Folk Theory of mind: Conceptual Foundations of Human Social Cognition Bertram F. Malle Zusammengefasst und ergänzt von: Stella Damskis ( 0509840), Anna Metzler (0501926), Julia Slaje (0509421) Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der so genannten “Theory of mind”. Baron-Cohen beschreibt diese Fähigkeit folgendermaßen:”[…] that we have the capacity to imagine or represent states of mind that we or others might hold.” (Baron-Cohen, 1995, p.2) Die Fähigkeit zu repräsentieren, begrifflich zu denken und über mentale Zustände nachzudenken ist eine der größten Leistungen der menschlichen Evolution. Das Verständnis der Funktionsweise des Geistes ist Grundvoraussetzung für eine Reihe wichtiger Kompetenzen. Beispiele hierfür wären der Spracherwerb, die strategische soziale Interaktion, das reflexive Denken oder die moralische Entwicklung (Malle, 2005). Was waren die Anfänge der Forschung bezüglich Repräsentationen mentaler Zustände? Erste Studien wurden durch die Hypothese ausgelöst, dass auch Affen eine „Theory of mind“ besäßen (Malle, 2005). „Does the chimpanzee have a theory of mind?” Premack und Woodruff (1978) beschreiben in ihrem Artikel verschiedene Tests, die sie mit der Schimpansin Sarah durchgeführt haben. Sarah wurden Szenen auf Video gezeigt, in denen ein menschlicher Schauspieler mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert war. Die Autoren testeten mehrere Bedingungen. Wichtig ist zu erwähnen, dass es einen Durchgang mit einfachen Problemen gab, und einen Durchgang mit komplexen Problemen. In dem Durchgang mit einfachen Problemstellungen wurden 4 Videos vorgezeigt. Im ersten hing die Banane zu weit oben, so dass der Schauspieler sie 1 nicht erreichen konnte. Das zweite Video zeigte, dass die Banane außerhalb des Käfigs lag und so unerreichbar war. Die nächste Problemstellung war wiederum eine Banane außerhalb des Käfigs, doch diesmal verhinderte eine Box zwischen dem Schauspieler und der Banane den Zugang. Und schließlich war in der vierten Version diese Box auch noch mit Zementblöcken beladen. Die komplexen Problemstellungen waren schwieriger. Die Autoren nutzten folgende Szenarien: 1.: Der Schauspieler versuchte aus dem Käfig zu entkommen, doch dieser war verschlossen. 2.: Ein Ofen, der im Käfig stand, war nicht funktionsbereit. Der Schauspieler deutete dabei an, dass er fror. 3.: Der Darsteller versuchte einen Phonographen spielen zu lassen, doch dieser war nicht angeschlossen. 4.: Die agierende Person war nicht in der Lage den Boden zu säubern, da der Schlauch nicht am Hahn befestigt war. Das Video wurde jeweils gestoppt und der Schimpansin wurden Fotos gezeigt, wie in Abbildung 1 zu sehen ist. Abb.1 Ausschnitte aus den Fotos und Videos (Premack & Woodruff, 1978) Die Abbildung zeigt jeweils das gestoppte Video und die richtige Handlungsweise. 2 So musste der Schauspieler, um die Banane zu erreichen, auf eine Kiste steigen, oder, um die Banane zu bekommen, die außerhalb des Käfigs lag, einen Stock nutzen. Die Schimpansin wählte meist das richtige Bild. Sie konnte sowohl einfache, als auch komplexe Probleme lösen. So wusste sie, obwohl sie selbst die Erfahrungen nie gemacht hatte, dass der Schauspieler den Schlauch an dem Hahn anbringen muss, oder dass er einen Schlüssel nehmen muss, um aus dem Käfig zu kommen. Damit schlossen die Autoren aus, dass Sarah nur aufgrund eigener Vorerfahrung die richtige Handlung wählen konnte. Die Autoren untersuchten auch, ob Sarah für verschiedene Schauspieler unterschiedliche Lösungen wählt. Tatsächlich suchte Sarah für den ihr bekannten Mann die „gute“ Lösung und für den anderen Schauspieler die falsche Lösung aus. So konnte auch die Vermutung ausgeschlossen werden, dass Sarahs Entscheidung auf Empathie beruhte. Sie versetzte sich also nicht einfach in die Situation des Schauspielers und überlegte, was sie tun würde, sondern unterschied nach Sympathie, was passieren sollte. Wenn die Schimpansin die gesamte Situation beobachtete, also sie selbst beurteilen musste, welche Alternative ein Beobachter wählen würde, traf sie auch unterschiedliche Entscheidungen. Sie schien zu unterscheiden, ob der Beobachter den Handelnden mag oder nicht. Sie implizierte also mentale Zustände in andere Personen. Premack und Woodruff (1978) untersuchten weitere Fähigkeiten und variierten weitere Bedingungen, auf die hier nicht weiter eingegangen wird. Die Schimpansin konnte nicht alle Aufgaben lösen, zum Beispiel vermochte sie nicht zwischen verschiedenen Wissenszuständen zu unterscheiden. Die Autoren zogen aber aus ihrer gesamten Untersuchung den Schluss, dass das Tier das Video als Problemstellung verstand und die Absicht des Schauspielers erkannte und so die Alternative suchte, die zu dieser Absicht passt (Premack & Woodruff, 1978). Die jüngere Forschung tendiert aber zu der Annahme, dass eine echte „Theory of mind“ nur bei Menschen existiert (Malle, 2005). Theory of mind Die „Theory of mind“ hat Ähnlichkeit mit wissenschaftlichen Theorien. Auch sie postuliert nicht beobachtbare Variablen, sagt diese durch beobachtbare voraus und nutzt sie zur Erklärung weiterer beobachtbarer Variablen. 3 Der Autor beschreibt die „Theory of mind“ als ein „conceptual framework“, also als ein begriffliches Gerüst von Geist und Verhalten. Dabei spielen verschiedene kognitive Prozesse eine Rolle, zum Beispiel die Simulation mentaler Zustände oder Schlussfolgerungen. In der Sozialpsychologie werden die Überlegungen über mentale Zustände anderer oft als Spezialfall des „veranlagten Schlusses“ angesehen. Dieser Fall wird häufig gleichgesetzt mit dem Verhalten, anderen bestimmte Eigenschaften zuzuschreiben. Man muss aber erwähnen, dass es einige Unterschiede gibt. Beobachter denken, dass mentale Zustände anderer den eigenen entsprechen. Folglich nehmen sie ihre eigenen, um die der anderen zu simulieren. Sie nutzen aber nicht ihre eigenen Eigenschaften, um die der anderen zu simulieren. Der Autor meint, dass das Nachdenken über Geisteszustände Teil eines einzigartigen und kultivierten Gerüstes ist, das verschiedene mentale Zustände miteinander in Verbindung setzt und mit dem Verhalten verknüpft (Malle, 2005). „Theory of mind“ als begriffliches Gerüst Ein begriffliches Gerüst kann man als eine kognitive Kapazität erklären, die vor Kognitionen operiert und die Interpretation dieser Kognitionen ermöglicht. Dieses Gerüst ist die Voraussetzung für bewusste und unbewusste Prozesse. Ein Beispiel hierfür ist die Beobachtung eines zahlenden Menschen. Er kramt in seiner Tasche, holt einen kleinen Gegenstand hervor und gibt etwas daraus einem anderen Menschen. Diese Szene würden wir ohne die begriffliche Struktur nicht verstehen. Durch das Gerüst können wir die Szene in wichtige Teile zerlegen, sie dadurch verstehen und vorhersagen. Wenn das System vollkommen ausgereift ist, haben wir ein Skript des Bezahlens gebildet. Die „Theory of mind“ interpretiert das Verhalten anderer Menschen auf eine besondere Art und Weise. Wir sehen andere Personen als Agenten, die intentional handeln können. Wir sprechen ihnen Gefühle, Wünsche und Überzeugungen zu. Würde diese Fähigkeit fehlen, wäre unsere soziale Wahrnehmung vollkommen mechanisch und rau. Dies können wir an einem Beispiel festmachen: dem Autismus (Malle, 2005). 4 „Does the autistic child have a theory of mind?“ Abb.2 Paradigma des falschen Glaubens (http://www.holah.karoo.net/sallyanne.gif 19.11. 20:45) Die Autoren dieses Artikels, Simon Baron-Cohen, Alan. M. Leslie und Uta Frith (1985), beschäftigten sich mit der Vermutung, dass autistischen Kinder die „Theory of mind“ fehlt. Wäre dies der Fall, könnten die Kinder anderen Menschen keine Überzeugungen zuschreiben oder deren Verhalten vorhersagen. Getestet wurde diese Vermutung durch das Wimmer & Perner Paradigma von 1983. Es trägt den Namen „Verständnis des falschen Glaubens“. In Abbildung 2 ist eine Version des Paradigmas zu sehen. Es wurden Kinder ohne Behinderung, Kinder mit Down-Syndrom und autistische Kinder getestet. Ihnen wurden auch Kontrollfragen gestellt, um zu überprüfen, ob sie die Aufgabe verstanden haben und wissen, wo die Puppe war (Gedächtnis) und wo sie wirklich ist. Erst dann kann man testen, ob die Kinder wirklich an der Aufgabe scheitern, die Überzeugung anderer Menschen zu verstehen und zwischen wahren Umständen und Überzeugungen zu unterscheiden. Alle Kinder konnten die Kontrollfragen richtig beantworten. Die Kinder ohne Behinderung und die Kinder mit Down-Syndrom konnten fast alle die Frage „Where will Sally look for her ball?“ lösen. Doch von den autistischen Kindern beantworteten 5 16 von 20 Kindern die Frage falsch. Zu erwähnen ist noch, dass dieses scheinbare Fehlen der „Theory of mind“ ein spezifisches Defizit ist und nicht mit einer allgemeinen Behinderung einhergeht. Schließlich konnten die Kinder mit Down-Syndrom die Aufgabe ohne Schwierigkeiten lösen (Baron- Cohen, Leslie & Frith, 1985). Die automatische Verarbeitung sozialer Informationen fehlt also und es kommt so zu einer mechanischen und analytischen Verarbeitung, die sehr langsam vor sich geht (Malle, 2005). Malle erwähnt hier ein Zitat aus Blackburn et al. (2000): „Given time I may be able to analyze someone in various ways, and seem to get good results, but may not pick up on certain aspects of an interaction until I am obsessing over it hours or days later.” Die menschliche Kognition ist angewiesen auf assoziative Strukturen, wie zum Beispiel Schemata und Skripte. Diese vereinfachen jegliche Begegnung mit komplexen Stimuli. Die Strukturen sind Prozesse von Repräsentationen, die nicht die Inhalte an sich kodieren. Die soziale Kognition ist die Kognition sozialer Objekte (Menschen, Gruppen, Beziehungen). Auch diese Objekte sind selbst inhaltsfrei, demnach müsste es eigentlich schwer sein, soziale und nicht soziale Objekte zu unterscheiden. Wie „weiß“ nun ein kognitiver Prozess, dass er sich mit einem Menschen beschäftigt? Um hier eine schnelle Diskrimination durchführen zu können, nutzt der Mensch dieses begriffliche Gerüst. Es klassifiziert alle Stimuli in soziale Kategorien. Dieses System entwickelt sich sehr früh im Leben. Wenn es ausgereift ist, kann es sehr schnell aktiviert werden und bildet eine Voraussetzung für die Kognitionen des menschlichen Verhaltens. Das Gerüst ähnelt Kants Kategorien der (sozialen) Wahrnehmung. Er stellte Kategorien auf, von denen er annahm, dass sie vom menschlichen Geist zur Wahrnehmung von Objekten genutzt werden, z.B. Raum, Zeit, Kausalität. Sie stellen die Bedingungen der Möglichkeit der Wahrnehmung dar. Und so könnten die Konzepte der „Theory of mind“ die Bedingungen für die Möglichkeit der sozialen Kognition sein. Zur Verdeutlichung: Das Gerüst stellt also Konzepte zur Verfügung, mit Hilfe derer die soziale Kognition und Interpretation zum Umgang mit anderen Menschen effektiv sind. 6 Die „Theory of mind“ ist wie schon erwähnt eine spezifische Struktur. Das bedeutet aber nicht, dass sie isoliert ist. Die heutige Forschung beschäftigt sich meist nur mit dem Fehlen der „Theory of mind“. Überlegungen über die grundsätzliche Annahme, dass andere auf der Basis mentaler Zustände handeln, sind kein zentrales Gebiet der heutigen Sozialpsychologie. Auch sind Untersuchungen über die soziale Wahrnehmung von Geisteszuständen selten zu finden. Der Autor hoffen, dass sich das bei der Erkenntnis, dass dies ein fundamentales Werkzeug für soziale Kognitionen ist, ändert (Malle, 2005). Geist und Verhalten Die sozial-kognitive Funktion der „Theory of mind“ ist die Unterstützung des Verstehens von und der Koordination mit dem Verhalten anderer Personen. Dies wird erreicht durch die Verbindung von Geist und Verhalten. Die Inbetrachtnahme der Geisteszustände anderer hilft früheres Verhalten zu verstehen, derzeitiges Verhalten zu beeinflussen und zukünftiges vorherzusagen. Außerdem unterstützt dies auch die Aufrechterhaltung der Reliabilität und den intersubjektiven Diskurs über mentale Zustände. Ohne diesen Diskurs wäre das Schlussfolgern über Geisteszustände eine private, planlose Anstrengung. Die Verbindung mentaler Zustände mit dem Verhalten kann auf zwei Arten geschehen. Der mentale Zustand kann sich im Verhalten ausdrücken, zum Beispiel der Ärger, den man im Gesicht sehen kann. Oder der Geisteszustand beeinflusst oder leitet das Verhalten, beispielsweise wenn man eine Intention hat zu handeln. Auch das Verhalten lässt sich wiederum in zwei Kategorien unterteilen: Das intentionale und das nicht-intentionale Handeln. Dies ist eines der aufschlussreichsten Konzepte der „Theory of mind“ (Malle, 2005). Intentionalität Die Intentionalität ist ein Konzept, das spezifiziert, unter welchen Umständen Menschen Verhalten als intentional ansehen. Das Urteil beruht auf fünf Bedingungen: 1.: Der Agent muss den Wunsch haben, dass das bestimmte Ergebnis eintritt. 7 2.: Er muss der Überzeugung sein, dass die Handlung zu dem bestimmten Ergebnis führt. 3.: Die Intention muss vorhanden sein, die Handlung durchzuführen. 4.: Der Agent muss die Fähigkeit besitzen, die Handlung auszuführen. 5.: Er muss das Bewusstsein der Erfüllung der Intention während der Handlung haben. In der Realität wird das Urteil allerdings meistens aufgrund von Hinweisen gefällt. Auch manche individuellen Komponenten des Intentionalitätskonzeptes stellen starke Hilfsmittel zur Sinngebung von Verhalten dar. Menschen unterscheiden zum Beispiel zwischen zwei motivationalen Zuständen, dem Wunsch und der Intention. Diese differieren in mindestens drei Aspekten: Intentionen repräsentieren eine Handlung, Wünsche können Verschiedenes repräsentieren. Außerdem basieren Intentionen auf logischem Denken, Wünsche hingegen sind meist der Ausgangspunkt dafür. Ferner gehen Intentionen mit der Bindung einher, die Handlung auch auszuführen, Wünsche nicht. Diese Unterscheidung ist wichtig für die soziale Koordination, die Selbstregulierung und die interpersonelle Wahrnehmung. Eine weitere wichtige Unterscheidung bei Laien ist die zwischen Wünschen und Überzeugungen. Wünsche beruhen auf einer Wissensbasis und sind meist die primitiven Motive einer Handlung. Sie repräsentieren außerdem das Ziel der Handlung und Kinder lernen früher, diese anderen zuzuschreiben. Überzeugungen hingegen repräsentieren eher die Aspekte des Weges zum Ziel und Kinder können sie erst später zuschreiben. Beide haben unterschiedliche Funktionen bei der Erklärung von Handlungen. Das Konzept der Intentionalität spielt eine wichtige Rolle in sozial-kognitiven Phänomenen. Es hat Einfluss auf die Zuteilung von Verantwortlichkeit und Schuld für Handlungen. Ein Mensch wird eher für eine Handlung verantwortlich gemacht, wenn er intentional gehandelt hat. Die Verantwortlichkeit wird ihm aber auch zugesprochen, wenn er das Ergebnis hätte kontrollieren können und das auch seine Pflicht gewesen wäre. Dies ist vielleicht das wichtigste Konzept der Intentionalität: Alle Verhaltensweisen werden in zwei Domänen geteilt, die dann anschließend unterschiedlich manipuliert werden. 8 Beobachtbarkeit Dies ist eine weitere Unterscheidung unter Laien: Die Differenzierung von öffentlich beobachtbaren und öffentlich nicht beobachtbaren Ereignissen. In Wirklichkeit ist dies die Unterscheidung zwischen Geist und Verhalten. Die Konzepte von Intentionalität und Beobachtbarkeit bilden dann die „mentale Karte“ der Verhaltensweisen, die für die soziale Kognition relevant sind. Dies sind die Ereignisse, die Menschen erklären, vorhersagen und einschätzen wollen (Malle, 2005). Kategorisierung von Verhalten Die Funktion der „Theory of mind“ ist es, die Vielfalt des menschlichen Verhaltens und psychologischer Anreize in Kategorien zu gliedern, die kognitive Verarbeitungsprozesse erleichtern. Diese Kategorisierungen mit entsprechenden Annahmen über die Weiterverarbeitung sind unbewusst ablaufende Prozesse, die jeglichen spezielleren Prozessen wie Aufmerksamkeit und Erklärung vorangehen (Malle, 2005). Malle und Knobe (1997) nehmen vier Kategorien für die Erklärung von menschlichen Verhaltensabläufen an. Als erste Kategorie ist die beobachtbare und beabsichtigte Handlung zu nennen. Darauf folgt das zwar beobachtbare, aber nicht beabsichtigte Verhalten als zweite Kategorie. Dem gegenüber stehen die intendierten Gedanken, welche selbstverständlich nicht beobachtet werden können, und Erfahrungen, die sowohl unbeabsichtigt ablaufen, als auch unbeobachtbar sind. Bedeutungshaltig sind bei diesen vier Kategorien vor allem die Kombinationen von Absichtlichkeit / Unabsichtlichkeit und Beobachtbarkeit / Nicht-Beobachtbarkeit, die damit vier verschiedene Arten von Ereignissen definieren. Denn diese Kombinationen als Voraussetzungen lassen uns die Muster von menschlicher Aufmerksamkeit und Erklärungsversuchen von Verhaltensabläufen unter verschiedenen Bedingungen voraussagen. Diese Voraussagen können sowohl für den Agenten, als auch für den Beobachter getroffen werden, jeweils entweder in einer Diskussion stattfindend oder auch nur in den eigenen Gedanken (Malle & Knobe, 1997). 9 Selektive Aufmerksamkeitsfokussierung auf Verhalten Es wurde herausgefunden, dass zwei Faktoren bei sozialen Interaktionen eine wichtige Rolle spielen: der erkenntnistheoretische Zugang und die motivationale Bedeutsamkeit. Dank dieser beiden determinierenden Faktoren gelingt die Voraussage der Zuteilung von Aufmerksamkeit auf die vier Verhaltensabläufe in interaktionalen Prozessen. Die Grundvoraussetzung ist, dass man einen bestimmten Verhaltensablauf überhaupt bemerkt d.h. Zugang zu ihm hat. Dies passiert durch einfache Wahrnehmung, Selbstbeobachtung und/oder simple Schlussfolgerungen. Der zweite Faktor beinhaltet die These, dass erhöhte Aufmerksamkeit vor allem bei Ereignissen auftritt, die für die Person relevant und nützlich sind oder die die gegenwärtige Interaktion regeln. Letztendlich kann man sagen, dass sich die Aufmerksamkeit, nachdem man ein Ereignis wahrgenommen hat, danach richtet, wie wichtig es für die jeweilige Person und die Interaktion ist. Für den Agenten ist der Zugang zu seinen eigenen Gedanken einfacher, als zu seinem von außen beobachtbaren Verhalten, denn die eigenen Gedanken sind ihm dauerhaft gegenwärtig, den eigenen Gesichtsausdruck, die Gestik und Körperhaltung kann er jedoch nicht so leicht kontrollieren. Im Gegensatz dazu ist der Zugang zu von außen sichtbarem Verhalten für den Beobachter leichter, als zu den nicht beobachtbaren, mentalen Gedanken der anderen Person. Daraus folgt die erste Hypothese aufgrund derer Voraussagen getroffen werden: In sozialen Interaktionen richtet der Empfänger seine Aufmerksamkeit mehr auf beobachtbare Ereignisse als der Agent, während dieser mehr auf unbeobachtbare Ereignisse (Gedanken/Erfahrungen) achtet, als der Empfänger. Bei menschlichen Begegnungen dominiert absichtliches Verhalten. Eine Person agiert und die andere Person reagiert entsprechend darauf mit einem Verhalten und/oder einer Emotion. Deshalb sind absichtliche Handlungen, die häufig automatischen Prozessen unterliegen, für den Empfänger auch relevanter, als unabsichtliche. Für den Agenten ist es genau umgekehrt. Für ihn sind die unabsichtlichen Ereignisse interessanter, da sie unkontrolliert ablaufen und sie deshalb erst verstanden werden müssen. Aus diesen Erkenntnissen folgt die zweite Hypothese: In einer sozialen Interaktion richtet der Empfänger seine Aufmerksamkeit eher auf beabsichtigtes Verhalten als der Agent. Dieser schenkt den unabsichtlichen Ereignissen mehr Aufmerksamkeit als der Empfänger. Diese zwei Hypothesen wurden getestet und 10 bestätigt: Jeweils zwei Teilnehmer des Experiments führten eine Diskussion und wurden direkt anschließend aufgefordert, auf einem Blatt von dem Gespräch mit dem Partner und auf einem zweiten Blatt von ihren eigenen Gedanken während des Gesprächs zu berichten. Die Berichte dienten der Reproduktion der Verhaltensabläufe, die jeweils nach den Kriterien (Un-)Absichtlichkeit und (Nicht-)Beobachtbarkeit kategorisiert wurden. Die Ergebnisse von drei Studien bestätigten die Erwartungen. Den zwei Hypothesen entsprechend, berichteten Empfänger und Agent gemäß der Richtung ihrer Aufmerksamkeit mehr oder weniger von (un-)absichtlichen und (un-) beobachtbaren Ereignissen des Gesprächs. Die Aufmerksamkeit jedes Menschen wird demnach „systematically influenced by the intentionality and observability of those events“ (Malle, 2005, p.233) und durch die psychologischen Prozesse der Zugänglichkeit und der persönlichen Bedeutsamkeit gesteuert (Malle, 2005). Selektive Verwunderung über und Erklärung von Verhalten Aus den zwei beschriebenen Hypothesen sind die Ereignisse abzuleiten, über die sich Menschen wundern und die sie erklären (Malle & Knobe, 1997). Drei Bedingungen müssen gegeben sein, um Verwunderung und Erklärungsversuche auszulösen: Zugänglichkeit des Ereignisses, sein derzeitiges Unverständnis und seine persönliche Bedeutsamkeit. Folglich kann man Vorhersagen über Muster der Verwunderung treffen. Aufgrund unterschiedlicher Zugänglichkeit wundert sich der Agent öfter über unbeobachtbares Verhalten als über beobachtbares, während das beim Empfänger andersherum ist. Gemäß dem unterschiedlichen Unverständnis wundert sich der Agent mehr über unabsichtliches als über absichtliches Verhalten. Aufgrund der Bedeutsamkeit wundert sich der Empfänger eher über absichtliches als über unabsichtliches Verhalten. Diese Vorhersagen wurden in zwei Studien von Malle und Knobe (1997) überprüft und bestätigt. Auf die Verwunderung folgen die Erklärungsversuche. Um Vorhersagen über Erklärungsmuster zu machen, muss zuvor zwischen Erklärungen, die an einen selbst gerichtet sind, und Erklärungen, die in Kommunikation direkt an den Partner gerichtet werden, unterschieden werden. Daten von Erinnerungsprotokollen und Tagebüchern bekräftigten die Annahme, dass bei Erklärungen an die eigene Person als Folge von Verwunderung die gleichen 11 Unterschiede zwischen Agent und Empfänger auftreten. In einem Gespräch hingegen werden der anderen Person Erklärungen entsprechend ihren Verwunderungen gegeben. Das heißt, der Agent erklärt absichtliche und beobachtbare Verhaltensabläufe über die sich der Empfänger wundert. In einem Gespräch erklären folglich sowohl der Agent, als auch der Empfänger ihre eigenen Verwunderungen, ebenso wie die des anderen (Malle & Knobe, 1997). Erklärungsmodell von Verhalten Nachdem das Verhalten in vier Kategorien geteilt wurde, widmet man sich nun der Frage, wie und weshalb Menschen Verhalten erklären. Da diese Erklärungen oft in verbaler Form wiedergegeben werden, können sie gut in Untersuchungen im Hinblick auf zugrunde liegende Prozesse und ihre Rolle in sozialen Interaktionen analysiert werden (Malle, 2005). Erklärungen und die Theorie des Verstands Zu Beginn soll die funktionale Beziehung zwischen Verhaltenserklärungen und der „Theory of mind“ geklärt werden. Die meisten Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es der Zweck der „Theory of mind“ ist, Verhalten zu erklären. Gopnik (1998) ist hingegen der Meinung, dass es der Sinn von Erklärungen ist, gerade diese zu bereichern. Zusammengefasst kann man sagen, dass auf der einen Seite die Funktion der „Theory of mind“ nicht nur darin liegt, Verhalten zu erklären, sondern auch soziale Kognition und Interaktion zu regeln. Auf der anderen Seite besteht der Sinn von Erklärungen darin, die Bewältigung von sozialen Anforderungen (Verständnis, Koordination) zu erleichtern (Malle, 2005). Manche Entwicklungsforscher vertreten die Ansicht, dass Verhalten durch die Erkenntnis ihrer zugrunde liegenden psychischen Prozesse erklärt und verstanden werden kann. Sie untersuchten die Herkunft und den Fortschritt von Erklärungen im Laufe des Vorschulalters und fanden heraus, dass Kinder im Alter von drei Jahren systematisch psychologische Erklärungen für menschliches Verhalten verwenden. Jedoch muss betont werden, dass Menschen zwischen zwei Arten von Ursachen 12 unterscheiden: absichtlicher Grund und ungewollte Ursache. Der erste Typus weist auf den psychischen Zustand hin, der bei einer absichtlichen Handlung auftritt. Der zweite Typus thematisiert die aufgrund eines unabsichtlichen Verhaltens auftretenden verschiedenen Faktoren u. a. auch psychische Zustände. Gegenwärtige Entwicklungsstudien sind nicht in der Lage die Frage, ob Dreijährige zwischen psychischen Zuständen als Grund für absichtliches und für unabsichtliches Verhalten unterscheiden können, zu klären. Es ist möglich, dass Kinder zu diesen Differenzierungen erst im Alter von fünf Jahren durch Erwerb des vollständigen Konzepts der Intentionalität fähig sind. Dieses Konzept beinhaltet die Aufteilung von handlungsrelevanten psychischen Zuständen in drei Glieder: die Überzeugung, den Wunsch und die Absicht. Überzeugungen und Wünsche führen kombiniert zu einer erhöhten Intention, welche eine direkte Handlung nach sich zieht. Im Erwachsenenalter kann aufgrund von vorausgehenden Entwicklungsprozessen ein ausgereiftes System von Verhaltenserklärungen festgestellt werden, welches in der „Theory of mind“ seine Grundlage findet. Erklärungen können nun aufgrund der bewältigten Unterscheidung zwischen absichtlichen und unabsichtlichen Verhalten gefunden werden (Malle, 1999, 2005). Vier Arten von Verhaltenserklärungen Der Autor stellt ein Modell vor, nachdem es vier Arten von Erklärungen entsprechend der Unterscheidung zwischen absichtlichem und unabsichtlichem Verhalten und seinen besonderen Aspekten gibt. Unabsichtliches Verhalten wird auf Faktoren wie der psychische oder physische Zustand, Charakterzüge und Reaktionen auf das Verhalten anderer zurückgeführt. Menschen erklären Verhalten meist allein durch Kausalität und lassen das Bewusstsein und die Absicht einer Handlung außer Acht. Die Ursache für absichtliches Verhalten zu finden ist eine weit komplexere Aufgabe (siehe dazu Abbildung 3). 13 Ursache Hintergrund Unabsichtliches Verhalten Absicht Grund Absichtliches Verhalten Ermöglichende Faktoren Abb.3: Vier Arten von Erklärungen für unabsichtliches und absichtliches Verhalten (Malle, 2005) Der Unterschied zwischen unabsichtlichem und absichtlichem Verhalten liegt darin, dass bei Letzterem die Vorgänge bewusst ablaufen. Der Absicht, ein bestimmtes Verhalten auszuführen, gehen Überzeugungen und Wünsche voraus. Die direkte Folge der Absicht ist absichtliches Verhalten. Es gibt drei verschiedene Arten, absichtliches Verhalten zu erklären: aufgrund von Gründen für Verhalten, ihnen zugrunde liegenden Hintergrundinformationen und ermöglichenden Faktoren (Malle, 2005). Die wichtigsten Faktoren der Erklärung sind die Gründe des Agenten, ein bestimmtes absichtliches Verhalten zu zeigen. Gründe können als „beliefs or desires that both motivate and rationally support intentional action” verstanden werden und “they describe intentions as mediating between reasons and action” (Malle, 1999, p.25). Das Konzept der Intentionalität unterscheidet zwei Arten von Ursachen: „the agent’s desire for an outcome and a belief that the intended action leads to that outcome“ (Malle, 2005, p.238). Zum Beispiel ist es der Wunsch einer Person, durch Forschungsergebnisse berühmt zu werden. Diese Person wird viel Zeit im Labor verbringen (absichtliches Verhalten), weil sie der Überzeugung ist, sich so ihrem Ziel zu nähern. Neben den zwei genannten Arten gibt es noch weitere Gründe für absichtliches Verhalten: der Wunsch, alternative Ergebnisse zu vermeiden, Einstellung zu Kontext und Konsequenzen und der Wert der Handlung selbst. Subjektivität und Rationalität sind zwei charakteristische Merkmale von Gründen. Erklärungen basieren immer auf der Überzeugung des Erklärers, was die subjektiven Gründe der agierenden Person sind. Dies sind meist von 14 der erklärenden Person angestellte Vermutungen. Sie versucht, sich in die Rolle des Agenten zu versetzen und seine subjektiven, oft nicht mit der objektiven Realität übereinstimmenden, Überlegungen zu rekonstruieren. Ein Beispiel soll dies erläutern. „Warum beeilt Lucy sich?“ Als Antwort wird gegeben: „Sie denkt, sie ist spät dran“ (Malle, 2005). Die Erklärung impliziert Lucys subjektive Annahme, dass sie zu spät ist, was in Wirklichkeit vielleicht gar nicht der Fall ist. Rationalität als Merkmal von Gründen weist auf die Tatsache hin, dass der Inhalt von Überzeugungen, Wünschen und Wertvorstellungen harmonieren muss, um in vernünftigen Absichten und Handlungen zu resultieren. Das Verhalten im oben angeführten Beispiel wurde rational durch die Annahme erklärt, dass Lucy dachte, spät dran zu sein. Außerdem kann vernunftsgemäß impliziert werden, dass Lucy den Wunsch hat, pünktlich zu sein, und dass sie denkt, ihr Eilen führe zu einer pünktlichen Ankunft. Ihre Überzeugung, ihr Wunsch, ihre Intention und ihr Verhalten stimmen rational überein. Aufgrund der Annahme von Subjektivität und Rationalität bei der Erklärung von Gründen eines Verhaltens zeigt sich ein erstaunliches Phänomen. Wenn Menschen ein Grund für ein aufgetretenes Verhalten angegeben wird, schließen sie automatisch auf die übrigen implizierten Gründe. Zum Beispiel auf die Tatsache, dass Lucy pünktlich sein möchte (Malle, 2005). Die zweite Art von Erklärungen betrifft den Bereich, der zeitlich vor den eigentlichen Gründen liegt: der geschichtliche Hintergrund von Gründen. Zur Verdeutlichung ein Beispiel: „Anna lud Ben zum Essen ein, weil sie freundlich ist“ (Malle, 2005). Anna lud Ben nicht ein, weil sie sich selbst für freundlich hält. Die Erklärung weist eher auf eine hier positive Vorerfahrung des Erklärenden mit dem Agenten hin. Die Erklärung enthält nicht den tatsächlichen Grund des Agenten, sondern eher eine Hintergrundinformation über den Agenten. Aufgrund dieser Voraussetzung kann der Agent verschiedene Gründe für sein Verhalten haben. Etwa 20% der hintergründlichen Informationen für Erklärungen betreffen Charaktereigenschaften des Agenten. Außerdem wird Bezug auf Kindheitserfahrungen, Kultur, früheres Verhalten, den gegenwärtigen physischen Zustand und bestimmte Überzeugungen und Wünsche genommen (Malle, 1999). Erklärungen, die auf Vorgeschichten basieren, unterliegen nicht der Beschränkung von Subjektivität und Rationalität, wie es bei Gründen der Fall ist. Die im Beispiel als 15 Grund angesprochene Freundlichkeit muss dem Agenten nicht einmal bewusst sein (Malle, Knobe, O’Laughlin, Pearce & Nelson, 2000). Der dritte Bereich, durch den absichtliches Verhalten erklärt werden kann, sind die ermöglichenden Faktoren (Malle, 1999). Mit ermöglichenden Faktoren sind sowohl die Fertigkeiten und Anstrengungen des Agenten, als auch günstige Gelegenheiten und Umstände gemeint. In dieser Art von Erklärungen geht es allein um die Art und Weise, wie die beabsichtigte Ausführung eines Verhaltens möglich ist. Die Motivation, der Grund und die Intention des Agenten werden als gegeben vorausgesetzt. „Sie schummelte im Test, weil kein Aufseher hersah“, ist eine Erklärung, die allein auf ermöglichenden Faktoren als Grund basiert. Der Hauptgrund, wieso sie schummelt z.B. weil sie nicht gelernt hat, oder Hintergründe z.B., dass sie aus Gewohnheit schummelt, werden außer Acht gelassen. Letztendlich umfasst das Konzept der Intentionalität vier Arten von Erklärungen. Diese stellen ein umfassendes Modell dar, entsprechend dem die Menschen Verhalten erklären können (Malle, 2005). Sozial-kognitive Bedingungen für Erklärungsformen Wann und zu welchem Zweck ein bestimmter Erklärungstyp in einer sozialen Interaktion verwendet wird, hängt von bestimmten Bedingungen ab. Der Prozess der Erklärungswahl kann sowohl bewusste als auch unbewusste Aspekte enthalten. Die Verhaltenserklärungen selbst können kognitive oder interpersonelle (motivationale) Funktionen haben (Malle, 2005). Ob eine Ursachenerklärung oder eine der anderen Erklärungsformen gewählt wird, hängt primär von der wahrgenommenen Intentionalität einer Verhaltensweise ab. Unabsichtliche Handlungen werden durch Ursachen erklärt. Das Urteil über die Intentionalität selbst ist nicht immer leicht zu fällen und kann die Suche nach zusätzlichen Informationen erfordern. Kommt der Beobachter jedoch zu dem Schluss, dass die Verhaltensweise unbeabsichtigt war, wird automatisch und weitgehend unbewusst eine Ursache zur Erklärung herangezogen (Malle, 2005). Eine zweite Bedingung, die Ursachenerklärungen hervorruft, ist motivationaler Natur. Dabei geht es um die Regulierung von Schuld an sozial unerwünschtem Verhalten. Übt eine Person eine Verhaltensweise aus, deren Intentionalität nicht eindeutig beurteilt 16 werden kann, wird diese Person eine Ursache als Erklärung wählen, um die Unabsichtlichkeit ihrer Handlung hervorzuheben und damit den Anschein der eigenen Schuld zu minimieren. Ein Beispiel hierfür wäre ein Sportler, der mit einem gegnerischen Spieler zusammenstößt und erklärt, dass er ihn nicht gesehen habe. Dieser Prozess kann sowohl bewusst ablaufen, wenn die Person einen guten Eindruck machen möchte, als auch unbewusst, wenn die Person glaubt, dass die Handlung tatsächlich unabsichtlich war (Malle, 2005). Etwas komplexer sind die Bedingungen, die ausschlaggebend dafür sind, ob ein Grund, eine Hintergrundinformation oder ermöglichende Faktoren zur Erklärung einer beabsichtigten Verhaltensweise herangezogen werden. Die Forschung zeigt, dass dabei sowohl kognitive als auch motivationale Bedingungen von Bedeutung sind (Malle, 2005). Kognitive Bedingungen Die erste Bedingung ist die Art der Verwunderung, die von der Person, die eine Erklärung sucht, wahrgenommen wird, bzw. die spezielle Frage, die sie sich im Hinblick auf die Verhaltensweise stellt. Gilt ihr Interesse dem motivationalen bzw. intentionalen Hintergrund einer Handlung, wird sie sich fragen „Wofür?“, was am besten durch die Angabe eines Grundes erklärt werden kann. Die etwas allgemeinere Frage „Warum?“ kann hingegen besser durch Hintergrundinformation beantwortet werden. Wenn sich eine Person jedoch fragt, wie eine bestimmte intentionale Handlung überhaupt erfolgreich ausgeführt werden konnte, wird sie sich die Frage „Wie war das möglich?“ stellen, die vom Autor kurz „Wie möglich?“ genannt wird (Malle, 2005). Die beste Antwort auf diese Frage sind ermöglichende Faktoren als Erklärung. In Untersuchungen zeigte sich, dass „Wie möglich?“-Fragen vor allem bei sehr schwierigen Handlungen, wie beispielsweise bei artistischen Leistungen auftreten (Malle, 2005). Malle et al. (2000) verwendeten in einer Studie die beiden extremen Fälle: schwierige, Handlungen, deren Motive offensichtlich waren: z.B. „Mary, die arm ist, kaufte sich ein neues Auto“; und einfache Handlungen, deren Motive nicht offensichtlich waren: z.B. 17 „Cynthia gab ihrem Boss einen Scheck“. Die Fragen („Warum?“, „Wie kam das?“, „Aus welchem Grund?“ und „Wie war das möglich?“) variierten zwischen den Versuchspersonen. Die häufigsten Nennungen von Begründungen wurden im Zusammenhang mit einfachen, nicht offensichtlichen Handlungen und der Frage „Aus welchem Grund?“ erwartet. Es wurde angenommen, dass ermöglichende Faktoren am häufigsten im Zusammenhang mit schwierigen, offensichtlichen Handlungen und der Frage „Wie war das möglich?“ genannt werden. Eine weitere Hypothese besagte, dass Begründungen generell am häufigsten zur Erklärung herangezogen werden, auch bei den Fragen „Warum?“ und „Wie kam das?“. Die Versuchspersonen mussten für kurze Verhaltensbeschreibungen schriftlich eine Erklärung finden. Die Ergebnisse entsprechen den Hypothesen. Es zeigte sich, dass Begründungen die häufigste Erklärungsform sind, ganz besonders bei einfachen, nicht offensichtlichen Handlungen und auf die Frage „Aus welchem Grund?“, aber auch auf die allgemeineren Fragen „Warum?“ und „Wie kam das?“. Weiters erhöht die Frage „Wie war das möglich?“ die Nennung von ermöglichenden Faktoren, besonders wenn es sich um schwierige, offensichtliche Handlungen handelt. Nur auf die Frage „Aus welchem Grund?“ werden selbst bei schwierigen, offensichtlichen Handlungen keine ermöglichenden Faktoren, sondern Gründe genannt. Diese Ergebnisse lassen sich dadurch erklären, dass die meisten sozialen Verhaltensweisen leicht auszuführen sind und daher nur die Motive dahinter unbekannt sind. Wenn ein Beobachter die Gründe bzw. Intentionen, die einer Handlung zugrunde liegen, nicht eindeutig versteht, wird er eher die Frage „Wofür?“ oder „Warum?“ stellen, welche am besten durch eine Begründung erklärt werden. Ist eine Verhaltensweise jedoch schwierig, besteht eher im Bezug auf die erfolgreiche Ausführung Erklärungsbedarf. In diesem Fall tritt die Frage „Wie war das möglich?“ auf, welche am besten durch ermöglichende Faktoren beantwortet wird (Malle et al., 2000). Eine weitere bedeutsame kognitive Bedingung für die Wahl einer Erklärungsform ist die Information, die der nach einer Erklärung suchenden Person über den Handelnden und die Handlung zur Verfügung steht. Eine Begründung enthält spezifische Informationen über den Wunsch, die Überzeugung oder die Einschätzung, die einer intentionalen Handlung zugrunde liegen und die der Handelnde mental repräsentiert. 18 Verfügt man nicht über diese speziellen Informationen, zieht man allgemeine Informationen zur Erklärung heran, die über diesen Typ von Handelnden oder diesen Typ von Handlungen zur Verfügung stehen. Dies können beispielsweise Eigenschaften des Handelnden oder historische Hintergründe der Handlung sein und führen zu einer Erklärung durch Hintergrundinformation. Beispielsweise könnte die Antwort auf die Frage „Warum hat Phil nach der Party das Geschirr abgewaschen?“ eine Begründung sein, die spezifische Informationen enthält: „Weil er wollte, dass die Küche morgens sauber ist“. Ist Phils Intention jedoch nicht bekannt, könnte Hintergrundinformation als Erklärung herangezogen werden: „Weil er einen neurotischen Sauberkeitsfimmel hat“. In diesem Fall konstruiert die Person, die nach einer Erklärung sucht, mangels spezifischer Informationen aus allgemeinen Informationen eine Erklärung aus Hintergrundinformation. Es zeigte sich, dass Menschen diese Erklärungsform häufiger zur Erklärung von Handlungen anderer Personen verwenden und weniger, um ihr eigenes Verhalten zu erklären, weil sie kaum Zugang zu den Gründen haben, die der Handlung einer anderen Person zugrunde liegen. Weiters ziehen Menschen häufiger Hintergrundinformationen zur Erklärung von Gruppenaktivitäten heran und weniger, um individuelle Handlungen zu erklären, weil über Gruppen meist mehr allgemeine als spezifische Informationen verfügbar sind (Malle, 2005). Beide kognitiven Bedingungen, die Art der Fragestellung und die verfügbare Information, rufen sowohl bewusste als auch unbewusste Prozesse hervor. Die Einschätzung der Verfügbarkeit von Informationen und des speziellen Kontextes, in dem eine Verhaltensweise auftritt, läuft weitgehend bewusst ab und ruft dann unbewusst sofort einen Grund, Hintergrundinformation oder ermöglichende Faktoren als Erklärung hervor (Malle, 2005). Motivationale Bedingungen Die dominierende motivationale Bedingung für die Wahl einer Erklärungsform ist das so genannte „Eindrucksmanagement“. Durch geschickte Anwendung von verschiedenen Erklärungstypen können Menschen sowohl sich selbst, als auch andere auf eine bestimmte Weise darstellen. Zur Erklärung von beabsichtigten Verhaltensweisen verwenden Menschen hauptsächlich Begründungen, wenn sie wollen, dass die 19 handelnde Person – sie selbst oder jemand anderes – rational erscheint. Besonders häufig sind Begründungen, die ausdrücken, dass die handelnde Person glaubte/dachte/erwartete, dass eine bestimmte Handlung zu einem bestimmten Ergebnis führen würde. Hintergrundinformationen werden hingegen zur Erklärung herangezogen, um den Anschein einer reifen Überlegung und Verantwortung des Handelnden zu reduzieren. Zur Erklärung von Gruppenaktivitäten werden Gründe verwendet, um die Gruppe als gemeinsam handelnd darzustellen und sie eventuell bedrohlicher erscheinen zu lassen. Einige Philosophen deuten darauf hin, dass Begründungen den moralischen Wert einer Handlung kennzeichnen, während ermöglichende Faktoren, wie beispielsweise die Intelligenz oder Fähigkeiten, dies nicht tun. Daraus lässt sich die Vermutung ableiten, dass Menschen, die die handelnde Person als moralisch lobenswert darstellen wollen, Begründungen zur Verhaltenserklärung heranziehen. Möchte man hingegen die Kompetenz oder Fähigkeit einer Person betonen, wird man ihr Verhalten eher durch ermöglichende Faktoren erklären. Beispielsweise lassen sich verschiedene Erklärungen dafür finden, dass ein Professor den Inhalt einer Vorlesung besonders klar und verständlich vorträgt: Die Begründung „weil er möchte, dass die Studenten den Inhalt wirklich verstehen“ betont eher den moralischen Aspekt seines Verhaltens, während eine Erklärung durch ermöglichende Faktoren, wie beispielsweise „weil er sehr intelligent ist“, zwar positiv auf seine Kompetenz hinweist, aber keine Aussage über den moralischen Wert enthält (Malle, 2005). Da Verhaltenserklärungen oft in Konversationen eingebettet sind, gibt es noch eine weitere wichtige motivationale Bedingung, die die Wahl der Erklärungsform bestimmt. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einem so genannten „Publikumsdesign“, womit die Einstellung der nach einer Erklärung suchenden Person zu dem Interesse, dem Wissen und den Erwartungen des Publikums gemeint ist. Zuhörer können verschiedene Arten der Verwunderung („Warum?“, „Aus welchem Grund?“, „Wie ist das möglich?“) empfinden und so liegt es an der erklärenden Person die richtige Erklärungsform zu wählen, um die speziellen Fragen, die die Zuhörer sich stellen, zu beantworten (Malle, 2005). Die Entscheidung zwischen verschiedenen Erklärungsformen wird nicht bewusst getroffen, da Menschen keine explizite Vorstellung von den verschiedenen Erklärungsmöglichkeiten haben. Bewusste Gedanken wie „Ich sollte eher eine 20 Begründung und keine ermöglichenden Faktoren nennen“ kommen also nicht vor. Nur die Abschätzung der Anforderungen der Situation und die Ziele im Umgang damit sind einem bewusst und erfordern kognitiven Aufwand. Beispielsweise könnte einer Person in einer bestimmten Situation der Gedanke kommen, dass sie ihren Gesprächspartner besänftigen sollte und basierend auf dieser bewussten Überlegung wird unbewusst die adäquate Erklärungsform gewählt und sprachlich formuliert (Malle, 2005). Diskussion und Schlussfolgerung Der erste Diskussionspunkt bezieht sich auf die Annahme, dass Verhaltenserklärungen auf begrifflichen Schlüsselkomponenten der „Theory of mind“ beruhen, wie beispielsweise das Konzept der Intentionalität oder die Unterscheidung zwischen Überzeugungen und Wünschen. Daraus lässt sich ableiten, dass die Wahl des Erklärungstyps bei Personen, bei denen diese Konzepte fehlen, auf eine simple, mechanische Erklärungsform reduziert ist. Um diese Hypothese zu bestätigen (bzw. zu widerlegen), bedarf es allerdings an diesbezüglichen Untersuchungen an Autisten (Malle, 2005). Ein weiterer Diskussionspunkt ist, dass die Bedingungen der Erklärungswahl sowohl kognitiver Natur (z.B. Antworten auf die eigene Verwunderung) als auch sozialer Art (z.B. einen bestimmten Eindruck vermitteln) sein können. Dieser Funktionsdualismus existiert auch auf analytischer Ebene. Eine Begründung hat beispielsweise mehrere spezifische Merkmale: den Begründungstyp (Wunsch oder Überzeugung) und dessen sprachliche Betonung durch ein Verb, das den mentalen Zustand beschreibt („ich dachte…“, „sie wollte…“). Weiß der Beobachter in einer sozialen Situation über den spezifischen Begründungstyp der handelnden Person Bescheid, kann er das Verhalten dieser Person leichter verstehen und vorhersagen, indem er die Erklärung, also die Begründung, als kognitives Hilfsmittel verwendet. Ebenso bedienen sich handelnde Personen verschiedener Begründungstypen für die Erklärung ihrer eigenen Verhaltensweisen, um die Art und Weise zu beeinflussen, wie das Publikum ihre Rationalität und Verantwortung wahrnimmt. Darüber hinaus verwenden Menschen zur Erklärung von Handlungen andere Verben, die einen mentalen Zustand beschreiben, um hervorzuheben, dass diese Begründung speziell den Handelnden betrifft und keinen 21 allgemein akzeptierten Grund darstellt. Dadurch distanziert sich die erklärende Person von der Begründung. Ein konkretes Beispiel dafür wäre die Frage „Warum isst sie keinen Nachtisch?“ und die Antwort „Sie denkt, sie würde zunehmen“ (Malle, 2005). Die Dualität von kognitiven und sozialen Funktionen charakterisiert nicht nur die Merkmale von Verhaltenserklärungen, sondern auch die „Theory of mind“ als Ganzes, die Menschen hilft sowohl kognitive als auch soziale Aufgaben zu lösen. Zu den kognitiven Aufgaben zählen die Klassifikation einer Verhaltensweise als beabsichtigt oder unbeabsichtigt, die Fokussierung der Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Verhaltensweise sowie Erklärungen und Vorhersagen. Zu den sozialen Aufgaben gehören hingegen interpersonelle Beeinflussung oder Überzeugung, „Eindrucksmanagement“ im Bezug auf sich selbst oder auf andere und kommunikative Entwürfe (Malle, 2005). Abschließend weist der Autor auf das Einzigartige der „Theory of mind“ hin: „a mentalistic conceptual framework of human behavior that can evolve and develop only within a social environment whose primary function is to improve social coordination and whose reliable trigger is ongoing social interaction“ (Malle, 2005, p. 246). 22 LITERATURVERZEICHNIS Baron-Cohen, S. (1995). Mindblindness and Mindreading. In: S. Baron- Cohen (Ed.), Mindblindness: Essay on Autism and the Theory of Mind (pp. 1-8). Cambridge MA: MIT Press. Baron-Cohen, S., Leslie, A.M., & Frith, U. (1985). Does the autistic child have a` theory of mind`?” Cognition, 21, 37- 46. Gopnik, A. (1998). Explanation as orgasm. Minds and Machines, 8, 101-118. Malle, B.F. (1999). How people explain behavior: A new theoretical framework. Personality and Social Psychology Review, 3, 23-48. Malle, B.F. (2005). Folk theory of mind. Conceptual foundations of human social cognition. In R.R. Hassin, J.S. Uleman & J.A. Bargh (Eds.), The new unconscious (pp. 225-255). Oxford: Oxford University Press. Malle, B.F. & Knobe, J. (1997). Which behaviors do people explain? A basic actorobserver asymmetry. Journal of Personality and Social Psychology, 72, 288-304. Malle, B. F., Knobe, J., O’Laughlin, M. J., Pearce, G. E. & Nelson, S. E. (2000). Conecptual structure and social functions of behaviour explanations: Beyond personsituation attributions. Journal of Personality and Social Psychology, 79, 309-326. Premack, D. & Woodruff, G. (1978). Does the chimpanzee have a theory of mind? 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