geschichte im großen und kleinen. So formen sich unter dem Zwang der durch die
geographischen Verhältnisse und die jeweilige geschichtliche Gesamtlage gegebenen
Voraussetzungen Landschaften im geschichtlichen Sinn, Gebilde, die selbst heute,
im Zeitalter der großen Nationalstaaten, des Weltverkehrs und der Weltpolitik
noch ihre Bedeutung für den inneren Aufbau der Volkseinheiten besitzen. Die Folgen
jener Voraussetzungen können sich aber niemals rein auswirken. Denn ein Land
entwickelt sich nicht für sich allein, sondern stets nur als ein Teil einer größeren
räumlichen Einheit in bald mehr, bald weniger engen Wechselbeziehungen mit seinen
Nachbargebieten und unter der Einwirkung von Entschlüssen und Schicksalen
menschlicher Gruppen und Einzelpersönlichkeiten. Dadurch kommt in die Geschichte
jeder Landschaft etwas, was man, wenn es auch an sich selbstverständlich ursächlich
bedingt ist, vom Standpunkt einer bestimmten Entwicklungsreihe aus als zufällig
bezeichnen darf. Nun trägt jede geschichtliche Lage den Keim zu mehr als einer
Lösungsmöglichkeit in sich und unter Umständen vermögen verhältnismäßig geringfügige Ursachen, die oft erst dem rückschauenden Betrachter offenbar werden,
bedeutsame Wirkungen hervorzurufen. Deshalb biegt der Werdegang einer Landschaft nicht selten scheinbar unvermittelt von der einmal eingeschlagenen Richtung
ab und er kann nur von dem voll verstanden werden, der die weiteren Zusammenhänge und das jeweilige Endergebnis kennt. Die geographischen Gegebenheiten
ändern aber — dies gilt wenigstens für die vor dem Zeitalter des Dampfes und der
Elektrizität liegenden Jahrtausende — trotz allem Tun der Menschen Stärke und
Wirkungsrichtung ihrer das geschichtliche Leben bestimmenden Kraft nur wenig
und manche geschichtliche Gesamtlage rechtfertigt — verglichen mit den Zuständen
vergangener Zeiten — den Satz, daß alles schon einmal dagewesen ist. Daher bewegt
sich die Entwicklung der einzelnen Landschaften gleich dem menschlichen Willen
nicht frei, sondern nur innerhalb deutlich erkennbarer, den Bereich der Möglichkeiten
einschließender Grenzen und es kehren in ihr bei ähnlichen geschichtlichen Voraussetzungen meist mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit auch ähnliche Lösungen wieder.
All dies offenbarte sich auch in der mittelalterlichen Vergangenheit des Verkehrsgebietes von Brenner und Reschenscheideck. In den Jahrhunderten, die zwischen
dem Zusammenbruch der römisch-griechischen Welt und den Anfängen eines neuer-
lichen Aufstiegs der abendländischen Menschheit zu geistiger Freiheit und zur Höhe
der Gesittung lagen, erwuchs Tirol zu einer Landschaft im geschichtlichen Sinn und
erhielt als solche ein eigenartiges Gepräge, das im Zeitalter der Gegenreformation
und des fürstlichen Absolutismus, wie auch später, zwar stark verändert, aber doch
nicht von Grund auf und vollkommen umgeformt wurde. Man pflegt das Werden
des Landes Tirol jetzt gemeinhin mehr von der kulturgeschichtlichen Seite her zu
betrachten. Dabei wendet man denn auch in der Tat seinen Blick gerade den wichtigsten und merkwürdigsten Erscheinungen zu. Wer die Tatsache, daß es ein Land Tirol
gibt, geschichtlich völlig verstehen will, muß sich aber auch die Frage vorlegen:
„Wie und warum kam es dazu, daß ein politisches Gebilde von der Art der Tiroler
Grafschaft geschaffen wurde?“ Erwidert man auf diese Frage mit der Behauptung,
im Mittelalter habe bei den damals herrschenden Verhältnissen in dem von der
Reschenscheideck- und der Brennerstraße durchquerten Mittelstück der Alpen
ein Paßstaat entstehen müssen, so erteilt man damit eine Antwort, die keinen tiefer
Denkenden restlos befriedigen kann. Denn von unbedingt zwangsläufigen Entwicklungen in der Geschichte kann nur reden, wer verkennt, daß der Geschichtsverlauf
im Großen wie im Kleinen stets auch durch besondere, an sich oft unberechenbare
Schicksalsfügungen beeinflußt wird. Es ist daher nicht bloß reizvoll, sondern auch
höchst aufschlußreich, unter Einstellung des Blicks auf die jeweils gegebenen Entwicklungsmöglichkeiten und deren Verwirklichung oder Nichtverwirklichung zu
betrachten, wie sich die politische Eaumbildung in der für die Zukunft entscheidenden
Zeit des europäischen Mittelalters im Bereich jener Talschaften vollzog und wandelte,
die sich rings um die Ötztaler, Stubaier und Zillertaler Alpen ausbreiten; um zuletzt
mittels einer Vergleichung der Gesamtlage Tirols am Anfang und am Ende jenes
Zeitraumes das innerlich Notwendige in dieser Entwicklung zu beleuchten. Dies soll
im folgenden geschehen. Muß dabei auch vieles gesagt werden, was auch außerhalb
der Fachwelt allgemein bekannt ist, so entschädigt hiefür wohl der Gewinn, der
darin liegt, daß eine derartige Überschau geeignet ist, die Aufmerksamkeit auf Dinge
und Fragen zu lenken, die sich hinter den äußeren Erscheinungen des Geschichtsverlaufs verbergen und deshalb leicht übersehen werden1).
1
) Die hier vorgelegte Abhandlung wurde vor einigen Jahren als Beitrag für ein von P. Innerkofler geplantes Buch über Südtirol geschrieben und dann, nachdem die Herausgabe dieses
Werkes aufgegeben worden war, unter Verwertung des inzwischen erschienenen Schrifttums
zwecks Veröffentlichung in dem damals noch von F. Junger geleiteten „Schlern“ ergänzt
und erweitert. Ihr Erscheinen in dieser Zeitschrift verzögerte sich aber und erwies sich schließlich als untunlich. Daher danke ich meinem Kollegen, Herrn Prof. R. v. Klebelsberg, auch
an dieser Stelle wärmstens dafür, daß er meiner Abhandlung jetzt (Frühsommer 1935) Aufnahme in die von ihm herausgegebenen „Schlernschriften“ gewährte. Auf Beigabe von Anmerkungen wird im folgenden mit wenigen Ausnahmen verzichtet. Es genügt, zum Ersatz
hiefür auf die neuesten Darstellungen der Geschichte Tirols in E. Werunskys Österreichischer
Reichs- und Rechtsgeschichte, Lieferung 7—11 (1912—1931; hier, namentlich S. 528—572,
das gesamte einschlägige Einzelschrifttum verzeichnet) sowie in den von H. Wopfner und
0. Stolz verfaßten Abschnitten des vom Hauptausschuß des deutschen und österreichischen
Alpenvereins herausgegebenen Werkes „Tirol, Land, Natur, Volk und Geschichte“ (1933)
zu verweisen. In diesem Werk (S. 342, 348, 352) Karten, die die raumpolitische Entwicklung
1. Tirol im Verband des zweiten Rätien und des agilolfingischen Bayern.
In vorgeschichtlicher Zeit waren die im Bannkreis von Brenner und Reschenscheideck gelegenen Talschaften durch ihre Verkehrsbeziehungen sowie durch das
Volkstum ihrer Bewohner enger mit der schwäbisch-bayrischen Hochebene, als mit
anderen Nachbargebieten verbunden. Stämme der Urzeit schaffen jedoch keine
Staaten. Die politische Raumbildung im eigentlichen Sinn setzte also auf dem Boden
Tirols erst ein, als die Römer ihre Herrschaft in spätfreistaatlicher Zeit bis in die südlichen Talschaften der Alpen und in den Tagen des Augustus bis an den Oberlauf
der Donau ausdehnten. Damit war das Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck dem um das Mittelmeer gelagerten Weltreich des Altertums eingegliedert
und die im Rahmen dieses gewaltigen Staatswesens geschaffenen Verhältnisse
bildeten in der Form, die sie in der späteren Kaiserzeit angenommen hatten, wie
anderwärts, so auch in Tirol, die Grundlage für die weitere geschichtliche Entwicklung2).
Als das Zeitalter der sogenannten Völkerwanderung anbrach, bildete Tirol in keiner
Hinsicht eine Einheit. Das Etschtal bis hinauf zur Töll und das südlich vom Kuntersweg
gelegene Stück des Eisacktals gehörten zur italischen Provinz Venetia et Histria
und zum Gebiet der Stadt Tridentum (Trient). Hier war der Einfluß der römischen
Gesittung verhältnismäßig stark und die mehr oder weniger romanisierten Bewohner
des territorium Tridentinum, Abkömmlinge von Ligurern, Kelten, Illyrern, etwa auch
Protoitalikern und Etruskern, hatten sich gewiß — wenigstens in den nicht allzu
weltabgelegenen Gegenden — einigermaßen mit Einwanderern aus der Mittelmeerwelt gemischt. Das Pustertal, in dem dereinst die illyrischen Saevates und Laianci
gesessen hatten, war der zur westillyrischen oder pannonischen Diözese und mit ihr
zur Präfektur Italien gehörigen Provinz Noricum mediterraneum und dem Stadtgebiet des festen Aguntum (am Debantbach bei Lienz) zugeteilt. Das den Hauptteil des Staates Österreich unserer Tage in sich schließende Land der Norici, die —
ursprünglich illyrischer Herkunft — großenteils mit Kelten durchsetzt und von deren
Gesittung ergriffen worden waren, hatte sich schon lange vor seiner Unterwerfung
durch die Römer dem Einfluß Italiens geöffnet und im Lauf der Kaiserzeit war
demnach in dem später in zwei Teilprovinzen zerlegten Norikum römisches Wesen
kräftig durchgedrungen. Die Überreste des antiken Aguntum und anderer norischer
Tirols vom 6. Jahrhundert bis zur Gegenwart veranschaulichen. Auf den folgenden Blättern
wird bei den Worten „Bayern“ und „bayrisch“ die Schreibung mit i (statt mit y) dort angewendet, wo es sich um die Angehörigen des bajuwarischen Stammes und nicht um den
politischen Verband des Herzogtums Bayern handelt.
2
) Die nähere Begründung für die im folgenden gemachten Bemerkungen über die Verhältnisse Tirols während der Römerzeit und des Frühmittelalters findet sich bei R. Heuberger,
Rätien im Altertum und Frühmittelalter 1 (Schlernschriften 20, 1932), sowie in den ebenda
S. VI angeführten Aufsätzen. Vgl. auch Heuberger, Das Burggrafenamt im Altertum (Schlernschriften 28, 1935). Zur völkischen Entwicklung Tirols während des Mittelalters und der
Neuzeit siehe Stolz, Die Ausbreitung des Deutschtums in Südtirol im Lichte der Urkunden
1-4(1927—1934).
1*
3
Städte reden eine deutliche Sprache. Das in der früheren Kaiserzeit vermutlich
zu Norikum gehörige mittlere Eisacktal, an dem gewiß schon im ausgehenden
Altertum die nachmals von den Deutschen als Nurichtal übernommene Bezeichnung
Vallis Norica haftete, das obere Wipptal, das zweifellos bereits damals nach der
Siedlung Vipitenum (Sterzing) benannt wurde und Nordtirol lagen im Bereich der
der italischen Diözese und Präfektur angeschlossenen Provinz Raetia secunda. Diese
Landschaft glich ihrer räumlichen Ausdehnung nach im wesentlichen dem Verwaltungssprengel Vindelicia, der in den Tagen des Augustus bestanden und im Westen
an das damalige Amtsgebiet Raetia gegrenzt hatte, umfaßte also die Osthälfte der
frühkaiserzeitlichen, zu Beginn des 4. Jahrhunderts in zwei Statthalterschaften
zerlegten Provinz Raetia, hatte wie diese zur Hauptstadt Augusta Vindelicum
(Augsburg) und wurde außerhalb der Alpen von Iller, Donau und Inn eingerahmt.
Zur Raetia secunda, die man auch als das spätrömische Osträtien bezeichnen kann,
gehörte wohl auch der Vinschgau, trotzdem er schon in der Urzeit mancherlei
Beziehungen zur Ostschweiz gehabt hatte, die im ausgehenden Altertum, zusammen
mit dem heutigen Vorarlberg, im Rahmen der Provinz Raetia prima von Curia
(Chur) aus verwaltet worden sein dürfte. Die urzeitlichen Bewohner des alpinen
Rheintals, des Engadins, Nord- und Mitteltirols sowie der schwäbisch-bayrischen
Hochebene hatten in keinen näheren Beziehungen zu Italien gestanden und, da sie
großenteils Illyrer gewesen waren, ihren Nachkommen eine starke Widerstandskraft
gegenüber den von Süden her kommenden Einflüssen vererbt. Wie das erste, so
war daher auch das zweite Rätien von römischem Wesen und römischer Gesittung
viel weniger durchdrungen worden, als Venetien und die beiden norischen Statthalterschaften. Dies gilt selbst von seiner außeralpinen Hälfte. Gab es innerhalb
derselben doch bezeichnenderweise außer den Städten Augusta Vindelicum und
Cambodunum (Kempten) und außer einigen befestigten Grenzplätzen, wie Castra
Regina (Regensburg) oder Castra Batava (Passau) keine städtischen oder stadtartigen Siedlungen. Noch weniger als im Flachland zwischen Iller, Donau und Inn
hatte vollends die Römerherrschaft in dem zur Raetia secunda gehörigen Teil des
Alpengebietes tiefgreifende Wirkungen zu erzielen vermocht. Hier war weder eine
Stadt im Rechtssinn noch eine Ortschaft von größerer Bedeutung erwachsen und
die Leute, die im ausgehenden Altertum Nordtirol, das obere Wipptal, das mittlere
Eisacktal sowie den Vinschgau bewohnten, hausten zwar längst nicht mehr in
Wallburgen, wie ihre illyrischen Vorfahren, die Breuni, Isarci und Venostes, sie hatten
aber von der römischen Gesittung gewiß nur wenig angenommen, wohl kaum merkliche Einschläge mittelländischen Blutes empfangen und die Sprache ihrer Väter
über dem im amtlichen Verkehr sowie beim Heer gebrauchten Latein vermutlich
noch nicht vergessen. Die Außenbeziehungen des Verwaltungsgebietes, dem der
Hauptteil Tirols eingefügt war, gingen, außer nach Süden, hauptsächlich nach Westen
und Nordwesten, nicht aber nach Osten. Daher bildete die rätisch-norische Landmark während der früheren Kaiserzeit zugleich die Scheidelinie zwischen dem
auch die germanischen Provinzen mitumfassenden gallischen Zollsprengel und dem
illyrischen Steuergebiet, seit Diokletian aber, der die beiden Rätien mit Rücksicht
auf die militärisch-politische Lage verwaltungsmäßig eng mit der Apenninenhalbinsel verbunden hatte, zugleich die Grenze zwischen der italischen und der
westillyrischen oder pannonischen Präfektur.
Zur Zeit, als die Stürme, denen das Kömerreich erliegen sollte, ihre volle Stärke
zu entfalten begannen, stießen also im Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck drei Provinzen und zugleich drei Gesittungskreise zweiter Ordnung aneinander. Allein die weitere Umgebung von Maies (Mais-Meran), von Pons Drusi
oder Bauzanum (Bozen) und von Endidae (Castelfeder bei Neumarkt), die in Beziehungen zum Potiefland stand, und das Pustertal, das Verbindung mit dem
äußersten Osten des Alpenraums hatte, bildeten doch nur kleine Stücke Tirols.
So war also der Hauptteil dieses Landes bereits damals im Verband der Raetia
secunda zu einer Einheit zusammengefaßt. Er war aber im Rahmen dieses Verwaltungssprengels, des Nachfolgers der augusteischen Vindelicia, auch mit dem
nördlichen Alpenvorland vereinigt. Dies entsprach den Zusammenhängen, die
schon in der Urzeit bestanden hatten, zugleich aber auch den allgemeinen Voraussetzungen, die durch die geographischen Verhältnisse gegeben und für die Festlegung der römischen Provinzialgrenzen in dem hier in Betracht kommenden Gebiet,
wie auch in dessen Nachbarschaft, maßgebend waren. Auf dem Boden des alten
Norikum erheben sich die Alpen großenteils nicht mehr zu ansehnlichen Höhen,
nähern sich dem Donautal, das die Landmark des Kaiserreiches bildete, und sind
von verkehrswichtigen Längstalfurchen durchzogen; was die in west-östlicher Richtung verlaufenden antiken Straßen in den Vordergrund treten ließ und es bei der
Teilung der Römerprovinzen in kleinere Statthalterschaften nahelegte, jenen
Verwaltungssprengel in eine nördliche und eine südliche Hälfte (Noricum ripense
und Noricum mediterraneum) zu zerlegen. Der von der rätischen Provinz der früheren
Kaiserzeit eingenommene Raum setzt sich dagegen aus einer weitausgedehnten
Hochebene und aus Gebirgsgegenden von hochalpinem Gepräge zusammen, deren
Talschaften im Hinblick auf Höhenlage und Klima größtenteils dem nördlichen
Alpenvorland ähneln, und in diesen Berggebieten übertreffen die über die Pässe
der Hauptwasserscheide von Süden nach Norden führenden Wege die Ost-Westverbindungen weitaus an Bedeutung. Diese Sachlage, der die Römer bei dem Ausbau
ihres rätischen Straßennetzes Rechnung trugen, setzt aber das Flußgebiet des Alpenrheins sowie den Verkehrsbereich von Brenner und Reschenscheideck in die engsten
Beziehungen zu den diesen Gegenden benachbarten Teilen der schwäbisch-bayrischen Hochebene. Daher geschah es durchaus im Sinn der naturgegebenen Vorbedingungen, wenn man unter Augustus im Rahmen der Amtssprengel Vindelicia
und Raetia das tirolische Inntal sowie die obersten Stücke des Etsch- und des
Eisacktals mit dem von Iller, Donau und Inn begrenzten Flachland, die Ostschweiz
und Vorarlberg aber mit den Gegenden im Norden des Bodensees vereinigte und
wenn man dann in der späteren Kaiserzeit, soweit dies möglich war — Oberschwaben
befand sich damals schon in den Händen der Alamannen — bei der Zerlegung
Rätiens in zwei Statthalterschaften wieder an diese Einteilung anknüpfte.
Seit dem Ende des 4. Jahrhunderts zerrissen nun aber äußere Ereignisse die uralte
Verbindung zwischen Rätisch-Tirol und dem nördlichen Alpenvorland. Die römische
Grenzverteidigung brach zusammen und Alamannen sowie andere Germanen
setzten sich, immer weiter um sich greifend, im außeralpinen Rätien fest. Die nördliche Landmark der Raetia secunda lag daher im späteren 5. wie auch im beginnenden
6. Jahrhundert im Bereich der nördlichen Kalkalpen und dieser Amtssprengel
mag damals seinen Verwaltungsmittelpunkt in Veldidena (Wilten-Innsbruck) oder
in Vipitenum, zeitweise etwa auch in dem durch seine Lage so trefflich geschützten
Säben, dem Zufluchtsort des einzigen Bischofs, gehabt haben, den die so sehr zusammengeschmolzene Provinz besaß. Dazu war das zweite Rätien nunmehr fast
ohne Verbindung mit Noricum ripense, dem nördlichen der beiden norischen Amtssprengel. Früher hatte es mit dieser Provinz durch mehrere, das nördliche Alpenvorland durchziehende Ost-West-Straßen, die auch militärischen Erfordernissen
dienten, in Beziehung gestanden. Jetzt aber waren diese Fäden infolge des Vorrückens der Germanen zerschnitten — vom Inntal aus führte damals innerhalb
der Alpen keine Straße nach Osten — und der dürftig gewordene Handelsverkehr
stellte nur mehr zwischen Tirol und den Römerstädten der schwäbisch-bayrischen
Hochebene einigermaßen eine Fühlung her.
Da sich die westgermanischen Stämme an der Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert
unter den Merowingern zu einem gewaltigen Reich vereinigten, so ließ sich vorhersehen, daß das Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck seinen politischen
Zusammenhang mit dem in Ohnmacht versinkenden Italien verlieren und dafür
einen solchen mit jenem Staat gewinnen werde. Darüber hinaus eröffnete sich
nunmehr bei der oben geschilderten Sachlage für Tirol anscheinend eine bisher
noch nicht dagewesene Möglichkeit weiterer Entwicklung. Die Raetia secunda dieser
Zeit, die, allseits von Naturgrenzen umrahmt und zur Beherrschung der stets wichtigen Verbindungen zwischen Potiefland und schwäbisch-bayrischer Hochebene
berufen, mit dem Amtsbereich eines Bischofs zusammenfiel, eine Bevölkerung
gleicher Herkunft und gleicher Gesittung beherbergte, durch die Römerwege über
den Brenner und das Reschenscheideck zu einem Verkehrsgebiet zusammengefaßt
war und ihren Schwerpunkt in der Brennerfurche hatte, stellte schon ein innerlich
geschlossenes Raumgebilde dar, das in den der Kleinstaaterei zusteuernden Jahrhunderten des Mittelalters eine große Zukunft haben konnte. Eine derartige Entwicklung schien sich bereits vorzubereiten. Denn unter den Ostgotenkönigen, die
seit der Überwindung Odovakars durch Theoderich den Großen die Apenninenhalbinsel im Namen der byzantinischen Kaiser beherrschten, nahmen die beiden
rätischen Provinzen, deren Wehrmannschaften unter dem einheitlichen Befehl des
vermutlich in Curia waltenden dux Raetiarum standen, als romanische Marken
des ersten italischen Germanenreiches eine eigentümliche Sonderstellung ein.
Dazu befand sich in jener Zeit das nördlich der Feste Verruca (Dos Trento bei
Trient) und der ummauerten Stadt Tridentum gelegene Stück der regio Tridentina
militärisch in ähnlicher Lage, wie Rätisch-Tirol, was auf eine künftige Vereinigung des
ganzen engeren Verkehrsgebietes von Brenner und Reschenscheideek hinwies. Auch
deutete sich um die Mitte des 5. Jahrhunderts in Vorstößen der damals in Pannonien
angesiedelten Ostgoten bis ins obere Drautal, später aber in der Zugehörigkeit
des als civitas Noricum bezeichneten östlichen Zipfels von Noricum mediterraneum
zum unmittelbaren Machtbereich des byzantinischen Reiches3) schon ein durch
das Hineinspielen östlicher Beziehungen bedingter Zerfall von Binnennorikum an,
der dazu führen konnte, daß sich zum mindesten zwischen dem Rienztal und dem
von der Raetia secunda eingenommenen Raum ein engeres Band knüpfte. Löste
sich nun das zweite Rätien gänzlich von seiner westlichen, mit ihm durch keine
inneralpine Straße verbundenen Nachbarlandschaft, so konnte es, entsprechend
weiterentwickelt und vergrößert durch Angliederung des Burggrafenamtes, des
Bozner Beckens und des Westpustertals, im Rahmen einer größeren staatlichen
Einheit die Grundlage für die rasche Entstehung eines mächtigen inneralpinen
Herrschaftsgebietes abgeben, wie es tatsächlich nachmals in der Grafschaft Tirol
geschaffen wurde.
- Allein es war zwar recht wahrscheinlich, daß sich die Beziehungen des von der
alpinen Raetia secunda eingenommenen Gebietes zu den ihm benachbarten Gebirgsgegenden in der eben gekennzeichneten Weise gestalten würden, nicht aber, daß in
dem von der Brenner- und Reschenscheideckstraße durchzogenen Mittelstück der
Alpen schon während des frühesten Mittelalters ein zu begrenztem staatlichen
Eigenleben berufenes Gebilde erwachsen werde. Rätisch-Tirol war gegen den Willen
seiner Bevölkerung sowie im Widerspruch zu allen Überlieferungen der Vergangenheit und zu den durch geographische Zusammenhänge gegebenen Voraussetzungen
durch äußere Gewalt vom außeralpinen Rätien getrennt worden. In solcher Art
geschaffene Staatsgrenzen pflegen aber keinen dauernden Bestand zu haben und es
war ziemlich gewiß, daß sich dieser Satz auch hier als richtig bewähren werde,
trotzdem die Bewohner des alpinen Osträtien natürlich nicht in der Lage waren,
das künftige Schicksal ihrer Heimat selbst zu bestimmen oder auch nur ihren diesbezüglichen Wünschen öffentlich Ausdruck zu geben. Denn die nördlichen Kalkalpen konnten dem Vorwärtsdrängen der germanischen Völkerschaften unmöglich
lange Halt gebieten und andrerseits war mit dem Erstehen einer angriffskräftigen
Macht in Italien für absehbare Zeit nicht zu rechnen. Somit ließ sich bei Erfüllung
der oben angedeuteten Voraussetzungen mit Bestimmtheit erwarten, daß die verselbständigte und vergrößerte alpine Raetia secunda neuerdings eine enge politische
Verbindung mit dem ihr nördlich vorgelagerten Flachland eingehen werde, wie sie
vor dessen Besetzung durch die Germanen bestanden hatte.
Wirklich schlug denn auch die Entwicklung im wesentlichen diesen von Natur
und Geschichte vorgezeichneten Weg ein. Im 6. und 7. Jahrhundert traten die
3
) Über diese civitas NoricumR.Egger, Wiener Studien, Zeitschrift für klassische Philologie
47 (1929), S. 146-154.
jugendfrischen Völker des Nordens erfolgreich zum Kampf um die Alpenlandschaft
an, in deren Innerem tief eingeschnittene Sättel zu beiden Seiten des ötztaler
Gebirgsstockes zu Einbrüchen ins Potiefland einluden. Die Verteidigung der
italischen Nordgrenze lag seit 489 in den Händen der Ostgotenkönige und dann in
denen der oströmischen Heerführer, die in langjährigen Kämpfen (535—553) Italien
wieder der unmittelbaren Herrschaft des byzantinischen Kaisers zurückerobert
hatten. Seit 568/569 war es Sache der Langobardenkönige und ihrer Herzoge,
die jetzt in der alten regio Tridentina geboten, im Bannkreis der Reschenscheideckund Brennerstraße Grenzwacht zu halten. Hier drohten seit der Unterwerfung
der Alamannen durch Chlodowech von Nordwesten her die Franken, deren gewaltiger
Staat auf dem Boden der einstigen Römerprovinzen Gallien und Germanien das
Erbe des Kaiserreiches angetreten hatte. Während des ostgotisch-byzantinischen
Krieges bemächtigte sich der Merowinger Theudebert I. der Ostschweiz, des alpinen
Flußgebietes der Etsch und großer Teile der oberitalienischen Tiefebene. Das innerund außeralpine Venetien ließ sich allerdings nur für eine beschränkte Reihe von
Jahren behaupten und ein im Jahr 590 unternommener Versuch der Austrasier,
im Bund mit den Byzantinern diese Landschaft wiederzugewinnen, erzielte lediglich
einen Augenblickserfolg. Churrätien, d. h. das heutige Graubünden und den Vinschgau, ließen die Merowinger aber nicht mehr aus den Händen und diese Berglandschaft
teilte von nun an, zunächst als eine Art halbselbständiger Kirchenstaat, dann als
Teil des Herzogtums Alamannien-Schwaben, die Geschicke des fränkischen, später
die des ostfränkisch-deutschen Reiches. Weiter noch als die Franken griffen die
unter deren mehr oder weniger lockerer Oberhoheit stehenden Baiern auf dem
Boden Tirols aus. Gegen Ende des 6. Jahrhunderts drangen sie, nachdem sie das
tirolische Inntal besetzt hatten, bis in die Gegend von Säben, wo vorher die Langobarden Fuß gefaßt hatten, und ostwärts über die Mühlbacher Klause hinaus vor.
Slaven und Avaren, die sich, wie im übrigen Norikum, so auch an der Rienz eingenistet hatten, wurden in langjährigen Kämpfen zurückgeworfen und von nun
an bezeichnete die Einöde, in der 769 das Kloster Innichen gegründet wurde, die
Grenze zwischen dem bayrischen Stammesherzogtum und dem Gebiet der slavischen
Karantanen. Die Baiern versuchten sogar, über den Jaufen und den Ritten vorzustoßen. Von der Mitte des 7. Jahrhunderts an beherrschten sie, wenn auch vielleicht
mit einer kurzen Unterbrechung, für längere Zeit das Becken von Bozen und das
Burggrafenamt. Durch einen Gegenangriff, den der Langobardenkönig Liutprand
in oder bald nach dem Jahr 712 durchführte, wurden sie zwar wieder aus dem
Etschland hinausgeworfen. Aber die Gunst der Umstände verschaffte ihnen schließlich doch den Hauptteil dessen, was sie zu haben wünschten. In den Sechzigerjahren
des 8. Jahrhunderts gelangte der bayrische Herzog, dank der Schwäche und dem
Anlehnungsbedürfnis des Langobardenreiches, das bald darauf (774) von den Franken
erobert werden sollte, vertragsmäßig in den Besitz des Bozner Beckens sowie der
Meraner Gegend und von dieser Neuerwerbung vermochten die Baiern jenen Landstrich dauernd zu behaupten, der sich links der Etsch von der Passer bis über die
Talfermündung erstreckt. Dieses Gebiet, das von nun an jahrhundertelang die
bayrische Grenzmark gegen Italien bildete, wurde zur Grafschaft Nurichtal geschlagen, die allem Anschein nach auch Fassa, Buchenstein und einen Teil von
Enneberg in sich schloß, im Norden bis zum Brenner reichte und seit der Einfügung
des Hochpustertals in den bayrischen Herrschaftsbereich an der Mühlbacher Klause
an die Grafschaft der Vallis Pustrissa stieß.
Durch die Kämpfe und Verträge des 6.—8. Jahrhunderts war ein Zustand geschaffen, der die Entwicklung Tirols für ein Vierteljahrtausend bestimmte. Betrachtet man die Verhältnisse genauer, die etwa in den Tagen Karls des Großen in
dem einst von der alpinen Raetia secunda sowie von den Gebieten der Städte Tridentum und Aguntum eingenommenen Raum herrschten, so treten die Möglichkeiten
klar hervor, die sich jetzt dem weiteren Werdegang dieser Landschaft eröffneten.
Der in kirchlicher Hinsicht dem Bistum Chur und damit dem Erzsprengel von
Mainz eingefügte Vinschgau war und blieb vorderhand — nunmehr als Teil der
Grafschaft Oberrätien — immer noch aufs engste mit dem übrigen Churrätien verwachsen, das auch nach seiner Eingliederung in das schwäbische Herzogtum (916)
in seiner Bergeinsamkeit ein Leben für sich führte. Im Inneren Churwalchens hatten
sich weder Alamannen noch Franken in größerer Zahl niedergelassen und in dieser
Landschaft gab das Hochstift Chur dem Romanentum einen festen Rückhalt. Da
die westlichen Teile des pagus Vallenensium oder Poapintal, der von der Finstermünz bis an den Ziller reichte und hier an den pagus inter valles stieß, erst im Verlauf des Mittelalters dem Deutschtum gewonnen wurden, grenzte das einst von
den Venostes bewohnte Talstück, in dem sich keine Ortschaft zu größerer Bedeutung
aufschwang, in der Karolingerzeit fast allerwärts an rein romanisches Gebiet. Es
blieb denn auch — wenigstens in seinen westlichen Teilen — noch lange eine Hochburg des Romanentums, das hier, wie im übrigen Churwalchen sowie in den von
den Baiern beherrschten Gegenden Tirols, kaum berührt von südlichen, aus der
Poebene kommenden Einflüssen, bald ein eigenartiges Gepräge erhielt und so zum
Rätoromanen- oder Ladinertum wurde. Das Herzogtum Trient, das jetzt meist als
Mark oder Grafschaft bezeichnet wurde und etschaufwärts um 830 vorübergehend
einmal bis zur Gegend von Morter reichte, hatte sich den alten Zusammenhang mit
Italien bewahrt, glich den anderen italienischen Landschaften auch darin immer
noch, daß sein weltlich-geistlicher Mittelpunkt eine Bischofstadt war, und konnte
im wesentlichen als romanisches Gebiet gelten, da die hier ansässigen Langobarden
gleich ihren Stammesbrüdern auf der Apenninenhalbinsel im Begriff standen, ihre
Sprache und Volkseigenart einzubüßen, und da die deutschen Einwanderer nur eine
kleine Minderheit in der Bevölkerung des Trienter Etschgebietes ausmachten. Das
Romanentum dieser Mark mußte sich aber — schon wegen der engen, durch Verkehr
und Nachbarschaft bedingten Beziehungen dieser Landschaft zur Poebene — auch
wenn kein Zuzug von Einwanderern aus Süden erfolgte, wenigstens im Bereich des
Etschtals, des wichtigsten Teiles der einstigen regio Tridentina, ähnlich entwickeln,
wie im außeralpinen Venetien. Das Eisacktal vom Säbner Burgfelsen bis hinauf zu
Schloß und Dorf Wipitina (Sterzing) und zum Brenner gehörte gleich dem tirolischen
Inntal als ein Teil des dem Frankenreich eingegliederten Herzogtums Bayern staatsrechtlich wieder zu jenem Gebiet, das ursprünglich die Raetia secunda umspannt
hatte. Den Baiern waren aber auch das Rienztal, der Südostteil des Burggrafenamtes und die weitere Umgebung des ummauerten Bauzanum (Bozen) unterworfen.
Damit waren die alten Verbindungen dieser Gegenden mit dem Ostflügel der Alpen
und mit Italien zerschnitten. Nur kirchlich hing das bayrisch gewordene Stück des
Etschlandes mit dem Bistum Trient und dadurch auch mit dem italienischen Patriarchat Aquileja zusammen. Das Westpustertal dagegen war auch in geistlicher Beziehung mit Bayern vereinigt. Zählte es doch jetzt, da die Stürme des beginnenden
7. Jahrhunderts Stadt und Bistum Aguntum weggefegt hatten, — ebenso, wie das
Eisacktal und der größte Teil des tirolischen Inntals — zum Sprengel des um die
Mitte des 8. Jahrhunderts errichteten Hochstifts Säben, das im Gegensatz zu der
älteren, nach dem Erscheinen der Deutschen in der Brennerfurche untergangenen
ecclesia Sabionensis nicht dem Patriarchen von Aquileja, sondern dem bayrischen
Metropoliten, dem Erzbischof von Salzburg, unterstand. Anders als der Vinschgau
und die Grafschaft Trient, grenzten die Gaue Nurichtal, Vallis Pustrissa, Poapintal
und „intervolles“unmittelbar an den Siedlungsraum eines großen deutschen Stammes, dessen überquellende Volkskraft nach Land verlangte, und in den von den
Baiern beherrschten Alpentälern förderten die Vertreter der Staatsgewalt sowie die
Grundherren geistlichen und weltlichen Standes die Niederlassung deutscher Siedler,
die tüchtige Bauern und im Bedarfsfall verläßliche Verteidiger ihrer Scholle und
ihrer neuen Heimat zu werden versprachen. Selbst die Kirche wirkte in BayrischTirol im gleichen Sinn. Denn die Nordostecke dieses Landes gehörte teilweise zum
Freisinger, größtenteils aber zum Salzburger Sprengel, der Bischof von Trient war
fern, auf dem Säbner Bischofstuhl saßen seit den Tagen Karls des Großen durchwegs Deutsche und das Kloster Innichen war dem Hochstift Freising unterstellt.
So war das Romanentum in den Grafschaften Nurichtal und Vallis Pustrissa, ebenso wie nördlich des Brenners, im Begriff, Schritt für Schritt vor dem neuen Herrenvolk zurückzuweichen. Noch gab es hier reiche Grundbesitzer rätoromanischen
Blutes. Es erscheint aber wie eine sinnbildliche Handlung, wenn in den Jahren
827/828 einer von ihnen, wohl der letzte seines Stammes, seine Güter in den Formen
des bairischen Volksrechtes an das Kloster Innichen vergabte. Wo der Deutsche in
den Alpen Fuß gefaßt hatte, gehörte ihm die Zukunft, zumal er — anders als der
Romane — gewillt und fähig war, sich auch in schwierigem Gelände eine Daseinsmöglichkeit zu ertrotzen. So begann Bayrisch-Tirol schon lange vor jener Zeit, in
der sich das Deutschtum den Hauptteil des einstigen Norikum und das Innere
Churrätiens eroberte, ein Stück des deutschen Volksbodens zu werden.
Vergleicht man den eben geschilderten Zustand, der um 800 in Tirol herrschte,
mit den früher behandelten Verhältnissen, die hier um 500 bestanden hatten, so
tritt deutlich zutage, daß die Entwicklung dieses Landes in dem Zeitabschnitt, der
zwischen diesen beiden Jahrhundertwenden lag, im wesentlichen in jener Richtung
10
fortgeschritten war, die sich an der Schwelle des Mittelalters angekündigt hatte.
Das Berggebiet, das damals die Raetia secunda gewesen war, hatte die Zugehörigkeit
zum italischen Ostgotenreich mit der zum fränkischen Großstaat vertauscht, sich
von seinem westlichen Nachbarland gelöst, wobei ihm allerdings der Vinschgau verloren gegangen war, das Becken von Bozen, ein Stück des Burggrafenamtes sowie
das Westpustertal an sich gezogen und sich im Rahmen des Stammesherzogtums
Bayern und seiner Landeskirche innerlich wie äußerlich wieder eng mit dem nordalpinen Flachland zusammengeschlossen, so daß nunmehr die bayrische Herzogstadt
Regensburg dem Hauptteil Tirols gegenüber eine Stellung einnahm, die an jene
des römischen Augsburg erinnerte. Dadurch war zugleich das von Reschenscheideckund Brennerstraße durchzogene Gebiet, das dem einstigen Norikum infolge des
Erscheinens von Slaven und Avaren in den Ostalpen jetzt noch weit ferner stand,
als im Altertum, derselben völkischen Entwicklung zugeführt, wie das außeralpine
Bayern. Nun hatte freilich der Sturz TassilosIII. (788) dem Herzogtum der Agilolfinger ein Ende gemacht. Allein Mundart, Recht und Sitte hielten das bairische
Stammesgebiet auch jetzt noch trotz seiner straffen Eingliederung in das Frankenreich fest zusammen. Andererseits war aber durch jenen Vorgang und durch die
Einführung der fränkischen Grafschaftsverfassung in Churrätien (805/806) eine
Schranke gefallen, die bisher den Vinschgau vom bayrischen Tirol getrennt hatte.
Ebenso war durch die Vereinigung des langobardischen mit dem fränkischen Reich
(774) die Staatsgrenze belanglos geworden, die seit Alboins Zeit das mittlere alpine
Etschtal gequert hatte.
Der nunmehrige Stand der Dinge im Verkehrsgebiet von Reschenscheideck und
Brenner wie im damaligen Frankenreich überhaupt schuf nun aber auch die Voraussetzungen, unter denen sich jene Landschaft weiter entwickeln mußte. Die Gaue
Poapintal, „inter valles“, Nurichtal und Vallis Pustrissa hatten zur Agilolfingerzeit
innerhalb Bayerns keine Sonderstellung eingenommen und sie erlangten auch durch
den Sturz Tassilos keine solche. Aber das für damalige Verhältnisse übermäßig umfangreiche und der Zersetzung durch das Lehenwesen verfallene Reich Karls des
Großen trug den Keim zur Auflösung in kleine und kleinste Teile in sich, spätere
Herrscher konnten Ursache haben, diese Entwicklung zu fördern, in einer Berglandschaft herrschen andere Verhältnisse, als auf einer Hochebene und Gebirgsbewohner
neigen an sich dazu, ihre eigenen Wege zu gehen. So mochte sich also etwa die Verbindung des inneralpinen mit dem flachländischen Teil des bairischen Stammesgebietes in der Folge etwa auch ohne das Eingreifen einer äußeren Zwangsgewalt
lockern, vielleicht sogar lösen. Kam es so, dann war zwar im Hinblick auf die nunmehrigen völkischen und sonstigen Verhältnisse ein Ausscheiden Tirols aus dem
Verband des Reiches der Karolinger und ihrer Nachfolger nicht zu befürchten. Es
konnte jedoch innerhalb dieses Staates schon während der Jahrhunderte, die der
Zeit des großen Frankenkaisers unmittelbar folgten, im Bannkreis des Reschenscheideckweges und der Brennerstraße ein inneralpines deutsches Herrschaftsgebiet
erwachsen, das sich in übertragenem Sinn als Paßstaat bezeichnen ließ. Ja noch
11
mehr. Erinnert man sich der eben erwähnten Zerfallsmöglichkeiten, die das Karolingerreich in sich barg, vergegenwärtigt man sich, daß die Bozner Gegend gleich
dem halben Burggrafenamt immer noch kirchlich zu Italien gehörte, erwägt man,
daß der frühmittelalterliche Verkehr über Reschenscheideck und Brenner zu dürftig
war, um die Talschaften, die er durchzog, wirtschaftlich aneinander zu fesseln, und
geht man von der Annahme aus, die Entwicklung der völkischen Verhältnisse in
Tirol werde im weiteren Verlauf des Mittelalters unverändert jene Richtung beibehalten, die sie um 800 eingeschlagen hatte, so ist nicht zu verkennen, daß dieses
Land auch einer Aufteilung unter drei Volks- und drei kleine Herrschaftsgebiete
zusteuern konnte und daß politisch noch eine viel weiter gehende Zersplitterung in
Betracht kam. Es mußten indes noch Jahrhunderte vergehen und neue Antriebe
wirksam werden, um in der Geschichte Deutschlands den Zug zur Bildung kleiner
und kleinster Hoheitsgebiete voll zur Geltung zu bringen. Auch ließ sich mit Bestimmtheit vorhersehen, daß infolge der inneren Auflösung des Karolingerreiches
das bayrische Stammesherzogtum wieder erstehen werde, was in der Tat schon im
Jahr 907 geschah. Unter diesen Umständen war aber vorerst zu erwarten, daß die
Berglandschaft, in der sich die Ötztaler, Stubaier und Zillertaler Alpen erheben,
(mit Ausnahme des Vinschgaus und der zur Mark Trient gehörigen Gegenden) noch
lange im festen Verband dieses halbstaatlichen Gebildes verbleiben werde, in dem
die Vindelicia der augusteischen Zeit und die Raetia secunda des 4. Jahrhunderts
in geänderter Gestalt zu neuem Leben erwacht waren.
2. Fürsten und Herren im hochmittelalterlichen Tirol.
Während der Jahrhunderte, die der Zeit Karls des Großen folgten, arbeiteten die
unbewußt schaffenden Kräfte des Volks- und Wirtschaftslebens langsam, aber sicher
daran, die Zersplitterung Tirols in drei Teile völlig zu überwinden. Im 9.—13. Jahrhundert vollendete sich die Eindeutschung der hier von den Baiern beherrschten
Talschaften. Dem Rätoromanentum verblieben nur noch die heute ladinischen
Täler der Dolomiten. Die deutsche Siedlung drang aber auch unaufhaltsam über
die alte Südgrenze Bayerns hinaus vor. Der Nurichtalgau, die Mark Trient und die
im beginnenden 10. Jahrhundert geschaffene Grafschaft, die — zu ChurrätienSchwaben gehörig — außer dem Vinschgau, nach dem sie benannt wurde, auch
das Unterengadin umfaßte und bis zur Passer herabreichte, stießen in der offenen
Weite des Etschtals aneinander. Hier gebot kein Hindernis im Gelände der vorwärtsdrängenden Ausbreitung eines Volkes Halt. Das Burggrafenamt, der Untervinschgau, die Gegend von Lana, das Überetsch und das Bozner Unterland luden —
reich und schön, wie sie waren — den Nordländer ein, sich hier niederzulassen.
Bayrische und schwäbische Bistümer, Klöster und Herrengeschlechter hatten diesseits
wie jenseits der Etsch und der Passer Grundbesitz. Weder die romanische Ostschweiz
noch das Potiefland entsandte landbegehrende Bauern in die Tiroler Alpen und das
12
Hochstift Trient wurde 1004 ein geistliches Fürstentum des deutschen Reiches. So war
also alles der Ausbreitung der deutschen Siedlung in Tirol günstig. Sie flutete denn
auch im Lauf des 9.—14. Jahrhunderts in geschlossenem Strom südwärts bis an den
Noce und den Avisio sowie westwärts bis gegen die Quelle der Etsch und bis gegen
die Enge der Finstermünz. Zu Ende des Mittelalters war, abgesehen von den Tälern
der Dolomiten, nur mehr der Obervinschgau (vielleicht auch noch das ihm benachbarte Stück des Oberinntals) überwiegend romanisch. In völkischer Hinsicht erschien damit die Dreiteilung des Verkehrsgebietes von Brenner und Reschenscheideck überwunden. Überall herrschte in dieser Landschaft, deren bairische Mundart
nur im Nordwesten (Oberinntal und Außerfern) schwäbische Einschläge aufwies,
nunmehr deutsche Sprache und deutsches Wesen, während andrerseits im Süden
des Fürstentums Trient das Romanentum durch Zuwanderung von Kaufleuten,
Notaren und anderen Menschen städtischer Herkunft aus Italien, besonders seit
der späteren Stauferzeit, verstärkt und dem Volkstum der Poebene immer näher
gebracht worden war. Mit dem völkischen Werdegang Tirols hielt dessen Wirtschaftsentwicklung Schritt. Der Verkehr über das Reschenscheideck, den Jaufen
und namentlich den Brenner nahm, besonders seit dem 12. Jahrhundert, immer
mehr zu. Bald nach 1300 fiel mit der Gangbarmachung des Kuntersweges eine
Schranke zwischen dem Etschland und dem mittleren Eisacktal. Bozen wurde ein
wichtiger Umschlagplatz des deutsch-italienischen Handels, nördlich von dieser
Stadt entstanden — zum Teil im Zusammenhang mit dem aufblühenden Bergbau —
an den Verkehrswegen die Städte Meran, Glurns, (Imst), Klausen, Brixen, Bruneck,
Sterzing, Innsbruck, Hall, Rattenberg, Kufstein und Kitzbühel und diese Siedlungen
waren untereinander sowie mit der Talferstadt durch mancherlei wirtschaftliche
Bande verknüpft. So wurde Tirol schon vor dem Ende des Mittelalters in unmerklicher, aber richtunggetreu vorwärtsschreitender Entwicklung zu einer völkisch einheitlichen und innerlich geschlossenen Landschaft, die als eigenartig unter anderm
auch durch den Umstand gekennzeichnet erschien, daß in ihr das Judentum erst
seit dem Ende des 13. Jahrhunderts, also erst weit später als in den ihr benachbarten Gebieten, z.B. im eigentlichen Österreich, einzudringen und im Wirtschaftsleben Bedeutung zu gewinnen begann4).
Diese Landschaft erhielt nun durch ihre die Lebenshaltung ihrer Bewohner beeinflussende Gebirgsnatur ein eigenartiges Gepräge. Auch den Zeitgenossen kam
dies schon sehr früh zum Bewußtsein. Bürgerte sich doch seit dem 8., besonders
aber seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert die Gewohnheit ein, die zu den Bistümern Chur, Brixen und Trient gehörigen Gegenden und namentlich die nachmals
in der Grafschaft Tirol vereinigten Gaue im Gegensatz zu den extra montes gelegenen
4
) Die Geschichte des deutschen Volksbewußtseins in Tirol behandelt — bis zur Gegenwart
ausgreifend — neuerdings Stolz, Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 3
(1933), S. 72—79. Über das Eindringen der Juden in Tirol H. v. Voltelini, Beiträge zur Rechtsgeschichte Tirols, Festschrift, herausgegeben vom Ortsausschusse des 27. deutschen Juristentages (Innsbruck 1904), S. 42—46. Weiteres Schrifttum bei Werunsky S. 564.
13
Teilen Ostschwabens und Bayerns im besonderen Sinn die montes oder montana zu
nennen, ebenso wie man einst zur Römerzeit aus dem gebirgigen Süden Rätiens
stammende Leute als nati monte oder natione montani bezeichnet hatte. Indes gerade jene mittelalterlichen Ausdrücke zeigen, daß man in der deutschen Kaiserzeit
das Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck wie auch das einstige Churrätien lediglich als ein, wenn auch durch besondere Eigentümlichkeiten ausgezeichnetes Stück Bayerns bzw. Schwabens betrachtete — von einer terra montium wurde
erst nach Begründung der Grafschaft Tirol gesprochen — und diese Auffassung entsprach auch vollkommen den Tatsachen. Das damalige Tirol führte ja noch durchaus kein selbständiges Eigenleben und es war jetzt noch enger, als früher, mit dem
nördlichen Alpenvorland verbunden. Denn hatten sich die Baiern des Gebirges im
Frühmittelalter von denen des Flachlandes durch stärkere Aufnahme von Einschlägen
fremden Blutes unterschieden, so war dieser Gegensatz durch das ständige Zuströmen von Einwanderern von Norden her verwischt worden, es hatten schwäbische
und bayrische Hochstifter, Klöster und Herrengeschlechter Grundherrschaften im
tirolischen Inntal, im deutschen Etschland, sowie in den Tälern von Eisack und Rienz
inne, die deutschen Siedler, die sich in diesen Talschaften ansässig machten und in
deren Landbevölkerung aufgingen oder zu Bürgern der Tiroler Städte wurden,
kamen vor allem aus dem außeralpinen Bayern und Schwaben (mit Einschluß des
Oberrheingebietes), Tirol versandte seinen Wein vor allem nach Norden, es bezog
von dorther Getreide und der Durchgangsverkehr strebte hauptsächlich über den
Brenner und das Reschenscheideck den großen Handelsstädten des südlichen
Deutschland zu. So hatten sich also während des Hochmittelalters die Fäden ganz
wesentlich verstärkt, die Tirol mit dem nordalpinen Flachland verknüpften, was
nachmals auch im Bereich des geistigen Lebens, besonders auf dem Gebiet der
Kunst deutlich zum Ausdruck kam.
Diesen Voraussetzungen entsprach die politische Entwicklung. Während die
deutschen Herrscher den zeitweiligen Beziehungen des einst von den Slaven und
Avaren, später aber teilweise von den Ungarn überschwemmten Ostalpenraumes
zu dem 907 wiedererstandenen bayrischen Stammesherzogtum schon früh durch
die Verselbständigung des Herzogtums Kärnten (976) sowie durch die Schaffung
der Herzogtümer Österreich (1156) und Steiermark (1180) ein Ende machten, kam
es in dem zu Altdeutschland und nicht zum deutschen Kolonialgebiet gehörigen,
von jeher mit dem nördlichen Alpenvorland eng verbundenen Verkehrsbereich
von Brenner und Reschenscheideck zu keinen solchen Maßnahmen. Die bayrischen
Herzoge wahrten dauernd ihre Rechte über die Grafschaft Unterinntal, die Nachfolgerin des pagus inter volles, vereinigten sie aufs engste mit ihrem unmittelbaren
landesherrlichen Besitz und hielten den damit geschaffenen Zustand bis 1504 aufrecht. Daran erinnert noch heute die Tatsache, daß die Grenze zwischen der südund der mittelbairischen Mundart das Inntal bei Jenbach quert. Jene Fürsten
betrachteten aber — dies beweist unter anderm die um 1150 in Regensburg entstandene deutsche Kaiserchronik — auch das übrige Bayrisch-Tirol noch in der
14
Stauferzeit als die Südmark ihres Herzogtums und sie erlangten noch 1281 einmal
beim deutschen König die grundsätzliche Anerkennung ihrer herzoglichen Rechte
gegenüber dem schon längst mit weltlicher Fürstengewalt ausgestatteten Bischof
von Brixen. Daß die landrechtliche Zugehörigkeit des tirolischen Inn-, des Eisackund des Rienztals zu Bayern im ausgehenden 13. Jahrhundert noch nicht vergessen
war, beweist auch die Tatsache, daß sich Graf Meinhard II. von Tirol der Verpflichtung zum Besuch bayrischer Hoftage nur dadurch entziehen konnte, daß er sich
1282 mit rechtlich nicht ganz unangreifbarer Begründung bescheinigen ließ, seine
Grafschaft Vinschgau sowie der Wohnsitz seines Geschlechtes lägen außerhalb
Deutschlands und er unterstehe weder dem schwäbischen noch dem bayrischen
Herzog5).
Allein der Zug zur Bildung kleiner Herrschaftsgebiete machte sich während der
deutschen Kaiserzeit, wie anderwärts, so auch im Umkreis der Tiroler Bergtäler
trotzdem geltend. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts schien es, als werde hier das
berühmte Geschlecht der Welfen, dessen Macht im außeralpinen Schwaben und
Bayern wurzelte, eine überragende Stellung gewinnen. Denn es war auch im westlichen Tirol nördlich wie südlich der Hauptwasserscheide reich begütert, vor 1027
übte Welf II., einer der namhaftesten kleineren Herren Süddeutschlands, gräfliche
Rechte im Nurichtalgau sowie im mittleren und oberen tirolischen Inntal, damals
befand sich vielleicht auch die Grafschaft Vinschgau in welfischer Hand6), und
blieb das Welfenhaus im Besitz all dieser Güter und Befugnisse, so war damit die
Grundlage für die Entwicklung eines ansehnlichen, die Wege über Brenner und
Reschenscheideck beherrschenden Hoheitsgebietes gegeben, das, entsprechend
erweitert, ein halbstaatliches Gebilde nach Art der späteren Grafschaft Tirol werden
und in eine engere Verbindung mit den außeralpinen Besitzungen der Welfen treten
konnte. Aber unter dem Einfluß allgemeiner Voraussetzungen und besonderer
Veranlassungen kam es anders. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts war
das deutsche Königtum noch stark genug, die Gestaltung der politischen Verhältnisse in den einzelnen Landschaften seines Reiches in ausschlaggebender Weise
zu beeinflussen, und es hatte seit dem Eingreifen Ottos I. im Potiefland (951), der
Vereinigung der Kronen von Deutschland und Italien und der Erneuerung des
römischen Kaisertums (962) triftige Gründe, sich die Tiroler Alpenpässe und den
Zugang nach dem handelswichtigen Venedig zu sichern. Zunächst waren weltliche
Fürsten mit der Aufgabe betraut worden, die Verbindung Deutschlands mit dem
Ostteil der oberitalienischen Tiefebene und mit der Adria offen zu halten. Im Jahr 952
hatte Otto I. seinem Bruder, dem Bayernherzog Heinrich, die Verwaltung der
5
) Meine Ausführungen über die diesbezügliche, von Bischof Konrad von Chur am 20. 1. 1282
ausgestellte Urkunde (Archiv für österreichische Geschichte 106, 1915, S. 121—156) halte
ich auch jetzt noch für richtig. Die dagegen von Stolz in seinen einschlägigen Bemerkungen
(Schlernschriften 9, 1925, S. 461 f., 466—471) erhobenen Einwände scheinen mir in der Hauptsache nicht begründet zu sein.
6
) Letzteres vermutet F. Huter, Schlern 16 (1935), S. 305.
15
bereits seit langem von den bayrischen Herzogen begehrten Mark Verona übertragen,
die das Gebiet der einstigen Römerprovinz Venetia et Histria mit Ausnahme einiger
Küstenstriche umfaßte. Diese Maßnahme hatte allerdings bald wieder ihre Bedeutung verloren. Sie war aber in geänderter Form nach 24 Jahren wieder erneuert
worden, indem die Veroneser Mark im Jahr 976 dem Herzog des von Bayern abgetrennten Kärnten unterstellt worden war. Indes in schwierigen Zeitläuften vermochten nur örtliche, dem Reich unbedingt gehorchende Mächte die Berner Klause
und den Brennerweg wirksam zu hüten. Tatsächlich sperrten denn auch aufständische Italiener 1003 einem deutschen Heer und im folgenden Jahr dem König
Heinrich II. selbst die südlichen Ausgänge des alpinen Etschtals. Die verläßlichsten
Stützen der Krone waren im damaligen Deutschland die zu den Reichsfürsten
gerechneten Bischöfe und Äbte, die — von Otto I. und seinen Nachfolgern vielfach
mit Grafengewalt ausgestattet — nach geltendem Recht unter dem maßgebenden
Einfluß der Herrscher gewählt oder von diesen geradezu ernannt wurden, auf jeden
Fall aber von ihnen in die weltlichen Hoheitsbefugnisse eingewiesen werden mußten.
Denn noch waren die Zeiten nicht gekommen, in denen das Papsttum die unbedingte
Freiheit der kirchlichen Wahlen forderte und sie dann selbst zu seinen eigenen
Gunsten beseitigte, die dem deutschen König geschworenen Eide der durch Annahme
von Lehen zu Reichsbeamten gewordenen Pfaffenfürsten, wie die ihrer weltlichen
Standesgenossen gegebenenfalls ohne Bedenken im Dienst der Politik für unverbindlich erklärte, die Freiheit und Unabhängigkeit Deutschlands aufs schwerste
bedrohte und den Traum einer politischen Weltherrschaft Roms zu verwirklichen
suchte. Heinrich II. verlieh daher 1004 dem Bischof von Trient die dessen Stadt
in sich schließende Grafschaft. Dadurch entstand ein neues geistliches Fürstentum
des deutschen Reiches. Aber auch deutsche Empörer konnten ihrem Herrn den Weg
durch die Tiroler Alpen verlegen. Auf diese Möglichkeit machte das Jahr 1027
aufmerksam. Damals bedrohte eine Fürstenverschwörung, der unter andern Welf II.,
vielleicht auch der damalige Graf des Vinschgaus und Unterengadins, angehörte,
den in Italien weilenden Kaiser Konrad II. im Rücken. Die Niederwerfung der
Aufrührer eröffnete dem Salier eine günstige Gelegenheit, ähnlichen Gefahren
für die Zukunft vorzubeugen und den Weg über den Brenner, vielleicht auch den
über das Reschenscheideck, sicheren Händen anzuvertrauen. Er gab den südlich
der Grenze zwischen dem Brixner und Trienter Bistum gelegenen Teil des Nurichtalgaus als Grafschaft Bozen an den Bischof von Trient, das ganze übrige Gebiet
aber, das bisher der Grafengewalt Welfs II. unterworfen gewesen war, an das Hochstift Brixen, das damit gleichfalls ein weltliches Herrschaftsgebiet bekam. Vielleicht
erhielt der Bischof von Trient damals auch die Grafschaft Unterengadin-Vinschgau7).
7
) Zu den Grafschaftaverleihungen von 1004 und 1027 zuletzt Heuberger, Schlern 8 (1927),
S. 181-190, 283 (vgl. auch Schlern 9, 1928, S. 43-54, 152, 233 f., Schlern 11, 1930, S. 396),
Huter, Veröffentlichungen des Ferdinandeums 12 (1932), S. 51—67 und L. Santifaller, Historisches Jahrbuch der Görresgesellschaft 54 (1934), S. 476—479. Nach Huter (S. 64-67)
gehören die auf die Grafschaft Vinschgau bezüglichen Worte, die von K. Moeser, O. Stolz
16
Damit war die Aussicht auf das baldige Erwachsen eines bedeutenden und etwa
auch mit außeralpinen deutschen Herrschaftsgebieten verbundenen weltlichen
Hoheitsbereiches in Tirol erledigt und es hatten hier dank der Gunst der Herrscher
Träger des Krummstabes die Macht in die Hand bekommen. Das Werk von 1004
und 1027 fand noch vor dem Ende des 11. Jahrhunderts seinen letzten Abschluß.
Staatliche wie halbstaatliche Gebilde wollen wachsen und der Blick der Brixner
Bischöfe war naturgemäß vor allem auf die zu ihrem Sprengel gehörige, zwischen
ihrem weltlichen Hoheitsbereich und dem kärntnerischen Lurngau eingekeilte
Grafschaft der Vallis Pustrissa gerichtet. Die reichstreue Haltung Bischof Altwins
im Kampf zwischen Kaiser und Papst — im Sommer 1080 wurde bekanntlich
zu Brixen von einer Kirchenversammlung Gregor VII. der Gehorsam gekündigt
und Wibert von Eavenna zum Papst gewählt — verhalf jenem Kirchenfürsten
zu dem, was er wünschen mochte. Im Jahr 1091 erhielt er von Heinrich IV. die
Grafschaft Pustertal und wurde dadurch zum weltlichen Herrn im ganzen Umkreis
seines Sprengels.
Durch die Grafschaftsverleihungen an die Bischöfe von Trient und Brixen waren
im Verkehrsbereich von Brenner und Reschenscheideck ganz oder — wenn der
Vinschgau wirklich an die Kirche des heiligen Vigilius gekommen sein sollte —
fast ganz im Anschluß an die kirchliche Einteilung zwei halbstaatliche Gebilde
geschaffen worden. Jene Verfügungen Heinrichs II., Konrads II. und Heinrichs IV.
bildeten aber zugleich auch den Anfang zu einer politischen Vereinheitlichung
der Landschaft, die man nachmals die terra montium nannte. Mit der Einfügung
der Mark Trient in den deutschen Reichsverband war die das alpine Flußgebiet
der Etsch durchquerende Staatsgrenze des früheren Mittelalters völlig beseitigt,
die, unter Karl dem Großen bedeutungslos geworden, unter dessen Nachfolgern
wieder zwei selbständige Reiche von einander getrennt hatte. Der Trienter Fürstbischof erkannte nur den deutschen König als seinen Herrn an und dies kann auch
auf das Verhältnis der Grafschaft Bozen zum bayrischen Herzogtum nicht ohne
Wirkung geblieben sein. Dem bayrischen Herzog stand aber nunmehr auch der Bischof
von Brixen unabhängiger gegenüber, als früher. Endlich änderte sich seit den Tagen
der Salier auch das Verhältnis der Grafschaft Vinschgau zu ihren Nachbargebieten.
Sie war vielleicht 1027 in den Besitz des Hochstifts Trient gekommen oder wurde
später wenigstens dem Namen nach ein Lehen dieser Kirche, als das sie im 13. Jahrhundert galt, und ihr verfassungsrechtlicher Zusammenhang mit dem Herzogtum
Schwaben muß sich auf alle Fälle während der späteren deutschen Kaiserzeit
gelockert haben. Um 1280, also wenige Jahrzehnte nach dem Untergang der Staufer,
der die Auflösung des Herzogtums Alamannien zur Folge hatte, wußte man in
und mir für einen nachträglichen Einschub gehalten wurden, zum echten Bestand der Urkunde
Konrads II. vom 1. Juni 1027 (Monumenta Germaniae, Diplomata 4, 1909, S. 144, Nr. 102),
die von der Schenkung der Grafschaften Vinschgau und Bozen sowie des Forstes auf dem
Ritten an das Hochstift Trient handelt. Trifft diese Ansicht zu, so muß wohl angenommen
werden, daß auch der Graf des Vinschgaus an dem Aufruhr gegen Konrad II. beteiligt war.
2
17
Chur angeblich nichts mehr von einer Abhängigkeit des Vinschgaugrafen vom
schwäbischen Herzog. Andrerseits spannen sich dank der Entwicklung der völkischen Verhältnisse sowie des Verkehrs und infolge politischer wie verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen den führenden Adelsgeschlechtern des Inn-,
Sill-, Eisack- und Etschtals immer festere Fäden zwischen dem Brixner Fürstentum,
der Mark Trient und der Grafschaft Vinschgau. Unter diesen Umständen und infolge der Lage seines Schwerpunktes im Osten mußte daher das letztgenannte
Herrschaftsgebiet, selbst wenn es 1027 nicht an die Trienter Bischofskirche gekommen
war, auch innerlich immer mehr aus dem churrätischen Kreis heraustreten, um sich
dafür den östlichen Nachbarlandschaften zu nähern und anzugleichen. So war
Tirol in den Tagen der Salier — politisch betrachtet — geteilt und doch gewissermaßen zu einer Einheit zusammengeschlossen, was dem Begriff montana einen
neuen Beigeschmack verlieh und der Zukunft des Verkehrsgebietes von Brenner
und Reschenscheideck neue Möglichkeiten eröffnete.
Hätten die Bischöfe von Brixen und Trient ihre Herrschaftsrechte zu behaupten
und zu erweitern verstanden, so würde es wohl endgiltig zur Aufteilung Tirols unter
zwei geistliche Fürsten und niemals zur Entstehung der Grafschaft Tirol gekommen
sein. Die Dinge sollten sich aber anders wenden. Verfassung und Gesamtzustand
Deutschlands waren seit der zweiten Hälfte des 11. und der ersten des 12. Jahrhunderts in tiefgehender Umwandlung begriffen. Im Abwehrkampf gegen Kirche
und Fürstentum schmolzen die Macht der Herrscher und das Reichsgut immer
mehr zusammen und die Könige konnten seit dem Investiturstreit nicht mehr unbedingt auf die Treue der Pfaffenfürsten zählen. Unter diesen Umständen hörten
die reichen Schenkungen der Herrscher an Hochstifter und Klöster allgemach
auf. Andrerseits wurden die Vögte, die weltlichen Schutzherren der Reichskirchen,
oft genug übermächtig und die Gewohnheit der hochmittelalterlichen Fürsten,
große Teile ihres Landes durch Lehensleute verwalten zu lassen, führte, da Lehenrechte leicht zu bloßem Schein verblaßten, namentlich in Süd- und Westdeutschland,
vielfach zur Auflösung der Reichsfürstentümer in eine Anzahl kleiner selbständiger
Herrschaften. All dies lenkte auch die Entwicklung Tirols in eine neue Bahn. Die
Bischöfe von Brixen und Trient gaben gleich den meisten ihrer Standesgenossen
den größten Teil ihrer Grafschaften sowie die Vogtei über ihre Hochstifter an weltliche Große zu Lehen und zwar — was besonders bedenklich sein mußte — teilweise an auswärtige, an sich schon mächtige Herren. Die große und räumlich seitabgerückte Vinschgaugrafschaft war zudem vielleicht erst spät und nur der Form
nach Trienter Lehen geworden. Die unausbleiblichen Folgen des eben angedeuteten
Verfahrens der Bischöfe stellten sich bald genug ein. Die Kirchenfürsten, die fast
ganz Tirol beherrscht hatten, wurden nach und nach durch ihre Vögte und Lehenträger enteignet, gerieten ganz in deren Gewalt und der Verkehrsbereich von Brenner
und Reschenscheideck löste sich im 12. und im beginnenden 13. Jahrhundert tatsächlich in eine Reihe von Herrschaftsgebieten auf, die aus alten Gaugrafschaften
und Stücken von solchen gebildet, zum Teil auch mit Landschaften des außer18
alpinen Bayern in Beziehung gebracht waren. Die Zersplitterung des Landes wurde
dadurch noch größer, daß die Bischöfe von Brixen, Trient und Chur, ihre mächtigen
Lehensleute und auswärtige Große geistlichen wie weltlichen Standes, so die Bischöfe
von Freising, denen die Hofmark Innichen gehörte, in verschiedenen Gegenden Tirols
über Eigenleute und reichen Grundbesitz verfügten, so daß sich gerichts-, leib- und
grundherrliche Rechte mannigfach durchkreuzten. Das nachmals terra montium
genannte Land war also jetzt in kleine, untereinander durch die verschiedensten
Fäden verknüpfte Teile zerschlagen, die sich naturgemäß unter der Hand der tatsächlichen Machthaber, d. h. der führenden Herrengeschlechter wieder irgendwie
zu größeren politischen Einheiten zusammenballen mußten. Mit anderen Worten:
Es war eine Lage geschaffen, die mit innerer Notwendigkeit auf die Begründung
einer oder mehrerer weltlicher Herrschaften im Bereich der durch Reschenscheideck
und Brenner miteinander verbundenen Täler hindrängte, wobei auch noch die
Möglichkeit einer Angliederung einzelner Gegenden Tirols an Gebiete des nördlichen Alpenvorlands in Frage kam.
Es begann denn auch sofort ein Ringen der in Betracht kommenden Großen
um das politische Erbe der Bischöfe von Brixen und Trient, ein Ringen, über dessen
Ausgang Macht und Fähigkeit der Wettbewerber, die Gunst des Augenblicks und
das Eingreifen des Zufalls entscheiden mußten. Zunächst waren dabei die Grafen
von Eppan in der Vorhand, die sich später auch Grafen von Ulten nannten und vermutlich von den älteren Welfen abstammten8). Seit Beginn des 12. Jahrhunderts
hatten sie außer reichem Grundbesitz in Judikarien, im Nonsberg, im Sarntal,
in Passeier, auf dem Ritten und im Pustertal die von der Mark Trient abgetrennte
Grafschaft Eppan inne, die die Gegend von Eppan, Tisens und Lana sowie das Tal
Ulten umfaßte. Arnold III. von Morit-Greifenstein, der einem Zweig der Eppaner
Sippe angehörte, gebot, wie schon sein Vater, in der Grafschaft Bozen, war hier
und anderwärts reich begütert, übte die Vogtei über das Kloster Innichen und
läßt sich überdies von etwa 1125 bis 1165 als Vogt des Hochstifts Brixen nachweisen. Den Spuren ihrer Ahnen folgend, waren also die Enkel der Welfen daran,
sich in den montana ein ansehnliches Herrschaftsgebiet zu schaffen. Als überlegene
Nebenbuhler der Grafen von Eppan traten aber Edelherren auf, deren Macht ursprünglich außerhalb des Sprengels und möglicherweise bzw. sicher auch außerhalb des
Hoheitsgebietes der Bischöfe von Trient und Brixen wurzelte. Da waren zunächst
die Herren des Vinschgaus, die sich nachweislich seit 1141 nach ihrem Hauptschloß
als Grafen von Tirol bezeichneten und durch den Umstand, daß der Schwerpunkt
ihrer Stammgrafschaft in deren Ostecke lag, veranlaßt werden mußten, nach Erweiterung ihres Einflusses und ihres Herrschaftsbereiches auf dem Boden des
Trienter und des Brixner Bistums zu streben. Bertold I. von Tirol verwaltete in
den Jahren 1154—1156 die Schutzherrschaft über das Hochstift Trient, die von
nun an seinem Haus verblieb. Er und sein Bruder Albert I. besaßen außer der
8
) Über die ältere Geschichte der Grafen von Eppan jetzt Huter, Schlern 16, S. 304—309,
394—400 (wird fortgesetzt).
2*
19
Grafschaft Vinschgau ausgedehnten Grundbesitz in verschiedenen Teilen des Landes
und Gerechtsame in Kärnten, vielleicht auch die Grafschaft Nurichtal. Der freiwillige
oder erzwungene Verzicht Arnolds III. von Morit-Greifenstein auf die Brixner Vogtei,
der kinderlose Tod dieses Bozner Grafen (vor 1173) und unglückliche Fehden mit den
Vinschgaugrafen untergruben die Machtstellung des Hauses Eppan. Schon dies
allein gab den tirolischen Brüdern einen entschiedenen Vorsprung. Diese scheinen
es aber sogar verstanden zu haben, die durch jenen Todesfall gegebene Gelegenheit
zu nützen und Mitbesitz an der Grafschaft Bozen zu erwerben. Die Grafen des
Vinschgaus mußten naturgemäß des weiteren danach trachten, ihren Hoheitsbereich
gegen Norden und Nordosten hin, also auf dem Boden des Brixner Sprengels, in
umfassender Weise auszudehnen. Derartigen Bestrebungen scheint indes fürs erste
die Familienpolitik des Bischofs Otto von Brixen (1165—1170) einen Riegel vorgeschoben zu haben. Dieser Kirchenfürst war ein Mitglied des mächtigen oberbayrischen Geschlechtes der Andechser, das unter anderem die den Tiroler Bergen
nahen Grafschaften Diessen, Werdenfels und Wolfratshausen besaß und 1180
das Recht zur Führung des Titels eines Herzogs von Meranien sowie die Aufnahme
in den jüngeren Reichsfürstenstand erlangen sollte. Er verschaffte nun, wie es
scheint, seinem Haus die Brixner Vogtei, die Grafschaft im mittleren Inntal und
wahrscheinlich auch die Grafschaft der Vallis Pustrissa. Damit hatte in unerwarteter
Wendung eines der einflußreichsten Fürstengeschlechter des außeralpinen Deutschland zu beiden Seiten des Brenners Fuß gefaßt. Bischof Konrad benützte zwar
1209 die Ächtung Graf Heinrichs IV. von Andechs, Markgrafen von Istrien, wegen
angeblicher Mitschuld an der Ermordung König Philipps, um die Brixner Lehen
der Andechser einzuziehen und dadurch die Machtstellung dieses Geschlechtes
in seinem Fürstentum zu beseitigen. Dieser Erfolg kam aber vor allem einem Mann
zugute, der dem Bistum Brixen gefährlicher werden sollte, als die Andechser:
dem damals noch jugendlichen aber schon vollkräftigen Grafen Albert II. von
Tirol. Dieser nötigte um 1210 Bischof Konrad, ihm die Schutzherrschaft über das
Hochstift zu übertragen. Bald darauf übte er auch nachweislich gräfliche Rechte
im Eisacktal aus. War das Fürstentum Brixen damit einigermaßen vom Regen
in die Traufe gekommen, so ging ihm 1232 auch der Rest dessen verloren, was
es 23 Jahre vorher gewonnen hatte. Denn in jenem Jahr mußten die sämtlichen
Lehen des Hauses Andechs mit Ausnahme der Bistumsvogtei dank dem Eingreifen
Kaiser Friedrichs II. wieder an einen Angehörigen jenes Geschlechtes, Herzog
Otto I. von Meranien, gegeben werden. Daß dieser Fürst bald darauf (1234) starb,
verbesserte die Lage des Hochstiftes Brixen nicht. Denn er hinterließ einen Sohn,
der gleichfalls Otto hieß, hatte zu dessen Vormund Albert II. von Tirol bestellt,
dieser mächtige Graf, dem Söhne fehlten, vermählte seine Tochter Elisabeth mit
seinem Mündel und zwang, um eine dauernde Vereinigung des tirolischen und andechsischen Besitzes zu sichern, im Jahr 1241 den Bischof Egno von Brixen, ihm
selbst und seinem Schwiegersohn ihre beiderseitigen Hochstiftslehen gemeinsam
und zu ungeteilter Hand zu verleihen.
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Erhoben sich so in den Dreißigerjahren des 13. Jahrhunderts zwei Herrengeschlechter zu führender Stellung in den montana — die zusammengeschmolzene
Macht der Grafen von Eppan war damals in weiterem Rückgang begriffen — und
verlor dabei das Bistum Brixen den größten Teil seiner weltlichen Macht, so ergingen
zur selben Zeit kaiserliche Verfügungen, die, wenn sie dauernd in Geltung blieben,
das deutsche Reichsfürstentum Trient beseitigten. Wie einst Heinrich II. und
Konrad II., so wollte sich auch Friedrich II. den Brennerweg unbedingt sichern.
Der Staufer verfuhr dabei aber anders, als seine Vorgänger, da er sich bei der nunmehrigen Stellung der deutschen Pfaffenfürsten und der ständigen Angriffsbereitschaft der Kurie auf Bischöfe nicht mehr ganz verlassen konnte und da er vor
allem als König von Sizilien sowie als Beherrscher des von seinen Beamten verwalteten Reichsitalien dachte und handelte. Er nahm 1236 die weltliche Verwaltung
des Fürstentums Trient dem Bischof, übertrug sie einem kaiserlichen Podestà
und schlug spätestens 1239 das Gebiet des ganzen Trienter Hochstifts zum italienischen Generalvikariat der Mark Treviso. Dadurch und durch die nunmehrige
Gestaltung der politischen Verhältnisse im mittleren und nördlichen Tirol war
eine völlig neue Sachlage gegeben. Die montana schienen an einem Wendepunkt
ihrer Geschicke angelangt zu sein.
3. Die Entstellung der Grafschaft Tirol.
Die Verhältnisse, die um 1240 in Tirol herrschten, erinnerten an jene, die hier
zu Beginn des 11. Jahrhunderts bestanden hatten. Wieder durchschnitt die Grenze
zwischen dem deutschen und dem italienischen Reich das alpine Flußgebiet der
Etsch, diesmal sogar noch etwas weiter im Norden, als vor 1004, da sie jetzt nicht
südlich, sondern nördlich von Bozen verlief und da die Zugehörigkeit der Grafschaft Unterengadin-Vinschgau zu Deutschland wegen der nunmehrigen lehenrechtlichen Abhängigkeit dieses Amtssprengels von Trient als zweifelhaft erscheinen
konnte. Wieder schien ferner, da ja Herzog Otto II. von Meranien nach dem Tod
seines Schwiegervaters Alleinbesitzer sämtlicher Brixner Lehen der Häuser Andechs
und Tirol werden sollte, ein führendes süddeutsches Geschlecht, das trotz seines
Fürstenranges landrechtlich dem bayrischen Herzog unterstand, in den montana
ein verhältnismäßig sehr ansehnliches Herrschaftsgebiet zu gewinnen und es dauernd
mit seinen außeralpinen Besitzungen zu verbinden; was das noch vorhandene, aber
bereits etwas erschlaffte politische Band neuerdings festigen mußte, das das Kernstück Tirols mit dem nördlichen Alpenvorland verknüpfte. Unter diesen Umständen
war aber zum mindesten eine dauernde Trennung der Grafschaften Trient, Bozen
und Eppan von Deutschland zu befürchten und zu erwarten, daß sich der Hauptteil
des nachmals terra montium genannten Landes wieder enger dem Verband des
Herzogtums Bayern einfügen werde, wenn auch nicht so fest, wie die Grafschaft
des Unterinntals.
21
Ein Umschwung in der großen europäischen Politik und das Eingreifen von
Zufällen fügten es aber anders. Das Reich Friedrichs II. brach mit dem Tod dieses
Herrschers (1250) und seines Sohnes, Konrads IV. (1254) dank der unversöhnlichen
Feindschaft des politischen Papsttums zusammen. Dies und der Untergang des
oberitalienischen Ghibellinenführers Ezzelino da Romano (1259) zwangen den
Podestà von Trient, dem Bischof 1255 teilweise und 1259 gänzlich wieder das Feld
zu räumen, und in den Tagen König Rudolfs von Habsburg fügte sich das Fürstentum
Trient aufs neue staatsrechtlich dem Verband des deutschen Reiches ein. Andrerseits starb der junge Herzog Otto II. von Meranien schon 1248 als der letzte seines
Stammes. So fielen nun seine Brixner Lehen an seinen Schwiegervater. Im selben
Jahr erlosch aber auch der Hauptzweig der Grafen von Eppan-Ulten und Albert II.
von Tirol verstand es, die Lehen dieses Geschlechtes durch starken Druck auf den
Bischof von Trient im Jahr 1253 gleichfalls an sich zu bringen. Der Graf von Tirol,
der schon in den Tagen Kaiser Friedrichs II. solches Ansehen genossen hatte, daß
er in den Urkunden dieses Herrschers gemeinhin vor allen anderen Grafen und
unmittelbar nach den Reichsfürsten genannt worden war, vereinigte also kurz
vor seinem Tod, der in den Juli des Jahres 1253 fallen sollte, mit einem guten Teil
des alten eppanischen Besitzes alles, was die Andechser und seine eigenen Vorfahren
innegehabt hatten. Er beherrschte damit in seinen letzten Lebenstagen außer
dem Unterengadin den größten Teil Tirols und das ihm gehorchende Gebiet wurde
schon 1254 von seinen Erben als ein dominium und zwei Jahre später vom Trienter
Bischof als comecia Tyrolis bezeichnet. Es war also nicht zu dem gekommen, was
um 1240 zu erwarten gewesen war, und auf dem Boden der wieder ganz in den
deutschen Reichsverband zurückkehrenden montana hatte sich eine mit keinen
außeralpinen Herrschaftsgebieten verbundene Grafschaft Tirol zu bilden begonnen.
Was Albert II. am Schluß seines langen Wirkens — er hatte seinen Vater schon
1190 verloren und war um 1205 mündig geworden — an Lehen besaß, bildete aber
noch keine räumlich geschlossene, durch und durch gleichartige Einheit, war vielmehr nichts als eine Ansammlung verschiedenster Herrschafts- und Hoheitsbefugnisse, deren rechtliche Grundlage noch dazu teilweise bestritten werden konnte.
Zudem besaß der Graf außer der in zweiter Ehe mit dem bayrischen Grafen Gebhard
von Hirschberg vermählten Elisabeth noch eine andere Tochter, Adelheid, die Gemahlin Graf Meinhards IV. von Görz, und die Sitte der Zeit forderte beim Vorhandensein mehrerer gleichberechtigter Kinder, auch wenn es sich um Besitz an Land und
Leuten handelte, die Teilung des Erbes. So hatte denn auch Albert II. seinen beiden
Töchtern die Nachfolge in seine Lehen zu sichern gesucht und ein Jahr nach seinem
Tod, also 1254, teilten sich seine beiden Schwiegersöhne in seine Hinterlassenschaft
so, daß Graf Gebhard, der sich 1253 „Herr von Tirol“ genannt hatte und von nun
an den Titel eines „Herrn des Inntals“ führte, die Schirmvogtei über das Hochstift
Brixen sowie alle Eigengüter und Lehen bekam, die östlich von der Prienner Brücke
(bei Zams) und nördlich von der Oberauer Holzbrücke (südlich der Mittewalder
Klause) lagen, während Graf Meinhard (als Beherrscher Tirols I.) alles übrige erhielt.
22
Dazu versuchte Bischof Egno von Trient, der noch dem Haus Eppan angehörte,
wiederholt, wenigstens teilweise zurückzugewinnen, was sein Fürstentum an weltlichen Hoheitsrechten eingebüßt hatte. Es schien damit dem, was der letzte der
alten Vinschgaugrafen geschaffen hatte, der Untergang und der jungen Grafschaft
Tirol neuerlich die Aufteilung zu drohen. In Wahrheit verhielt es sich aber anders.
Graf Gebhard von Hirschberg war nicht der Mann, die Rolle der Andechser zu
übernehmen, da sein Hausbesitz weitab von den montana lag und da er den Angelegenheiten dieses Gebietes von anfang an fernstand. Graf Meinhard von Görz
dagegen war durch das, was ihm seine Vorfahren hinterlassen hatten, mit dem
Südosten der Alpen verwachsen und seit Jahren in die tirolischen Dinge verwickelt.
An sich schon mächtig und an rücksichtsloser Tatkraft seinem Schwiegervater
ebenbürtig, war er befähigt und berufen, dessen politisches Erbe anzutreten. Diesem
gefährlichen Gegner aber war der durch Angriffe oberitalienischer Mächte, Aufstände adeliger Lehenträger und Erhebungen der Trienter Bürgerschaft bedrängte
Bischof von Trient nicht im entferntesten gewachsen. Unter diesen Umständen
waren die Bestrebungen dieses Kirchenfürsten von vornherein zum Scheitern
verurteilt und der Teilung von 1254 konnte umsoweniger Dauer beschieden sein,
als aus der Ehe Elisabeths von Tirol mit Graf Gebhard keine Kinder, aus der ihrer
Schwester mit Graf Meinhard dagegen zwei Söhne, Meinhard II. und Albert III.
hervorgegangen waren. Man hatte denn auch bereits bei dem Teilungsvertrag von
1254 mit der Möglichkeit einer Veräußerung der hirschbergischen Besitzungen im
Inntal und in der Brennerfurche gerechnet und Meinhard I. hatte sich und seinen
Nachkommen schon damals für diesen Fall das Vorkaufsrecht gewahrt. Den Bischof
von Trient aber zwang der Graf von Görz-Tirol in den Jahren 1254—1256, ihm
zu verleihen, was sein Schwiegervater vom Hochstift zu Lehen getragen hatte, ja
ihm sogar noch weitere aus dem Besitz des Hauses Eppan-Ulten stammende Lehen
zu übertragen. Damit war dem Görzer Geschlecht die beherrschende Stellung im
Fürstentum Trient und der Anspruch auf das gesamte Erbe Alberts II. gesichert.
Endgiltig befestigt, vollendet und dadurch für die Zukunft gerettet wurde das
Lebenswerk des letzten Grafen aus dem Haus Tirol aber erst durch Meinhard II.
Dieser Mann besaß alles, was zur Lösung einer solchen Aufgabe nötig war: Volle
Kenntnis der Welt, in der er sich bewegte, richtiges Augenmaß und untrügliches
Urteil in Dingen der Politik, Sinn für Wirtschaft und Verwaltung, eine glückliche
Hand in der Wahl seiner Mittel und Werkzeuge, Geschicklichkeit in der Leitung
kriegerischer Unternehmungen und im Führen von Verhandlungen, die Gabe,
jede Gunst der Lage blitzschnell zu erfassen, die Fähigkeit, zu erkennen, was Umstände und Zeit forderten, und vor allem eine vor nichts zurückscheuende Willens-,
Entschluß- und Tatkraft. Erst 19 Jahre alt, vereitelte er nach dem Tod seines
Vaters (1258) durch rasches, rücksichtsloses Zugreifen den Versuch Bischof Egnos,
die Eppaner-Ultner Lehen wieder an das Hochstift Trient zurückzunehmen. In
der Folge brachte er dann durch gewalttätige, hemmungslose und dabei doch wieder
kluge Auswertung jedes günstigen Augenblicks trotz Bann und Interdikt die nörd23
lich vom Noce und vom Avisio gelegenen Landstriche des Fürstentums Trient,
das er zeitweise ganz beherrschte, sowie Pergine (Val Sugana) in seine Gewalt,
während er zugleich das unmittelbare Hoheitsgebiet des Bischofs von Brixen auf
einige Gerichte des Eisacktals, des Pustertals und der Dolomitentäler beschränkte.
Die durch den Tod Elisabeths von Hirschberg geschaffene Lage nützte er dazu aus,
für sich und seinen Bruder im Jahr 1263 durch eine schiedsgerichtliche Auseinandersetzung mit Graf Gebhard mit Ausnahme einiger inntalischer Besitzungen alles
zu gewinnen, was dieser neun Jahre früher erhalten hatte. Ein im Jahr 1271 abgeschlossenes, vier Jahre später durch Nachtragsbestimmungen ergänztes Teilungsabkommen zwischen den Söhnen Meinhards I., das die Mühlbacher Klause zur
Grenze zwischen den Herrschaftsgebieten der beiden Brüder erklärte, überantwortete zwar das Rienztal Albert III., machte aber dafür Meinhard II. zum alleinigen
Herrn der Grafschaft Tirol (comitatus et dominium Tirolense). Im Lauf seines langen
Lebens — er starb erst 1295 — vermehrte dann Meinhard II. in großzügiger Weise
durch Kauf und andere Mittel seinen Besitz an Hoheitsrechten und Liegenschaften
in sämtlichen Teilen seines Machtbereiches, wie er denn schließlich auch alle hirschbergischen Güter im Inntal in seine Hand brachte. Durch Einrichtung einer für das
13. Jahrhundert ungewöhnlich entwickelten beamtenmäßigen Verwaltung faßte
er die seiner Herrschaft unterstehenden Gegenden, zu denen auch das Oberinntal
und das einst teilweise zu Schwaben gehörige Außerfern gekommen waren, zu einer
Einheit zusammen. So erschien er, da die Bischöfe von Brixen und Trient in ihrer
Eigenschaft als Lehensherren nichts mehr zu sagen hatten, als der Herr eines innerlich
fest zusammengeschlossenen Gebietes, das er selbst schon als „sein Land“ bezeichnete.
Die so begründete Grafschaft Tirol war für damalige Verhältnisse ein nicht unbedeutendes Gebiet, beherrschte den wichtigsten Handels- und Heerweg von Deutschland nach Italien und stand zum bayrischen Herzogtum in keinem landrechtlichen
Abhängigkeitsverhältnis mehr. Ihr Herr, Meinhard II., war ein Mann, mit dem
Reich und Kirche zu rechnen hatten, zumal er als Gemahl der Witwe König Konrads IV. und Schwiegervater Herzog Albrechts von Österreich, des nachmaligen
Königs Albrecht I., dem staufischen wie dem habsburgischen Haus verschwägert
war und im Jahr 1286 auch Herzog von Kärnten wurde.
Meinhard II. hinterließ die seiner Herrschaft unterworfenen Gebiete, unter denen
Kärnten nur die Rolle eines Nebenlandes spielte, ungeteilt seinen drei überlebenden
Söhnen, Otto, Ludwig und Heinrich. Die Lage der jungen Herzoge war nicht unbedenklich, da sie sich durch die feindselige Haltung des deutschen Königs Adolf
und mancher Nachbarfürsten bedroht und durch Forderungen der Bischöfe von
Brixen und Trient auf Rückstellung ihnen entfremdeter Hoheitsrechte und Güter
bedrängt sahen. Dies ließ eine Zersplitterung der Macht des meinhardingischen
Hauses nicht als rätlich erscheinen. Dazu setzte sich seit der zweiten Hälfte des
13. Jahrhunderts immer mehr die Gewohnheit durch, daß die männlichen Nachkommen eines Fürsten ihr Erbe ungeteilt verwalteten. Unter diesen Umständen
verzichteten denn auch die Herzoge Otto, Ludwig und Heinrich darauf, die von
ihrem Vater ererbten Lande unter sich zu teilen. Sie verwalteten die terra montium
und Kärnten gemeinsam, wobei jedoch der älteste der Brüder, Otto, das entscheidende Wort hatte. Herzog Ludwig starb schon 1305. Sein mit Anna, der Schwester
des letzten przemyslidischen Böhmenkönigs vermählter und nach dem Tod seines
Schwagers zu dessen Nachfolger erwählter Bruder Heinrich weilte in den Jahren
1306 und 1308—1311 in Böhmen, wo er sich allerdings nicht zu behaupten vermochte.
So lag die Verwaltung der einst von Meinhard II. beherrschten Gebiete zuletzt
ausschließlich in den Händen Herzog Ottos, und da dieser bereits 1310 verschied,
konnte sein einziger noch lebender Bruder, Heinrich, nach seiner Rückkehr aus den
Sudetenländern die Alleinherrschaft im Herzogtum Kärnten und in der Grafschaft
Tirol antreten, der er später — in den Jahren 1315 und 1332 — wieder pustertalische
Gebiete, die von ihm gekauften Gerichte Taufers und Schöneck, angliederte.
Nach dem Tod dieses Fürsten, der sich zeitlebens „König von Böhmen und Polen“
genannt hatte und im Jahr 1335 mit Hinterlassung einer einzigen erbfähigen Tochter,
der mit dem Lützelburger Johann Heinrich vermählten Margareta (Maultasch)
gestorben war, schien es allerdings, als sollten die meinhardingischen Lande zerstükkelt und bedeutende Teile des Verkehrsbereiches von Brenner und Reschenscheideck
neuerdings mit Bayern vereinigt werden. Denn Kaiser Ludwig IV., der damalige
Herr Oberbayerns, und die Herzoge Otto und Albrecht II. von Österreich, die
Neffen „König“ Heinrichs, hatten schon 1330 für den Fall des söhnelosen Ablebens
dieses Fürsten ein Abkommen geschlossen, demzufolge dem Wittelsbacher Tirol,
den Habsburgern aber Kärnten zufallen sollte, und dieser Vertrag wurde nach dem
Eintritt des erwarteten Ereignisses dahin abgeändert, daß die Habsburger, die eine
Verbindung mit ihren Besitzungen in der Schweiz zu gewinnen suchten, auch die
Vogtei über die Hochstifter Brixen und Trient sowie die südlich der Finstermünz,
des Jaufens und der Mittewalder Klause gelegenen Teile Tirols erhalten sollten.
Dieser Plan ließ sich aber lediglich teilweise in die Tat umsetzen. Denn im Ringen
der Häuser Wittelsbach, Habsburg und Lützelburg gelang es den Österreichern
schließlich bloß, sich des Herzogtums Kärnten zu bemächtigen. In der Grafschaft
Tirol behaupteten sich dagegen Johann Heinrich und Margareta. So war nur die
innerlich nicht begründete Verbindung des „Landes im Gebirge“ mit Kärnten
wieder zerbrochen. Der Gedanke aber, die terra montium teils mit Bayern, teils
mit den habsburgischen Ostalpenländern zu vereinigen, ein Gedanke, dessen Verwirklichung fast ganz Südtirol in eine unhaltbare Lage gebracht haben würde, war
gescheitert; weniger wegen des entschiedenen Eintretens der Tiroler für ihr Land
und dessen augenblicklichen Herrn, als deshalb, weil die Grafschaft Tirol von den
Gegnern der Lützelburger weder mit Nachdruck noch mit genügenden Kräften
angegriffen worden war.
Daß die Schöpfung des letzten Grafen aus dem Haus Tirol und seines ältesten
Enkels sich durchsetzen, den Kinderkrankheiten ähnlicher Bildungen entgehen
und Wurzel schlagen konnte, darf nicht zum wenigsten dem Umstand zugeschrieben
werden, daß diesen zwei ungewöhnlich fähigen und tatkräftigen Männern, die be25
zeichnenderweise alle beide belastet mit dem Fluch der Kirche gestorben sind, eine
sehr lange Zeit des Wirkens zugemessen war. Lag doch zwischen dem Tag, an dem
Albert II. mündig geworden war, und dem Todestag Meinhards II., der seinem
mütterlichen Großvater fünf Jahre nach dessen Hinscheiden in der Herrschaft
gefolgt war, eine Zeitspanne von etwa 90 Jahren. So vermochte die Erinnerung
an die Fürstentümer Brixen und Trient so stark in den Hintergrund und die Vorstellung, daß die Grafschaft Tirol ein einheitliches und halbselbständiges Gebilde
sei, so sehr ins Bewußtsein der Zeitgenossen zu treten, daß es die Kaiser Ludwig IV.
und Karl IV. in den Jahren 1335, 1339, 1349, 1350 und 1363 wagen durften, dieses
Herrschaftsgebiet mit Einschluß der beiden Hochstiftsvogteien als Reichslehen
zu behandeln, nachdem bereits König Albrecht I. 1305 die Zölle im Lueg, auf der
Töll und in Bozen als vom Reich lehenrührig betrachtet hatte. Die der Sache nach
im wesentlichen reichsunmittelbare Stellung und die festgefügte Einheitlichkeit
der Grafschaft Tirol, die als Wappen das Aufgebotszeichen der alten Vinschgaugrafen, den deutschen Reichsadler in Rot, übernahm, kamen nachmals auch in
der Tatsache zum Ausdruck, daß dieses Herrschaftsgebiet, dessen Herren 1286—1335
als Herzoge von Kärnten Reichsfürsten gewesen und deshalb schon um 1310 gelegentlich von Notaren des Burggrafenamtes ungenau principes terre genannt worden
waren, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts als eine fürstliche (später gefürstete)
Grafschaft, mithin als ein Fürstentum galt, als das es schon 1363 anläßlich seiner
Erwerbung durch Rudolf IV. von Österreich aus eigener Machtvollkommenheit
von diesem ehrgeizigen und eitlen Herzog bezeichnet worden war.
Die feste innere Geschlossenheit, zu der die Grafschaft Tirol bereits unter den
Meinhardingern erwachsen war, offenbarte sich aber am deutlichsten in der Entwicklung der Tiroler Landstände, deren Anfänge in die Zeit der Görzer fallen. Schon
unter Meinhard II. läßt sich ein herzoglicher Rat nachweisen. Diese aus Edelleuten
und Geistlichen zusammengesetzte Körperschaft erlangte dann unter den Söhnen
dieses Fürsten immer größeren Einfluß auf die Geschäfte. Denn Herzog Otto und
seine Brüder sahen sich gleich den meisten ihrer damaligen Standesgenossen schon
infolge des allgemeinen Überganges von der Natural- zur Geldwirtschaft einer
schwierigen Finanzlage gegenüber, die sie zur Vornahme zahlreicher Verpfändungen
und zu Zugeständnissen an ihre Großen nötigte. So mußte „König“ Heinrich, unter
dem sich auswirkte, was sich bereits früher vorbereitet hatte, zeitweise die Verwaltung des „Landes im Gebirge“ einem Ausschuß von Adeligen und Geistlichen
übergeben und sich in der Folge bei wichtigeren Regierungshandlungen an die Zustimmung seines Rates binden. Allein in Tirol, dessen Städte Bedeutung besaßen
und dessen Landbevölkerung dank der Gebirgsnatur ihrer Heimat und des Ganges der
geschichtlichen Entwicklung für die Gesamtheit wichtig geblieben und nicht in
drückende Unfreiheit versunken war, hatten schon in den Tagen Meinhards II. auch
die unteren Stände — selbst die in den Gerichten vertretenen Bauern — in den öffentlichen Dingen mitzureden gehabt. Dies bezeugt der im Jahr 1342 von dem damaligen
Landesfürsten, Ludwig dem Brandenburger, ausgefertigte Freiheitsbrief, der zum
26
erstenmal die gewohnten Rechte der Tiroler auf Anteil an der Landesregierung
schriftlich beurkundete. So gab also schon im 14. Jahrhundert eine besondere Landesverfassung der Grafschaft Tirol einen festen inneren Zusammenhang. Die damaligen
Tiroler Stände vermochten allerdings nur in sehr unvollkommener Weise, die Sache
ihres Landes zu verfechten und den Willen der Bevölkerung desselben zum Ausdruck
zu bringen. Denn in ihnen hatten durch die Rücksicht auf Stellung und Vorteile
ihres Standes, ihres Geschlechtes und ihrer eigenen Person gebundene Edelleute
sowie Geistliche, die ihrer Kirche und deren römischem Oberhaupt verpflichtet
und zunächst um das Wohl der durch sie vertretenen Gotteshäuser besorgt waren,
das erste Wort zu sprechen. Auch waren bloß die in zweiter Reihe stehenden bürgerlichen und bäuerlichen Mitglieder der Landstände durch Wahl bestellte Volksvertreter. Immerhin vereinigten sich aber auf den Landtagen, an denen auch Abgesandte der Bischöfe von Brixen und Trient teilnahmen, Bevollmächtigte aller
Schichten der Bevölkerung Tirols zu gemeinsamem Handeln und so war die von
Albert II. und Meinhard II. geschaffene Grafschaft unter den Görzern bereits
zu politischem Eigenleben gediehen, was ihr innere Daseinsberechtigung verlieh
und ihren Bestand für die Zukunft verbürgte.
4. Die spätmittelalterliche Grafschaft Tirol und die Raetia secunda der Völkerwanderungszeit.
Die endgiltige Begründung des gräflich-tirolischen Hoheitsgebietes, das seinen
natürlichen und durch die Entwicklung der Vergangenheit bedingten Schwerpunkt
vorläufig noch im Bannkreis des Tiroler Stammschlosses, in Meran, hatte, bildete
für die Zeit des Mittelalters in der Hauptsache den Abschluß der politischen Raumbildung auf dem Boden des „Landes im Gebirge“. Auf mannigfachen Umwegen
und keineswegs zwangsläufig hatte damit die durch uralte landschaftliche Zusammenhänge, durch das erfolgreiche Streben der Vinschgaugrafen und ihrer
Erben nach Ausdehnung ihrer Macht und durch eine Verkettung zufälliger Umstände bestimmte staatsrechtliche Entwicklung dieses Gebietes im großen und ganzen
zum selben Ergebnis geführt, wie dessen völkisch-verkehrsgeschichtlicher Werdegang.
Denn da das 1271 zur Grafschaft Görz geschlagene Westpustertal der geistlichen,
zum Teil auch der weltlichen Amtsgewalt des immer mehr zu einem tirolischen
Untertanen herabsinkenden Bischofs von Brixen und seit „König“ Heinrichs Zeit
sogar teilweise wieder unmittelbar der Herrschaft des Grafen von Tirol unterstand,
war unter den Meinhardingern der Sache nach fast die ganze Nordhälfte des alpinen
Flußgebietes der Etsch mit den jenseits des Brenners und des Reschenscheidecks
gelegenen Gegenden, also nahezu das gesamte von den Deutschen eroberte Verkehrsgebiet dieser Pässe im Rahmen des deutschen Reiches zu einer politischen Einheit
zusammengefaßt. Vom Nachwirken frühmittelalterlicher Zustände zeugte fast
nur mehr die Tatsache, daß auch das Unterengadin noch tirolisch war, während
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andrerseits das Romanentum der Ostschweiz in den Obervinschgau (etwa auch ins
oberste tirolische Inntal) herübergriff. Als dann unter völlig veränderten Verhältnissen in den Jahren 1500, 1504 und 1515 das ganze Pustertal, die aus der alten
Grafschaft des Unterinntals hervorgegangenen Gerichte Kufstein, Kitzbühel und
Rattenberg sowie die Gemeinde Ampezzo mit der bereits 1386 und 1412 durch
Angliederung der weitabgelegenen Herrschaften Primiero, Telvana und Ivano
(Valsugana) vergrößerten Grafschaft Tirol vereinigt wurden und in der Frühneuzeit
das Unterengadin aus dem Verband dieses Hoheitsgebietes ausschied, der Obervinschgau aber eingedeutscht wurde, war zuletzt fast alles überwunden, was noch
an die Verhältnisse der Karolinger-, Liudolfinger- und Salierzeit erinnert hatte,
und in der Hauptsache zu einem innerlich einheitlichen Ganzen zusammengefaßt,
was durch die mittelalterliche Entwicklung bestimmt war, sich zu einer geschichtlichen Landschaft von eigenartigem Gepräge zusammenzuschließen.
Die so entstandene Grafschaft Tirol war aber — auf ihre räumliche Ausdehnung
hin angesehen — im wesentlichen nichts anderes als die um das nördliche Stück
der einstigen regio Tridentina und das Stadtgebiet des alten Aguntum vermehrte
Raetia secunda des späteren 5. und des 6. Jahrhunderts, und wenn ihr Verwaltungsmittelpunkt um 1420 nach Innsbruck verlegt wurde, das an die Stelle des römischen
Veldidena getreten war, so bedeutete auch dies vielleicht nur die Rückkehr zu den
Verhältnissen des sinkenden Altertums. Gewiß wird niemand die vielfachen Wesensunterschiede verkennen, die zwischen der spätmittelalterlichen deutschen Grafschaft
und der spätrömischen Provinz obwalteten. Allein diese Verschiedenheiten waren
doch nicht so grundsätzlicher Art, wie es auf den ersten Blick scheint. Wenn z. B.
das zweite Rätien ein Stück des spätrömischen Staates gewesen war, so bedeutete
dies keinen vollkommenen Gegensatz zu den Verhältnissen des späteren Mittelalters,
in dem die Grafschaft Tirol zum deutschen Reich zählte. Denn die Kaiser des ausgehenden Altertums geboten auch in bedeutenden Teilen West- und Süddeutschlands, wo sie zeitweise auch (in Trier) Hof hielten. Das mittelalterliche Kaiserreich
hinwieder fühlte sich als Fortsetzung des antiken, war gerade in den Tagen Alberts II.
von Tirol mit dem sizilischen Staat verbunden und umfaßte außer Deutschland
damals noch tatsächlich und später wenigstens grundsätzlich auch Reichsitalien.
Andrerseits vermochten die deutschen Könige und Kaiser der nachstaufischen
Zeit, die im 14. und 15. Jahrhundert großenteils in den ihrer Lage und Eigenart
nach zur Stellung einer deutschen Reichshauptstadt nicht berufenen Städten
Prag und Wien Hof hielten, — ähnlich den spätrömischen Cäsaren — meist nur
im Westen und Süden Deutschlands, wo ihre Erblande lagen, wirkliche Herrschaftsrechte auszuüben. Endlich nahm Tirol innerhalb des spätrömischen Staates eine
ähnliche Stellung ein, wie innerhalb des Reiches der Staufer und ihrer nächsten
Nachfolger. Beruhte diese Stellung im ausgehenden Altertum wie im Zeitalter der
deutschen Reichsheerfahrten nach Italien doch im wesentlichen nur auf der Eigenschaft des alpinen Osträtien bzw. der montana als militärischen Durchzugsgebietes
und als eines Bindegliedes zwischen dem Potiefland und der schwäbisch-bayrischen
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Hochebene. So befand sich also das Verkehrsgebiet des Brenners und des Reschenscheidecks, auch wenn man es auf seine jeweilige Staatszugehörigkeit hin ins Auge
faßt, in den letzten mittelalterlichen Jahrhunderten in einer zwar sehr wesentlich,
aber doch nicht ganz und gar andersartigen Lage, als in der Völkerwanderungszeit.
Noch mehr erinnerte die Gesamtlage der spätmittelalterlichen Grafschaft Tirol,
kulturgeschichtlich betrachtet, an jene der Raetia secunda des späteren 5. und des
6. Jahrhunderts. Dies tritt besonders augenfällig zutage, wenn man den Blick auf
das jeweilige Verhältnis Tirols zu den ihm benachbarten Abschnitten des Alpenraumes, also zu jenen Landstrichen richtet, die heute einerseits die Ostschweiz und
Vorarlberg und andrerseits das dem Bereich der alten Herzogtümer Österreich,
Steiermark, Kärnten und Krain entsprechende eigentliche Österreich bilden9). Im
ausgehenden Altertum hatte das zweite Rätien in Volkstum und Lebensformen seiner
westlichen Nachbarprovinz sehr nahe, den zwei norischen Verwaltungssprengeln
dagegen weit ferner gestanden. Jene Wesensverwandtschaft und dieser innere
Gegensatz waren im Lauf des Mittelalters nicht verwischt, sondern in mancher
Beziehung noch erheblich vertieft worden. Die Überflutung durch Slaven und Avaren
hatte auf norischem, nicht aber auf rätischem Boden die römisch-christliche Gesittung, großenteils auch deren Träger vernichtet, also bloß im eigentlichen Österreich, nicht aber in den Tiroler Bergen und westlich von ihnen neue Voraussetzungen
für die völkische und kulturelle Weiterentwicklung geschaffen. Im Lauf der folgenden Jahrhunderte war dann durch die Verbindung des Unterengadins mit dem
Vinschgau, durch das Verbleiben der Gerichte Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg
beim Herzogtum Bayern und durch die Lostrennung des Rienztales von der Grafschaft Tirol das Schwergewicht des „Landes im Gebirge“ nach Westen hin verschoben, durch die Entwicklung des Verkehrs ein näheres Verhältnis Tirols zum
Flußgebiet des Alpenrheins, als zur österreichischen Ländergruppe geschaffen und
den um Brenner und Reschenscheideck gelagerten Talschaften zwar einiger Zuzug
deutscher Einwanderer von Westen aus, aber so gut wie gar keiner von Osten her
zugeführt worden. Ungeachtet des Umstandes, daß das Gebirgsland im Süden des
Bodensees dem schwäbischen, der ganze östlich des Arlbergs und der Münstertaler
Berge gelegene Alpenraum hingegen dem bairischen Stamm zugefallen war, — der
damit gegebene Gegensatz verschwand vor jenem zwischen dem altdeutschen und
dem kolonialdeutschen Gebiet — hatte sich denn auch die völkisch-kulturelle Entwicklung während des Hochmittelalters in Tirol anders, als in Österreich und ähnlich,
wie in der Ostschweiz und in Vorarlberg gestaltet. Dies prägte sich unter anderem
darin aus, daß Reste des Altromanentums im alpinen Rheintal, im Engadin und in
9
) Über die völkisch-kulturellen Beziehungen Tirols zu seinen inner- und außeralpinen
Nachbargebieten neuerdings Wopfner, Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes 1
(Innsbruck 1934), S. 12 — 19. Vgl. auch Stolz, Bayern, Österreich und Tirol in ihren geschichtlichen Beziehungen (Das Bayerland 43, 1932, S. 97—105), A. Helbok, Die Volksgrundlagen
der Deutschen in Österreich (Heimat, Vorarlberger Monatshefte 14, 1933, S. 137 — 143) und
F. Metz, Die Alpen im deutschen Raum (Berlin-Stuttgart, 1934).
29
den Talschaften der Dolomiten erhalten blieben, während sie im Ostflügel der Alpen
verschwanden, daß sich Sitte und Brauchtum im Verkehrsbereich des Brenners,
des Reschenscheidecks und der Bündner Pässe, nicht aber in Österreich in ganz
oder wenigstens ziemlich ungebrochenem Anschluß an die Überlieferungen des Altertums und der Frankenzeit fortentwickelten und daß die bäuerliche Bevölkerung in
der Grafschaft Tirol, westlich des Arlbergs und noch mehr in Bünden in den letzten
mittelalterlichen Jahrhunderten in persönlicher und politischer Hinsicht eine ganz
andere Stellung einnahm, als in den österreichischen Landschaften.
Ähnliche Feststellungen lassen sich auch machen, wenn man die Entwicklung
des inneren Verhältnisses Tirols zu der Hochebene ins Auge faßt, die sich zwischen
nördlichen Kalkalpen, Donau, Inn und Iller ausbreitet. Durch die Romanisierung,
die trotz ihrer Oberflächlichkeit den ursprünglichen Gegensatz zwischen den Illyrern
des Gebirges und den ihnen stammverwandten, aber größtenteils keltisierten Bewohnern der Ebene verwischt hatte, durch den lebhaften Süd-Nordverkehr auf den
Römerstraßen und durch die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu einer und derselben
Provinz waren diese beiden Gebiete im ausgehenden Altertum aufs innigste miteinander verbunden worden. Nach vorübergehender Lockerung hatten sich hierauf
diese engen Beziehungen in dem folgenden Jahrtausend neuerdings gefestigt, ja
sogar noch wesentlich verdichtet; in der Völkerwanderungs- und Frankenzeit durch
die Abwanderung zahlreicher Romanen aus dem durch die Germanen besetzten
Alpenvorland in die Berge, durch das Eindringen der Baiern in das Verkehrsgebiet
von Brenner und Reschenscheideck sowie durch das gemeinsame Freibleiben dieser
Gebirgslandschaft und der ihr nördlich vorgelagerten Hochebene von einer Eroberung durch Slaven und Avaren, im Hochmittelalter aber, wie oben ausgeführt,
durch den Gang der völkisch-wirtschaftlichen Entwicklung. So stand das Gebiet,
in dessen Mitte die Ötztaler, Stubaier und Zillertaler Alpen aufragen, während des
späteren Mittelalters zum nördlichen Alpenvorland in einem ebenso engen Verhältnis,
wie dereinst in den Tagen der römischen Kaiser.
Die politischen Beziehungen, die sich während des Spätmittelalters zwischen den
im Bannkreis von Brenner und Reschenscheideck gelegenen Talschaften und der
Außenwelt entwickelten, scheinen allerdings diesen Voraussetzungen nicht zu entsprechen und daher auch keine Anklänge an die Verhältnisse der Völkerwanderungszeit aufzuweisen. Denn die Grafschaft Tirol war im Rahmen des deutschen Reiches
seit 1363 dem habsburgischen Machtbereich angegliedert, dessen Schwerpunkt im
eigentlichen Österreich lag, während die Raetia secunda mit dem italischen Verwaltungssprengel des römischen Mittelmeerstaates verbunden gewesen war. Sieht
man aber näher zu, so stellen sich die Dinge doch in einem anderen Licht dar, als
es bei oberflächlicher Betrachtung scheint.
Als das zweite Rätien durch Diokletian mit Rücksicht auf die Bedürfnisse der
Staats- und Herresverwaltung und nicht etwa im Hinblick auf innere Zusammenhänge näher an das damals von Mediolanum (Mailand) und später von Ravenna
30
aus regierte Italien angeschlossen worden war, hatte es nordwärts bis an die Donau
gereicht, so daß also Tirol zu jener Zeit, selbst rein verwaltungsmäßig, weit enger
mit dem nordalpinen Flachland, als mit der Apenninenhalbinsel zusammengeschweißt gewesen war. Nach der Zurücknahme der römischen Reichsgrenze von der
Donau bis an den Nordrand der Alpen aber hatte sich sehr bald — unter Theoderich
dem Großen — auch der Zusammenhang der alpinen Raetia secunda mit Italien
gelockert und einige Menschenalter später war das Land, das man damals gelegentlich immer noch „das zweite Rätien“ nannte, staatsrechtlich ganz von der Apenninenhalbinsel gelöst und mit dem bayrischen Herzogtum vereinigt worden, das auch
den außeralpinen Teil jener diokletianischen Römerprovinz in sich schloß. Andererseits muß man sich vor Augen halten: Die Gerichte Kufstein, Kitzbühel und
Rattenberg gehörten bis 1504 zum Herzogtum Bayern. Die übrigen Gegenden des
„Landes im Gebirge“ hinwieder befanden sich gegen Ende des 12. und in der ersten
Hälfte des 13. Jahrhunderts großenteils in den Händen der Andechser und dieses
bayrische Geschlecht hätte, wie oben ausgeführt, dauernd den Besitz fast der ganzen
nachmaligen Grafschaft Tirol erlangt, wäre es nicht unerwartet früh 1248 mit Herzog
Otto II. von Meranien erloschen. Die genannte Grafschaft aber wuchs erst in den
Tagen Meinhards II. ganz aus dem landrechtlichen Verband des Herzogtums Bayern
heraus und 1330—1335 plante man, sie wieder mit diesem Reichsfürstentum zu
vereinigen. Sie war ferner unter dem 1342 mit Margareta (Maultasch) vermählten
Wittelsbacher Ludwig, der 1350 gegen Verzicht auf die ihm gehörige Mark Brandenburg den Alleinbesitz des bis dahin von ihm gemeinsam mit seinen Brüdern verwalteten Oberbayern erlangte, sowie unter seinem Sohn, Meinhard III., mit Oberbayern verbunden. Sie hätte endlich nach des letzteren Tod (1363) von rechtswegen
eigentlich eher an die wittelsbachischen Verwandten dieses Fürsten, als an Rudolf IV.
von Österreich fallen müssen, wurde 1364 nicht ohne Aussicht auf Erfolg von den
bayrischen Herzogen beansprucht10) und wäre in den letzten Regierungsjahren
Herzog Siegmunds (des Münzreichen), des letzten der tirolischen Leopoldiner
(1487—1490) beinahe wieder von den Wittelsbachern erworben worden. Das „Land im
Gebirge“ war demnach auch im späteren Mittelalter teil- und zeitweise politisch an
das nördliche Alpenvorland angeschlossen und nur das Aussterben der Andechser,
der tirolischen Wittelsbacher und der tirolischen Leopoldiner sowie das Gelingen
politischer Schachzüge der Habsburger, also bloß Ereignisse und Vorgänge zufälliger
Art, verhinderten im 13.—15. Jahrhundert die durch geographische Lage, durch
Wirtschafts- und Verkehrsbeziehungen und durch alte geschichtliche Zusammenhänge vorgezeichnete volle und dauernde Wiedervereinigung dieser beiden Gebiete
im Rahmen eines halbstaatlichen Gebildes. Dieses wäre aber nichts anderes gewesen,
10
) A. Dopsch, Mitteilungen des österreichischen Instituts für Geschichtsforschung, 11. Ergänzungsband (1929), S. 393f. macht darauf aufmerksam, daß man Ende 1364 nicht ohne
Grund mit der Möglichkeit eines baldigen Aussterbens der Habsburger rechnete, daß sich
Margareta (Maultasch) für diesen Fall die Herrschaft über Tirol, Kärnten und Krain vorbehielt und daß sie anscheinend bereit war, den Wünschen der Wittelsbacher entgegenzukommen, deren Ansprüche auf Tirol sich im Lauf dieses Jahres wieder geregt hatten.
31
als die in geänderter Gestalt wieder erstandene Raetia secunda jener Zeit, die der
Besetzung der schwäbisch-bayrischen Hochebene durch die Germanen vorangegangen war.
Ferner muß die in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts durch politische Schritte
der Habsburger vorbereitete und 1363 durch das erfolgreiche Zugreifen des in der
Wahl seiner Mittel recht unbedenklichen Herzogs Rudolf IV. von Österreich geschaffene, innerlich nicht im mindesten begründete Verbindung der Grafschaft
Tirol mit dem habsburgischen Machtbereich, der in jenem Jahr noch an keiner
einzigen Stelle unmittelbar an das einst von Albert II. und den Meinhardingern
beherrschte Gebiet grenzte, anders beurteilt werden, als dies gemeinhin zu geschehen
pflegt. Sie war rein dynastischer Art und berührte sehr bedeutende Teile des „Landes
im Gebirge“ nicht. Blieben doch der von den Brixner und Trienter Bischöfen behauptete Hoheitsbereich ferner der größte Teil des Ziller- und des Pustertals sowie
die zu den Gerichten Kufstein, Kitzbühel und Rattenberg gehörigen Gegenden bis
zum Ende des 15. Jahrhunderts und teilweise auch später noch außerhalb des habsburgischen Herrschaftsgebietes. Auch war die Erwerbung Tirols durch Rudolf IV.
lediglich das Ergebnis eines geglückten Unternehmens fürstlicher Hausmachtpolitik und keineswegs die Folge des Vorhandenseins eines wenn auch nur unbewußten Gefühls davon, daß die terra montium irgendwie innerlich mit der österreichischen Ländergruppe zusammengehöre. Dies ergibt ein Blick auf Verhalten und Beweggründe aller an diesem Vorgang Beteiligten11). Die Habsburger wollten die
Grafschaft Tirol gewinnen, weil sie — wie alle damaligen Fürsten — jede Gelegenheit zur Erwerbung neuer Grebiete ausnützten und weil sie eine Verbindung zwischen
ihren Herzogtümern und ihren damaligen Besitzungen in der Schweiz herzustellen
suchten. Die geistig minderwertige, ihren habsburgischen Verwandten wegen mancher
Gefälligkeiten verpflichtete und vom österreichischen Herzog Rudolf IV. innerlich
vielleicht sehr abhängige Margareta Maultasch schenkte — obgleich nur zur Verfügung über ihre Allode berechtigt und überdies durch ein urkundliches Versprechen
vom 17. Jänner 1363 ausdrücklich dazu verpflichtet, niemanden zum Erben ihres
Landes einzusetzen, es sei denn mit Wissen und Zustimmung ihrer Räte — am
26. Jänner 1363 unter Vorbehalt der Regierung für sich auf Lebenszeit die Grafschaft Tirol jenem Fürsten, dessen Brüdern und Erben, weil der Habsburger in ihr
den trügerischen Wahn erweckt oder mindestens genährt hatte, sie könne sich
durch einen solchen Schritt, bei dem es sich nur um eine Formsache handle, von
der Bevormundung durch ihre Räte befreien. Wenn die Herzogin dann am 2. September 1363 zugunsten Rudolfs abdankte und diesem am 29. September 1363 den
11
) Über die Erwerbung Tirols durch Rudolf IV. zuletzt F. Wilhelm, Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 24 (1903), S. 29—86, S. Steinherz, ebenda 26
(1905), S. 553—611. Vgl. auch Stolz, Historische Vierteljahrsschrift 28 (1933), S. 728f.,
Wopfner, Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes 1, S. 6f. Zu Rudolfs IV.
letzten Jahren, zu seinen Beziehungen zu Margareta Maultasch und deren geistigen Fähigkeiten zuletzt Dopsch, Mitteilungen des Instituts, 11. Ergänzungsband, S. 386—394.
32
uneingeschränkten Besitz ihres Landes überließ, so tat sie dies, weil sie hier, wie
der Österreicher vorausgesehen hatte, durch ihr Verhalten im Jänner 1363 unmöglich geworden und der Lage nicht mehr gewachsen war. Ihre Räte und die übrigen
Tiroler Stände aber mußten — auch insoweit sie nicht durch Gunstbezeugungen
Rudolfs IV. gewonnen waren — die rechtlich anfechtbare Jännererklärung ihrer
Herrin wohl oder übel gutheißen, weil ihnen eine zugunsten Rudolfs lautende,
angeblich schon 1359 von Margareta ausgestellte Vermächtnisurkunde vorgelegt
wurde, die im Jänner 1363 zwecks Vorspiegelung eines unwahren Tatbestandes von
Bischof Johann von Gurk, dem Kanzler des Habsburgers (wohl mit Wissen der
Herzogin), verfertigt worden war. Sie durften außerdem im Geist der meist sehr
selbstsüchtigen Denkweise ständischer Körperschaften hoffen, sich durch eine
Verbindung ihres Landes mit dem fernen Österreich dauernd gegen das Eingreifen
einer starken Fürstengewalt zu sichern. Aus denselben Gründen und unter dem
Druck der gespannten politischen Lage stimmten die Tiroler Stände dann auch im
September 1363 den Entschlüssen ihrer ihnen gleichgiltig gewordenen Fürstin zu.
Der deutsche Herrscher endlich, Karl IV., bestätigte am 8. Februar 1364 den Übergang Tirols an die Habsburger lediglich, um diese für sich zu gewinnen.
Vor allem bedeutete jedoch die Erwerbung der Grafschaft Tirol durch Rudolf IV.
zunächst noch durchaus keine wirkliche und dauernde Vereinigung dieses Gebietes
mit der österreichischen Ländergruppe. Denn die Habsburger übten im 14. Jahrhundert und später auch in ansehnlichen Teilen Südwestdeutschlands, so im Elsaß,
im Breisgau, in Oberschwaben und in der Schweiz sowie am Südrand der Ostalpen,
Hoheitsrechte aus, seit den Teilungen zwischen Albertinern und Leopoldinern bzw.
den Leopoldinern (1379, 1395/1396) war die Grafschaft Tirol samt diesen auswärtigen
Besitzungen, zu denen 1471 auch der Prätigau kam, wieder vollkommen vom eigentlichen Österreich getrennt und dieser Zustand hätte dauernd werden müssen, wäre
Herzog Siegmund (der Münzreiche) nicht der letzte der tirolischen Leopoldiner und
1490 bereit gewesen, zugunsten seiner habsburgischen Verwandten auf die Regierung
der von ihm beherrschten Gebiete zu verzichten. Sollten doch die Erblande des
Hauses Habsburg erst im 18. Jahrhundert, kurz vor dem Aussterben dieses Geschlechtes (mit Karl VI. und Maria Theresia) aus rein dynastischen Rücksichten
durch die pragmatische Sanktion staatsrechtlich zu einer gewissen Einheit zusammengefaßt werden und vor 1490 war es, wie bereits bemerkt, höchst zweifelhaft gewesen, ob es Kaiser Friedrich III. und seinem Sohn Maximilian gelingen
werde, die Grafschaft Tirol zu gewinnen, deren Stände sich noch 1439 sehr entschieden gegen eine Vereinigung ihres Landes mit Österreich gewehrt hatten. Endlich blieb auch nach 1490 noch lange eine trennende Kluft zwischen Tirol und der
österreichischen Ländergruppe offen. Denn die 1500 durch die Erwerbung des
ganzen Pustertals gewonnene räumliche Verbindung dieser Gebiete miteinander war
schmal genug und die Grafschaft Tirol bildete, zusammen mit Vorarlberg und den
rheinischen sowie den schwäbischen Besitzungen der Habsburger, bis ins 18. Jahrhundert den selbständigen Verwaltungssprengel Oberösterreich, der von 1564—1665
3
33
sogar seine eigenen Landesfürsten hatte, also wieder ein staatliches Sonderdasein
führte. Die Tiroler Grafschaft behauptete also, da die mit ihr vereinigten Herrschaftsgebiete, die (mit Ausnahme Vorarlbergs) immer mehr zusammenschmolzen,
nur die Rolle weniger bedeutender, teilweise weitabgelegener Nebenländer spielten,
auch im ausgehenden Mittelalter und später noch eine selbständige Stellung, die an
jene der Raetia secunda der Völkerwanderungszeit erinnerte12). Ein Anklang an die
Verhältnisse des Altertums lag auch darin, daß auch beträchtliche Teile der Raetia
prima (Unterengadin, Prätigau, Vorarlberg) und oberschwäbische Gegenden, die
in der früheren römischen Kaiserzeit zur außeralpinen Hälfte der Provinz Rätien
gehört hatten, mit dem spätmittelalterlichen Tirol verwaltungsmäßig verbunden
waren.
Das Erwachsen der Grafschaft Tirol läßt sich mithin als Erscheinung der politischen
Raumbildung wie auch der Gesamtentwicklung als eine Wiedererweckung der
Raetia secunda des späteren 5. und des 6. Jahrhunderts auffassen. Diese beiden
Gebilde hatten sich freilich unter recht verschiedenen Voraussetzungen, unter dem
Einfluß recht verschiedener Kräfte und nicht ohne das Eingreifen in politischen
Augenblickslagen wurzelnder oder durch Zufälligkeiten bedingter Antriebe äußerlich
und innerlich gestaltet. Vor allem ist nicht zu vergessen, daß das Sonderdasein des
alpinen Osträtien im Gegensatz zu jenem der Grafschaft Tirol lediglich einen ganz
vorübergehenden, in besonderen Umständen begründeten Zustand darstellte. Allein
es wäre trotzdem gewiß verfehlt, einen bloßen Zufall in der Tatsache zu sehen, daß
sich das Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck während des ausgehenden
Mittelalters in einer ähnlichen Lage befand, wie in der Völkerwanderungszeit. Denn
ein gleichartiger Sachverhalt läßt sich auch in der Entwicklung des eigentlichen
Österreich feststellen. Erstand doch während des Spätmittelalters im östlichsten, den
Ebenen Ungarns sowie dem Sudetenraum nahegerückten und von Ost-Westverbindungen beherrschten Abschnitt der Alpen im wesentlichen die Römerprovinz
Norikum, die Nachfolgerin des gleichnamigen keltischen Königsreichs, wieder in
12
) Über die meist von einem starken Gegensatz zu den zentralistischen Bestrebungen Wiens
beherrschten Beziehungen Tirols zu Österreich und die sonstigen Kämpfe der Tiroler um
Sonderstellung und Selbstbestimmungsrecht ihres Landes von 1665 bis zur Gegenwart
Wopfner, Von der Ehre und Freiheit des Tiroler Bauernstandes 1, S. 44—202. Eine wichtige
Ergänzung hiezu bringt Stolz, Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 3,
S. 79 und Zeitschrift des deutschen und österreichischen Alpenvereins 64 (1933), S. 252; indem
er der Tatsache gedenkt, daß die Tiroler und, deren Beispiel folgend, die Salzburger Landesregierung 1921 — also zwei Jahre nach dem Gewaltfrieden von St. Germain, der die laut einhelligen Beschlusses ihrer Volksvertreter (§ 2 der Verfassung) als Bestandteil der deutschen
Republik begründete Republik Deutschösterreich gezwungen hatte, unter dem Namen „Österreich“ einen vom übrigen Deutschland getrennten Staat zu bilden — gegen den Willen der unter
dem Druck der Siegermächte von 1918 stehenden Wiener Bundesregierung eine amtliche
Volksabstimmung veranstalteten, bei der sich die seit 1918 zur freien Entscheidung über die
Staatszugehörigkeit ihrer Heimat befugten, 1919 nur zwangsweise, in rechtlich nichtiger Art
zu Bürgern des heutigen Österreich gemachten (Wopfner, S. 188—191) Nord- und Osttiroler
mit 145000 gegen 1800 Stimmen und die Salzburger mit einer ähnlichen Mehrheit (97%) für
den Anschluß an das Deutsche Reich erklärten.
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dem aus den Herzogtümern Österreich, Steiermark, Kärnten und Krain bestehenden,
zeitweise mit den Aufgaben einer deutschen Ostmark betrauten Kernstück des habsburgischen Machtbereiches. So offenbarte sich also zweifellos in der Tatsache, daß
die spätmittelalterliche Grafschaft Tirol als Erneuerung des zweiten Rätien der
Völkerwanderungszeit erscheint, die richtunggebende Wirkung der durch die geographischen Verhältnisse erzeugten Antriebe, die stets in zeitbedingter Weise die
Entwicklung bestimmen mußten, sobald sich diese ungehemmt entfalten konnte.
War doch das von der Brenner- und der Reschenscheideckstraße durchzogene Mittelstück der Alpen, das — breit zwischen dem Potiefland und der schwäbisch-bayrischen
Hochebene eingelagert — ein ausgesprochenes Paßland darstellt, durch Beschaffenheit und Lage dazu berufen, in fortgeschritteneren, einer weiträumigen Entwicklung
zustrebenden Zeiten die Südmark seines ihm eng verbundenen nördlichen Nachbargebietes zu sein, in urtümlicheren, einer staatlichen Zersplitterung günstigen Jahrhunderten aber ein selbständiges Eigenleben zu führen.
Dem Blick, der die Jahrhunderte der Vergangenheit überschaut, erschließen sich
die tieferen Zusammenhänge und die verborgenen Fäden, die Altes und Neues in
der Geschichte verbinden. So auch hier. Was sich dabei ergibt, mag für den oberflächlichen Beobachter, der nur ein Auge für die greifbaren Tatsachen hat, belanglos scheinen. Es hat aber für den hohe Bedeutung, der dem tieferen Sinn der Geschichte nachspürt, und es sollte auch dem Bewußtsein der Allgemeinheit zu eigen
werden. Das Land der drei Bünde hat der in die Zukunft weisenden Anfänge seiner
Geschichte stets gedacht. Es nannte sich daher und im Stolz auf die Beseitigung
mittelalterlicher Fürsten- und Adelsmacht seit der Humanistenzeit gern „das alte,
freie Rätien“. Warum sollte also das „Land im Gebirge“ vergessen, daß sich in
seiner spätmittelalterlichen Vergangenheit in zeitbedingter Weise teils zu erneuern
suchte, teils wirklich erneuerte, was in der Völkerwanderungszeit gewesen war?
Das Verkehrsgebiet von Brenner und Reschenscheideck hat freilich in der Urzeit
keine oder fast keine zu den Rätern gerechneten Völkerschaften beherbergt, unter
Augustus nicht zum Verwaltungssprengel Raetia gehört und schon in den Tagen
der späteren Merowinger keinen Namen mehr getragen, der an die rätische Provinz
der Römerzeit erinnerte. Trotzdem könnte aber mit gutem Recht auch das Land
Tirol, in dem gewissermaßen die alpine Raetia secunda zu neuem Leben erwacht
und das Bauerntum auf den mittelalterlichen Landtagen vertreten war, auf einen
Ehrennamen Anspruch machen, ähnlich jenem bündnerischen „alt, fry Rhaetia“13).
13
) Ähnlich L. Steub (vgl. z. B. Herbsttage in Tirol, 1867, S. 116—118), allerdings in einem
durchaus andern Sinn, nämlich im Hinblick auf seine Annahme, die urzeitlichen Bewohner
Tirols seien desselben Stammes gewesen, wie jene Graubündens, und gleich diesen völkerkundlich zu den Rätern gezählt worden.
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