1 Dr. N. Strobach, Logik II, SSem. 1998, Mi 14-16 R 236 Mehrwertige Logik Teil I 1. Motivation 1.1. Vier klassische Probleme 1.1.1. Das Problem des Nichtseienden Betrachten wir folgende Sätze: Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl. Pegasus existiert nicht. Diese Sätze haben es gemeinsam, daß sie über etwas reden, was nicht existiert. Doch kann man das überhaupt? Der Vorsokratiker Parmenides meinte: laßt es bleiben! Platon hat diese Warnung im Prinzip akzeptiert. Und tatsächlich: Wenn man soweit kommt, zu sagen „Pegasus...“ - hat man dann nicht schon implizit die Existenz von Pegasus behauptet? Redet man nicht über Pegasus, wenn man sagt, er existiere nicht? Aber das widerspricht doch gerade dem Gedanken, er existiere nicht...! Er? Dem Gedanken seiner Nichtexistenz...! Seiner? Und der gegenwärtige König von Frankreich? Ist er nun kahl (dann ist der Satz wahr) oder nicht (dann ist der Satz wohl falsch)? ...Er?? Aber es gibt ihn doch gar nicht! ...Ihn?1 1.1.2. Das Problem der futura contingentia Zwei Flotten, die griechische und die persische, belauern sich bei Salamis. Die Spannung ist auf jedem Schiff zu spüren. Jeder fragt sich: „Wird es morgen zur entscheidenden Seeschlacht kommen oder nicht?“ Die Meinungen sind geteilt: „Es wird zur Seeschlacht kommen“, meinen manche. Andere winken ab. Notwendig ist das Stattfinden der Seeschlacht am nächsten Tag nicht. Sie kann stattfinden oder auch ausbleiben. Ob sie stattfindet, steht noch nicht fest. Ist dann eine Aussage wie „Es wird zur Seeschlacht kommen“ wahr? Wohl nicht. Denn müßte dafür nicht feststehen, daß sie stattfindet? Das ist nicht der Fall. Ist es also falsch, daß die Seeschlacht stattfinden wird? Wohl auch nicht. Denn müßte dafür nicht feststehen, daß sie nicht stattfindet? Wenn das stimmt, dann sind Aussagen über Kontingentes in der Zukunft weder wahr noch falsch. Ist aber nicht jede Aussage entweder wahr oder falsch? Und selbst, wenn nicht: Steht nicht wenigstens schon fest, daß die Seeschlacht entweder stattfinden wird oder nicht? Aristoteles stellt sich diese Fragen im berüchtigten 9. Kapitel seines kleinen logischen Werkes De interpretatione (Peri Hermeneias). Der Text ist zu einem der meistdiskutierten Texte der ganzen Philosophiegeschichte geworden.2 Vgl. für die Problemstellung Platon, Sophistes 242. Platons Diskussion des Problems hat das Ziel, zu zeigen, daß man nicht über Nichtseiendes redet, wenn man Falsches sagt oder negative Aussagen macht. Aussagen wie den oben angegebenen weicht er m.E. aus. Für eine gute Analyse von Platons Lösung vgl. F.M. Cornford, Plato's Theory of Knowledge, London 1931. Zur Geschichte des Problems des Nichtseienden: Sten Ebbesen, The Chimaera's Diary, in: Simo Knuuttila / Jaakko Hinttika (Hg.), The Logic of Being, Dordrecht 1986. Zu Russells und Quines Lösung s.u. 2 Zur Interpretation und Interpretationsgeschichte umfassend: Hermann Weidemann, Aristoteles' Peri Hermeneias Übersetzung und Kommentar, Berlin 1994. Vgl. zur Einführung und für Literaturangaben zu formalen Rekonstruktionen auch mein "Logik für die Seeschlacht - mögliche Spielzüge", Zeitschrift für Philosophische Forschung 1/1998. 1 2 1.1.3. Das Problem des Unsinns „Mein Plattenspieler hat Zahnschmerzen“, „Cäsar ist eine Primzahl“ 3, „Was ihre Farbe angeht, ist die Zahl 3 ziemlich laut“ - manche Sätze sind irgendwie semantisch so unangemessen, daß man leicht meint: Sie sind noch nicht einmal falsch. Wahr sind sie natürlich auch nicht. Will man sie dennoch als Interpretation von Satzvariablen zulassen, so braucht man eine Logik, in der es offenbar Sätze gibt, die weder wahr noch falsch sind - sondern einfach unsinnig. 1.1.4. Vage Begriffsgrenzen - mehr oder weniger F sein Phaidon ist ziemlich groß. Simmias eher klein. Kleiner jedenfalls als Phaidon. Stellt man Simmias dagegen neben Sokrates, so wirkt er noch ziemlich groß, denn Sokrates ist nun wirklich klein. Phaidon ist offenbar in stärkerem Maße groß als Simmias. Simmias ist aber auch zumindest ein bißchen groß.4 Ein an die Tafel gemalter Kreis ist ziemlich rund. Aber nie ganz rund. Irgendwo ist er immer ein wenig eckig. Fast möchte man sagen: Nur ein idealer Kreis wäre vollkommen rund.5 Indem der gemalte Kreis nicht ganz rund ist, ist er auch ein bißchen eckig. In der üblichen zweiwertigen Logik ist aber ein Gegenstand entweder F oder nicht. Und ist er F, so ist er nicht auch non-F.6 1.2. Mögliche Antworten 1.2.1. ...auf das Problem des Nichtseienden Zumindest eine Teillösung ist denkbar: Der Satz „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ ist weder wahr noch falsch. Denn damit er wahr sein kann, muß es einen gegenwärtigen König von Frankreich geben. Und damit er falsch sein kann auch. Sowohl die Wahrheit als auch die Falschheit der Aussage „Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl“ präsupponiert (setzt voraus), daß es einen gegenwärtigen König von Frankreich gibt.7 Die Aussage „Es existiert ein gegenwärtiger König von Frankreich“ ist aber klarerweise falsch und ihre Negation wahr (negative Existenzaussagen analysieren wir lieber nicht...). Nicht jede Aussage ist also wahr oder falsch. Tertium datur. 1.2.2. ...auf das Problem der futura contingentia Es macht tatsächlich Sinn, von „heute wahr“ etc. zu sprechen. 8 Ein Satz wie „Es wird morgen eine Seeschlacht stattfinden“ ist heute allerdings weder wahr noch falsch, sondern unbestimmt. Nicht jede Aussage ist also wahr oder falsch. Wir sollten „unbestimmt“ als dritten Wahrheitswert einführen.9 Tertium datur. 1.2.3. ... auf das Problem des Unsinns Neben den Wahrheitswerten „wahr“ und „falsch“ ist ein dritter Wahrheitswert „unsinnig“ einzuführen. Tertium datur. 3 Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, S.67. Platon, Phaidon 102b/c. 5 Platon, 7.Brief 344a. 6 Vgl. zu unscharfen Begriffsgrenzen Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen §75. 7 Vgl. P.F. Strawson, On Referring, in: Mind 1950. Sehr lesenswert die Reply von Bertrand Russell in "My Philosophical Development", London 1993 (1959), 175-180. Vgl. auch Gamut I, 178. 8 Das hört sich harmloser an, als es ist. Konsequent hat diesen Gedanken erste A.N.Prior mit der Erfindung der Zeitlogik in den 50er und 60er Jahren ausgearbeitet. 9 Diesen Vorschlag hat der polnische Logiker Lukasiewicz 1931 gemacht. Nachdruck des relevanten Textes in: Berka / Kreiser, Logik-Texte, Berlin 1982. 4 3 1.2.4. ... und auf das Problem der unscharfen Begriffsgrenzen und des Mehr oder Weniger Phaidon gehört 100%-ig zur Menge der großen Menschen. Sokrates gar nicht. Simmias so ungefähr zu 47%. Entsprechend ist der Satz „Phaidon ist groß“ hunderprozentig wahr, der Satz „Simmias ist groß“ nur zu 47%. Zugleich ist der Satz „Simmias ist klein“ zu immerhin 53% wahr. Statt bloß zwei Wahrheitwerten sollte man hundert oder lieber gleich unendlich viele annehmen. Tertium datur? Infinita datur! 2. Mehrwertige Logik 2.1. Zwei seltsame Arten, Wahrheitswerttafeln zu notieren Es gibt zwei von der üblichen Notation abweichende Möglichkeiten, die Wahrheitswerttafeln der zweiwertigen AL auszudrücken. Hier die erste: pvq p 1 0 q 1 1 1 0 1 0 p&q 1 0 p→q 1 0 1 0 0 0 1 1 0 1 ~p 1 0 ~p 0 1 Die Junktoren bekommen damit charakteristische „Gestalten“: Man kann aber die Wahrheitswerttafeln auch "arithmetisch" ausdrücken, wenn man „1“ und „0“ einfach tatsächlich als Zahlen auffaßt: V(~p) = 1 - V(p) V(p&q) = V(p) wenn V(p) ≤V(q), = V(q) andernfalls. V(pvq) = V(p) wenn V(p) ≥V(q), = V(q) andernfalls. In Worten: Die Konjunktion p&q bekommt denselben Wahrheitswert wie p bzw. q, wenn p und q denselben Wahrheitswert haben. Bei unterschiedlichen Wahrheitswerten bekommt sie immer den jeweils kleineren der Wahrheitswerte von p oder q ("Bei 'und' gewinnt im Zweifelsfall der kleinere"). Die Alternation p&q bekommt denselben Wahrheitswert wie p bzw. q, wenn p und q denselben Wahrheitswert haben. Bei unterschiedlichen Wahrheitswerten bekommt sie immer den jeweils größeren der Wahrheitswerte von p oder q ("Bei 'oder' gewinnt im Zweifelsfall der größere"). Die Implikation p→q kann über Negation und Konjunktion charakterisiert werden: V(p→q) = V( ~( p & ~q) ) 4 2.2. Kleene-Systeme 2.2.1. Wahrheitswerttafeln Führt man einen dritten Wahrheitswert ½ ein, so läßt er sich in der Wahrheitswerttabelle in der neu eingeführten Notation einfach "dazwischenschieben": p q 1 ½ 0 pvq 1 ½ 0 p&q 1 ½ 0 p→q 1 ½ 0 1 1 1 1 ½ ½ 1 ½ 0 1 ½ 0 ½ ½ 0 0 0 0 1 1 1 ½ ½ 1 0 ½ 1 ~p 1 ½ 0 ~p 0 ½ 1 Die charakteristischen Gestalten der Junktoren bleiben also gewahrt, bloß mit einer weiteren Linie dazwischen.10 Damit bleiben auch alle Ergebnisse im Falle einer Kombination der Wahrheitswerte 1 und 0 erhalten. An der arithmetischen Formulierung müssen wir nun schon gar nichts mehr ändern. Wir können statt eines weiteren Wahrheitswertes auch mehrere oder gar unendlich viele neue Wahrheitswerte nach demselben Prinzip einschieben. Immer ist die arithmetische Formulierung korrekt. Wir erhalten so leicht eine n-wertige und sogar eine unendlich-wertige Logik. (siehe Zeichnung) 2.2.2. Dreiwertige (Kleene-)Logik und die Seeschlacht Wir können ohne Schwierigkeiten eine Semantik angeben, in der zu einem Zeitpunkt kontingente Sätze zu diesem Zeitpunkt den Wahrheitswert ½ bekommen, Sätze, deren Wahrheit zu jenem Zeitpunkt feststeht den Wert 1 und solche, deren Falschheit feststeht, den Wert 0. Interpretieren wir p, q und r einmal, wie folgt: p = Es wird morgen eine Seeschlacht stattfinden q = 2+2=4 r = 2+2=5 Natürlich haben wir: V(p)=1/2; V(q)=1 und V(r)=0. Zunächst erhalten wir ganz plausible Ergebnisse: (1) Der Satz "Morgen wird keine Seeschlacht stattfinden", ist genauso unbestimmt, wie der, daß sie stattfinden wird. Und tatsächlich: Ist V(p)=1/2, so ist auch V(~p)=1/2. Man muß sich nur davor hüten, daß Zeichen "~" im Sinne von "Es ist nicht wahr, daß" zu lesen. Denn dann müßte V(~p)=1 sein, wenn V(p)=1/2 ist. (2) Dem Satz "Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden und 2+2 ist 4" wird man wohl kaum zustimmen. Aber direkt ablehnen wird man ihn auch nicht. Daß 2+2 4 ist, ist zwar klar, aber ob die Seeschlacht stattfindet, muß sich noch herausstellen. Ob also beides der Fall ist, muß sich 10 Das System von Lukasiewicz unterscheidet sich von Kleene (benfalls aus den 30er Jahren) nur insofern, als es der Implikation zweier unbestimmter Sätze den Wahrheitswert wahr zuweist, was sich allerdings nicht bewährt hat. Vgl. Gamut I, 175. 5 auch erst noch herausstellen. Es ist plausibel, die Konjunktion daher als unbestimmt anzusehen. Und in der Tat ist V(p&q)=1/2. (3) Der Satz "Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden und 2+2=5" kann dagegen auch dann nicht mehr wahr werden, wenn die Seeschlacht stattfindet. Und tatsächlich ist V(p&r)=0. Das Prinzip "bei der Konjunktion im Zweifelsfall immer den niedrigeren Wahrheitswert nehmen!" leistet hier also gute Dienste. (4) Der Satz "Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden oder 2+2 ist 4" ist ohne weiteres als wahr einzuschätzen. Denn daß 2+2 = 4 ist reicht aus, um die Alternation zu befürworten. Daß V(pvq)=1 ist, ist intuitiv ok. (5) Der Satz "Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden und 2+2=5" hat dann eine Chance, wahr zu werden, wenn die Seeschlacht stattfindet. Das ist unbestimmt; also auch die ganze Alternation. Und tatsächlich ist V(pvr)=1/2. Auch das Prinzip "bei der Alternation im Zweifelsfall immer den höheren Wahrheitswert nehmen!" bewährt sich also. (6) Materiale Implikationen sind oft schon in der zweiwertigen Logik nicht gerade plausibel. Trotzdem fährt man hier ganz gut: Wenn morgen eine Seeschlacht stattfindet, ist 2+2=4, wenn nicht, auch: V(p→q)=1, V(~p→q)=1. Wenn 2+2=4 ist, macht das die morgige Seeschlacht auch noch nicht sicher: V(q→p)=1/2. Andere Fälle sind seltsam, aber sie lassen sich mit ex falso quodlibet oder den üblichen Seltsamkeiten der mat. Implikation begründen. Aber leider geht es nicht so gut weiter: (7) Wie steht es mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Ist p wahr oder ist p falsch, so ist V(pv~p)=1. Doch ist p unbestimmt, so ist auch ~p unbestimmt, und somit V(pv~p)=1/2. Der SAD ist also keine Tautologie der dreiwertigen Logik. Daß der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht gilt, wird man vielleicht als einen Preis sehen, den man ja gerade zahlen will, wenn man dreiwertige Logik betreibt. Aber ist das sicher? In unserer Interpretation ist V(p)=1/2, V(~p) ebenfalls und daher V(pv~p)=1/2. Nun ist es zwar unbestimmt, ob die Seeschlacht stattfindet oder, ob sie ausbleibt. Aber es ist doch nicht unbestimmt, ob sie stattfinden wird oder ausbleibt: eins von beidem wird mit Sicherheit geschehen. Man wird sagen, daß der Satz "Die Seeschlacht wird stattfinden, oder sie wird nicht stattfinden" wahr ist. Doch erhalten wir das Ergebnis: unbestimmt. 11 (8) Ist p unbestimmt, so auch ~p, also auch p&~p, also auch ~(p&~p). Der Nichtwiderspruchssatz (NWS) ist also keine Tautologie der dreiwertigen Logik nach Kleene. Ob 11 Dieses Problem hat z.B. den Erfinder der Zeitlogik, Arthur Prior, dazu gebracht, von der dreiwertigen Logik Abschied zu nehmen (Time and Modality, S.97ff). Es wird heute allgemein als Indiz gewertet, daß man futura contingentia nicht dreiwertig behandeln sollte. Logiken, in denen Zukunftssätze u.U. weder wahr noch falsch sind, in denen aber dennoch der SAD gilt, wie es Aristoteles vermutlich wollte, sind allerdings nahe an der Quadratur des Kreises. Der bisher beste Vorschlag wurde von Thomason in Anlehnung an van Fraassen gemacht. Vgl. Thomasons Artikel in B.Kienzle (Hg.), Zustand und Ereignis, Frankfurt a/M. 1994. Aber es gibt auch verschiedene konventionellere Möglichkeiten, das Seeschlachtproblem zu behandeln. Nur muß man dann eine von Aristoteles' Intuitionen aufgeben. 6 die Seeschlacht sowohl stattfindet als auch nicht stattfindet, muß sich demnach erst noch herausstellen. Doch sicher wird man meinen, daß das nicht der Fall sein wird, wissen wir auch schon vorher! Aufgabe: Man kann die Negation etwas anders definieren: p 1 ½ 0 ¬p 0 1 1. Dann erhält "¬" tatsächlich ungefähr die Bedeutung "Es ist nicht wahr, daß". Zeigen Sie, wieso man mit dieser Definition SAD und NWS reparieren kann. Ist nun in puncto Seeschlacht alles in Ordnung? Bitte nehmen Sie in einem kleinen Essay Stellung. Teil II 2.3. Das System von Bochvar und das Problem des Unsinns Das System von Bochvar (Gamut I, 177) erhält ebenso wie das System von Kleene alle klassischen Kombinationen von Wahrheitswerten. Allerdings funktioniert es nicht nach der arithmetischen Regel, sondern nach einer Art Kontaminations-Prinzip. Jede unbestimmte Teilformel kontaminiert eine komplexe Formel und macht sie zu einer unbestimmten Formel. Graphisch gesehen entsteht das Bochvar-System durch das Einschieben von Kreuzen in die zweiwertigen Wahrheitswerttafeln: pvq p 1 ½ 0 q 1 1 ½ 1 ½ ½ ½ ½ 0 1 ½ 0 p&q 1 ½ 0 p→q 1 ½ 0 1 ½ 0 ½ ½ ½ 0 ½ 0 1 ½ 1 ½ ½ ½ 0 ½ 1 ~p 1 ½ 0 ~p 0 ½ 1 Das Bochvar-System eignet sich damit besonders gut für die Interpretation des dritten Wahrheitswertes mit "unisinnig": Wenn ein Teilsatz einer Konjunktion oder Alternation unsinnig ist, so wird die ganze Konjunktion oder Alternation unsinnig. Denn "2+2=4 und Cäsar ist eine Primzahl" oder "2+2=4 oder Cäsar ist eine Primzahl" werden nicht dadurch wahr oder falsch, daß 2+2=4 ist. Vielmehr könnte man argumentieren, daß man einfach ratlos vor solchen Sätzen steht. Damit ist das System von Bochvar geeignet, das Problem des Unsinns darzustellen. 2.4. Präsupposition und das Problem des Nichtseienden Man kann das Kleene-System ziemlich erfolgreich anwenden, um mit dem gegenwärtigen König von Frankreich klarzukommen. Die Grundidee ist dabei folgende: Es gibt Sätze, die, wenn sie nicht wahr sind, dazu führen, daß andere Sätze unbestimmt werden. So ist die Wahrheit des Satzes "Es existiert ein gegenwärtiger König von Frankreich" eine Voraussetzung dafür, daß der Satz "Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl" wahr sein kann. Ebenso ist die Wahrheit dieses Satzes eine Voraussetzung dafür, daß der Satz "Der gegenwärtige König von Frankreich 7 ist kahl" falsch sein kann bzw. der Satz "Der gegenwärtige König von Frankreich ist nicht kahl" wahr. Technisch gesagt: p ist eine Präsupposition für q gdw gilt: Wenn V(p)≠1, dann V(q)=1/2. Wobei klar ist, daß, wenn p Präsupposition von q ist, p auch Präsupposition von ~q ist. Denn gerade wenn V(q)=1/2 ist, ist ja auch V(~q)=1/2. Sei p = "es existiert ein gegenwärtiger König von Frankreich" q = "Der gegenwärtige König von Frankreich ist kahl". So können wir das Problem folgendermaßen analysieren: V(q)=1/2 und V(~q)=1/2, weil p eine Präsupposition von q und von ~q ist und V(p)=0. Doch die dreiwertige Analyse ist noch genauer, wobei der Unterschied zwischen starker Negation (~) und schwacher Negation (¬) ins Spiel kommt: Da V(q)=1/2 ist, ist V(¬q)=1, obwohl V(p)=0 ist. Wie ist das zu erklären? Nun, ~q heißt soviel wie "Es gibt einen gKvF, und er ist nicht kahl"; d.h. ~q wird genau dann wahr, wenn es einen gKvF gibt und er nicht kahl ist. Denn daß es einen gKvF gibt, ist ja eine Präsupposition für die Wahrheit von ~q. Gibt es keinen, ist ~q unbestimmt. ¬q dagegen wird wahr, sowie q nicht wahr ist. D.h. ¬q wird schon dann wahr, wenn es keinen gKvF gibt. Denn auch dann ist es nicht der Fall, daß q wahr ist. Die Wahrheit von ~q impliziert die Wahrheit von ¬q, aber nicht umgekehrt. ¬q ist die externe Negation von q, ~ die interne. Dennoch hat die dreiwertige Analyse von "Der gKvF ist kahl" ein Problem (Gamut I, 189f). betrachten wir die Sätze: r = "Haarausfall ist erblich" s = "Wenn Haarausfall erblich ist, dann ist der gKvF kahl". Nun ist p offenbar eine Präsupposition für s. Ist p falsch, so darf demnach s nicht wahr, sondern muß unbestimmt sein. r kann aber falsch sein, auch wenn p falsch ist. Ist r falsch, so wird aber auch s wahr (ist das Antezedens falsch, so wird die ganze Implikation wahr - egal ob das Consequens wahr, falsch oder, wie hier, unbestimmt ist). 8 12 2.4. Fuzzy Logic und das Problem des Mehr und Weniger 2.4.1. Fuzzy sets Eine unendlichwertige Kleene-Logik scheint zunächst kaum mehr als eine Spielerei. Interessanterweise werden nach einer ihr stark ähnelnden Methode inzwischen U-Bahnen gesteuert, und man arbeitet mit ihr in Schrifterkennungsprogrammen. 13 Die Methode heißt fuzzy logic (ungefähr: ausgefranste, unscharfe Logik). Sie wurde 1965 von L.Zadeh erfunden und beruht auf dem Grundgedanken eines "fuzzy set" (einer Menge mit unscharfen Grenzen) im Gegensatz zu den herkömmlichen "crisp sets". Crisp sets sind dabei Grenzfälle von fuzzy sets, so wie die zweiwertige Logik auch als Kleene-Logik gedeutet werden kann. Ein crisp set läßt sich als zweistellige Element-Funktion E in zwei Zahlen 0 und 1 darstellen: Ist ein Objekt a in einer Menge M enthalten, so ist der Funktionswert von E(a,M)=1. Ist a nicht in M enthalten, so ist E(a,M)=0. Die Elementfunktion eines typischen fuzzy set läßt dagegen beliebige Werte zwischen 0 und 1 als Funktionswerte zu. Wir erhalten so etwas wie: E(a,M)=0.5 E(a,M)=0 E(a,M)=1 E(a,M)=0.8 = "a so halb in M enthalten." = "a ist gar nicht in M enthalten" = "a ist sehr stark in M enthalten" = "a ist ziemlich stark in M enthalten". Man kann auch - muß aber nicht! - die Werte der Elementfunktion eines fuzzy set epistemisch deuten. Dann wäre E(a,M)=0.5 z.B. zu lesen als: Es ist zu 50% wahrscheinlich, daß a in M enthalten ist. Nehmen wir an, M sei die Menge der (körperlich) großen Menschen, a stehe für Phaidon, s für Sokrates und b für Simmias. So können wir die oben genannten Tatsachen so ausdrücken, daß etwa gilt: E(s,M)=0; E(a,M)=0.9; E(b,M)=0.6. 2.4.2. Operationen auf fuzzy sets Auf fuzzy sets kann man Operatoren definieren. Der einfachste ist die Negation. Die Negation eines fuzzy sets M heiße NegM; und für sie gilt: E(x,NegM)= 1 - E(x,M). Demnach ist etwa E(a,NegM)=0.1 und E(b,NegM)=0.4 sowie E(s,NegM)=1. Phaidon ist nicht der Allergrößte und somit ein klein wenig klein, Simmias ist doch etwas klein - und zwar stärker als Phaidon -, während Sokrates ganz klein ist. Ebenso kann man die Konjunktion und die Alternation von Fuzzy sets definieren: Dabei ist ein Gegenstand x gerade so stark in M-und-M' enthalten wie er im geringsten Fall in M bzw. M' enthalten ist. Und x ist gerade so stark in M-oder-M' enthalten wie er im höchsten Fall in M bzw. M' enthalten ist. Kleene läßt grüßen! Ist E(a,M)=0.2 und E(a,M')=0.6, so ist E(a,Mund-M')=0.2, aber E(a,M-oder-M')=0.6. Ist Sokrates sehr klein (1.0) und etwas (0.4) dick, so ist er etwas klein-und-dick, aber sehr klein-oder-dick. Ausgezeichnete Informationen zur fuzzy logic, auf die sich diese Darstellung stützt, finden sich samt Bibliographie im Internet unter http://www.austinlinks.com/Fuzzy/basics.html und http://www.fll.unilinz.ac.at/pdw/fuzzy/fuzzy_set.html. 13 Noch dramatischere Konsequenzen hatte Leibniz' seltsame Spielerei, man könne jede Zahl als Folge aus Nullen und Einsen darstellen. 12 9 2.4.3. Fuzzy Logic und Wahrheit In der Literatur über fuzzy logic findet sich oft die Behauptung, man habe es dabei mit graduellen Wahrheitswerten zu tun. Dabei wird so argumentiert: Die Menge der wahren ebenso wie die Menge der falschen Aussagen ist ein fuzzy set (wobei eines die Negation des anderen ist). Eine Aussage muß nun nicht unbedingt 100%-ig in die Menge der wahren oder aber in die Menge der falschen Aussagen gehören. Sie kann auch z.B. zu 40% in die Menge der wahren und zu 60% in die Menge der falschen Aussagen gehören. Es kann auch fifty-fifty stehen. Eine Darstellung im Internet zeigt einen Leoparden, wobei die Frage gestellt wird, inwiefern der Satz "Dieser Leopard ist schwarz" wahr ist und inwiefern der Satz "Dieser Leopard ist gelb" wahr ist.14 Eine Antwort im Sinne der fuzzy logic liegt hier nahe. 2.4.4. Ein Problem mit gradueller Wahrheit Trotzdem ist der Schritt vom Mehr- oder weniger F-Sein zu gradueller Wahrheit m.E. alles andere als ein harmloser Schritt. Um zu sehen, warum, sollte man sich klar machen, daß die Konjunktions- und Alternationsoperatoren der fuzzy logic keine Satzoperatoren sind. Man bildet mit ihnen im Grunde Prädikate wie "klein-und-dick", "nett-oder-reich" etc. Man verbindet nicht Sätze, in denen diese Prädikate vorkommen. Das bedeutet, daß man in der fuzzy logic zwei mit "und" oder mit "oder" verbundenen Bedeutungseinheiten zwangsläufig auf dasselbe Aussagesubjekt bezieht: eben auf einen Gegenstand, der das komplexe Prädikat erfüllt (oder auch nicht). Hat man nun Sätze mit beliebigen einfachen und komplexen Prädikaten und über viele verschiedene Gegenstände mit gewichteten Wahrheitswerten, so fragt sich, wie diese untereinander zu verbinden sind. Hier bietet sich eine unendlich-wertige Kleene-Logik an. Solange man Sätze über denselben Gegenstand verbindet ist alles in Butter: Ist der Satz "Sokrates ist klein" zu 100% wahr und der Satz "Sokrates ist dick" zu 40%, so ist die Konjunktion beider Sätze zu 40% wahr. Das stimmt damit überein, daß auch der mit komplexem Prädikat gebildete Satz "Sokrates ist klein-und-dick" zu 40% wahr ist. Die Übereinstimmung ist kein Zufall, denn beide Male ist ja das Prinzip "Bei der Konjunktion im Zweifelsfall den kleineren Wert nehmen!" am Werk. Doch was passiert, wenn man zwei Sätze verbindet, die inhaltlich nichts miteinander zu tun haben? Die Konjunktion der Sätze "2+2=4" (100%-ig wahr) und der Satz "Sokrates ist dick" (40%-ig wahr) ist zu 40% wahr. Aber warum in aller Welt soll der Satz "2+2=4, und Sokrates ist dick" zu vierzig Prozent wahr sein? Vielleicht läßt sich das motivieren, aber ich sehe zur Zeit nicht, wie. Am ehesten geht das vielleicht noch mit einer epistemischen Deutung und Fragen "Würdest Du darauf wettten, dass...?". Aber auch damit hat es so seine Tücken. Fazit: Die fuzzy logic tut gut daran, nicht mit Satzoperatoren zu arbeiten und ist eine sehr interessante Sache. Sowie man aber Satzoperatoren einsetzen will, gibt es ein Problem. Aber es ist schwer zu sehen, wie man den Einsatz von Satzoperatoren zur Verbindung beliebiger Sätze ausschließen soll, wenn man so etwas wie True- und False-sets hat. 14 Erik Horstkotte unter http://www.austinlinks.com/Fuzzy/overview.html. 10 3. Russells zweiwertige Lösung für das Problem des Nichtseienden Es gehört zum Grundwissen in der analytischen Philosophie und Logik, die zweiwertige Lösung des Problems des Nichtseienden zu kennen, die Bertrand Russell 1905 für das Beispiel mit dem gegenwärtigen König von Frankreich vorgeschlagen hat: "['The present king of France is bald'] becomes: It is not always false of x that x [is King of France] and that x [is bald] and that ' if y [is King of France] then y is identical with x ' is alway true of y. This may seem a somewhat incredible interpretation; but I am not at present giving reasons, I am merely stating the theory." 15 W.V.O. Quine hat diese Analyse so verallgemeinert, daß sie auch Sätze wie "Pegasus existiert nicht" abdeckt. 16 Aufgabe: 1) Kann man Russells Analyse als prädikatenlogische Formel notieren? 2) Was ist aus dem gegenwärtigen König von Frankreich bei Russell geworden? Was wird Quine mit Pegasus gemacht haben, wenn er Russells Analyse verallgemeinert hat? 3) Gibt es in Russells Analyse ein Pendant zur internen und externen Negation in der dreiwertigen Analyse? Worin unterscheiden sich die beiden Analysen? Bitte nehmen Sie zu den drei Fragen im Rahmen eines kleinen Essays Stellung. N.St. 5/98 Russell, On Denoting, in: Mind 14, 1905, S.482: An dieser Stelle arbeitet Russell eigentlich noch mit einem anderen Beispiel, bei dem ein Aussagesubjekt existiert. Da er seine Analyse mit bezug auf den gKvF nicht noch einmal in ganzer Länge widerholt, habe ich mir erlaubt, das Beispiel in genauer Parallele einzufügen. 16 W.V.O. Quine, On What There Is, in: From a Logical Point of View, Cambridge/Mass. 1980 (1953), S.1-20; vgl. besonders S.7f. 15