Die Bobath-Therapie in der Erwachsenenneurologie

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2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl
Alle oben beschriebenen Abweichungen erschweren oder verhindern normale Gewichtsverlagerung,
Gleichgewicht und Haltungsänderung. Die Behandlung zielt darauf ab, die Störungen, also die Überempfindlichkeit und Unbeweglichkeit des Fußes
zu beseitigen, die Muskellänge und -flexibilität sowie die posturale Kontrolle, und hier insbesondere
die Stabilitätskomponenten, in unterschiedlichen
Situationen zu verbessern. All dies muss in Aktivitäten integriert werden, bei denen die Gewichtsbelastung eine Rolle spielt, wobei die Gewichtsbelastung allmählich zunehmen und die aktive
Bewegung des Fußes variiert werden sollte. Bei-
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spiele für solche Aktivitäten sind der Übergang
vom Sitzen zum Stehen über einen oder beide
Füße, der Übergang vom kontrollierten Stehen zum
Sitzen, der Übergang vom Stehen zum Schrittstand,
das Gehen in verschiedene Richtungen, das Herabsteigen von einer erhöhten Sitzhaltung (auf einem
Bein oder auf beiden Beinen), Treppensteigen etc.
Die Wiederherstellung des dynamischen Zusammenspiels von Fuß, Knie und Hüfte ist von ausschlaggebender Bedeutung für die Fähigkeit des
Patienten, das Gleichgewicht zu halten und sich zu
bewegen.
2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl
Auf der Grundlage von kontinuierlicher Befundaufnahme und Clinical Reasoning wählt der Therapeut die Interventionen aus, die ihm für den individuellen Patienten am besten geeignet erscheinen.
Das Bobath-Konzept ist keine spezifische Behandlungsmethode, sondern ein allgemeines Konzept,
das zurzeit folgendermaßen definiert wird:
Merke:
Das Bobath-Konzept ist ein Ansatz zur Problemlösung in der Befundaufnahme und Behandlung von
Menschen mit Störungen der Funktion, der Bewegung und der posturalen Kontrolle aufgrund einer
Läsion des ZNS (IBITA 2005).
Die Behandlung wird für jeden einzelnen Patienten
„maßgeschneidert“. Wichtigstes Kriterium ist dabei, wie der Patient auf die Behandlung anspricht.
Alle Interventionen basieren also auf den individuellen Voraussetzungen des Patienten, seinen sensomotorischen Dysfunktionen, seinen perzeptiven
und kognitiven Ressourcen und Problemen, den adaptiven kompensatorischen Strategien, die er entwickelt hat, seiner Umgebung sowie seinen Zielen
und Aufgaben. Alle Interventionen sollten auf Aktivitäten ausgerichtet sein, um die Behandlung so effizient wie möglich zu machen, und sollten darauf
abzielen, dass die Resultate der Behandlung in den
Alltag des Patienten integriert werden können.
Aspekte der Behandlung:
– Wiedererlangung der Kontrolle über die Bewegung;
– motorisches Lernen;
– interdisziplinärer Ansatz, um das Lernen und die
Übertragung in den Alltag zu verbessern;
– Verfolgung kompensatorischer Strategien, wenn
die Grenzen des motorischen Lernens erreicht
sind, auch unter Verwendung von Orthesen und
anderen Hilfsmitteln;
– Managementstrategien zur Vermeidung oder
Minimierung von Komplikationen.
2.2.1 Posturale Sets
Bertha Bobath beschreibt posturale Sets als „adaptions of posture [which] change with the intended
movement – in fact, they may precede it“ (Bobath
1990, S. 68). Die einzelnen Körpersegmente stehen
in einem biomechanischen und neuromuskulären
Verhältnis zueinander, das sowohl die Grundlage
für, als auch Konsequenz aus Körperbau des Individuums, Bewegung und Verhältnis zur Umgebung
darstellt. Dieses Verhältnis verändert sich im Verlauf einer Aktivität kontinuierlich. Neuromuskuläre
Aktivität und biomechanische Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. Veränderungen im Verhältnis
zur Umgebung und in den biomechanischen Beziehungen aufgrund von Veränderungen der rotatorischen Komponenten oder der Bewegungsrichtung der Gelenke erfordern eine Anpassung der
neuromuskulären Aktivität, selbst wenn das Ziel
der Bewegung oder Aufgabe sich nicht ändert. Die
neuromuskuläre Aktivität hängt vom Ausgangspunkt der Bewegung ab: Beim Einnehmen einer
stehenden Haltung macht es also durchaus einen
großen Unterschied, ob man dazu von einem niedrigen, weichen Sofa aufsteht oder von einem Barhocker herabsteigt. Wenn man im Stehen oder
Sitzen den Ellbogen flektiert, wird diese Bewegung primär vom M. biceps bewerkstelligt. Befin-
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det sich der Arm dabei jedoch oberhalb der Schulter oder führt man diese Bewegung aus, während
man auf dem Rücken liegt und den Arm nach oben
ausstreckt, übernimmt der M. triceps die Rolle des
Agonisten, da unter diesen Umständen eine stärkere exzentrische Kontrolle erforderlich ist.
Die für eine Beckenkippung erforderliche neuromuskuläre Aktivität ist bei jeder Körperhaltung anders, weil sich mit dem sich verändernden Verhältnis zwischen Schwerkraft und Unterstützungsfläche
auch die biomechanischen Relationen ändern. Aus
diesem Grund findet beim Sitzen, beim Übergang
vom Sitzen zum Stehen, beim Stehen, beim Übergang vom Sitzen zur Rückenlage und in der Rückenlage eine jeweils unterschiedliche neuromuskuläre
Aktivität statt. Unter Bewegungsanalyse versteht
man die detaillierte Analyse einer Bewegung während sämtlicher (Übergangs-)Phasen einer Aktivität, auf deren Grundlage man Hypothesen darüber
aufstellen kann, wie der Patient die neuromuskuläre
Aktivität bei funktionellen Handlungen rekrutiert.
Zusammen mit einer Analyse der Leistungsfähigkeit
des Patienten, wozu auch eine Befundaufnahme und
Evaluierung der perzeptiven und kognitiven Funktionen gehört, bildet die Bewegungsanalyse den Ausgangspunkt für das Clinical Reasoning.
Merke:
Posturale Sets beschreiben, in welchem Verhältnis die einzelnen Körpersegmente zu einem bestimmten Zeitpunk zueinander stehen. Bewegung kann
als kontinuierliche Veränderung von posturalen
Sets beschrieben werden.
Wenn die Filmaufnahme einer Bewegung in Standbilder zerlegt wird, repräsentiert jedes Bild ein anderes posturales Set. Eine Analyse der posturalen
Sets gibt Aufschluss über:
– den Einfluss der Schwerkraft;
– das Verhältnis zur Unterstützungsfläche;
– die Ausrichtung;
– die Bewegungsmuster;
– die neuromuskuläre Aktivität.
Kliniker neigen dazu, Grundstellungen zu analysieren, Menschen bewegen sich jedoch von Stellung zu Stellung, d. h. sie bewegen sich durch die
einzelnen Stellungen hindurch und befinden sich
meistens „zwischen“ verschiedenen Grundstellungen. Zu den Grundstellungen gehören Sitzen, Stehen,
Standschritt sowie Rücken- und Bauchlage. Zu den
wichtigsten Aspekten der Grundstellungen gehören Symmetrie bzw. Asymmetrie (z. B. beim Standschritt) und die Gewichtsverteilung. Unter posturalen Sets versteht man sämtliche Variationen, die
innerhalb einer Grundstellung möglich sind, sowie
die Übergänge zwischen verschiedenen Stellungen.
Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen
posturaler Kontrolle und posturalen Sets. Die Analyse der posturalen Sets einer funktionellen Aktivität ermöglicht es dem Therapeuten, die Veränderungen in der Ausrichtung „der Reihe nach“ zu
beobachten, und Hypothesen über die einer Bewegung zugrunde liegenden neuromuskulären Aktivität aufzustellen. Ob diese Hypothesen zutreffen
oder nicht, stellt sich erst im Verlauf der Behandlung heraus: Verbessert sich der Zustand des Patienten durch die gewählten Interventionen, deutet
dies auf die Richtigkeit der Hypothesen hin. Führen
die gewählten Interventionen jedoch nicht zu einer
Verbesserung der motorischen Kontrolle, müssen
sowohl die Interventionen als auch die Hypothesen
einer nochmaligen Prüfung unterzogen werden.
Der Therapeut muss also die Interventionen kontinuierlich auf die Reaktionen des Patienten und die
auszuführenden Bewegungen abstimmen.
Bei der Behandlung muss darauf geachtet werden, dass posturale Sets zielgerichtet eingesetzt
werden, d. h. die Anforderungen, die ein bestimmtes posturales Set an einen Patienten stellt, dürfen
dessen Fähigkeiten nicht übersteigen. Welche posturalen Sets gewählt werden, hängt einerseits davon ab, inwieweit der Patient sein Gleichgewicht
kontrollieren kann und in welchem Verhältnis sich
sein Körper zur Unterstützungsfläche befindet und
andererseits von der auszuführenden Aktivität oder
Aufgabe. Wenn der Patient eine geringe posturale
Kontrolle, eine flektierte asymmetrische Körperhaltung, eine falsche Ausrichtung oder eine vom Normalen abweichende Tonusverteilung aufweist, wird
er nicht in der Lage sein, eine geeignete Aktivität zu
rekrutieren, um mit der Umgebung zu interagieren
bzw. auf die Umgebung zu reagieren. ShumwayCook u. Woollacott (2006) beschreiben eine ideale
Ausrichtung beim Stehen wie folgt: „(...) muscles
throughout the body, not just those of the trunk, are
tonically active to maintain the body in a narrowly
confined vertical position during quiet stance. Once
the centre of gravity moves outside the narrow range
defined by the ideal alignment, more muscular effort
is required to recover a stable position“. Bei einer optimalen oder idealen Ausrichtung müssen wir unabhängig davon in welchem posturalen Set wir uns
befinden, zur Erhaltung der Stabilität nicht mehr
Kraft aufwenden als unbedingt nötig. Eine ungeeignete oder falsche Ausrichtung hat zur Folge, dass
ein unzweckmäßiges Rekrutierungsmuster beibehalten und auf diese Weise verhindert wird, dass
der Patient seine Reaktion an die Umgebung anpassen kann. Sahrmann (1992) weist darauf hin, dass
normales neuromuskuläres Zusammenspiel, Mus-
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kelgleichgewicht und adaptive Muskelaktivität
eine gute Ausrichtung unterstützen und eine gute
Ausrichtung wiederum eine normale adaptive neuromuskuläre Aktivität begünstigt.
Welche neuromuskuläre Aktivität für eine selektive Bewegung erforderlich ist, hängt davon ab, in
welchem posturalen Set man sich befindet. Ändert
sich die biomechanische Ausrichtung, ändert sich
auch die neuromuskuläre Aktivität.
zu fassen. Es ist jedoch durchaus möglich, die wesentlichen Eigenschaften und Qualitäten einer Körperhaltung herauszuarbeiten und zu beschreiben.
Im Folgenden werden die Grundstellungen Stehen,
Sitzen, Rückenlage und Seitenlage in ihren Grundzügen dargestellt. Alle anderen Haltungen können
nach diesem Muster analysiert werden.
Diese Grundstellung ist vor allem durch die Extension von Rumpf, Kopf, Hals und Beinen gekennzeichnet. Diese selektive Extension basiert auf
dem Zusammenspiel der Rumpfmuskulatur, der
Kernstabilität und der für das Gleichgewicht verantwortlichen Muskelaktivität der Beine. Freihändiges Stehen ist ein aktiver Vorgang, der posturale
Tonus ist relativ hoch, die Unterstützungsfläche
relativ klein. Die Schultern sind leicht protrahiert,
aber relativ entspannt, die Arme hängen locker
herab (Abb. 2.15 a–b). Die Rotation der Arme hängt
von der individuellen biomechanischen Ausrichtung und neuromuskulären Aktivität ab, insbesondere im Bereich des Rumpfes und des Schultergürtels. Eine Zunahme der Extension von Thorax und
Schultergürtel führt zu einer stärkeren Außenrotation der Arme, wohingegen aktive Protraktion und
Flexion eine stärkere Innenrotation bewirken. Ste-
nalyse von Grundstellungen A
und posturalen Sets
Voraussetzung für den Erfolg einer Behandlung und
die Motivation des Patienten ist, dass die als Intervention gewählten posturalen Sets den spezifischen
Problemen des Patienten entsprechen. Vor- und
Nachteile, Variierbarkeit und Schwierigkeitsgrad
eines posturalen Sets müssen unter Berücksichtigung der motorischen Fähigkeiten des Patienten
beurteilt werden. Gleichgewicht und Bewegung resultieren aus der Interaktion vieler Muskelgruppen
und ihrer exzentrischen und konzentrischen Aktivität als Agonisten, Antagonisten und Synergisten.
Es ist nicht möglich, die Muskelaktivität vollständig (d. h. sämtliche Aktivität in allen Muskeln während aller Phasen einer Handlung) zu analysieren,
und das gesamte Ausmaß der Variabilität in Worte
Stehen
b
a
Abb. 2.15 a–b Grundstellung beim Stehen.
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hen ist generell eine Haltung, die die Extension begünstigt. Bei guter Ausrichtung wirkt sich der Einfluss der Schwerkraft positiv auf den posturalen
Tonus und die posturale Kontrolle aus.
Vorteile
Posturale Sets im Stehen bieten unzählige Variationsmöglichkeiten; die Fußposition kann verändert werden, der Patient kann unter Verwendung
von beweglichen oder unbeweglichen Hilfsmitteln
von vorn, von hinten oder von der Seite abgestützt
werden, sodass er gefahrlos seine motorische Kontrolle erforschen kann. Alle Veränderungen verursachen neuromuskuläre Anpassungen. Die Platzierung der Arme beeinflusst die tonale Aktivität im Körper: Wenn der Winkel zwischen Arm
und Rumpf mehr als 90° beträgt, führt dies zu einer besseren Fazilitation der Rumpfextension. Die
Arme können auf unterschiedliche Weise bzw. in
unterschiedlicher Höhe platziert werden. Der aktive Einsatz eines Armes oder beider Arme kann
sich, je nachdem wie die Arme eingesetzt werden,
sowohl positiv als auch negativ auf die posturale
Kontrolle auswirken (Slijper u. Latash 2000, Jeka
1997, Jeka u. Lackner 1994), wie in Abb. 2.16 a–b,
Abb. 2.17 a–c, Abb. 2.18 a–b und Abb. 2.19 zu sehen
ist.
Zwei mögliche posturale Sets im Stehen sind das
Stehen mit parallel ausgerichteten Füßen und der
Schrittstand. Der Übergang vom ersten dieser beiden Sets zum zweiten entspricht der Gewichtsverlagerung beim Gehen. Durch das Üben dieser beiden posturalen Sets kann der Patient lernen, sowohl
die Gewichtsverlagerung als auch den Übergang von
der Stand- zur Schwungphase (auch bei gleichzeitiger Richtungsänderung) besser zu beherrschen.
Veränderungen der Hüftrotation erfordern eine
veränderte neuromuskuläre Aktivität; in physiologischer Hinsicht kann eine Außenrotation im
Standbein die Abduktion und Extension unterstützen und so die Stabilität fördern. Das „Loslassen“ bzw. die exzentrische Aktivierung der Hüftextension/-abduktion/-außenrotation erleichtert
die Einleitung der Schwungphase. Wenn der Patient über ein gewisses Maß an posturaler Kontrolle
verfügt, sich in der Behandlungssituation einigermaßen sicher fühlt und bereit ist, seine Möglichkeiten zu erforschen, sind im Grunde alle Voraussetzungen gegeben, um sowohl die distale als auch
die proximale Ausrichtung therapeutisch zu behandeln und erfolgreich zu korrigieren. Dabei ist
es wichtig, dem Patienten auf adäquate und geeignete Weise Hilfestellung zu leisten, z. B. im Bereich der Knie, sodass er die Rumpfkontrolle oder
a
b
Abb. 2.16 a–b Die Abbildung zeigt eine laterale Gewichtsverlagerung. Der Arm ist auf Schulterhöhe abduziert, während die Patientin einen Ball über eine Fläche
rollt. Wenn die Patientin keinen Druck auf den Ball ausübt, nehmen die Anforderungen an Extension und Stabilität auf der Seite zu, die das Gewicht trägt.
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a
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c
Abb. 2.17 a–c Die Anforderungen an posturale Stabilität und Orientierung nehmen weiter zu, wenn die Arme 
aktiv sind.
die Bewegung des Beckens mit oder ohne Fazilitation erfahren und entwickeln kann. Die Verwendung von Hilfsmitteln, z. B. eine in ihrer Höhe verstellbare Liege (Abb. 2.20 a–d), die vor, hinter oder
neben dem Patienten aufgestellt wird, erleichtert
bzw. ermöglicht das aktive Variieren und Ausprobieren verschiedener Sitz- und Standpositionen.
Der Patient sollte darin unterstützt werden, Erfahrungen mit dem Variieren der exzentrischen Kontrolle und dem Abstufen von Bewegungen in unterschiedliche Richtungen zu sammeln. Exzentrische
Muskelaktivität scheint sowohl eine kräftigende
Wirkung zu haben als auch zu einer effizienteren
Generalisierung (Carry-over-Effekt) beizutragen,
sodass Muskelarbeit und funktionelle Aktivitäten
besser variiert werden können (Patten et al. 2004).
Krafttraining führt zu einer signifikanten Verbesserung der Synaptogenese auf den Motoneuronen im
Rückenmark und scheint sich nicht negativ auf die
Spastizität auszuwirken (Spastizität im Sinne der
Definition von Pandyan et al. 2005; vgl. Kap. 1.3).
Patten et al. (2004) weisen außerdem darauf hin,
dass das Training von Fertigkeiten in Kombination
mit einem aufgabenspezifischen Training die aktivitätsabhängige kortikale Reorganisation verbessert. Die Behandlung sollte also zielgerichtet, spezifische Aspekte des Krafttrainings berücksichtigen
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b
Abb. 2.18 a–b Die Einbeziehung der Wand kann dabei
helfen, die Arme richtig zu platzieren. Die Patientin muss
sowohl den Körper als auch die Arme stabilisieren, um
ihr posturales Set aufrechtzuerhalten und sich gleichzeitig bewegen zu können.
a Mehr Außenrotation des Armes im Schultergelenk,
kombiniert mit Extension im Ellbogengelenk und Pro-
traktion der Schulter verbessert die abdominale Aktivierung als Teil der posturalen Kontrolle. Verbesserte posturale Kontrolle erhöht die Stabilität des Schultergelenks
und des Armes.
b Verbesserte posturale Kontrolle und Stabilisierung des
linken Armes erleichtern die Bewegungsfreiheit für die
Funktionen des rechten Armes.
Abb. 2.19 Fast alle täglichen Aktivitäten erfordern eine
permanente posturale Kontrolle.
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Abb. 2.20 a–b Die Patientin setzt sich auf eine relativ
hohe Bank. Sie muss sich dabei stabilisieren und über
das Standbein bewegen. Diese Situation stellt in Bezug
auf Abduktion und Außenrotation spezifische Anforde- 
rungen an die Hüfte, die das Gewicht trägt, um das Becken auf die Bank zu heben. Außerdem müssen die einzel- 
nen Körpersegmente aufeinander abgestimmt werden.
c Die Rotationskomponenten können variiert werden,
um die Anforderungen an posturale Kontrolle, Gleichge-
wicht und Bewegung zu verändern, sowohl beim Übergang vom Stehen zum Sitzen als auch beim Übergang
vom Sitzen zum Stehen.
d Posturales Set bei erhöhter Sitzhaltung. Diese Haltung
erfordert eine hohe Beckenmobilität (Bewegung des Beckens in Relation zu den Hüften und der Lendenwirbelsäule), erleichtert jedoch den Übergang vom Stehen zum
Sitzen und umgekehrt.
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Abb. 2.21 a–d Sich im Stehen an- oder auszuziehen ist
eine gewöhnliche, alltägliche Aktivität.
a Die Patientin balanciert auf dem rechten Bein, während
sie die Hose über das linke Bein zieht. Dabei handelt es
sich um eine komplexe perzeptive, kognitive und sensomotorische Aktivität, die eine Problemlösung und eine
kontinuierliche Anpassung an die Verlagerung der kleinen Unterstützungsfläche verlangt.
b Die Patientin hängt ihre Hose an einen Haken in Schulterhöhe. Sie muss den Haken im Raum lokalisieren, eine
Problemlösung für diese Aufgabe finden, ihr Gewicht
verlagern und gleichzeitig ihre posturale Stabilität auf-
rechterhalten, um dem Arm die für das Aufhängen der
Hose nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen.
c Beim Anziehen des Pullovers schiebt die Patientin ihren
Arm und ihre Hand in den Ärmel, d. h. Arm und Hand führen eine aktive (Extensions-)Bewegung aus.
d Während sie sich den Pullover über den Kopf zieht, ist
ihre Sicht behindert und die Integration somatosensorischer Inputs erschwert die posturale Kontrolle. Die Bedeutung der sensomotorischen Anpassung, die nötig ist,
um die posturale Kontrolle aufrechtzuerhalten, nimmt zu.
Die Körpersegmente werden aufeinander abgestimmt.
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(exzentrisch) und kontextbasiert sein. Diese Kombination ist am besten geeignet, um die Alltagsfunktion des Patienten zu verbessern.
Posturale Sets im Stehen haben oft eine motivierende Wirkung, da sie es dem Patienten leicht
machen, seinen Körper bzw. das Verhältnis seines
Körpers zur Umgebung bewusst wahrzunehmen.
Stehen hat außerdem eine positive Wirkung auf die
orthostatische Kontrolle des Blutdrucks, die Blutversorgung sowie die Funktion von Lunge, Darm
und Blase.
Nachteile
Manche Patienten haben einen sehr niedrigen posturalen Tonus und daher bereitet es ihnen Schwierigkeiten, sich gegen die Wirkung der Schwerkraft
aufzurichten. Der Gebrauch von Hilfsmitteln, um
sich abzustützen oder anzulehnen, kann dazu führen, dass ungeeignete aktive Flexorkomponenten
rekrutiert werden, die es dem Patienten zusätzlich
schwerer oder sogar unmöglich machen, mit dem
Einfluss der Schwerkraft zurechtzukommen und
eine gute posturale Kontrolle zu entwickeln. Unsicherheit kann diese Flexorstrategien weiter verstärken.
Bei posturalen Sets im Stehen kann es sinnvoll
oder sogar erforderlich sein, dass der Therapeut die
Hilfe eines zweiten Therapeuten oder eines Assistenten in Anspruch nimmt, um die Behandlungssituation so zu gestalten, dass der Patient in die Lage versetzt wird, eine posturale Aktivierung zu entwickeln.
Die Verwendung eines „standing frame“ oder eines
vergleichbaren Hilfsmittels kann in manchen Fällen
angebracht sein. Zu beachten ist dabei, dass der Patient vollständig aufgerichtet sein, d. h. eine vertikale Ausrichtung von 90° haben muss, um den posturalen Tonus und die von der Unterstützungsfläche
(den Füßen) ausgehende Aktivität zu fazilitieren.
a
Sitzen
Wesentliche Merkmale dieser Grundstellung sind
Rumpfextension, Kernstabilität sowie Ausrichtung
von Kopf und Hals in Extension und angemessene
Bauchmuskelaktivität. Die Hüften befinden sich
in einer Position biomechanischer Flexion, aber
die Stabilität beim Sitzen hängt vom Zusammenspiel der neuromuskulären Aktivierung von Extension/Abduktion/Außenrotation und Flexion ab. Die
Oberschenkel ruhen auf der Liege und bilden einen Bezugspunkt für den Rumpf. Die Komponenten der Hüftrotation können variieren, aber die optimale neuromuskuläre Aktivität als Grundlage für
die Stabilität ist eher durch Außen- als durch Innenrotation gekennzeichnet (Abb. 2.22 a–b).
b
Abb. 2.22 a–b Grundstellung beim aufrechten Sitzen.
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Wenn sie nicht aktiv sind, ruhen die Arme in adduzierter Haltung, die Rotation hängt vom neuromuskulären und biomechanischen Verhältnis von
Thorax, Kopf, Hals und Schultergürtel ab. Sitzen ist
für viele Aktivitäten eine funktionelle Position, die
dem Therapeuten viele Handlings- und Variationsmöglichkeiten eröffnet.
Je nachdem, welche neuromuskuläre Aktivität der
Therapeut fazilitieren will, können posturale Sets
im Sitzen nahezu unendlich variiert werden: Aufrechtes oder geneigtes Sitzen, mehr oder weniger
rotiert, nach hinten oder nach vorne gebeugt, auf
hohen oder niedrigen Sitzgelegenheiten, auf der
Sitzfläche oder auf der Kante eines Stuhls, auf unterschiedlichen Sitzgelegenheiten (z. B. Bett, Liege,
verschiedene Stühle und Hocker) von unterschiedlicher Textur und Festigkeit, auf dem Boden. Posturale Sets im Sitzen können in Relation zur Aufgabe
variiert werden, abhängig davon, wo und in welche Richtung die folgende Bewegung des Patienten
gehen soll, d. h. abhängig von der Richtung der zu
entwickelnden Aktivität bzw. der dazu erforderlichen neuromuskulären Aktivität (Abb. 2.23 a–b,
Abb. 2.24 a–b und Abb. 2.25 a–b).
Position, Haltung und Aktivität der Arme beeinflussen die neuromuskuläre Aktivität im Rumpf. Je
nachdem, auf welche Weise die Arme unterstützend eingesetzt werden, kann dadurch die posturale Kontrolle des Patienten vermindert werden, da
sich die Bezugspunkte für die Gleichgewichtsreaktionen von den Füßen (beim Stehen) bzw. dem Gesäß und den Oberschenkeln (beim Sitzen) auf die
Arme und die zur Unterstützung benutzten Hilfsmittel verschieben (Jeka 1997, Jeka u. Lackner 1994;
vgl Kap. 2.2.5). Arme oberhalb von 90° fazilitieren
Rumpfextension und posturale Aktivierung. Wenn
der Patient damit beginnen kann, das Gewicht der
Arme zu übernehmen, werden posturale Stabilität
und Kraft im gesamten Körper und in den Armen
verstärkt, was erforderlich ist, wenn man beispielsweise Teller in einen hohen Schrank einräumen
oder einen Mantel auf einen Haken hängen will.
Die Bewegung des Körpers in Relation zu stabilen
Armen oder die Bewegung der Arme in Relation zu
einem stabilen Rumpf fazilitiert das Zusammenspiel von Stabilität und Bewegung, wodurch die
posturale Kontrolle erleichtert wird (Abb. 2.26).
Posturale Sets im Sitzen können problemlos variiert und den einzelnen Behandlungsphasen angepasst werden: Von einer in erster Linie mobilisie-
Abb. 2.23 a–b Erhöhte Adduktion der Hüften ist ein bei
der Stabilisierung und Bewegung von Hüften und Becken
häufig auftretendes Problem.
a Erhöhte Abduktion/Außenrotation der Hüften kann
Aufrichtung und posturale Kontrolle erleichtern und da-
mit auch das Zusammenspiel einzelner Körpersegmente.
Eine größere und offenere Basis erlaubt eine größere Bewegungsfreiheit proximaler Segmente.
b Variation der Rotation verlagert das Gewicht auf andere Bereiche und erhöht so die Stabilität.
Vorteile
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Abb. 2.24 a–b Selektive Bewegung des Beckens in Relation zu Hüften und Lendenwirbelsäule erfordert eine
Aufrichtung von Rumpf, Kopf und Hals. Zu beachten ist
die Stellung des Kopfes, wenn die Patientin den Rumpf
flektiert. Wenn die Arme – wie abgebildet – auf einem
Tisch oder einer Liege ruhen, ist eine größere Bewegung
der Schultern erforderlich, um den Körper von der Liege
wegzubewegen.
Abb. 2.25 a–b Ein gutes posturales Set, um Kopf und
Hals zu entspannen und das Zusammenspiel einzelner
Körpersegmente in Bezug auf Aufrichtung und posturale Kontrolle zu erleichtern, ist das Sitzen mit auf der
Stirn abgelegtem Kopf. In einer klinischen Situation ist es
wichtig, dem Patienten das aktive Sitzen zu erleichtern.
Er darf dabei jedoch nicht seinen Tonus vermindern oder
über die Stirn Druck ausüben, da dies dem Ziel dieses
posturalen Sets zuwiderlaufen würde.
a
b
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werden, was sich positiv auf die posturale Kontrolle auswirkt und dafür sorgt, dass die Arme für
andere Funktionen zur Verfügung stehen;
– um Bewegungsabläufe zu variieren, z. B. vom Sitzen in die Rückenlage oder vom Sitzen zum Stehen;
– um die feinmotorische Aktivität der Hand bei
gleichzeitiger Aufrechterhaltung der posturalen
Aktivierung zu stimulieren und zu fazilitieren,
oder um Arm und Hand einzusetzen, um die
posturale Kontrolle zu fazilitieren;
– um beim Sitzen mit nach hinten abgelegtem
Oberkörper Zugang zu einem steifen oder überempfindlichen Fuß oder zu verkürzten Hüftflexoren und -adduktoren zu haben, um eine Verbesserung der Stabilität bei Haltungsänderungen und beim Stehen vorzubereiten (Abb. 2.27,
Abb. 2.28 a–g).
Abb. 2.26 Die Patientin stabilisiert sich über den linken
Arm, während sie ihr Gewicht verlagert und sich dreht,
um mit der rechten Hand nach einem Buch zu greifen, das
sich links von ihr befindet. Der linke Arm wird so zu einem
Teil der Unterstützungsfläche, wodurch sie sich weiter
nach links bewegen kann. Die Bewegung kann auf diese
Weise über die ursprünglichen Grenzen der Stabilität hi- 
naus reichen. Sie richtet sich in Relation zu ihrem Arm und
Rumpf auf, stabilisiert sich über die linke Seite und bewegt sich in Relation zu ihrem linken Arm. Der Arm bietet
ihr eine dynamische Unterstützung; sie bewegt sich vom
Arm weg bzw. auf den Arm zu. Dies erfordert eine gute
Mobilität, Stabilität und Koordination im Schultergürtel
und zwischen den einzelnen Körpersegmenten.
renden Phase über eine Fazilitation der Aktivität bis
hin zu einer Phase, in der sich der Patient ohne fremde
Hilfe bewegt. Posturale Sets im Sitzen werden so angepasst, dass die neuromuskuläre Aktivität im Hinblick darauf optimiert wird, welche Funktion der
Patient ausführen soll. So wird beispielsweise eine
erhöhte Sitzhaltung mit hoher Extensorenaktivität
gewählt, wenn die posturale Kontrolle beim Aufstehen fazilitiert werden soll. Für andere Aufgaben
kann z. B. eine frühe Aktivierung/Stimulierung/Fazilitation der Arm- und Handfunktion sinnvoll sein.
Posturale Sets im Sitzen werden eingesetzt:
– um das Becken in Relation zum Rumpf und zur
Unterstützungsfläche zu mobilisieren;
– um die segmentale lumbale Extension zu erleichtern, wodurch Komponenten der Hüftstabilität und der abdominalen Aktivität fazilitiert
Abb. 2.27 Sitzen mit nach hinten abgelegtem Oberkörper. Wichtig ist hierbei eine gute Ausrichtung in Relation zur Unterstützungsfläche. In Abhängigkeit von
der Anpassungsfähigkeit der Hüftflexoren des Patienten
kann diese Position mit stärkerer oder geringerer Unter- 
stützung des Rückens eingenommen werden. Durch 
diese Haltung wird eine exzentrische Dehnung der Wirbelsäulenextensoren erreicht. Guter Kontakt zwischen
dem Lendenwirbelsäulenbereich und den unterstützenden Hilfsmitteln erleichtert die Aktivierung des unteren Rumpfes, um die Position anzupassen oder um
sich aufzurichten.
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Abb. 2.28
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Abb. 2.28 a–g Ausziehen im Sitzen. Gleichgewicht, Bewegung, Gewichtsverlagerung, Rotation, Aufrichtung
und posturale Kontrolle spielen eine Rolle beim An- oder
Ausziehen im Sitzen. Zu beachten ist die Extension der
Arme, wenn Pullover und T-Shirt ausgezogen werden (c,
e, f) – da der Rumpf stabil ist, sind die Arme frei und können leicht in die Kleidungsstücke hinein- bzw. aus ihnen
herausgeführt werden.
Nachteile
g
Aufgrund der größeren Unterstützungsfläche beim
Sitzen neigen Patienten mit einem niedrigen posturalen Tonus dazu, den Oberkörper zu flektieren und
in dieser flektierten Haltung zu verharren, da ihnen
keine andere Strategie zur Verfügung steht. Bei Patienten, die sich bereits an diese Haltung gewöhnt
haben, kann sich dieser Zustand sogar noch verschlimmern, da die Verkürzung der Muskeln, einmal in Gang gesetzt, immer weiter voranschreitet.
Je nachdem, auf welche Weise Hilfsmittel in der
Behandlung eingesetzt werden, können sie den
posturalen Tonus des Patienten unterschiedlich
beeinflussen. Hilfsmittel wie ein Tisch, eine Liege,
ein Stock, ein Kissen oder eine Wand vergrößern die
Unterstützungsfläche. Wenn sich der Patient auf ein
Hilfsmittel aufstützt, werden die Anforderungen an
die posturale Kontrolle reduziert. Wenn sich der Patient in ein Hilfsmittel hineindrückt, einen großen
aus: Gjelsvik, Die Bobath-Therapie in der Erwachsenenneurologie (ISBN 9783131447821) © 2012 Georg Thieme Verlag KG
2.2 Intervention – Überlegungen und Auswahl
Teil seines Gewichts an ein Hilfsmittel abgibt oder
die Unterstützungsfläche fixiert, erhöht sich die
Flexorenaktivität. Der Einsatz von Hilfsmitteln kann
jedoch sinnvoll sein, um Bezugspunkte für eine Bewegung zu schaffen oder die Arme zu entlasten und
so die posturale Kontrolle zu fazilitieren.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, wie die Hilfsmittel beschaffen sind und aus welchem Material
sie bestehen. Eine weiche Sitzfläche wird in stärkerem Maß die Flexoren-/Adduktoren-/Außenrotationsaktivität stimulieren als eine harte Sitzfläche, insbesondere im Bereich des Beckens, der
Hüfte und des unteren Teils des Rumpfes. Ein hohes Hilfsmittel (z. B. eine Wand, ein langer Stock,
ein hoher Tisch oder ein hoher Schrank) ist besser
geeignet, um die Extensorenaktivität zu fazilitieren, als ein niedriges Hilfsmittel. Natürlich ist auch
hier entscheidend, auf welche Weise die Hilfsmittel eingesetzt werden.
Rückenlage
Charakteristisch für posturale Sets in der Rückenlage ist eine Extension in allen Körperregionen.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Patient überhaupt in der Lage ist, Hüften, Lendenwirbelsäule, Hals und Schultergürtel exzentrisch zu
strecken. Die Unterstützungsfläche ist sehr groß,
der Schwerpunkt befindet sich weit unten. Wenn
der Patient in der Lage ist, sich der Unterlage anzupassen und die Muskelspannung „loszulassen“,
ist der posturale Tonus sehr niedrig. Kann sich der
Patient im Becken-/Hüftbereich nicht entspannen,
d. h. vermindert sich der Tonus der Hüftflexoren
nicht, führt dies meist dazu, dass das Becken nach
vorne gekippt wird. Wenn der Patient jedoch lernt,
seine Hüftflexoren und Lendenextensoren exzentrisch zu strecken, werden sich sein Kontakt zur Unterstützungsfläche und seine Ausrichtung sowohl
in Ruhestellung als auch beim Ausführen von Aktivitäten verbessern. Bei dieser Ausrichtung tendieren die Extremitäten dazu, leicht abduziert, außenrotiert und extendiert zu sein. Normalerweise sind
die Unterarme proniert und die Ellbogen leicht
flektiert. Wir neigen dazu, uns in Bezug auf die Umgebung anhand der Stellung unserer Handflächen
zu orientieren (Abb. 2.29).
Vorteile
Posturale Sets in der Rückenlage können auf unterschiedliche Weise variiert werden: Beide Beine
können angewinkelt und in verschiedenen Entfernungen von den Hüften aufgestellt werden. Das
Ausmaß der Hüft- und Knieflexion bestimmt, wie
schwer oder leicht sich das Becken bewegen lässt.
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Abb. 2.29 Posturales Set in der Rückenlage.
Wenn die Füße in geringer Entfernung von den
Hüften aufgestellt werden, können die biomechanischen Verhältnisse so genutzt werden, dass die
durch eine Beckenkippung hervorgerufene Verlagerung des Gewichts auf die Füße fazilitiert werden
kann (Abb. 2.30 a). Hüftextension und posturale
Aktivierung können verbessert werden, indem die
Knie so weit nach vorne gebracht werden, dass sie
sich genau über den Füßen befinden (Abb. 2.30 b).
a
b
Abb. 2.30 a–b Liegen mit angewinkelten Beinen und
Beckenkippung, um die posturale Aktivierung zu erleichtern. Zu beachten sind in den beiden Abbildungen
die Position der Knie in Relation zu den Füßen und die
daraus resultierende Hüftextension und Aktivierung des
unteren Rumpfes.
a Die Knie bewegen sich vorwärts über die Füße, um die
selektive Beckenkippung zu ermöglichen.
b Selektive Beckenkippung setzt Stabiliät in den Sprungund Kniegelenken voraus und die Aktivierung der ischiokruralen, der glutäalen und abdominalen Muskulatur.
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2 Physiotherapie
Je weiter die Füße von den Hüften entfernt aufgestellt sind, desto schwieriger wird die Rekrutierung der Becken- und posturalen Aktivität, da sich
die biomechanische Ausrichtung ändert. Der Oberkörper kann mit Kissen abgestützt werden, um die
exzentrische Streckung der Rumpfextensoren zu
erhöhen und auf diese Weise die abdominale Aktivität zu fazilitieren. Das Zusammenspiel von Abdominal- und neuromuskulärer Extensorenaktivität
ist von entscheidender Bedeutung für die selektive
Beckenaktivität, Mobilität und Stabilität. Unter der
Voraussetzung, dass der Patient mit dieser Position
gut zurechtkommt, sind posturale Sets in der Rückenlage gut geeignet, um eine spezifische Mobilisierung von verkürzten oder inaktiven Muskeln
herbeizuführen. In therapeutischer Hinsicht können die verschiedenen Phasen des Übergangs vom
Sitzen zur Rückenlage bzw. umgekehrt ausgenutzt
werden, um eine abgestufte Koordination von Flexoren-, Extensoren-, Abduktoren-, Adduktoren- und
Rotationskomponenten innerhalb einzelner Körpersegmente und zwischen verschiedenen Körpersegmenten zu fazilitieren, um die Kontrolle
über Stabilität und Bewegung zu verbessern.
Nachteile
In der Rückenlage ist der posturale Tonus normalerweise sehr niedrig, weshalb es in dieser Position
relativ schwierig ist, gegen die Schwerkraft gerichtete Aktivitäten zu initiieren. Die große Kontaktfläche hat zur Folge, dass viel Reibung und Trägheit
überwunden werden müssen. Um in der Rückenlage aktiv zu sein und sich zum Sitzen aufrichten zu
können, muss der Patient entweder seine posturale
Aktivität einigermaßen kontrollieren können oder
es muss die Möglichkeit bestehen, dass diese Aktivität fazilitiert werden kann. Der Übergang von der
Rückenlage zum Sitzen ist ein sehr komplexer Vorgang, der, wenn er vom Patienten ohne fremde Hilfe
bewerkstelligt werden soll, eine gewisses Maß an
posturaler Kontrolle sowie die Fähigkeit erfordert,
die Flexoren-, Extensoren-, Abduktoren-, Adduktoren- und Rotationskomponenten dieser Bewegung graduell zu verändern. Oft werden Patienten,
sogar in den frühen Stadien nach einer ZNS-Läsion,
dazu aufgefordert, diese Bewegung weitgehend
ohne fremde Hilfe und ohne Positionsanpassungen
durchzuführen, was einen großen Einfluss auf die
Wahl der kompensatorischen Strategien auch bei
anderen Funktionen hat. Aus diesem Grund ist
die Rückenlage meist nicht die erste Wahl in der
Behandlung von Patienten mit einem niedrigen
posturalen Tonus, sondern ist eher geeignet, um
Patienten mit einem höheren Maß an Hintergrundaktivität im Hinblick auf spezifische Komponenten
von Stabilität, Bewegung und Kraft zu trainieren.
Bei manchen Patienten erhöht sich der Tonus
in der Rückenlage. Sie sind nicht in der Lage, sich
der Unterstützungsfläche anzupassen. Sie empfinden diese Position als unbequem, fühlen sich unsicher und verletzlich. Weitere Gründe für die
Erhöhung des Tonus können eine verminderte
segmentale Mobilität und ein mangelhaftes Zusammenspiel einzelner Körpersegmente sein, weshalb
der Patient nicht oder nur in unzureichendem Maß
in der Lage ist, sich zu bewegen und das Gewicht
zu verlagern, um seine Haltung zu verändern. Gewicht und Reibung sind Faktoren, die die Bewegung erschweren, auch im Hinblick auf das therapeutische Handling.
Seitenlage
Posturale Sets in der Seitenlage zeichnen sich durch
eine Extension der unteren Seite, die das Gewicht
trägt, und eine stärker flektierte Ausrichtung der
oberen Seite aus (Abb. 2.31 a–e). Aufgrund der Interaktion mit der Unterstützungsfläche werden im
Hinblick auf die Stabilität an die untere Seite höhere Anforderungen gestellt.
Vorteile
Posturale Sets in der Seitenlage können variiert werden, indem die Rotationskomponenten innerhalb
des Rumpfes oder der Extremitäten verändert oder
indem mehr oder weniger Kissen verwendet werden, um die Stabilität zu erhöhen (Abb. 2.31 a–e).
Posturale Sets in der Seitenlage ermöglichen eine
hohe Mobilität zwischen proximalen Körpersegmenten und die Fazilitation der Platzierung von
Oberarm oder Oberschenkel, um die posturale Stabilität und Kraft zu erhöhen. Bei Schlaganfallpatienten kann das Liegen auf der stärker betroffenen
Seite aufgrund der Gewichtbelastung und der taktilen Inputs Mobilität und Stabilität stimulieren
und die posturale Aktivität sowohl zentraler als
auch proximaler Segmente fazilitieren. Das Liegen
auf der weniger stark betroffenen Seite kann die
Stabilität dieser Seite erhöhen, die dadurch besser
als Hintergrund für Bewegungen der betroffenen
Gliedmaßen dienen kann.
Nachteile
Posturale Sets in der Seitenlage sind relativ instabil, da die Kontaktfläche lang und schmal ist und
sich der Schwerpunkt weiter oben befindet als bei
der Rückenlage. In der Behandlung können sich daraus gewisse Schwierigkeiten ergeben, z. B. kann
der oben liegende Teil des Schultergürtels instabil sein, weil der Patient nicht in der Lage ist, sich
an die Unterstützungsfläche anzupassen oder die
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a
b
c
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Abb. 2.31 a–e Seitenlage mit verschiedenen unterstützenden Hilfsmitteln.
e
untere Seite nicht exzentrisch strecken kann. Die
stabile Position der Schulterblätter hängt von der
Aktivierung der Interkostalmuskulatur und der
Muskulatur des Rumpfes ab. Wenn diese überdehnt oder inaktiv sind, „rutschen“ die Schulterblätter auf dem Rumpf nach oben und erschweren
so die selektive Platzierung der Arme. Die Stabilität der Seitenlage kann verbessert werden, indem
Hilfsmittel (z. B. eng zusammengerollte Handtücher) unter den Rumpf geschoben werden bzw.
den Rumpf von vorn und von hinten abstützen. Der
Oberschenkel kann mithilfe von Kissen stabilisiert
werden (Abb. 2.31c).
Bei der Behandlung muss der Therapeut darauf
achten, dass die gewählten posturalen Sets den
spezifischen Problemen des Patienten entsprechen, d. h. er muss seine Entscheidungen selbstkritisch hinterfragen. Entscheidende Fragen bei der
Wahl posturaler Sets sind:
– Kann die Position des Patienten leicht variiert
werden, um eine geeignete Rekrutierung der
neuromuskulären Aktivität herbeizuführen?
– Können die posturalen Sets beim graduellen
Übergang von einer Position zu einer anderen
leicht variiert werden?
– Wie viel Anstrengung kostet ein posturales Set
den Patienten?
– Welche motorischen Strategien werden fazilitiert?
– Verliert der Patient die motorische Kontrolle wieder, die er in einer bestimmten Position gewonnen hat, wenn er in eine andere Position wechselt?
Bei unseren alltäglichen Aktivitäten bewegen wir
uns kontinuierlich von einer Position in eine andere. Es kommt relativ selten vor, dass wir eine bestimmte Position über einen längeren Zeitraum beibehalten. Dies muss in der Therapie berücksichtigt
werden: Der Patient soll lernen, die Kontrolle über
seine Bewegungen wiederzuerlangen, und nicht
eine statische Aktivität aufrechtzuerhalten. Für diesen Lernprozess ist es wichtig, dass die Behandlung
vor allem auf Funktionalität ausgerichtet ist.
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