SWR2 DIE BUCHKRITIK

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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE,
SWR2 DIE BUCHKRITIK
Hilde Link: „Mannfrau – Ein Oral-History-Roman“
Draupadi-Verlag
218 Seiten
19,80 Euro
Rezension von Gerhard Klas
Dienstag, 27.10.2015 (14:55 – 15:00 Uhr)
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
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Von Gerhard Klas
Im Norden Indiens heißen sie Hijras, im Süden Alis: Die Rede ist vom dritten Geschlecht,
weder weiblich noch männlich. Anders als in christlich geprägten Weltteilen – in der Bibel
gibt es nur Mann und Frau – hat das dritte Geschlecht schon in der indischen Mythologie
seinen Platz: eine Identität, die eine klare Zuschreibung von Geschlechterrollen sprengt,
nicht klar definierbar ist, sich an der Schwelle befindet. Verschiedene hinduistische
Gottheiten haben in den heiligen Schriften das Geschlecht gewechselt und waren nicht
eindeutig zuzuordnen.
Die Ethnologin Hilde Link hat zwanzig Jahre lang zum dritten Geschlecht in Indien
geforscht, sie hat Biografien von Menschen, die ohne ein eindeutiges Geschlecht geboren
wurden, dokumentiert und auch die Lebensgeschichten von Männern, die nach einer
Total-OP ein Leben als Frauen führen. Die Fülle des Materials hat sie nun auch für ihren
„Oral-History“-Roman „Mannfrau“ nutzbar gemacht. Darin erzählt sie von zwei fiktiven
Frauen aus Südindien: Die Ich-Erzählerin Gita ist mit eingewachsenen Hoden und einer
nussgroßen Gebärmutter zur Welt gekommen, Niveda hat zwar einen Penis, will aber
lieber ein Leben als Frau führen.
Trotz ihres Zugangs zur indischen Spiritualität hat Hilde Link keinen exotisch-verklärenden
Roman geschrieben, sondern nimmt die soziale Realität dieser Menschen, die in
Südindien Ali genannt werden, präzise unter die Lupe.
Gita lebt im Laufe ihres Lebens in drei verschiedenen Familien – die ersten beiden
Stationen ihres Lebens sind ein Martyrium, wie es niemand erleiden möchte: Da ist
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zunächst ihre leibliche Familie, in der sie ihre Geburt nur durch die Fürsprache ihres
Vaters überlebt: Die Hebamme legt der Mutter nach der Geburt der intersexuellen Gita,
einer „Ali“, Reissaatgut mit Spliss bereit, der scharf wie eine Rasierklinge ist. Solches
Saatgut wird ungewünschten Kindern verabreicht, die dann innerlich verbluten. Aber der
Vater verhindert das. Als Kind bleibt Gita der Feindseligkeit und Gewalt durch die anderen
Dorfkinder, ihre Geschwister und ihre Mutter ausgesetzt. Sie alle betrachten Gita als
Monster.
Schließlich setzt sie sich als Zehnjährige ab von ihrer Ursprungsfamilie und schließt sich
einer Gruppe von Alis an. Die Älteste und Anführerin der Gruppe nennt sie Mutter, die
anderen Mitglieder Schwestern. Doch die Freiheit trügt: Viele Alis verdienen ihr Geld,
indem sie sich prostituieren. Schon mit elf Jahren wird Gita zugerichtet und zum Opfer
einer Massenvergewaltigung durch zahlende Männer. Anschließend ist sie hochgradig
traumatisiert und zeigt selbstzerstörerische Tendenzen. Nur die deutlich ältere Niveda, die
ebenfalls zur Gruppe der Alis gehört und kurz vor ihrer Totaloperation steht, begegnet ihr
mit Empathie und Zuneigung. Sie ist der erste Mensch in Gitas Leben, von dem sie Liebe
erfährt und dem sie ewig dankbar bleiben wird.
Im Mittelteil bekommt der Roman dann etwas Märchenhaftes: Bei einer Reise nach
Bombay wird die fieberkranke Gita von ihrer Ali-Familie allein zurückgelassen. Wie durch
ein Wunder findet sie Aufnahme in einer wohlhabenden, christlichen Mittelschichtsfamilie.
Sie wird wie eine Tochter behandelt, nennt das Ehepaar „Mama“ und „Papa“. Ihre dritte
Familie. Als sie das Tanzen als neue Leidenschaft entdeckt, bei der sie den Schmerz der
Vergangenheit vergessen kann, und als sie eine internationale Schule besuchen darf,
scheint das Märchen perfekt.
Doch der Roman von Hilde Link ist komplexer: Er konfrontiert die Leserinnen und Leser
mit den Widersprüchen, die sich zwischen den Welten von Gita und ihren neuen Eltern
auftun. Und auch mit der inneren Verhärtung Gitas, die Mitschülerinnen quält, weil sie
Schwäche bei anderen nicht ausstehen kann.
Im letzten Drittel des Romans läuft Hilde Link zu literarischer Hochform auf und entwickelt
ein spannendes Drama, nachdem Gita ihre große Liebe Niveda wieder findet und sie ein
gemeinsames Leben beginnen.
Der Roman von Hilde Link ist tief durchdrungen von der Wissbegier einer Forscherin, die
ihre Einsichten auch interessierten Laien vermitteln will. Mit ihrem Roman „Mannfrau“ zeigt
sich Hilde Link nicht nur als präzise recherchierende Wissenschaftlerin, sondern auch als
begabte Schriftstellerin.
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