SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst SWR2 extra: Der Erste Weltkrieg 14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs (5/6) Der Aufstand Autoren: Christine Sievers und Nicolaus Schröder Redaktion: Thomas Nachtigall und Udo Zindel Sendung: Freitag, 2. Mai 2014, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Wissen/Aula (Montag bis Sonntag 8.30 bis 9.00 Uhr) sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für 12,50 € erhältlich. Bestellmöglichkeiten: 07221/929-26030 SWR 2 Wissen können Sie ab sofort auch als Live-Stream hören im SWR 2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/wissen.xml Manuskripte für E-Book-Reader E-Books, digitale Bücher, sind derzeit voll im Trend. Ab sofort gibt es auch die Manuskripte von SWR2 Wissen als E-Books für mobile Endgeräte im so genannten EPUB-Format. Sie benötigen ein geeignetes Endgerät und eine entsprechende "App" oder Software zum Lesen der Dokumente. Für das iPhone oder das iPad gibt es z.B. die kostenlose App "iBooks", für die Android-Plattform den in der Basisversion kostenlosen Moon-Reader. Für Webbrowser wie z.B. Firefox gibt es auch so genannte Addons oder Plugins zum Betrachten von EBooks. http://www1.swr.de/epub/swr2/wissen.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de 1 MANUSKRIPT Atmo: Pfeifen Zitator – Robert Pöhland: Gestern kam ich durch einen Wald, in dem ein wunderschöner Friedhof für deutsche Krieger angelegt war. Es lagen da schon Hunderte. Welcher Jammer einen da überkommt, wenn man sich vergegenwärtigt, wieviel Glück hier begraben liegt und wieviel Elend und Jammer bei den Angehörigen dadurch erzeugt wurde, dann durchrieselt einen ein eisiger Schauer. Diese Unmenschen, die immer noch behaupten, der Krieg muss noch weitergeführt werden, die müssten dies alles nur für ganz kurze Zeit durchzumachen haben, dann würden sie sicher anderen Sinnes. Alles schmachtet so nach Frieden, nur diese, die nicht dieses Elend zu ertragen brauchen, schwatzen vom „Durchhalten“. Was wäre es für ein Segen, wenn ihr in der Heimat den Frieden erzwingen könntet. Erzähler: Die Meldungen über Siege, Heldentaten und Vormärsche verfangen nicht mehr. In drei Jahren hat der Krieg Millionen Tote gefordert, an der Front und in der Heimat. Die Menschen haben keine Kraft mehr, sie zweifeln. Das Aufbegehren wächst, Klassengegensätze lassen sich nicht länger unterdrücken, Forderungen nach politischer Teilhabe auch nicht. Das Vertrauen in die alte Ordnung ist zerbrochen und die Tage der uneingeschränkten Herrschaft von Kaiser, König, Priester oder Lehrer sind gezählt. Ersten Streiks folgen Revolten, die zu Revolutionen werden. Die Welt, wie sie war, gerät aus den Fugen. Frau singt: Ich hatt’ einen Kameraden, Einen bessern findst du nit. Die Trommel schlug zum Streite, Er ging an meiner Seite In gleichem Schritt und Tritt. Zitator: Dem Gefreitem Mattock gelang es, in übermenschlichen Heldenmut mit bloßer Hand eine feindliche Maschinengewehrstellung auszuschalten; eine Tat, bei der er leider tödlich verwundet wurde. Liedtext: Eine Kugel kam geflogen, Gilt’s mir oder gilt es dir? Ihn hat es weggerissen, Er liegt mir vor den Füßen, Als wär’s ein Stück von mir. Zitator: Sterbend bat Korporal Eroglu darum, ihn die geheiligte Flagge der Osmanen küssen zu lassen, nachdem er todesmutig eine Granate mit seinem eigenen Körper abgewehrt hatte, die für seinen geliebten Vorgesetzten bestimmt war. 2 Zitator : Für unseren Zaren zu sterben, so seufzte Fähnrich Worobjow in seinem letzten Atemzug, sei das Höchste, was er in seinem jungen Leben sich habe erträumen können. Liedtext: Will mir die Hand noch reichen, Derweil ich eben lad. Kann dir die Hand nicht geben, Bleib du im ew’gen Leben Mein guter Kamerad! Zitatorin – Elfriede Kuhr Ich weine ja auch nicht deshalb, weil unsere Soldaten den Heldentod gestorben sind, denn der Heldentod ist etwas Großes. Ich weine bloß, weil sie gestorben sind, einfach gestorben. Kein Morgen, kein Abend mehr – tot. Wenn einer Mutter der Sohn fällt, wird sie sich die Augen ausweinen, nicht weil er den Heldentod gestorben ist, sondern weil er hin ist, begraben, fort. Er sitzt nicht mehr am Tisch, sie kann ihm keine Stulle mehr abschneiden oder seine Strümpfe stopfen. Da kann sie nicht „Danke" sagen, dass er den Heidentod gestorben ist. Erzähler: Mit ihren 15 Jahren beginnt Elfriede Kuhr an den Losungen der Erwachsenen zu zweifeln. Sie lebt in Schneidemühl, dem heutigen Piła. Der Ort in Westpommern ist im Ersten Weltkrieg ein wichtiger Bahnknotenpunkt. Hier hat Elfriede die Soldaten beobachtet, die singend in den Krieg zogen; jetzt sieht sie Lazarettzüge, Gefangenentransporte und Särge. Zweifel nicht nur in der Heimat: In den Stellungen an der Westfront tauchen 1917 erste Kritzeleien auf: Zitator: Der Heldentod bringt uns nichts. Das andere sind leere Flausen. Zitator: Nieder mit den Herren Offizieren, die Hunde sind Schufte! Zitator: Nicht morden, wir wollen Frieden! Erzähler: darunter ein Kommentar: Zitator: Du hast recht, Kamerad. Zitator Liebe Kameraden, unsere Weiber haben nichts zum Essen. Schießt sie tot, die es fressen, das sind die Herren Offiziere der deutschen Armee. 3 Zitator: Geheimbefehl des Generalkommandos des Marine-Korps an alle Kompanieführer in Flandern, 6.1.17: Ich habe mit Missfallen bemerkt, dass in den Unterkünften von Mannschaften, in den Frontstellungen usw. sich vielfach Bekritzelungen der Wände auf dem Gebiet der Friedenssehnsucht bewegen. Es kann und darf bei uns in der Front, vor dem Feinde, vom Frieden keine Rede sein! „Der Krieg bis aufs Messer“ und „als Ziel der unbedingte Sieg“ sind die Losung! Unser voller Sieg allein kann zum deutschen Frieden führen. Diese einfache Logik soll jedem Mann klar sein. Alle Inschriften auf den Wänden, in Kasernen und vorn im Schützengraben, sofern sie eine andere Sinnesart als erbitterten Krieg, Angriff und den festen Willen zum Sieg zeigen, sind unverzüglich zu beseitigen. Zitator – Vincenzo D’Aquila: Wir waren eine kuriose Truppe. Und viel zu naiv, um ängstlich zu sein. In meinen Ohren klangen immer wieder die gleichen Sätze wie ‚my country, right or wrong’ – ‚egal, ob falsch oder richtig, es ist mein Land’. Meine und die Mentalität meiner Mitreisenden bestand aus Parolen wie dieser und wir hatten die fixe Idee, dass keine anderen Menschen so großartig sind wie wir, kein anderes Land so viel Genialität hervorgebracht hat wie unser Vaterland. Genie und Größe sprieße aus der Heimaterde, ungefähr genauso wie Kartoffeln. Erzähler: So beschreibt Vincenzo D’Aquila die Stimmung auf der „San Gugliamo“, auf der er sich mit 1.500 anderen italienischen Patrioten in New York eingeschifft hatte. Als Freiwillige wollten die Italo-Amerikaner auf der Seite der Entente gegen die bereits an mehreren Fronten geschwächten Österreicher kämpfen. Ein Abenteuer, das ihn zum Helden machen und seinem Heimatland eine reiche Beute bringen sollte – Südtirol und die Hafenstadt Triest. Vincenzo D’Aquila ist Sizilianer, vor der Jahrhundertwende war seine Familie aus Palermo in die USA emigriert. Sein Patriotismus verfliegt schon nach wenigen Wochen an der Front. Als Sekretär im Stab des Generals Cadorna erlebt er die Schlacht am Isonzo. Zitator – Vincenzo D’Aquila: Der Stab des Hauptquartiers der Infantriebrigade aus Bergamo, die an der Caporetto-Tolmino-Front eingesetzt war, erreichte ihre bestens geschützte Hütte auf der Anhöhe des Cigni. Eifrige Bedienstete hatten den Beobachtungsposten schon vorbereitet. Sie hatten die Möbel ins Freie getragen und die Ausrüstung an die vorgesehenen Plätze gestellt. Als unsere Vorgesetzten auftauchten, standen wir respektvoll in einer Reihe und salutierten. Mit raschen und gleichgültigen Bewegungen erwiderten sie unseren Gruß. Schon bald wurde ich Zeuge eines grausamen Gemetzels, dass sich vor unseren Augen entfaltete und dessen Ausmaß ich kaum beschreiben kann. Kompanie für Kompanie wurde auf die Hänge des Monte Santa Lucia und des Monte Santa Maria geführt und eine nach der anderen wurde abgeschlachtet. Ich sah auch die Kompanie, der ich noch bis vor kurzem angehört hatte. Ich sah meine Kameraden, mit denen ich einmal brüderlich Arm in Arm in einer bitterkalten Hütte geschlafen hatte, um uns vor der Kälte zu schützen – und jetzt sah ich ihren schrecklichen Tod. Erzähler: 4 Der Befehl lautet: „Stürmen bis zum letzten Mann“. Vincenzo D’Aquilas Kompanie besteht aus 250 Soldaten. Gerade 25 überleben. Zitator – Vincenzo D’Aquila: Ich hörte einen Untergebenen des Generals sagen, dies sei doch eine äußerst Mitleid erregende Szene gewesen, seine Antwort lautete nur: „Bring mir mehr Sherry und halte den Mund.“ Es war schwer zu glauben, dass er überhaupt ein menschliches Wesen ist. Diese kaltschnäuzige Ratte sitzt auf seinem bequemen, weichen Stuhl und justiert sein Feldglas, nur um einen noch besseren Blick auf dieses ekelerregende Schauspiel zu haben. Erzähler: Bedingungslose Disziplin fordern die Militärs von ihren Untergebenen. Ein Apparat aus Kontrollen, harten Strafen, Einschüchterungen und Abschreckung soll die Disziplin aufrecht erhalten. Defaitisten, Drückebergern, Deserteuren oder Soldaten, die sich selbst verstümmeln, drohen Kriegsgericht und Erschießungskommando. Zitator – Louis Barthas: Bei seinem Kontrollgang überraschte ein Leutnant einen unserer Wachposten beim Periskop. Der kleine Bretone, so nannten wir ihn, schlief, vielleicht träumte er süß von der Bretagne oder seiner hübschen kleinen Bretonin, deren Portrait er mir einmal stolz gezeigt hatte. Der Fall war schwerwiegend. Der Schuldige war zutiefst niedergeschlagen. Er hätte andeuten können, dass er überlastet war, dass er sterbensmüde war und er deshalb einfach eingeschlafen sei. Aber der arme Junge blieb stumm, was seine Lage nur verschlimmerte. Zaghaft versuchte ich, ihn zu verteidigen, dass er noch sehr jung sei, dass er in dieser Nacht nur zur Vertretung den Wachposten übernommen hatte, dass die Müdigkeit ihn einfach übermannt hatte. Aber der Offizier hat mein Plädoyer abgebrochen: „Man wird sehen“, sagte er schroff, „das Kriegsgericht wird entscheiden.“ Erzähler: Seit 1914 kämpft der Korporal Louis Barthas an der Westfront gegen die Deutschen. Im Zivilleben ist er Fassmacher und lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen im Languedoc. Im Frühjahr 1917 ist er an der Aisne stationiert, wo die französische Armee in einer Großoffensive den als uneinnehmbar geltenden Höhenzug Chemin des Dames besetzen will. Alle Armeen haben eine Militärgerichtsbarkeit aufgebaut, in der Verteidigung kaum möglich ist. In Italien werden 1917 750 Soldaten hingerichtet, in Frankreich im selben Jahr 629. Im Deutschen Reich sind die Zahlen niedriger, aber auch hier drohen drakonische Strafen. Der junge Bretone aus Barthas Zug entgeht dem Peloton. Dafür schickt ihn das Kriegsgericht auf ein Himmelfahrtskommando. Zitator – Louis Barthas: Um einen zweiten Gasangriff besser planen zu können, setzte man eine Gruppe von Soldaten ein, sie hieß „franche“, die die Wirkung des vorherigen Angriffs auskundschaften musste – in den Gräben des Feindes. Dazu gehörte jetzt auch der junge Bretone. Hatte man schon die Hälfte, dreiviertel oder etwa alle Boches getötet? Gab es dort noch jemanden, der überhaupt niesen konnte? Diese Aufgabe ist sehr gefährlich, weil man von den Deutschen nicht gerade freundlich empfangen wurde. 5 Auch bestand die Gefahr, dass die Männer an ihrem eigenen Gas ersticken, trotz Gasmasken, deren Schutz mehr als zweifelhaft ist. Zitatorin – Elfriede Kuhr: Niemand schreit mehr auf der Straße wie früher: „Extrablatt! Extrablatt!“ Wir lesen die Kriegsnachrichten in den Zeitungen oder im Aushang der Redaktion. Im Moment findet eine große Schlacht an der Somme statt; unsere Truppen wollen den Durchbruch durch die englischen und französischen Stellungen erzwingen. Mit Heldenmut wird um jeden Zoll Boden gekämpft. Die Erde ist mit tausenden Soldatenleichen bedeckt. Vor Saint Quentin und Cambrai fließen Ströme von Blut. Verdun, „die Hölle von Verdun“, ist nicht mehr so umkämpft. Ich glaube, die Offensive, die so viele Opfer gekostet hat, ist als aussichtslos aufgegeben worden. Das ist am Krieg so furchtbar, dass so viele Schlachten ganz vergeblich sind. Und die Opfer? Erzähler: Das Jahr 1917 ist das Jahr der Revolte. In allen europäischen Ländern gehen die Menschen auf die Straße. Essen, Rechte, Frieden – so wie es ist, kann es nicht bleiben. Als erste Monarchie fällt das russische Zarenreich. Der Kriegsverlauf hat den Zusammenbruch beschleunigt: 1,2 Millionen Tote, Verwundete oder gefangene russische Soldaten allein in den ersten Kriegsmonaten. Nur ein Drittel der russischen Soldaten verfügt 1915 über ein Gewehr. 1916 schickt ein unfähiger Generalstab in einer einzigen Offensive 850.000 Mann in den sicheren Tod. Dazu ständige Versorgungsengpässe, die in manchen Regionen des Zarenreiches Hungersnöte auslösen. 1917 implodiert das System. Im März muss der Zar abdanken. Überstürzte demokratische Reformen sollen die Lage stabilisieren; Soldatenräte sollen die Streitkräfte zu den „freiesten in der Welt“ machen, wie Kriegsminister Alexander Kerenski behauptet. Doch für Reden ist es zu spät. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, und die Bolschewiken haben mit ihrer Forderung, den Krieg sofort zu beenden, längst die Massen hinter sich. Zitatorin – Marina Yurlowa: Mitten auf dem Bürgersteig kam mir eine Gruppe von sechs Soldaten entgegen, die einen roten Unterrock wie eine Fahne schwenkten. In ihrer Mitte ging ein alter Mann in Generalsuniform, der aus einer kleinen Wunde unter seinem Auge blutete. Die Soldaten schubsten ihn, er hob beschwichtigend die Hände, er wollte sprechen. „Brüder, ich bin 60 Jahre alt. Seit meiner Jugend habe ich wie meine Vorfahren dem Zaren und meinem Land mit Liebe und Hingabe gedient. Dies ist mein einziger Fehler: Ich liebe Russland, ich liebe meine Russen und ich fordere Sie auf, mich gehen zu lassen.“ Erzähler: Mit 16 Jahren ist Marina Yourlowa bei einer zaristischen Kosaken-Einheit zur Fahrerin ausgebildet worden. Nach einer schweren Verwundung wird sie in einem Krankenhaus in Baku versorgt. 1917 gehört die aserbaidschanische Hauptstadt zu den Hochburgen der Bolschewiken. Zitatorin – Marina Yourlowa: „Er fordert uns auf“, schrie da der Soldat mit der Flagge, „dieses Schwein stellt Forderungen, so Genossen folge ich seiner Aufforderung!“ Und dann trat er vor und spuckte dem General direkt ins Gesicht. Vielleich war der General nur überrascht 6 oder einfach zu stolz, er machte jedenfalls keine Anzeichen, den Speichel abzuwischen, der langsam von seinem Bart zu tropfen begann. Dann machte er einen Schritt auf den Flaggenträger zu, der ihm ohne zu zögern sein Bajonett in die Brust stieß. Sofort drängten alle anderen Soldaten nach und rammten ihre Bajonette ebenso in den alten Mann, als wäre der nicht schon von dem ersten Stich getötet worden. Erzähler: Der Zar ist fort, das politische System kämpft ums Überleben und in den Weiten des russischen Reichs macht sich Anarchie breit. Zitatorin – Marina Yourlowa: Es waren Menschen wie dieser tote General, dachte ich mit einem Mal, die unsere Soldaten zu solcher Mordlust aufgestachelt hatten. Er war höchstwahrscheinlich dafür verantwortlich, dass tausende junger Männer unter den fürchterlichsten Umständen zu Tode gekommen waren. Ich bemühte mich jetzt, dies alles aus den Augen der aufgeputschten Zuschauer zusehen, weil ich ja durchaus auch auf ihrer Seite stand. Erzähler: Der russischen Armeeführung entgleitet die Kontrolle. Überall gibt es nun Soldatenräte. Adel und Großbürgertum verlassen fluchtartig das Land. Die Bolschewiken kämpfen um die Macht. Die Ereignisse in Russland werden überall in Europa aufmerksam verfolgt. In Großbritannien gründen sich nach russischem Vorbild Arbeiterräte. Immer neue Streikwellen erfassen die Industriebetriebe, auch Rüstungsfabriken bleiben nicht von Streiks verschont. Hier arbeiten Frauen 12 bis 13 Stunden am Tag. Pulver mischen, Granaten befüllen, Zünder verschrauben, Kisten schleppen. Zitatorin – Gabrielle West: Die Mädchen hier sind sehr rau und widerspenstig. Sie machen ihren eigenen Krieg und sie legen es darauf an. Es gibt endlose Regeln und wir müssen sie durchsetzen. Gestern brach ein großer und fürchterlicher Streik aus, wie immer forderten sie mehr Lohn und weniger Arbeit. Sie stürmten umher, kreischten und schrien. Schließlich haben sie sogar eine meiner Kolleginnen niedergeschlagen. Erzähler: Gabrielle West ist 20 Jahre alt, als sie im Januar 1917 ihren Dienst in der Munitionsfabrik in Pembrey, Süd-Wales, antritt. Hier werden TNT und andere Sprengstoffe produziert. West ist in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen. Freiwillig hat sie sich für die Arbeit bei der neugebildeten weiblichen Polizeitruppe gemeldet. Die Frauen sollen die Arbeiterinnen in den Rüstungsbetrieben unter Kontrolle halten. West ist entsetzt über die Bedingungen in den so genannten „Danger Buildings“, wo die Frauen giftigen Dämpfen ausgesetzt sind: Zitatorin – Gabrielle West: Eine von ihnen, Mary Morgan heißt sie, hat die fürchterlichsten Anfälle. Erst wird sie puterrot im Gesicht, dann windet und verdreht sich ihr Körper ganz gewaltig, sie reißt sich an den Haaren, zerkratzt ihr Gesicht. Wir müssen sie zu fünft festhalten, um sie davor zu bewahren, sich selbst zu verletzen. Die favorisierten Behandlungsmethoden 7 für diese Mädchen sind: mit kaltem Wasser bespritzen, kneifen, schlagen, ohrfeigen, heißen Tee zwischen ihre Zähne gießen, sie auf den Kopf stellen und es ist sogar üblich, sich auf ihren Bauch zu setzen. Die Fabrik ist sehr schlecht ausgestattet. Die Schutzkleidung ist schrecklich schmutzig und besteht mehr oder weniger aus Lumpen. Es gab bisher nur vier Betten im Behandlungsraum, obwohl wir wegen der Dämpfe mindestens 16 bis 18 Fälle pro Nacht haben. Wenn es Verbesserungen gab, so haben wir Polizistinnen sie bewirkt. Seitdem sind wir sehr beliebt, manche Mädchen bewundern uns sogar. Erzähler: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist ein Fremdwort, junge Männer verdienen in den Munitionsfabriken mehr als das Doppelte einer Arbeiterin. Frauen werden als Menschen zweiter Klasse behandelt. Als Hilfspolizistin, die nicht vereidigt ist wie ihre männlichen Kollegen, hat Gabrielle West wenig Möglichkeiten, bessere Arbeitsbedingungen oder gar Löhne durchzusetzen. Und dennoch: Frauenwahlrecht und Gleichberechtigung – während des Krieges wird diese Bewegung immer stärker. Der Kommunist und der Kaiser – für einen historischen Moment verbinden Lenin und Friedrich Willhelm II. gleiche Interessen. Der Revolutionsführer hat dem Deutschen Reich Frieden versprochen. Das würde, so die Hoffnung der Obersten Heeresleitung, eine Truppenverlagerung von der Ost- an die Westfront erlauben. Zitator: Morgens trat der Transport zum Abmarsch auf dem Kasernenhofe an. Dies Antreten vollzog sich unter lautem Murren und mit erkennbar beabsichtigter Langsamkeit. Der zur Eile antreibende Kompanieführer wurde verhöhnt. Auch nach dem Erscheinen des Bataillonskommandeurs murrten die Leute weiter, riefen nach Urlaub und stießen die Gewehre auf den Boden auf. Nachdem zum Abmarsch in Gruppen abgeschwenkt war, wurde laut gerufen: Erste Gruppe stehen bleiben, wir wollen nicht ins Feld. Die ganze Kolonne blieb darauf stehen und konnte erst durch wiederholtes Antreiben dazu bewegt werden, der vorausmarschierenden Musik zu folgen. Die gleiche Widersetzlichkeit zeigte sich beim Einsteigen in den Zug. Die meisten Leute stiegen nur zögernd nach wiederholtem Zureden ein. Erzähler: Auch an der Westfront ist aus Wandkritzelei Befehlsverweigerung geworden. Ernst Jünger Je näher das Infantrie-Feuer kam, desto mehr Gestalten sah man rechts und links durch den Grund verschwinden, die auf Anruf kaum eine Antwort gaben. Sogar Maschinengewehre wurden zurückgeschleppt. Diese Leute schienen mir von ihren Nerven ziemlich verlassen zu sein, trotzdem hielt ich sie an, erstens weil mich das disziplinlose Davonlaufen ärgerte, zweitens weil ich zur Verteidigung noch Leute nötig hatte. Erzähler: Gerade ist der 22-jährige Ernst Jünger zum Kompaniechef befördert worden. Selbst die aussichtslose Lage lassen bei ihm keine Zweifel aufkommen. Vorwärts bis zum Sieg! 8 Zitator – Ernst Jünger: So einfach ist es nun grade nicht, rückwärts strebende Leute in schwerem Feuer aufzuhalten. Dies Benehmen ärgerte mich gewaltig, ich beschloss, andere Saiten aufzuziehen. Ich befahl: „Anschlagen auf die Ausreißer!“ Im selben Moment knallten schon einige Schüsse, trotzdem ich von Feuer nichts gesagt hatte. Aber das Mittel war wirksam. Die Leute blieben stehen. Man sah es ihren Gesichtern und Schritten an, wie ungern sie uns Gesellschaft leisteten. Unter ihnen war auch die Kasinoordonnanz Voker, der wie ein Hase durch die Trichter flitzte und erst auf einen nachgefeuerten Schuss beidrehte. Er wollte sich unter allerlei Ausflüchten noch loseisen, ich ließ jedoch nicht locker. Erzähler: In Flandern, wo Jünger sein strenges Kommando führt, greifen die Briten in einer großen Offensive an. Sie wollen die Frontlinie verstärken, angesichts der bevorstehenden deutschen Truppenverlagerung von Ost nach West. Unter Trommelfeuer versinken zwei Armeen bei Dauerregen in einer Schlammwüste. Im April 1917 sind die USA in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Jetzt erreichen die ersten Verbände die Front. Die Truppenaufstockung auf beiden Seiten verändert – nichts. Auch der französische Großangriff am Chemin des Dames, der die Wende bringen sollte, bleibt wirkungslos. 200.000 französische Soldaten sterben. Louis Barthas überlebt. Jetzt ist auch er mit seiner Kraft am Ende. Gesang Zitator – Louis Barthas: Eines Abends begann ein Korporal ein Lied mit Parolen der Revolution zu singen, die sich gegen das traurige Leben im Schützengraben richtet, er klagte, dass wir unsere Lieben verabschiedet haben ohne sie vielleicht je wiederzusehen, er äußerte seine Wut gegen die Verantwortlichen für diesen schmutzigen Krieg und gegen die Reichen, die uns kämpfen lassen ohne sich je selbst zu beteiligen. Immer mehr Kameraden stimmten ein. Am Ende gab es frenetischen Beifall und alle zusammen riefen: „Paix ou Révolution! A bas la guerre! Permission! Permission!“ „Frieden oder Revolution! Nieder mit dem Krieg! Endlich Urlaub!“ Dann erklang die Internationale. Erzähler: Der Widerstand ist geweckt. Kein Soldat lässt sich länger einfach so ins Feuer schicken. Befehle, Drohungen und Einschüchterungen funktionieren nicht mehr. Die uneingeschränkte Macht der Offiziere ist zerbrochen. Zitator – Louis Barthas: Am 30. Mai fand eine Versammlung außerhalb des militärischen Areals statt. Es sollte nach russischem Vorbild ein Sowjet, ein Soldatenrat gewählt werden, mit jeweils drei Männern pro Kompanie, der das Regiment leitet. In der Zwischenzeit verfasste ich ein Manifest, dass wir später unseren Kompaniechefs übergaben, um den längst überfälligen Urlaub zu erwirken, darin hieß es unter anderem: „Wir haben unser Leben dem Vaterland geopfert, aber jetzt sind wir an der Reihe und verlangen unseren längst überfälligen Urlaub.“ Das Manifest wurde von einem Poilu mit sonorer Stimme vorgetragen. Der Applaus war überragend. Die Revolution wurde handfest. 9 Erzähler: Die Soldaten wollen nach Hause. Das Ackerland liegt brach. Die Saat für den nächsten Winter muss ausgebracht werden. Frauen und Kinder hungern. Zwei Monate lang meutern 60 französische Divisionen, das sind mehr als eine halbe Million Soldaten. Die Armee steht kurz vor der Auflösung. Zitator – Louis Barthas Am Nachmittag erhielten wir eine Antwort auf unsere Forderung: Es gab ein ausdrückliches Versprechen auf Urlaub, schon am nächsten Tag sollten sieben von hundert ihren Urlaub nehmen können. Die hochnäsigen Militärs haben vor uns kapituliert. Darauf entstand ein freudiger Tumult. Vor den verblüfften Offizieren stimmten wir die Internationale an und sie mussten uns machtlos zuhören. ***** (Teil 6, Freitag, 9. Mai, 8.30 Uhr) 10