Riesenpuzzle aus der Wüste

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ALLTAG IN PALÄSTINA
Die Qumran-Rollen, die am Toten Meer
zwei Jahrtausende überdauert haben,
zählen zu den wertvollsten Dokumenten
der biblischen Zeit. Waren ihre Verfasser
wirklich die geheimnisvollen Essener?
Riesenpuzzle
aus der Wüste
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mehr als 2000 Jahre alten hebräischen
Handschriften des Psalters, in Kolumöhle elf! Mit dem Jubel- nen ohne Satzzeichen auf Pergament geruf „Cave eleven!“ stürm- schrieben, erwiesen sich als „fast idente Pater Roland de Vaux tisch mit unserem heutigen, gedruckten
den Saal, in dem auf lan- Text“. Die früheste bekannte Bibelhandgen Tischreihen antike schrift stammte bis dahin aus dem 9.
Schriftfunde auslagen. Hier, im Palestine Jahrhundert. Die antiken Abschreiber
Archaeological Museum in Ostjerusalem, der Psalmen-Sammlung hatten also,
war damals, 1956, ein internationales über einen immensen Zeitraum hinweg,
Wissenschaftler-Team mit einem Riesen- präzise Arbeit geleistet.
Die ledrigen Schriftbahnen verströmpuzzle beschäftigt, das bereits als Weltsensation galt: Die Forscher versuchten ten einen ganz besonderen Geruch.
Texte zu entziffern, die nach und nach Nachdem 1947 ein arabischer Hirte die
in Höhlen nahe der Ruinenstätte Qum- ersten Schriftrollen zutage gefördert hatran am Toten Meer entdeckt worden wa- te, erkundeten Beduinen und später
ren. In ihrem originalen Zustand, aufge- dann auch de Vaux und seine Leute das
rollt und in Leinen gewickelt, blieben Gelände um Qumran systematisch. Auch
nur zehn Schriften erhalten. Dazu kamen in die elfte Höhle waren die Archäologen bereits vorgedrungen – und schnell
mehrere zehntausend Fragmente.
wieder umgekehrt:
Die als „SchriftMeterhoch lagerrollen vom Toten
ten hier die ExkreMeer“ bekannt gemente von Flederwordenen spekmäusen, der ätzentakulären Funde
de Gestank verenthalten Niederscheuchte die Forschriften fast aller
scher, nicht jedoch
Bücher des Alten
die Nomaden, die
Testaments sowie
nach ihnen kamen.
bis dahin unbekannte jüdische LiSchätzungsweiteratur. Entstanden
se 16000 bis 20000
sind sie zwischen
Bruchstücke von
200 vor Christus
870 Rollen aus dem
Ausgrabungen nahe Qumran
und dem Jahr 70
spätantiken Judenam Toten Meer
unserer Zeitrechtum wurden aus
nung, als der zweite jüdische Tempel von den Berghängen am Toten Meer geborgen.
den Römern zerstört wurde.
Weitgehend unversehrt wie der Psalter
„Sein Bart wehte hinter ihm her“: blieb auch das Prunkstück der Sammlung,
Claus-Hunno Hunzinger, damals 27-jäh- die 7,34 Meter lange Jesajarolle aus Höhle
riger Neutestamentler aus Göttingen, eins. Nahezu lückenlos gibt sie den Text
sieht noch den französischen Geistli- des Prophetenbuchs wieder, mitsamt der
chen in der weißen Dominikanerkutte Friedensvision einer Wandlung von
den bis heute letzten Fund, aus der Höh- „Schwertern zu Pflugscharen“.
le elf, verkünden: Pater de Vaux, der beAuf Leder von Ziegen, Rindern, Scharühmte Qumran-Ausgräber und Leiter fen oder auch Gazellen, seltener auf Pader Ecole biblique in Jerusalem, „konnte pyrus waren mindestens 500 verschiesehr emotional auftreten“, erinnert sich dene Schreiber tätig, die meisten in der
Emeritus Hunzinger.
heute noch im Druck üblichen hebräiAls Erste durften der junge Deutsche schen Quadratschrift. Ein Datum hinterund sein britischer Kollege, der Linguist ließen sie nicht. Das Alter der Rollen
John Marco Allegro, eine gelbbraune wurde erst mit Hilfe der RadiokarbonPsalmenrolle studieren – genau eine Stun- messung ermittelt. Es handelt sich um
de lang. Die anderen Wissenschaftler be- die wohl bedeutendste archäologische
schäftigten sich indessen mit den Frag- Entdeckung des 20. Jahrhunderts.
menten: Die Texte und Teilchen, die BeFünf Jahre lang hat der evangelische
duinen in der Höhle zusammengetragen Theologe Hunzinger Schnipsel und Fethatten, waren noch nicht aufgekauft, die zen sortiert, teils waren die Fragmente
Wüstenbewohner hatten dem Museum nicht größer als eine halbe Briefmarke.
ihren Schatz nur kurzfristig ausgeliehen. „Furchtbare Fummeleien“, bei denen er
„Das war ein großartiges Dokument, auch mit Hilfe der Maserung des Papygut lesbar“, erinnert sich Hunzinger. Die rus mehrdeutige Zeichen enträtselte, er-
Von RENATE NIMTZ-KÖSTER
Fragment einer Handschrift
aus den Qumran-Höhlen
UPI PHOTO / IMAGO (L.); ISRAEL SUN (R.)
H
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Im Jerusalemer Israel
Museum sind acht der
kostbaren Schriften zu
besichtigen
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Drei Forschergenerationen haben „wesentlich nuancierter“ – es habe siden intellektuellen Kampf um Qumran
inzwischen ausgetragen, ein Ende ist
nicht in Sicht. So hat sich die israelische
Professorin Rachel Elior auf die Sadduzäer als Verfasser der Texte eingeschworen. Sie meint sogar: „Die Essener hat es
niemals gegeben.“ Auch der Amerikaner
Norman Golb ist seit langem sicher, dass
die Rollen aus Jerusalemer Bibliotheken
stammten und am Toten Meer vor den
Römern in Sicherheit gebracht wurden.
Die Truppen der Besatzungsmacht
näherten sich 68 nach Christus dem Toten Meer. Deshalb geht auch die Essener-These davon aus, das die kostbaren
Schriften in einer Blitzaktion vor dem
Feind verborgen wurden. Zuvor hat man
cher mehrere und unterschiedliche Essener-Gruppierungen gegeben. Eines
der wichtigsten Rätsel, die es zu lösen
gelte, seien in diesem Zusammenhang
die Friedhöfe unweit der Ruinenstätte.
Obwohl, nach antiken Quellen, die Essener im Zölibat lebten, finden sich auf
einem Friedhof auch Frauen und Kinder.
Möglicherweise sind sie nicht Juden,
sondern Beduinen. Geforscht werden
konnte bisher nur an einer kleinen Anzahl von Skeletten, bedauert Stökl: Für
orthodoxe Juden ist die Öffnung von
Gräbern eine der größten Schandtaten.
So „ungeheuer spannend“ und „für
die Wissenschaft voller Sternstunden“
wie Hunzingers Begegnung mit dem Per-
„Es ist alles abenteuerlich, was mit
Qumran zu tun hat.“
sie in Leinen verpackt und in zylindrische Tongefäße versenkt – so wie die
durch Zufall in der Höhle eins von den
Hirten entdeckte Jesajarolle.
Andere Wissenschaftler sehen einfach nur eine unbekannte jüdische Gruppe am Werk. Die Ruinenstätte selbst
wurde schon als Festung, als Keramikwerkstatt oder Landgut gedeutet.
Zurück zur Essener-Autorenschaft
kommt indessen Daniel Stökl Ben Ezra.
Der 41-jährige Judaist von der Pariser
Ecole Pratique des Hautes Etudes, der
als Star unter den jüngeren Qumran-Forschern gilt, sieht die alte These jedoch
gament aus der Fledermaushöhle ist die
gesamte Entdeckungs- und Forschungsgeschichte der Rollen: Aus den Händen
geschäftstüchtiger Beduinen, von Antiquitätenhändlern und eines kundigen
Metropoliten gelangten sie in die Obhut
von Wissenschaftlern. Acht Rollen, die
ersten sieben Rollen aus der Höhle eins
und die Tempelrolle, fanden 1965 im eigens dafür gebauten „Schrein des Buches“ des Jerusalemer Israel Museums
ihren festen Platz. Als Kriegsbeute fielen
den Israelis im Sechs-Tage-Krieg von
1967 obendrein alle Qumran-Funde zu,
die im Palestine Archeological Museum,
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UPI PHOTO / IMAGO (L.); ISRAEL SUN (O. R.); ERICH LESSING / AKG (U. R.)
gaben schließlich faszinierende Einblicke: Unter der Lupe, so war der Forscher
überzeugt, hatte er auf der Psalmenrolle
auch Gebetstexte und Friedensformeln
der strenggläubigen jüdischen Gemeinde vor sich, die einst Qumran besiedelte,
praktisch das Gesangbuch der sogenannten Essener.
Beim wissenschaftlichen Streit ging
es bald hoch her: Waren die Essener die
Verfasser und ursprünglichen Besitzer
der reichen Bibliothek? Kopierten sie
Hunderte von Texten, um die heiligen
Schriften in der Abgeschiedenheit zu
studieren?
Die Sekte der Essener, mönchisch
und radikal, über die schon antike Autoren wie Josephus Flavius und Plinius
der Ältere berichtet hatten, wurde von
de Vaux sogleich in Zusammenhang mit
den Höhlenfunden gebracht. Der Archäologe deutete die nahe gelegene Ruinenstätte als eine Art Kloster der asketischen Gruppe. Er fand Becken für rituelle Waschungen, einen Speisesaal, Tintenfässer und ein Skriptorium, in dem
die Texte und Rollen entstanden seien.
Hier, in Qumran, hätten die Essener abseits von Jerusalem ihren reineren „neuen Bund“ gegründet.
Als „Söhne des Lichts“ riefen die
Gläubigen, heißt es in der sogenannten,
Kriegsrolle, zum unerbittlichen Kampf
gegen „die Söhne der Finsternis“ auf. In
ihrer Gemeinderegelrolle gibt es einen
harten Strafkatalog für Verfehlungen der
Mitbrüder. Blinde, Hinkende, Taube
durften von vornherein nicht aufgenommen werden.
Am nördlichen Ende des Toten Meeres
liegt die antike Ruinenstadt
dem späteren Rockefeller Museum, gelagert hatten. Und in den Kriegswirren
beschlagnahmten israelische Geheimdienstler im Haus eines Mittelsmanns
der Beduinen die 8,5 Meter lange,
schwer beschädigte Tempelrolle, die
detaillierte Anweisungen zum Bau des
idealen Tempels in Jerusalem gibt.
Die ersten transkribierten Texte veröffentlichten wissenschaftliche Verlage
schon wenige Jahre nach der Entdeckung. Nur die Sammler von Fragmenten
der Qumran-Schätze hielten ihre Beute
unter Verschluss und unpubliziert. Blühten deshalb seit den achtziger Jahren die
Verschwörungstheorien? Die Geheimnisse um Qumran sind der Stoff, aus dem
Bestseller gemacht werden: Autoren wie
die Amerikaner Dan Brown („Sakrileg“)
sowie Michael Baigent und Richard
Leigh („Verschlusssache Jesus“) behaupten, der Vatikan verhindere Veröffentlichungen, weil neue
Aussagen über Jesus
das kirchliche Bild erschüttern würden.
Mit Peinlichkeiten
wartete dabei vor allem Brown auf, der
mehrfach den Text
der Jesajarolle mit ihren messianischen
Prophezeiungen auf
dem Kopf stehend
Tongefäß aus
Qumran
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und spiegelverkehrt abbildete – in die
Irre geführt durch „eine Bosheit der hebräischen Schrift“, wie Emeritus Hunzinger spottet. Denn die wird von rechts
nach links geschrieben und „hängt unter
der Linie wie ein Wäschestück“.
Der Vatikan konnte indes an der
Unterdrückung der Texte gar kein Interesse haben: Über Jesus und frühe Gestalten des Christentums ist aus den Funden
nichts zu erfahren. Beziehungen Jesu
oder seiner Anhänger zur Qumran-Gemeinde habe es nicht gegeben, sagt der
Heidelberger Neutestamentler Gerd Theißen. Die Bewohner von Qumran zeigten
zwar in manchen Riten Ähnlichkeiten mit
der Jesusbewegung, sie praktizierten
„wiederholte Selbstuntertauchungen“, gemeinschaftliches Mahl und auch Gütergemeinschaft. Doch ihre rigide und militante Lebensordnung sei gänzlich anders
begründet als in der Lehre Jesu, der sogar
zur Feindesliebe aufrief und Umgang mit
Sündern und Außenseitern pflegte.
Dennoch seien die Texte der Gemeinschaft von Qumran für das Verständnis
des Neuen Testaments von großer Bedeutung, betont Theißen, „weil sie die
religiöse, soziale und rechtliche Welt im
Judäa der beiden Jahrhunderte um die
Zeitenwende erschließen“.
62 Jahre nach ihrer Entdeckung,
2009, wurde die Publikation der Rollentexte abgeschlossen. Schon hat das jerusalemer Israel Museum gemeinsam mit
dem Daten-Konzern Google fünf Rollen
digitalisiert und fürs Netz aufbereitet.
Doch die historische Zuordnung der
Schriften vom Toten Meer werde noch
weitere Generationen von Wissenschaftlern beschäftigen, glaubt Ira Rabin.
Die Chemikerin und Pergament-Forscherin („Meine Lebensleidenschaft“)
arbeitet an Methoden, die Herkunft und
Entstehungsgeschichte von Textfragmenten zu bestimmen, ohne die hochempfindlichen Kostbarkeiten zu zerstören. Rabin hat an der Berliner Bundesanstalt für Materialforschung zusammen mit dem Physikochemiker Oliver
Hahn und einem internationalen Team
verschiedener Institute Verfahren entwickelt, den Pergamentstückchen schonend physikalische „Fingerabdrücke“
abzunehmen. Zeigen Fragmente identische Röntgenfluoreszenz- oder Infrarotspektren, gehören sie zusammen.
„Es ist alles abenteuerlich, was mit
Qumran zu tun hat“, sagt die Wissenschaftlerin – auch die Analyse der Tuschen, mit der die Dokumente verfasst
wurden. Anhand der spektroskopischen
Analyse von Spurenelementen in der
„ungewöhnlich fest haftenden Tusche“
der Danksagungsrolle konnten Rabin
und ihre Berliner Kollegen zeigen, dass
das Verhältnis von Chlor und Brom in
der Tinte mit dem im Wasser aus der Region des Toten Meeres identisch ist.
Für Qumran-Forscher Stökl ist dieses
Ergebnis „einer der größten Lichtblicke
der letzten Jahrzehnte“. Der Wissenschaftler aus Paris sagt hoffnungsvoll:
„Endlich können wir damit wohl diese
elende Diskussion beenden, ob die Rollen in Jerusalem oder am Toten Meer
beschrieben worden sind.“
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