SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst SWR2

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SÜDWESTRUNDFUNK
SWR2 Wissen – Manuskriptdienst
SWR2 extra: Der Erste Weltkrieg
14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs (5/6)
Der Aufstand
Autoren: Christine Sievers und Nicolaus Schröder
Redaktion: Thomas Nachtigall und Udo Zindel
Sendung: Freitag, 2. Mai 2014, 8:30 Uhr, SWR2 Wissen
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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MANUSKRIPT
Atmo:
Pfeifen
Zitator – Robert Pöhland:
Gestern kam ich durch einen Wald, in dem ein wunderschöner Friedhof für deutsche
Krieger angelegt war. Es lagen da schon Hunderte. Welcher Jammer einen da
überkommt, wenn man sich vergegenwärtigt, wieviel Glück hier begraben liegt und
wieviel Elend und Jammer bei den Angehörigen dadurch erzeugt wurde, dann
durchrieselt einen ein eisiger Schauer. Diese Unmenschen, die immer noch
behaupten, der Krieg muss noch weitergeführt werden, die müssten dies alles nur für
ganz kurze Zeit durchzumachen haben, dann würden sie sicher anderen Sinnes.
Alles schmachtet so nach Frieden, nur diese, die nicht dieses Elend zu ertragen
brauchen, schwatzen vom „Durchhalten“. Was wäre es für ein Segen, wenn ihr in der
Heimat den Frieden erzwingen könntet.
Erzähler:
Die Meldungen über Siege, Heldentaten und Vormärsche verfangen nicht mehr. In
drei Jahren hat der Krieg Millionen Tote gefordert, an der Front und in der Heimat.
Die Menschen haben keine Kraft mehr, sie zweifeln.
Das Aufbegehren wächst, Klassengegensätze lassen sich nicht länger unterdrücken,
Forderungen nach politischer Teilhabe auch nicht. Das Vertrauen in die alte Ordnung
ist zerbrochen und die Tage der uneingeschränkten Herrschaft von Kaiser, König,
Priester oder Lehrer sind gezählt. Ersten Streiks folgen Revolten, die zu
Revolutionen werden. Die Welt, wie sie war, gerät aus den Fugen.
Frau singt:
Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bessern findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Zitator:
Dem Gefreitem Mattock gelang es, in übermenschlichen Heldenmut mit bloßer Hand
eine feindliche Maschinengewehrstellung auszuschalten; eine Tat, bei der er leider
tödlich verwundet wurde.
Liedtext:
Eine Kugel kam geflogen,
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt mir vor den Füßen,
Als wär’s ein Stück von mir.
Zitator:
Sterbend bat Korporal Eroglu darum, ihn die geheiligte Flagge der Osmanen küssen
zu lassen, nachdem er todesmutig eine Granate mit seinem eigenen Körper
abgewehrt hatte, die für seinen geliebten Vorgesetzten bestimmt war.
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Zitator :
Für unseren Zaren zu sterben, so seufzte Fähnrich Worobjow in seinem letzten
Atemzug, sei das Höchste, was er in seinem jungen Leben sich habe erträumen
können.
Liedtext:
Will mir die Hand noch reichen,
Derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
Bleib du im ew’gen Leben
Mein guter Kamerad!
Zitatorin – Elfriede Kuhr
Ich weine ja auch nicht deshalb, weil unsere Soldaten den Heldentod gestorben sind,
denn der Heldentod ist etwas Großes. Ich weine bloß, weil sie gestorben sind,
einfach gestorben. Kein Morgen, kein Abend mehr – tot. Wenn einer Mutter der Sohn
fällt, wird sie sich die Augen ausweinen, nicht weil er den Heldentod gestorben ist,
sondern weil er hin ist, begraben, fort. Er sitzt nicht mehr am Tisch, sie kann ihm
keine Stulle mehr abschneiden oder seine Strümpfe stopfen. Da kann sie nicht
„Danke" sagen, dass er den Heidentod gestorben ist.
Erzähler:
Mit ihren 15 Jahren beginnt Elfriede Kuhr an den Losungen der Erwachsenen zu
zweifeln. Sie lebt in Schneidemühl, dem heutigen Piła. Der Ort in Westpommern ist
im Ersten Weltkrieg ein wichtiger Bahnknotenpunkt. Hier hat Elfriede die Soldaten
beobachtet, die singend in den Krieg zogen; jetzt sieht sie Lazarettzüge,
Gefangenentransporte und Särge.
Zweifel nicht nur in der Heimat: In den Stellungen an der Westfront tauchen 1917
erste Kritzeleien auf:
Zitator:
Der Heldentod bringt uns nichts. Das andere sind leere Flausen.
Zitator:
Nieder mit den Herren Offizieren, die Hunde sind Schufte!
Zitator:
Nicht morden, wir wollen Frieden!
Erzähler:
darunter ein Kommentar:
Zitator:
Du hast recht, Kamerad.
Zitator
Liebe Kameraden, unsere Weiber haben nichts zum Essen. Schießt sie tot, die es
fressen, das sind die Herren Offiziere der deutschen Armee.
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Zitator:
Geheimbefehl des Generalkommandos des Marine-Korps an alle Kompanieführer in
Flandern, 6.1.17: Ich habe mit Missfallen bemerkt, dass in den Unterkünften von
Mannschaften, in den Frontstellungen usw. sich vielfach Bekritzelungen der Wände
auf dem Gebiet der Friedenssehnsucht bewegen. Es kann und darf bei uns in der
Front, vor dem Feinde, vom Frieden keine Rede sein! „Der Krieg bis aufs Messer“
und „als Ziel der unbedingte Sieg“ sind die Losung! Unser voller Sieg allein kann zum
deutschen Frieden führen. Diese einfache Logik soll jedem Mann klar sein. Alle
Inschriften auf den Wänden, in Kasernen und vorn im Schützengraben, sofern sie
eine andere Sinnesart als erbitterten Krieg, Angriff und den festen Willen zum Sieg
zeigen, sind unverzüglich zu beseitigen.
Zitator – Vincenzo D’Aquila:
Wir waren eine kuriose Truppe. Und viel zu naiv, um ängstlich zu sein. In meinen
Ohren klangen immer wieder die gleichen Sätze wie ‚my country, right or wrong’ –
‚egal, ob falsch oder richtig, es ist mein Land’. Meine und die Mentalität meiner
Mitreisenden bestand aus Parolen wie dieser und wir hatten die fixe Idee, dass keine
anderen Menschen so großartig sind wie wir, kein anderes Land so viel Genialität
hervorgebracht hat wie unser Vaterland. Genie und Größe sprieße aus der
Heimaterde, ungefähr genauso wie Kartoffeln.
Erzähler:
So beschreibt Vincenzo D’Aquila die Stimmung auf der „San Gugliamo“, auf der er
sich mit 1.500 anderen italienischen Patrioten in New York eingeschifft hatte. Als
Freiwillige wollten die Italo-Amerikaner auf der Seite der Entente gegen die bereits an
mehreren Fronten geschwächten Österreicher kämpfen. Ein Abenteuer, das ihn zum
Helden machen und seinem Heimatland eine reiche Beute bringen sollte – Südtirol
und die Hafenstadt Triest.
Vincenzo D’Aquila ist Sizilianer, vor der Jahrhundertwende war seine Familie aus
Palermo in die USA emigriert. Sein Patriotismus verfliegt schon nach wenigen
Wochen an der Front. Als Sekretär im Stab des Generals Cadorna erlebt er die
Schlacht am Isonzo.
Zitator – Vincenzo D’Aquila:
Der Stab des Hauptquartiers der Infantriebrigade aus Bergamo, die an der
Caporetto-Tolmino-Front eingesetzt war, erreichte ihre bestens geschützte Hütte auf
der Anhöhe des Cigni. Eifrige Bedienstete hatten den Beobachtungsposten schon
vorbereitet. Sie hatten die Möbel ins Freie getragen und die Ausrüstung an die
vorgesehenen Plätze gestellt. Als unsere Vorgesetzten auftauchten, standen wir
respektvoll in einer Reihe und salutierten. Mit raschen und gleichgültigen
Bewegungen erwiderten sie unseren Gruß. Schon bald wurde ich Zeuge eines
grausamen Gemetzels, dass sich vor unseren Augen entfaltete und dessen Ausmaß
ich kaum beschreiben kann. Kompanie für Kompanie wurde auf die Hänge des
Monte Santa Lucia und des Monte Santa Maria geführt und eine nach der anderen
wurde abgeschlachtet. Ich sah auch die Kompanie, der ich noch bis vor kurzem
angehört hatte. Ich sah meine Kameraden, mit denen ich einmal brüderlich Arm in
Arm in einer bitterkalten Hütte geschlafen hatte, um uns vor der Kälte zu schützen –
und jetzt sah ich ihren schrecklichen Tod.
Erzähler:
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Der Befehl lautet: „Stürmen bis zum letzten Mann“. Vincenzo D’Aquilas Kompanie
besteht aus 250 Soldaten. Gerade 25 überleben.
Zitator – Vincenzo D’Aquila:
Ich hörte einen Untergebenen des Generals sagen, dies sei doch eine äußerst
Mitleid erregende Szene gewesen, seine Antwort lautete nur: „Bring mir mehr Sherry
und halte den Mund.“ Es war schwer zu glauben, dass er überhaupt ein
menschliches Wesen ist. Diese kaltschnäuzige Ratte sitzt auf seinem bequemen,
weichen Stuhl und justiert sein Feldglas, nur um einen noch besseren Blick auf
dieses ekelerregende Schauspiel zu haben.
Erzähler:
Bedingungslose Disziplin fordern die Militärs von ihren Untergebenen. Ein Apparat
aus Kontrollen, harten Strafen, Einschüchterungen und Abschreckung soll die
Disziplin aufrecht erhalten. Defaitisten, Drückebergern, Deserteuren oder Soldaten,
die sich selbst verstümmeln, drohen Kriegsgericht und Erschießungskommando.
Zitator – Louis Barthas:
Bei seinem Kontrollgang überraschte ein Leutnant einen unserer Wachposten beim
Periskop. Der kleine Bretone, so nannten wir ihn, schlief, vielleicht träumte er süß
von der Bretagne oder seiner hübschen kleinen Bretonin, deren Portrait er mir einmal
stolz gezeigt hatte. Der Fall war schwerwiegend. Der Schuldige war zutiefst
niedergeschlagen. Er hätte andeuten können, dass er überlastet war, dass er
sterbensmüde war und er deshalb einfach eingeschlafen sei. Aber der arme Junge
blieb stumm, was seine Lage nur verschlimmerte. Zaghaft versuchte ich, ihn zu
verteidigen, dass er noch sehr jung sei, dass er in dieser Nacht nur zur Vertretung
den Wachposten übernommen hatte, dass die Müdigkeit ihn einfach übermannt
hatte. Aber der Offizier hat mein Plädoyer abgebrochen: „Man wird sehen“, sagte er
schroff, „das Kriegsgericht wird entscheiden.“
Erzähler:
Seit 1914 kämpft der Korporal Louis Barthas an der Westfront gegen die Deutschen.
Im Zivilleben ist er Fassmacher und lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen im
Languedoc. Im Frühjahr 1917 ist er an der Aisne stationiert, wo die französische
Armee in einer Großoffensive den als uneinnehmbar geltenden Höhenzug Chemin
des Dames besetzen will.
Alle Armeen haben eine Militärgerichtsbarkeit aufgebaut, in der Verteidigung kaum
möglich ist. In Italien werden 1917 750 Soldaten hingerichtet, in Frankreich im selben
Jahr 629. Im Deutschen Reich sind die Zahlen niedriger, aber auch hier drohen
drakonische Strafen. Der junge Bretone aus Barthas Zug entgeht dem Peloton. Dafür
schickt ihn das Kriegsgericht auf ein Himmelfahrtskommando.
Zitator – Louis Barthas:
Um einen zweiten Gasangriff besser planen zu können, setzte man eine Gruppe von
Soldaten ein, sie hieß „franche“, die die Wirkung des vorherigen Angriffs
auskundschaften musste – in den Gräben des Feindes. Dazu gehörte jetzt auch der
junge Bretone. Hatte man schon die Hälfte, dreiviertel oder etwa alle Boches getötet?
Gab es dort noch jemanden, der überhaupt niesen konnte? Diese Aufgabe ist sehr
gefährlich, weil man von den Deutschen nicht gerade freundlich empfangen wurde.
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Auch bestand die Gefahr, dass die Männer an ihrem eigenen Gas ersticken, trotz
Gasmasken, deren Schutz mehr als zweifelhaft ist.
Zitatorin – Elfriede Kuhr:
Niemand schreit mehr auf der Straße wie früher: „Extrablatt! Extrablatt!“ Wir lesen die
Kriegsnachrichten in den Zeitungen oder im Aushang der Redaktion. Im Moment
findet eine große Schlacht an der Somme statt; unsere Truppen wollen den
Durchbruch durch die englischen und französischen Stellungen erzwingen. Mit
Heldenmut wird um jeden Zoll Boden gekämpft. Die Erde ist mit tausenden
Soldatenleichen bedeckt. Vor Saint Quentin und Cambrai fließen Ströme von Blut.
Verdun, „die Hölle von Verdun“, ist nicht mehr so umkämpft. Ich glaube, die
Offensive, die so viele Opfer gekostet hat, ist als aussichtslos aufgegeben worden.
Das ist am Krieg so furchtbar, dass so viele Schlachten ganz vergeblich sind. Und
die Opfer?
Erzähler:
Das Jahr 1917 ist das Jahr der Revolte. In allen europäischen Ländern gehen die
Menschen auf die Straße. Essen, Rechte, Frieden – so wie es ist, kann es nicht
bleiben. Als erste Monarchie fällt das russische Zarenreich. Der Kriegsverlauf hat den
Zusammenbruch beschleunigt: 1,2 Millionen Tote, Verwundete oder gefangene
russische Soldaten allein in den ersten Kriegsmonaten. Nur ein Drittel der russischen
Soldaten verfügt 1915 über ein Gewehr. 1916 schickt ein unfähiger Generalstab in
einer einzigen Offensive 850.000 Mann in den sicheren Tod. Dazu ständige
Versorgungsengpässe, die in manchen Regionen des Zarenreiches Hungersnöte
auslösen. 1917 implodiert das System. Im März muss der Zar abdanken. Überstürzte
demokratische Reformen sollen die Lage stabilisieren; Soldatenräte sollen die
Streitkräfte zu den „freiesten in der Welt“ machen, wie Kriegsminister Alexander
Kerenski behauptet. Doch für Reden ist es zu spät. Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt
Lenin, und die Bolschewiken haben mit ihrer Forderung, den Krieg sofort zu
beenden, längst die Massen hinter sich.
Zitatorin – Marina Yurlowa:
Mitten auf dem Bürgersteig kam mir eine Gruppe von sechs Soldaten entgegen, die
einen roten Unterrock wie eine Fahne schwenkten. In ihrer Mitte ging ein alter Mann
in Generalsuniform, der aus einer kleinen Wunde unter seinem Auge blutete. Die
Soldaten schubsten ihn, er hob beschwichtigend die Hände, er wollte sprechen.
„Brüder, ich bin 60 Jahre alt. Seit meiner Jugend habe ich wie meine Vorfahren dem
Zaren und meinem Land mit Liebe und Hingabe gedient. Dies ist mein einziger
Fehler: Ich liebe Russland, ich liebe meine Russen und ich fordere Sie auf, mich
gehen zu lassen.“
Erzähler:
Mit 16 Jahren ist Marina Yourlowa bei einer zaristischen Kosaken-Einheit zur
Fahrerin ausgebildet worden. Nach einer schweren Verwundung wird sie in einem
Krankenhaus in Baku versorgt. 1917 gehört die aserbaidschanische Hauptstadt zu
den Hochburgen der Bolschewiken.
Zitatorin – Marina Yourlowa:
„Er fordert uns auf“, schrie da der Soldat mit der Flagge, „dieses Schwein stellt
Forderungen, so Genossen folge ich seiner Aufforderung!“ Und dann trat er vor und
spuckte dem General direkt ins Gesicht. Vielleich war der General nur überrascht
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oder einfach zu stolz, er machte jedenfalls keine Anzeichen, den Speichel
abzuwischen, der langsam von seinem Bart zu tropfen begann. Dann machte er
einen Schritt auf den Flaggenträger zu, der ihm ohne zu zögern sein Bajonett in die
Brust stieß. Sofort drängten alle anderen Soldaten nach und rammten ihre Bajonette
ebenso in den alten Mann, als wäre der nicht schon von dem ersten Stich getötet
worden.
Erzähler:
Der Zar ist fort, das politische System kämpft ums Überleben und in den Weiten des
russischen Reichs macht sich Anarchie breit.
Zitatorin – Marina Yourlowa:
Es waren Menschen wie dieser tote General, dachte ich mit einem Mal, die unsere
Soldaten zu solcher Mordlust aufgestachelt hatten. Er war höchstwahrscheinlich
dafür verantwortlich, dass tausende junger Männer unter den fürchterlichsten
Umständen zu Tode gekommen waren. Ich bemühte mich jetzt, dies alles aus den
Augen der aufgeputschten Zuschauer zusehen, weil ich ja durchaus auch auf ihrer
Seite stand.
Erzähler:
Der russischen Armeeführung entgleitet die Kontrolle. Überall gibt es nun
Soldatenräte. Adel und Großbürgertum verlassen fluchtartig das Land. Die
Bolschewiken kämpfen um die Macht. Die Ereignisse in Russland werden überall in
Europa aufmerksam verfolgt.
In Großbritannien gründen sich nach russischem Vorbild Arbeiterräte. Immer neue
Streikwellen erfassen die Industriebetriebe, auch Rüstungsfabriken bleiben nicht von
Streiks verschont. Hier arbeiten Frauen 12 bis 13 Stunden am Tag. Pulver mischen,
Granaten befüllen, Zünder verschrauben, Kisten schleppen.
Zitatorin – Gabrielle West:
Die Mädchen hier sind sehr rau und widerspenstig. Sie machen ihren eigenen Krieg
und sie legen es darauf an. Es gibt endlose Regeln und wir müssen sie durchsetzen.
Gestern brach ein großer und fürchterlicher Streik aus, wie immer forderten sie mehr
Lohn und weniger Arbeit. Sie stürmten umher, kreischten und schrien. Schließlich
haben sie sogar eine meiner Kolleginnen niedergeschlagen.
Erzähler:
Gabrielle West ist 20 Jahre alt, als sie im Januar 1917 ihren Dienst in der
Munitionsfabrik in Pembrey, Süd-Wales, antritt. Hier werden TNT und andere
Sprengstoffe produziert. West ist in einer wohlhabenden Familie aufgewachsen.
Freiwillig hat sie sich für die Arbeit bei der neugebildeten weiblichen Polizeitruppe
gemeldet. Die Frauen sollen die Arbeiterinnen in den Rüstungsbetrieben unter
Kontrolle halten. West ist entsetzt über die Bedingungen in den so genannten
„Danger Buildings“, wo die Frauen giftigen Dämpfen ausgesetzt sind:
Zitatorin – Gabrielle West:
Eine von ihnen, Mary Morgan heißt sie, hat die fürchterlichsten Anfälle. Erst wird sie
puterrot im Gesicht, dann windet und verdreht sich ihr Körper ganz gewaltig, sie reißt
sich an den Haaren, zerkratzt ihr Gesicht. Wir müssen sie zu fünft festhalten, um sie
davor zu bewahren, sich selbst zu verletzen. Die favorisierten Behandlungsmethoden
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für diese Mädchen sind: mit kaltem Wasser bespritzen, kneifen, schlagen, ohrfeigen,
heißen Tee zwischen ihre Zähne gießen, sie auf den Kopf stellen und es ist sogar
üblich, sich auf ihren Bauch zu setzen.
Die Fabrik ist sehr schlecht ausgestattet. Die Schutzkleidung ist schrecklich
schmutzig und besteht mehr oder weniger aus Lumpen. Es gab bisher nur vier
Betten im Behandlungsraum, obwohl wir wegen der Dämpfe mindestens 16 bis 18
Fälle pro Nacht haben. Wenn es Verbesserungen gab, so haben wir Polizistinnen sie
bewirkt. Seitdem sind wir sehr beliebt, manche Mädchen bewundern uns sogar.
Erzähler:
Gleicher Lohn für gleiche Arbeit ist ein Fremdwort, junge Männer verdienen in den
Munitionsfabriken mehr als das Doppelte einer Arbeiterin. Frauen werden als
Menschen zweiter Klasse behandelt. Als Hilfspolizistin, die nicht vereidigt ist wie ihre
männlichen Kollegen, hat Gabrielle West wenig Möglichkeiten, bessere
Arbeitsbedingungen oder gar Löhne durchzusetzen. Und dennoch: Frauenwahlrecht
und Gleichberechtigung – während des Krieges wird diese Bewegung immer stärker.
Der Kommunist und der Kaiser – für einen historischen Moment verbinden Lenin und
Friedrich Willhelm II. gleiche Interessen. Der Revolutionsführer hat dem Deutschen
Reich Frieden versprochen. Das würde, so die Hoffnung der Obersten Heeresleitung,
eine Truppenverlagerung von der Ost- an die Westfront erlauben.
Zitator:
Morgens trat der Transport zum Abmarsch auf dem Kasernenhofe an. Dies Antreten
vollzog sich unter lautem Murren und mit erkennbar beabsichtigter Langsamkeit. Der
zur Eile antreibende Kompanieführer wurde verhöhnt. Auch nach dem Erscheinen
des Bataillonskommandeurs murrten die Leute weiter, riefen nach Urlaub und
stießen die Gewehre auf den Boden auf. Nachdem zum Abmarsch in Gruppen
abgeschwenkt war, wurde laut gerufen: Erste Gruppe stehen bleiben, wir wollen nicht
ins Feld. Die ganze Kolonne blieb darauf stehen und konnte erst durch wiederholtes
Antreiben dazu bewegt werden, der vorausmarschierenden Musik zu folgen. Die
gleiche Widersetzlichkeit zeigte sich beim Einsteigen in den Zug. Die meisten Leute
stiegen nur zögernd nach wiederholtem Zureden ein.
Erzähler:
Auch an der Westfront ist aus Wandkritzelei Befehlsverweigerung geworden.
Ernst Jünger
Je näher das Infantrie-Feuer kam, desto mehr Gestalten sah man rechts und links
durch den Grund verschwinden, die auf Anruf kaum eine Antwort gaben. Sogar
Maschinengewehre wurden zurückgeschleppt. Diese Leute schienen mir von ihren
Nerven ziemlich verlassen zu sein, trotzdem hielt ich sie an, erstens weil mich das
disziplinlose Davonlaufen ärgerte, zweitens weil ich zur Verteidigung noch Leute
nötig hatte.
Erzähler:
Gerade ist der 22-jährige Ernst Jünger zum Kompaniechef befördert worden. Selbst
die aussichtslose Lage lassen bei ihm keine Zweifel aufkommen. Vorwärts bis zum
Sieg!
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Zitator – Ernst Jünger:
So einfach ist es nun grade nicht, rückwärts strebende Leute in schwerem Feuer
aufzuhalten. Dies Benehmen ärgerte mich gewaltig, ich beschloss, andere Saiten
aufzuziehen. Ich befahl: „Anschlagen auf die Ausreißer!“ Im selben Moment knallten
schon einige Schüsse, trotzdem ich von Feuer nichts gesagt hatte. Aber das Mittel
war wirksam. Die Leute blieben stehen. Man sah es ihren Gesichtern und Schritten
an, wie ungern sie uns Gesellschaft leisteten. Unter ihnen war auch die
Kasinoordonnanz Voker, der wie ein Hase durch die Trichter flitzte und erst auf einen
nachgefeuerten Schuss beidrehte. Er wollte sich unter allerlei Ausflüchten noch
loseisen, ich ließ jedoch nicht locker.
Erzähler:
In Flandern, wo Jünger sein strenges Kommando führt, greifen die Briten in einer
großen Offensive an. Sie wollen die Frontlinie verstärken, angesichts der
bevorstehenden deutschen Truppenverlagerung von Ost nach West. Unter
Trommelfeuer versinken zwei Armeen bei Dauerregen in einer Schlammwüste. Im
April 1917 sind die USA in den Ersten Weltkrieg eingetreten. Jetzt erreichen die
ersten Verbände die Front. Die Truppenaufstockung auf beiden Seiten verändert –
nichts.
Auch der französische Großangriff am Chemin des Dames, der die Wende bringen
sollte, bleibt wirkungslos. 200.000 französische Soldaten sterben. Louis Barthas
überlebt. Jetzt ist auch er mit seiner Kraft am Ende.
Gesang
Zitator – Louis Barthas:
Eines Abends begann ein Korporal ein Lied mit Parolen der Revolution zu singen, die
sich gegen das traurige Leben im Schützengraben richtet, er klagte, dass wir unsere
Lieben verabschiedet haben ohne sie vielleicht je wiederzusehen, er äußerte seine
Wut gegen die Verantwortlichen für diesen schmutzigen Krieg und gegen die
Reichen, die uns kämpfen lassen ohne sich je selbst zu beteiligen. Immer mehr
Kameraden stimmten ein. Am Ende gab es frenetischen Beifall und alle zusammen
riefen: „Paix ou Révolution! A bas la guerre! Permission! Permission!“ „Frieden oder
Revolution! Nieder mit dem Krieg! Endlich Urlaub!“ Dann erklang die Internationale.
Erzähler:
Der Widerstand ist geweckt. Kein Soldat lässt sich länger einfach so ins Feuer
schicken. Befehle, Drohungen und Einschüchterungen funktionieren nicht mehr. Die
uneingeschränkte Macht der Offiziere ist zerbrochen.
Zitator – Louis Barthas:
Am 30. Mai fand eine Versammlung außerhalb des militärischen Areals statt. Es
sollte nach russischem Vorbild ein Sowjet, ein Soldatenrat gewählt werden, mit
jeweils drei Männern pro Kompanie, der das Regiment leitet. In der Zwischenzeit
verfasste ich ein Manifest, dass wir später unseren Kompaniechefs übergaben, um
den längst überfälligen Urlaub zu erwirken, darin hieß es unter anderem: „Wir haben
unser Leben dem Vaterland geopfert, aber jetzt sind wir an der Reihe und verlangen
unseren längst überfälligen Urlaub.“ Das Manifest wurde von einem Poilu mit sonorer
Stimme vorgetragen. Der Applaus war überragend. Die Revolution wurde handfest.
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Erzähler:
Die Soldaten wollen nach Hause. Das Ackerland liegt brach. Die Saat für den
nächsten Winter muss ausgebracht werden. Frauen und Kinder hungern. Zwei
Monate lang meutern 60 französische Divisionen, das sind mehr als eine halbe
Million Soldaten. Die Armee steht kurz vor der Auflösung.
Zitator – Louis Barthas
Am Nachmittag erhielten wir eine Antwort auf unsere Forderung: Es gab ein
ausdrückliches Versprechen auf Urlaub, schon am nächsten Tag sollten sieben von
hundert ihren Urlaub nehmen können. Die hochnäsigen Militärs haben vor uns
kapituliert. Darauf entstand ein freudiger Tumult. Vor den verblüfften Offizieren
stimmten wir die Internationale an und sie mussten uns machtlos zuhören.
*****
(Teil 6, Freitag, 9. Mai, 8.30 Uhr)
10
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